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Illustration: O. Herrfurth

Im Streit mit den Mandarinen.

Dreizehntes Kapitel

Der Tempelbesuch und seine Folgen.

Die Gäste schliefen gut und lange. Als sie erwachten, bekamen sie den Thee im Garten serviert und erfuhren, daß der Mandarin bereits in Amtsgeschäften fort sei. Er hatte dem Hausmeister Auftrag gegeben, seine Stelle bei ihnen zu vertreten. Da sie hörten, daß er am Vormittage nicht heimkehren werde, beschlossen sie, sich inzwischen die Stadt anzusehen, und baten den Hausmeister, die Sänften bereit zu halten.

Bevor sie aufbrachen, machte der Methusalem dem Juwelier den versprochenen Besuch. Gottfried begleitete ihn, in der gewöhnlichen Weise hinter ihm herschreitend, während der Hund voranging.

Hu-tsin empfing sie mit großer Herzlichkeit und lud sie ein, in sein Familienzimmer zu treten, was gewiß eine Auszeichnung für sie war, da ein Chinese nicht so leicht einem Fremden einen Einblick in seine Familie gestattet.

Von einem eigentlichen Zimmer nach unserm Sinne war keine Rede. Es war ein großer Raum, welcher durch verschiebbare Kulissenwände beliebig abgeteilt werden konnte. Hinter einer dieser Wände trat die Frau hervor, welche sie schon gestern abend, aber bei der Laternenbeleuchtung nicht so deutlich wie jetzt, gesehen hatten. Sie besaß mongolische, aber sehr sanfte und ansprechende Gesichtszüge. Sie reichte den beiden ihre Hände und bat sie, eine Tasse Thee mit ihnen zu trinken, was auch gern geschah.

Der Tisch, an dem man Platz nahm, war weit niedriger als bei uns, und die Stühle hatten dem angemessen auch eine geringere Höhe. Es gehörte Uebung und Gewohnheit dazu, sich da bequem zu fühlen.

Natürlich war das Ereignis des gestrigen Abends der Hauptgegenstand des Gespräches. Degenfeld schärfte dem Chinesen ein, ja nicht verlauten zu lassen, wie die Sache sich in Wahrheit zugetragen habe.

Während sie sich unterhielten, hörten sie unterdrückte Kinderstimmen hinter einer der Wände. Auf das Befragen Degenfelds sagte Hu-tsin, daß dort seine Kinder säßen und sich mit Lesen beschäftigten.

Kinder und lesen, in China! Das war dem Methusalem höchst interessant. Er bat, die Kleinen sehen zu dürfen, worauf der Juwelier die Wand zur Seite schob. Da saßen zwei Knaben und ein Mädchen, der älteste wohl nicht über elf Jahre, an einem kleinen Tische und hatten eine Schrift vor sich auf demselben liegen. Sie standen sofort auf, kamen herbei und verbeugten sich so tief, daß ihnen die kleinen dünnen Zöpfchen nach vorn fielen. Die ernsten, zeremoniellen Gesichter, welche sie dabei machten, gaben ihnen ein außerordentlich drolliges Aussehen.

Methusalem bat sich das Buch aus und warf, als er es erhalten hatte, einen Blick auf den Titel und einen zweiten längeren auf den Inhalt.

»Hältst du das für möglich, Gottfried,« rief er aus; »eine Jugendschrift!«

»Wat? Eine Jugendschrift? Ist es die Möglichkeit? In China eine Jugendschrift? Wohl gar à la Spemanns Universum?«

»Aehnlich, mit Bildern, doch in richtigen Reimen geschrieben.«

»Dat ist mich neu! Dat habe ich diesen Chinesigen nicht zujetraut!«

»O, da hast du dich in einem großen Irrtum befunden. In China kann ein bedeutend größerer Prozentsatz der Bevölkerung lesen als zum Beispiel in Frankreich.«

