Johannes Richard zur Megede
Modeste
Johannes Richard zur Megede

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23

In Barginnen waren die letzten Skatspieler abgefahren. Der alte Lindt promenierte gutgelaunt vor der Schloßeinfahrt hin und her und sah mit dem Behagen eines braven Hausvaters, wie drüben die letzten Haferfuder in den Hof schwankten. Der Tag ging zur Rüste.

Im Salon oben tagte derweilen kleiner Familienrat. Die neugebackene Edelfrau mit ihren beiden älteren Töchtern; Graf Axsil auf einem Schaukelstuhle abseits. Seine Zigarre leuchtete wie ein Glühwurm durch die Dämmerung.

»Aber Frida, es ist unmöglich!«

»Liebe Mama, ich habe keine drei Schritt davon gestanden. Ich könnte dir Wort für Wort erzählen.«

»Sie hat immer gemeine Passionen gehabt,« lispelte die Gräfin. »Mir wird ganz unwohl bei dem Gedanken. Ein Mensch, der wahrscheinlich riecht und sich die Hände nur Sonntags wäscht... Und sich mit so etwas abzuküssen!«

Die alte Lindt rang nur immer die Hände. »Und das heute – heute! Den Papa rührt der Schlag.«

Graf Axsil, den die halb geflüsterten Lamentationen nur mäßig interessierten, fragte bei dem letzten Ausruf der Gattin scherzend hinüber: »Ich höre immer: Modeste und Küssen. Ist das mit dem Mieritz denn schon so weit? ... Nun, dann seid doch froh! ... Für eine Verlobung ohne herzhafte Liebkosungen würde sich Modeste auch wohl schönstens bedanken.«

Die Schwestern sahen sich als Antwort nur grünäugig an.

Endlich sagte die Mutter mit mühsamer Fassung: »Es ist etwas Schreckliches vorgegangen – etwas Schreckliches! ... Du kannst ja gar nicht ahnen, Dagobert... Papa muß erst kommen... er weiß überall Rat, er wird auch hier den besten Ausweg wissen... Aber ob er es freilich überlebt...«

Graf Axsil, der viel zu aristokratisch gelassen war, um über irgend etwas zu erstaunen, erwiderte darauf gleichmütig: »Wenn es etwas so Ungeheuerliches ist, wäre es doch besser, Mama, wir verhandelten in dem kleinen roten Eckzimmer. Hier kann der Diener zuhören und jeder, der sonst noch Lust hat... Und ich habe eine Ahnung, als ob es ein etwas heißes Gefecht werden dürfte.«


Einige Zeit später erschien, von Fräulein Frida geführt, der neue Edelmann. Er hatte am wenigsten solchen Ausgang erwartet, aber er hatte am ehesten begriffen. Und während Frida zungenfertig mit allerlei Details erzählte, schien der Alte von einer steinernen Ruhe. Nur wenn die Frauenstimme etwas spitz klang, winkte er nervös. »Schmutzige Wäsche wäscht man nicht außer dem Hause, liebes Kind!... Und wenn meine mißratene Tochter nachher kommt – bitte, kein Wort! ... Ihr könnt meinetwegen dabei sein – ihr sollt's sogar – aber reden werde ich allein.«

Darauf erhob er sich steifbeinig und gemessen wie immer, ging selbst der Familie voran nach dem roten Zimmer, steckte selbst die Lampe an, und seine Hand zitterte nicht, als er die Glocke behutsam wieder aufsetzte.

So sahen sie wohl eine Stunde in dumpfem, stumpfem Schweigen.

Als Modeste ins Zimmer trat, schaute niemand auf. Es war wie die heilige Feme.

»Modeste...« sagte endlich die Mutter.

Der Alte räusperte sich. »Ich habe doch gebeten...« Darauf zur Tochter: »Habe die Güte, Platz zu nehmen!«

Modeste sah sich im Kreise um und blieb stehen, obgleich ihr der Schwager, verbindlich wie immer, einen Fauteuil hinschob. »Ich weiß, was kommt. Ich kann auch so hören.«

