Johannes Richard zur Megede
Modeste
Johannes Richard zur Megede

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18

Modeste hatte sich fast wochenlang nicht aus dem Hause gerührt. Als sie eines Montags wie von ungefähr den Sommerrappen satteln ließ, ritt sie fast in die Eyselinsche Feldmark hinein, ehe sie sich überhaupt umschaute. Aber weit und breit kein Reiter zu sehen. Das wunderte sie zwar, war ihr aber vielleicht auch recht. Sie wandte das Pferd und trabte langsam zurück. Wollte oder konnte er nicht kommen, nachdem er sie doch abreiten gesehen?

Endlich erblickte sie Herrn Romeit an der Grenze. Er stand an einem Baum und sah über das fremde Feld. Er war allein. Sie hob sich höher im Sattel, damit er sie sehen solle. Er aber rührte sich nicht. Da ritt sie zögernd näher. Er grüßte sie sehr tief wie immer – aber das Gesicht war übernächtig und grau. Sie glitt vom Pferde. »Du hast mich doch fortreiten gesehen, Otto?«

»Gewiß.«

»Und kamst nicht nach?«

»Nein.«

»Und warum, wenn ich fragen darf?«

»Weil's dir ja doch ganz gleichgültig ist, Modeste.«

Sie schlug mit der Peitsche nervös in die Luft. »Quäl du mich nicht auch noch! Ich quäle mich schon gerade selbst genug.«

»Es hört ja auch bald auf, Modeste...«

»Ja, Gott sei Dank! Aber ich bin heute nur deinetwegen weggeritten, nur deinetwegen, damit du's weißt!«

»Und ich stehe hier nur deinetwegen, damit du's weißt.«

»Also?« fragte sie scharf.

»Ich wollte dir nur noch wegen neulich sagen. Dich geniert's allmählich... Wir wollen uns auch nicht mehr allein treffen oder sprechen...«

»Jetzt auf einmal?«

»Ja, jetzt auf einmal...« Er hatte sich immer noch nicht gerührt und schaute jetzt wieder auf das fremde Feld.

»Sieh nicht dahin!« sagte sie erregt, »das macht mich nervös. Es ist Eyselinsches Feld – und du weißt...«

Er haschte nach einer Ähre. »Es ist ein sehr gutes Roggenfeld.«

»Es ist sein Feld!« rief sie.

Er ließ die Ähre wieder durch die Hand zurückgleiten. »Ich glaube, er hat's mit mir recht gut gemeint.«

»Wie meinst du das?« fragte sie eisig.

Er antwortete ganz ruhig. »Er hat mir gesagt, daß die Gegend hier für mich nichts tauge und daß ich weit fortgehen möchte, je eher, je besser.«

»Ich verstehe dich nicht, Otto.«

»Er hat aber doch recht gehabt! ... Ich bin auch dumm, war's vielleicht immer. Aber zum Spielzeug, das man aufhebt und wegwirft ganz nach Belieben, dazu bin ich doch zu gut.«

»Ja, wenn du das meinst...« Sie faßte den Trensenzügel des Pferdes fester. »Vielleicht hast du auch recht.« Dann zuckte sie die Achseln. »Ich habe dir nie etwas versprochen, nie die geringste Hoffnung gemacht. Aber wenn du mir von der Seite kommst... Gut, ich habe mit dir gespielt! Aber daß ich mich zu diesem Zwecke doch erst wegwerfen mußte, das zählt wohl nicht?«

Er zuckte zusammen, faßte sich aber rasch. »Sag das nicht noch einmal – tu's nicht! Ich rat's dir um deinetwillen... Aber so wahr es einen Gott im Himmel gibt – niemand ist reiner geliebt worden als du, niemand, hörst du! ... Du magst einen Grafen, vielleicht einen Fürsten heiraten später. Aber wenn du mir zu sagen wagst, du hättest dich weggeworfen, so sage ich dir jetzt: ich habe mich weggeworfen – ich allein!«

Sie ordnete pedantisch langsam die Zügel, doch mit bebenden Händen. »Sie helfen mir vielleicht noch aufs Pferd, Herr Romeit.«

Er schien es nicht zu verstehen.

»Nun, dann muß ich wohl allein hinauf.«

Erst da besann er sich und bot ihr Knie und Hand wie ein Automat.

»Los!« Sie trieb das Pferd mit einem pfeifenden Hiebe zum Galopp an, ohne an eine Richtung überhaupt zu denken. Das aufgeregte Tier brach im Sprunge durch das hochragende Korn, hüben und drüben die Halme wie entsetzt zurückwogend. Erst als keuchend und schnaubend der große Schlag durchmessen, ward Modeste bewußt, daß sie Eyselinsches Korn niedergeritten. Die Lippen zuckten ihr noch von der häßlichen Szene.