»Aberst unsre deutschen Jungens sind den hiesigen doch jewiß noch über?«

»Natürlich!«

»Schade, daß ich nichts lesen kann! Sprechen thue ich zwar manches Wort, verstehen auch, aberst mit das Lesen, da hapert es jewaltig. Wat steht denn eigentlich drin? Wat wird die Jugend hier jelehrt?«

»Nur Gutes. Hier steht zum Beispiel:

›Tszö pu hio,
Feï so i;
Yeu pu hio
Lao ho weï?‹«

»Und wat heißt dat?«

»Das heißt:

Kind nicht lernen,
Nichts wozu taugen;
Knabe nichts lernen,
Greis was thun?

oder weniger wörtlich: Wer als Kind nicht lernt, der wird ein Taugenichts; wer als Knabe nicht lernt, was soll der im Alter treiben? Das Buch hat den Titel ›Santszö-king‹, das Dreiwörterbuch, weil jede Zeile nur aus drei Wörtern besteht.«

»Bitte, noch einen solchen Reim!«

»Gern; hier ist einer:

Phi pu pian,
Sio tschu kian
Phi wu schu,
Zie tsch mian.

Das heißt: Der auf Binsenmatten schrieb, der Bambusrinde als Papier nahm, diese Leute waren ohne Bücher, und dennoch studierten sie eifrig. Es werden hier den kleinen Lesern Beispiele aus der Geschichte zur Nachahmung vorgeführt. Ganz denselben Zweck hat auch der nachfolgende Reim:

Ju nang ing,
Ju ing siue,
Kia sui phin
Hio po tschue.

Das ist zu deutsch: Der beim Scheine der Leuchtfliegen und der bei der Helle des Schnees studierte, obwohl sie von Hause aus arm waren, versäumten sie das Lernen nicht. Die beigegebenen Bilder illustrieren die angeführten Beispiele. Ich selbst habe nicht gewußt, daß es hier so vortreffliche Schriften für die Jugend gibt.«

»Dat wäre interessant für unsern juten Turnerstick. Er könnte für die chinesische Jugend Reime auf seine Endungen dichten, wofür man ihn hier jewiß unter die berühmten Sterne des jelehrten Horizontes versetzen würde. Schade, daß er nicht hier ist.«

Die Leute freuten sich sehr, daß die beiden so lebhaftes Vergnügen über die Beschäftigung der Kinder empfanden. Darum, und vor allen Dingen aus Dankbarkeit für den gestern geleisteten großen Dienst, holte der Mann aus dem Laden einen mit allerlei Kostbarkeiten angefüllten Kasten und bat sie, sich einige Gegenstände als Andenken auszuwählen. Der Methusalem weigerte sich entschieden, etwas anzunehmen, kränkte aber damit die guten Leute so sehr, daß er sich endlich bereit erklärte, sich zu einer Kleinigkeit zu verstehen, welche von keinem zu hohen Werte sei.

Er erhielt eine jener Elfenbeinschnitzereien, welche nur von der unendlichen Geduld eines Chinesen hergestellt werden können. Es war ein winzig kleines Häuschen, nicht einen Zoll lang und hoch und kaum halb so breit, und doch stellte diese kleine Schnitzerei ein Haus dar, welches aus dem Parterre und einer vielgeschnörkelten Etage bestand. Im Parterre gab es vier Fenster, durch welche man in der ersten Stube einen Chinesen essen, in der zweiten einen Mann lesen, in der dritten einen Mandarin schreiben und in der vierten einen Bauer rauchen sah. Das Stockwerk bestand aus zwei Zimmern; im ersten saßen Mann und Frau bei der Arbeit, und im zweiten schliefen die Kinder dieses Paares in vier Betten. Und alle diese Personen und Gegenstände waren trotz ihrer fast mikroskopischen Kleinheit so fein, deutlich und kunstvoll gearbeitet, daß der Verfertiger gewiß ein Meister seines Faches gewesen war und jahrelang gebraucht hatte, um dieses allerliebste Kunstwerk zu vollenden.