Der Alte runzelte leicht die Stirn. »Ganz wie du wünschst...« Darauf begann er fast geschäftsmäßig: »Also du hast ein Liebesverhältnis mit dem Romeit... Beschönigen wir nichts! Verhältnis – schlechtweg Verhältnis... Du wirst, wie ich dich kenne, auch nicht den törichten Versuch machen, zu leugnen, da du von deiner eignen Schwester gesehen worden bist. Deine Mutter hatte längst den Verdacht, dein Vater aber war wie gewöhnlich der gutmütige Dumme... Ich will darum auch nicht viel Worte verlieren. Skandal – cochonnerie: Schluß!... Es war gerade nicht nötig, daß du das deinem alten Vater antun mußtest, der wahrhaftig weiße Westen ohne Flecken liebt! ... Ich will auch keine schmutzigen Details wissen. Nicht mal Vorwürfe werde ich dir machen, weil es sinnlos ist, über Dinge zu zetern, die nun einmal nicht mehr zu ändern sind.« Er hielt scheinbar erschöpft inne. »Daß du den Schubbejack in deinem Leben nicht mehr sehen darfst, ist selbstverständlich... Aber du wirst ihm schreiben, und zwar sofort und vor unsern Augen hier: nämlich, daß du das Geschehene aufs tiefste bedauertest und daß deine Familie – Inspektoren sind unter allen Umständen Schwefelbande – bereit wäre, sein Stillschweigen zu erkaufen.«

Bis zu dem Augenblicke hatte Modeste unbeweglich dagestanden, das Gesicht so kalt und verschlossen wie ihr Vater. Bei dem letzten Wort aber zuckte sie zusammen, wie von einem giftigen Insekt gestochen. »Das ist unmöglich,« sagte sie leise. »Es wäre eine bodenlose Gemeinheit, wenn ich ihm das zumuten sollte.«

Der Alte machte eine verächtliche Bewegung mit der Hand. »Blödsinn! ... Geld hat mit Gemeinheit nicht das geringste zu tun. Geld ist einer von den wenigen wirklichen positiven Werten... Wer mir eine Mark in die Hand drückt, der beleidigt mich allerdings; wer mir aber zehntausend Mark vermacht, den halte ich zeitlebens für meinen Wohltäter. Es kommt im Leben immer nur auf die Summe an. Wenn ich arm wie eine Kirchenmaus wäre, schmisse mir niemand den Adel nach trotz aller Tugend; bin ich aber reich, trägt man mir das Diplom auf einem silbernen Präsentierbrette entgegen – ich darf nur nicht gerade im Zuchthause gesessen haben... Du schneidest zu meinen Worten allerlei Grimassen – habe aber lieber die Güte, vernünftig zuzuhören!... Ich werde diesem sogenannten Herrn Romeit weder eine Mark noch zehntausend schenken. Ich werde ihm aber eine kleine Pachtung besorgen, im Westen vielleicht, die Kaution für ihn stellen, natürlich mit der Bedingung, daß er in dem Augenblick erledigt ist, wo er zugibt, meine Tochter Modeste überhaupt je gekannt zu haben. – Und das wirst du ihm schreiben, und er wird akzeptieren!... Und dann werde ich dich in die Französische Schweiz schicken auf ein Jahr, und dann wirst du zurückkommen. Das übrige wird sich schon finden... Ich glaube kaum, daß andre Väter so väterlich handeln würden in meinem Fall...«

Modeste schwieg.

»Du hast mir nichts darauf zu erwidern?«

»Nichts, absolut nichts.«

Der Alte erhob sich halb im Sessel. »Das ist ein Ton und eine Art... Mädchen, ich sage dir –!«

Da sprach sie trotzig: »Mit dem, was du da eben vorgeschlagen hast, entehrst du nicht etwa mich allein – du entehrst dich, euch alle ... Was ich auch getan haben mag, ich bin kein Mädchen von der Straße. Ihr aber macht mich dazu!... Und wenn ihr euch vielleicht einbildet, daß er so etwas annimmt, daß für ihn auch nur die Möglichkeit existiert...«

»Das überlasse mir!« unterbrach der Alte kurz. »Ich habe schon ganz andre Vögel gezähmt als dich und den Menschen, der ein gewöhnlicher Patron ist und bleibt. Das sage ich dir!« Und seine Hand fiel schwer auf den Tisch.

Modeste sah sich instinktiv im Kreise um. Kalte oder feindselige oder gleichgültige Augen überall. Nur der Graf hielt den Blick in vornehmer Scham gesenkt... Geschah ihr in diesem Anblick, wie es nur ganzen Naturen geschieht, die erst im schwersten Kampf ihre Vollkraft spüren? – Ihre Gestalt wuchs. »Und wenn ich ihn nun heiraten will – ihn und keinen andern...?«

Dem Alten blieb der Mund offen. Die Gräfin lispelte unartikuliert: »O du bodenlos ordinäres Geschöpf, du! Heiraten, heiraten... das setzt allem die Krone auf!... Dagobert, besorge mir doch ein Glas Wasser...«

Der Graf aber zischte nur heiser zurück: »Keine Attitüden! Das ist schon alles ekelhaft genug... Mir tut allein das arme Mädel leid...«

Die Schloßfrau begann wie geistesverwirrt an ihrer Stickerei zu sticheln, so hastig, als könne sie dadurch allein dem Verhängnis entrinnen.