Dann wurde sie auf einmal nüchtern, kalt. Sie dachte: ›Dieses Ende ist schließlich das beste... Ein Ende mußte es doch einmal haben! Ich habe niemals auch nur geträumt, daß...‹ Sie ritt weiter, diesmal auf dem Wege und im Schritt. Der Horizont hing voller Wolken, die Ebene schimmerte grau. Die Regenstimmung war gekommen, ohne daß Modeste es merkte. Als der erste Tropfen ihr durch die dünne Seidenbluse schlug, fuhr sie aus schwerem Traum. Sie sah auf den bleifarbenen Himmel und sagte für sich: »Ich werde klatschnaß bis nach Hause.« Der Ritt an dem Gewitterabend fiel ihr ein. Da zuckte eigenwillig die Lippe. »Nun reit' ich gerade weiter! Mag ich naß werden – ich habe eine recht kalte Dusche nötig.«

Der Regen rieselte jetzt weich und warm. Das reifende Korn duftete, die staubigen Blumen am Weg atmeten auf. »Es sind nur noch acht Tage bis zum Ersten – Gott sei Dank! Ich werde ihn bis dahin freiwillig nicht mehr sehen. Und wenn er mir etwa Adieu sagen kommt, so soll er an mein Adieu denken! ...« Sie trabte auf die Chaussee. An dem nächsten Baum lehnte ein halbwüchsiger Bursch im schmutzigen Arbeitsanzug. Der rechte Jackenärmel baumelte leer. Das verbrannte, trotzige Gesicht war Modeste fremd. Der junge Krüppel wollte ihr leid tun – sie nickte leicht – aber seine Hand hob sich nicht dankbar nach der Mütze, sondern das graue Auge nur stach trotzig zurück. Da tat er ihr nicht mehr leid.

Im Rücken das sehr rasche Rollen eines Wagens. Wahrscheinlich Eyseliner Fuhrwerk. Der Sommerrappe wurde unruhig, versuchte anzugaloppieren, sie zwang ihn zum Schritt. Heute floh sie nicht vor Falkner von Öd – heute nicht! ... Nur der Mund murmelte gehässig: »Du bist doch an allem schuld, du! Schurke!« Da war auf einmal das Wagenrollen verstummt, Herr von Falkner mußte abgebogen sein. Floh er sie vielleicht jetzt zur Abwechslung? Modeste wandte sich im Sattel. Der Jagdwagen stand. Der Baron war abgestiegen und sprach mit dem halbwüchsigen Burschen, während der Kutscher hochmütig zusah. – Sie ritt nachdenklich weiter. Der alte Eller hatte vielleicht recht. »Die Armen und Elenden, die liebte er, die kamen zu ihm.« – »Und wenn ich auch einmal arm und elend wäre? – Ich ginge lieber zum Teufel als zu ihm!« – Es stieg ihr heiß den Nacken empor. Und als im Augenblick das Wagenrollen hinter ihr wieder erklang, ließ sie dem Tier die Zügel und freute sich über den flüchtigen Galoppsprung ihres schnaubenden Renners und den verhallenden Hufschlag der Pferde hinter ihr. »Du sollst mir nie mehr vorbeifahren, wenn ich nicht will – nie mehr!« – Dem schönen Mädchen war es wie ein Triumph.

Aber als sie völlig durchnäßt in das Turmzimmer zurückgekehrt war, zu dem braunen Unhold, der ihr jubelnd entgegensprang, wurde ihr weinerlich zumute... »Ich habe mich doch weggeworfen – ich! ... Und ich habe auch nicht mit ihm gespielt... Ich habe ihn liebgehabt... Was ist denn in der Zwischenzeit eigentlich passiert? Am Ende hat er doch gewähnt...« Sie sprang auf: »Nein, das kann er nicht geglaubt haben! ... Frau Inspektor Romeit – niemals!... Ich will lieber alle Todsünden begehen! – Es dürfte es nur keiner wissen...« Diesem Gedanken hing sie mit leuchtenden Augen nach. – Und plötzlich fing sie an zu weinen. War's Empörung, Enttäuschung, das Gefühl der wirklichen Verlassenheit, das ihr Herz vielleicht zum erstenmal empfand? – Aber sie mußte weinen. –

Gegen Abend kam Frida. Modeste saß noch immer in ihrer nassen Seidenbluse, die auszuziehen sie vollkommen vergessen hatte. Sie sah auch nicht auf, weil ihr die rotgeweinten Augen brannten.

»Du bist wohl sehr traurig, meine liebe Schwester?« höhnte Frida.