Gottfried empfing eine fein durchlöcherte Pfeifenspitze, aus welcher man mittels des Rauches allerlei sonderbare Figuren blasen konnte, ein Geschenk, welches ihm, wie er versicherte, als heimlichem Mitraucher der Hukah von großem Werte war.

Aber noch ein Geschenk gab es, viel, viel kostbarer als die beiden andern, obwohl man es demselben nicht ansehen konnte. Der Juwelier brachte nämlich ein kleines Büchelchen, nur drei Zoll lang und breit. Der Einband war von gepreßtem Leder, und der Inhalt bestand aus nur einem einzigen Blatte, welches auf beiden Seiten mit fremdartigen Charakteren beschrieben war. Der Methusalem konnte dieselben nicht enträtseln und fragte, was das Miniaturbuch zu bedeuten habe.

»Es ist ein sehr wertvoller Besitz für denjenigen, der es gebrauchen kann, nämlich ein T'eu-kuan,« antwortete Hu-tsin.

»Ein T'eu-kuan, also ein Paß des Bettlerkönigs?«

»Ja, ein Paß meines Schwiegervaters. Meinen Sie nicht, daß er Ihnen von Nutzen sein könne?«

»Wie sollte er mir von Vorteil sein? Ich bin nicht Unterthan des T'eu.«

»Dieser Paß ist auch nicht für seine Leute, sondern für Fremde. Sie haben doch bereits Legitimation?«

»Ja, und der Tong-tschi hat mir auch einen ganz vortrefflichen Paß gegeben.«

»Des können Sie sich freuen, denn dieser Mann hat die Fremden zu beaufsichtigen, und wen er beschützt, dem kann nicht leicht ein Unfall widerfahren. Aber diese Pässe sind doch nichts gegen den Kuan meines Schwiegervaters.«

»Wieso?«

»Weil – – nun, ich habe Ihnen bereits gestern erklärt, was ein Bettlerkönig ist und was er zu bedeuten hat. Er besitzt wirklich mehr Macht als der höchste Mandarin. Der Paß der Behörde wird respektiert, ja, aber der Kuan des T'eu hat noch eine ganz andre Wirkung. Er ist von einer Gewalt aufgestellt, welche einen jeden unsichtbar umgibt und einen jeden fassen kann dann und da, wo er es am allerwenigsten denkt. Der Befehl eines Mandarinen flößt Achtung ein, derjenige des Bettlerkönigs aber flößt Schrecken ein. Sie werden nicht hier bleiben, sondern noch weiter in das Reich gehen?«

»Das ist allerdings meine Absicht.«

»Nun, da werden Sie Leute finden, welche des Gebotes der Behörde lachen, einen Befehl des T'eu aber so achten, als ob er ihnen von dem Sohne des Himmels selbst erteilt worden sei.«

»Ist dieser Kuan das Schriftstück, von welchem Sie gestern sprachen, welches man gegen Bezahlung von dem T'eu empfängt, um es als Abwehr gegen die Bettler an die Thüre zu kleben?«

»O nein. Der Zettel, von welchem Sie sprechen, ist nur eine Weisung an die Bettler, an der betreffenden Thüre vorüberzugehen. Dieser Kuan aber ist ein Schutz- und Geleitbrief für seinen Besitzer. Er wird nur höchst selten ausgestellt und zwar nur an Personen, denen der T'eu im höchsten Grade verpflichtet ist. Derjenige, welcher diesen Paß nicht achtet, setzt sich der größten Gefahr aus. Zeigen Sie dem T'eu an, daß ein Vicekönig Sie nicht beschützt hat, nachdem Sie ihm den Kuan vorgezeigt haben, und mein Schwiegervater wird diesem hohen Beamten eine Schar seiner zudringlichsten Unterthanen auf den Hals senden, die ihn so lange peinigen, bis er Abbitte gethan hat. Ich habe diesen Paß von dem T'eu für mich selbst erhalten, aber ich bitte Sie, ihn von mir anzunehmen, und es sollte mich herzlich freuen, einmal erfahren zu können, daß er Ihnen Nutzen gebracht habe.«