Aber der alte Knochenmehlhändler war langsam aufgestanden. »Heiraten –? sagst du – heiraten?« Seine Stimme klang leis und spröde wie aus weiter Ferne. »Sag's noch einmal, und du schläfst nicht eine Nacht mehr in deinem Leben unter diesem Dach!... Ich will so tun, als hätte ich nichts gehört – und ich frage dich jetzt: wenn Herr von Mieritz morgen kommen wird, um deine Hand anzuhalten, was wirst du ihm antworten?«

Einen Augenblick zögerte Modeste, und ihre Hand klammerte sich instinktiv an den Tischrand. Dann antwortete sie stockend, aber sicher: »Ich werde ihm sagen, was ich ihm schon längst hätte sagen sollen: daß ich bedauerte, weil ich einen andern liebte und...«

»Weiter – weiter!« Es klang wie fernes Grollen.

»Und daß ich Herrn Romeit heiraten würde.«

Der Alte holte tief Atem. »Noch spricht dein Vater zu dir, Modeste... Überlege!... Du wirst Herrn von Mieritz antworten...?«

Vater und Tochter sahen sich regungslos an. Kein Blick wich. Es war im Grunde dasselbe eisenharte Metall, das aus dem Wust von Lüge und Verstellung jetzt rein durchblitzte bei beiden.

»Ich werde Romeit und keinen andern heiraten! Tut, was ihr wollt...«

Dem Alten schwollen die Adern an den Schläfen zum Springen. Es war ein schreckliches Bild, wie er so dastand, die Fäuste geballt, die Lippen lallend.

Der Mutter war die Stickerei aus der Hand gesunken; Erika tastete wie in einer Ohnmacht mit beiden Händen nach der Stirn; Frida hatte die Augen zusammengekniffen, daß nur die blonde Wimperlinie sich abzeichnete – der Graf aber, der das Äußerste kommen sah, war aufgesprungen.

»Kinder, das geht nicht! Ihr wißt alle nicht mehr, was ihr sagt – du auch, Papa... Sie mag getan haben, was sie will – aber wir sind doch schließlich anständige Leute, die nicht dulden dürfen, daß es so weit kommt... Das Mädchen ist wehrlos! Vergiß das nicht als Gentleman...«

Darauf winkte der Alte nur ingrimmig mit der Faust. »Ich werde mir wohl von euch vorschreiben lassen, was sich gehört!... Skandal hin, Skandal her... Wenn das Frauenzimmer auf die Straße gehört, so will ich wenigstens der erste sein, der sie auch dahin befördert ... Und ich will den sehen, der mir in den aufgehobenen Arm zu fallen wagt!« Er wandte sich wieder zu Modeste. »Stier mir nicht so frech auf das Bild da, entartetes Geschöpf... Oder starr auch meinetwegen gerade hin!« Er trat zwei Schritte vor und riß die Photographie mit einem Ruck von der Wand, so daß der Kalk rieselte. Und die Lippen bebend, fuhr er fort: »Es ist das Bild von deiner lieben Tante, meiner leiblichen Schwester, wenn du es noch nicht wissen solltest!« Die Augen blitzten ihm höhnisch. »Das war auch so 'n Frauenzimmer! Die hatte Kinder und 'n Mann und lebte in geordneten Verhältnissen. Und da kam so ein junger Schnüffel, der ihr besser gefiel, und mit dem lief sie davon. Sie war eben eine Dirne vom Scheitel bis zur Sohle ... Und ob sie mir auch alles mögliche vorgewimmert hat, daß sie ihren ersten Mann nie geliebt hätte und daß wir sie zur Ehe gezwungen hätten indirekt... Sie ging, Gott sei Dank, freiwillig, sonst hätte ich sie auch rausbefördert. – Und gegangen ist es ihr auch danach ...« Er hob das Bild, es auf den Boden zu schleudern. »Pfui Teufel!«

Da fiel ihm Modeste in den Arm. Sie war todblaß, aber ihre Augen glänzten entschlossen. »Du wirst das Bild nicht unter die Füße treten – du wirst es nicht!... Sie ist die Beste von euch, die einzige, die mich getröstet hat in meiner Not. Sie hat mich nicht feige verlassen – ich will sie auch nicht feige verlassen... Und wenn sie euch eine Dirne heißt, so will ich euch auch gern Dirne heißen... Und wenn sie ins Elend gegangen ist für den Mann, den sie liebte...«