»Ich wüßte wahrhaftig nicht warum... Übrigens laß mich, bitte, ich habe Augenschmerzen!«

»Armes Kind! Und dabei habe ich dir eine sehr traurige Mitteilung zu machen. Dein Busenfreund, der Inspektor Romeit, geht nämlich nicht am ersten Juli, sondern er geht bereits morgen ganz in der Frühe. Diesmal war's denn doch zuviel! Er hatte sich zwar, wie du vielleicht am besten wissen wirst, die ganzen dreiviertel Jahre nicht viel um die Wirtschaft gekümmert, aber heute zog er es sogar vor, sich vierundzwanzig Stunden gar nicht drum zu kümmern. Da ließ ihm denn Papa durch den Hofmann sagen, daß er seiner Dienste wirklich nicht mehr bedürfte und den Vormittagszug morgen für die beste Reisegelegenheit halte. Auf Abschied würde gleichfalls verzichtet.– Und diesmal war's nicht etwa Papa, der den Ausschlag gab, sondern Mama. Denn wir brauchen wirklich keinen – wirklich keinen...«

»Ja, was braucht ihr denn wirklich nicht?« fragte Modeste müde zurück.

»Einen Inspektorschwager brauchen wir wirklich nicht...«

Modeste fuhr wie gestochen auf. »Unverschämtes Frauenzimmer!«

Aber Frida hatte bereits die Türklinke gefaßt. »Ja, Inspektorschwager! Inspektorschwager!« höhnte sie noch einmal.

Darauf wechselte Modeste die Toilette sehr langsam und sehr sorglich, ehe sie zum Abendbrot hinunterging. Sie merkte recht gut, daß die Blicke von Mutter und Schwester argwöhnisch auf ihr ruhten. – Selbst der alte Knochenmehlhändler räusperte sich mißtrauisch... Aber der Stern von Barginnen war kein schlechter Komödiant, wo es galt! Sie blieb darum auch noch horchend an der Tür stehen, als sich die Eltern zu einer kleinen Besprechung in das Zimmer mit dem Grafenkalender zurückgezogen hatten.

»Lieber Mann, Frida sagte mir schon neulich, als der kleine Judenjunge...«

»Laß mich mit dem Judenjungen!« knurrte der Alte.

»Lieber Mann, du siehst auf Modeste wie in einen goldenen Spiegel.«

»Ich halte es eben für ganz undenkbar, Luise...«

»Ich ja auch eigentlich, lieber Mann.«

Die Stimmen wurden leiser.

»Aber bedenke doch, in deiner eignen Familie...«

»Luise, erinnere mich nicht!« Modeste glaubte ihres Vaters Stimme noch nie so heiser und spröde klingen gehört zu haben. »Denn in diesem Falle würde für mich auch das liebste Kind tot sein, mausetot...«

In solchen Fällen war der alte Knochenmehlhändler tatsächlich ein Mann von Wort. Modeste wußte das und empfand gar keine Lust, mit dem Schicksal zu spielen. Dennoch blieb sie bis spät in die Nacht unten im Wohnzimmer. Sie dachte, »er« müsse noch kommen, unter irgendeinem Vorwand sich verabschieden, wenigstens von ihr. Sie wünschte diesen Abschied eigentlich nicht, sie fürchtete ihn vielleicht. – Aber daß er gehen könne ohne Abschied, das wollte ihr nicht in den Sinn. Endlich mußte sie es glauben. Aber noch vom Turmzimmer spähte sie hinunter in die feuchtwarme Sommernacht, irgendeine träumerisch wandelnde Gestalt zu erblicken, in den Parkbosketts, dem Lindengang. Es regte sich aber nichts. Nur die Blätter schüttelten sich vor Regen, und die ersten Lindenblüten schickten weiche Düfte. »Ich bin eine Närrin!« – Sie war fertig mit dem Mann, dem sie doch niemals hätte angehören können. Ein Frühlingsstrom verrauscht, versiegt... Dennoch sehnte sie sich nach einem letzten Händedruck, einem letzten Wort, vielleicht nur, um beides kaltlächelnd zu refüsieren. – Sie schlief auch nicht, sie lag mit offenen Augen. Als der Hund gegen Morgen kratzte, nahm sie es als Omen, kleidete sich leise an und schlich hinunter.

Graue Dämmerung, feuchte Kühle, im Osten ein safranroter Lichtstreif. Modeste fröstelte, daß ihr die Zähne zusammenschlugen. Trotzdem blieb sie lange. Ging den Lindenweg auf und ab, horchte, stand lauschend an dem Seitenweg, wo sie ihn geküßt. Kein Laut, kein Mensch. – Als die Melkerinnen mit ihren Holzpantoffeln über den Hof trappten, schlich sie ins Turmzimmer zurück: »Na, dann nicht!« Und mit jeder Stufe, die sie emporstieg, verhärtete sie ihr Herz.


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