»Dürfen Sie ihn denn verschenken?«

»Nur an eine Person, welche mir einen sehr großen Dienst geleistet hat. Auch habe ich es sofort durch einen Boten dem T'eu zu melden, da er genau wissen muß, in welchen Händen sich diese wichtigen und seltenen Kuans befinden. Er wird mir dann einen andern für mich senden. Hoffentlich schlagen Sie mir meine Bitte nicht ab. Ich fühle mich dadurch doch wenigstens um einen kleinen Teil der Schuld erleichtert, welche ich an Sie abzutragen habe.«

War dieser Paß eines Bettlerfürsten schon an sich ein höchst interessanter Gegenstand, so daß man wohl wünschen konnte, in den Besitz eines solchen zu kommen, so lag es außerdem gar wohl im Bereiche der Möglichkeit, daß diese Legitimation dem Methusalem und seinen Gefährten von Nutzen sein werde. Darum ging der Student auf die Bitte des Juweliers ein und steckte den T'eu-kuan zu sich, bot sich aber dafür die Erlaubnis aus, ihm später aus Deutschland ein Gegengeschenk senden zu dürfen, irgend einen Gegenstand, welcher hier selten und also auch von großem Interesse sei.

Dann schieden die beiden Deutschen von den dankbaren Leuten, welche sich noch bis zum letzten Tsching tsching in Höflichkeiten ergingen. Als sie aus dem Laden traten, sahen sie eine Anzahl Polizisten vor dem Hause Wing-kans stehen, aus welchem hoch bepackte Kulis kamen. Die Behörde war dabei, sich den Besitz des Gefangenen anzueignen, dessen wertvollsten Teil der Tong-tschi freilich schon gestern abend heimlich auf die Seite gebracht hatte.

Und eben als sie in das Haus des letzteren traten, ertönten am Eingange der Straße die durchdringenden Klänge des Gong. Der Wächter machte abermals die Runde, heut aber um zu verkündigen, daß die gestohlenen Götter sich selbst befreit hätten und noch im Laufe des Tages in ihren Tempel zurückkehren würden. Er fügte hinzu, daß die Missethäter ergriffen worden seien und ihrer gerechten Bestrafung entgegengingen.

Indessen hatte der Hausmeister den wegen der Sänften an ihn gerichteten Wunsch erfüllt. Die Reisenden stiegen ein und brachen auf, zwei Läufer an der Spitze und zwei Diener hinterher. Die Wasserpfeife, welche unbequem war, und den Neufundländer, von welchem man nicht wußte, ob er überall mit hingenommen werden dürfte, hatte der Methusalem zurückgelassen. Auch die Fagottoboe war zurückgeblieben, was dem Gottfried nicht wenig Ueberwindung kostete. Er hatte die wunderbaren Töne derselben hier in China noch gar nicht an den Mann bringen können, während er daheim im »Geldbriefträger von Ninive« die Genugtuung gehabt hatte, täglich die Biersignale zu geben und die zahlreichen »Hochs« mit dem geliebten Instrumente zu begleiten.

Der Wunsch, einen Tempel zu besuchen, wurde bald erfüllt. Die Träger hielten vor einem Bauwerke, welches sie als das »Heiligtum der fünfhundert Geister« bezeichneten. Die Reisenden stiegen aus den Palankins, um es sich zu besehen.

Sie traten in einen überdachten Thorweg, an dessen Seiten zwei steinerne Ungetüme standen. Ein wohlgenährter Bonze Priester, Mönch trat ihnen entgegen, um sie mit einem freundlichen Tsching tsching zu begrüßen, welches ihm in herablassender Weise zurückgegeben wurde. Er bot sich als Führer an und geleitete sie in eine lange Doppelhalle, an deren Wänden fünfhundert vergoldete Menschenbilder saßen, welche die berühmtesten Schüler und Jünger Buddhas vorstellen sollten.