Der Alte schüttelte den Kopf. »Ich glaube, das Mädchen redet irre. Schafft sie ins Bett, bis sie vernünftig geworden ist!... Ich möchte mich nicht an einer temporär Geisteskranken vergreifen.«

Der Graf faßte Modestes Hand. »Geh, Modeste, schlaf! Es wird sich schon ein Ausweg finden ...« Auch die Mutter wollte beruhigen. Selbst Frida machte einen lauen Versöhnungsversuch. »Du sollst ja weiter nichts versprechen, als daß du den Menschen nie wiedersehen willst.«

Jedoch Modeste sah alle nur ruhig der Reihe nach an. »Bemüht euch nicht unnötig. – Ich bin nicht verrückt, ich bin nicht mal übermäßig erregt... Ich kann euch nur wiederholen: ich liebe den Mann und werde ihn heiraten. – Nachsagen könnt ihr ihm nichts – höchstens, daß er arm ist...« Und mit gehobener Stimme fuhr sie fort: »Aber auch wenn ihr ihm etwas nachsagen könntet – ich liebe ihn, ich will ihn für mein ganzes Leben lieben. Das löscht alles aus... Im übrigen kommt alles, wie es kommen muß, das fühle ich jetzt so klar... Und ich danke dem von Herzen, der mir riet, den geraden Weg zu gehen, wohin er auch führt... Ich überlege nicht – ich will nicht überlegen!... Aber ich frage dich, Papa, noch einmal, ob du mir den Mann geben willst oder nicht?«

Wählend einer Minute lastende tödliche Stille, wo jeder sein eigen Herz pochen hörte. Der alte Lindt stand unbeweglich, wie aus Erz gegossen, die Augen ins Leere... Er schien wie erstarrt. – Dann kam das Leben wieder zurück, die Backenmuskeln zuckten; er sah Modeste an mit dem halben, tückischen, gefrorenen Blick: »Du kannst gehen, wohin es dir beliebt... Du bist ausgestrichen aus unserm Buch. Und Gott soll mich strafen, wenn du noch einmal mit meinem Willen in dieses Haus zurückkehrst.«

Ein entsetzter Aufschrei: »Papa!« – »Um Gottes willen!« – »Modeste, bitte doch!« – Die Mutter saß sprachlos.

Aber ein einziger Blick des alten Mannes lähmte die feigen Egoistenherzen wieder.

Modeste schien zu zögern. Das war das letzte Wort, der letzte Hieb – eine Rückkehr gab es danach nicht mehr... Und dabei durchzuckte die Ausgestoßene der seltsame Gedanke, als müsse sie die Ihrigen eigentlich noch einmal zum Abschied küssen. Es war nur ein Moment. Er ging vorüber. Auch ihr Gesicht war unbeweglich geworden, kalt.

»Wird's bald? – Oder soll ich vielleicht den Diener rufen?«

»Das ist nicht nötig. Ich gehe schon allein... Und wenn ich dieses Haus je wieder betrete, so will ich verwünscht sein.«

Ehe Modeste die Tür nach dem Korridor öffnen konnte, kam ihr Graf Axsil nachgeeilt und nahm ihren Arm. Er führte sie die Treppen hinunter, half ihr den Sportpaletot anziehen, ohne Gedanken, ein höflicher Automat. Erst in dem Schloßportal fand er sich wieder. »Modeste, so kannst du unmöglich gehen! Es ist Nacht. Du weißt nicht einmal wohin... Du hast nichts bei dir.«

Da schien auch Modeste erst zu erwachen. Sie sah auf ihre Hand, die das Bild der Verfemten noch immer krampfhaft hielt, und mußte unwillkürlich lächeln. »Ich habe meine Schutzheilige mitgenommen, wie ihr Katholiken sagt. Ist das nicht genug?«

»Bleib hier!« bat er. »Du hast gewiß nicht recht gehandelt – aber dein Vater nun schon ganz gewiß nicht... So etwas kann nicht so endigen!«

»Und wenn es doch so endigt, mein lieber Schwager Dagobert? – Ich jedenfalls kehre freiwillig nach Barginnen nie mehr zurück... Es muß eben alles ein Ende haben. – Und nun adieu und vergiß mich! ... Das ist mir schon das Liebste und dir später auch.«

Und ohne auf die Bitten des Schwagers oder die erstaunten Gesichter der Dienstboten zu achten, ging sie in die Nacht hinaus: wohin, war ihr selbst ganz unklar. – Aber sie hatte Falkner von Öd endlich begriffen: für den, der vorwärts will, darf es kein Zurück geben.


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