Für den ersten Augenblick machten diese vielen starren Gestalten einen fast beklemmenden Eindruck. Bei näherer Betrachtung aber konnte man sich mit dieser stummen Gesellschaft wohl befreunden, da die Idole keineswegs das Aussehen grimmiger oder gar blutgieriger Götzen hatten.

Da in China der Begriff der Schönheit mit demjenigen der Wohlbeleibtheit unzertrennlich ist und die »erhabenen Heiligen« doch unbedingt schön sein müssen, so besaßen alle diese Bilder einen Leibesumfang, welcher sich mehr oder weniger dem des Mijnheer van Aardappelenbosch näherte, ja denselben zuweilen noch übertraf. Die Gesichter hatten ohne alle Ausnahme höchst gutmütige Züge; die meisten lachten sogar, viele davon in einer Weise, daß die dicken Mäuler weit aufgerissen und die schiefen Augen ganz verzerrt waren und man hätte erwarten können, die heitere Gesellschaft im nächsten Augenblicke in einen allgemeinen Lachkrampf verfallen zu sehen.

Nur eine einzige Figur machte ein sehr ernsthaftes Gesicht; auch war sie durch verschiedene Tracht vor den andern ausgezeichnet. Auf die Frage des Methusalem, wen diese Figur vorstelle, antwortete der Bonze: »Das ist der größte und berühmteste, auch der mächtigste und heiligste Gott dieses Tempels. Er wird Ma-ra-ca-pa-la genannt, aber außerdem noch unter vielen andern Ehrennamen angebetet.«

Das war also das Bild des berühmten Venetiers und mittelalterlichen Reisenden Marco Polo, durch welchen die übrige Welt so wichtige und ausführliche Kunde über China und Ostasien überhaupt bekam und dessen Namen sich, wenn auch in chinesischer Verzerrung, bis zum heutigen Tage dort erhalten hat. Es ist ihm die Ehre geschehen, unter die Götter versetzt zu werden und sogar unter ihnen einen hohen Rang einzunehmen.

Die kleine Gesellschaft hatte sich erst sehr ernsthaft in der Halle umgeschaut. Bei näherer Betrachtung der lachenden Götter verloren die Gesichter mehr und mehr ihren Ernst. Die Züge des Gottfried von Bouillon begannen ins Heitere hinüberzuspielen; der Mijnheer biß sich in die Lippen; Turnerstick kratzte sich bedenklich neben seinem falschen Zopfe; er vermochte es fast nicht mehr, seine Heiterkeit zurückzuhalten, und wußte doch nicht, ob hier an dieser heiligen Stätte das Lachen erlaubt sei. Der Bonze sah das und wurde angesteckt. Er kniff die Aeuglein halb zu und zog den Mund breiter, indem er auf einen Gott deutete, welcher der lustigste von allen zu sein schien, denn er lachte, wenn auch unhörbar, so, daß man glauben konnte, die Thränen aus seinen Augen rinnen zu sehen. Das brachte die befürchtete Wirkung hervor: Gottfried platzte los und rief aus vollem Halse lachend: »Nichts für unjut, meine Herren Jötter, aberst ich kann mich nicht helfen; ich fühle mir in Ihre jeehrte Jesellschaft so kannibalisch wohl, daß ich unmöglich weinen kann. Sie sind die prächtigsten Jeburtstagsonkels, die mich jemals vorjekommen sind. Tsching, tsching, tsching!«

Der Mijnheer stimmte in das Gelächter ein; Turnerstick folgte nach; Methusalem und Richard accompagnierten; Liang-ssi lachte herzlich, und als die heiteren Besucher nach dem Bonzen blickten um zu sehen, wie er sich zu ihrer so wenig ehrerbietigen Lustigkeit verhalte, sahen und hörten sie, daß er sich aus vollem Herzen ganz derselben Sünde befleißigte, – er lachte nicht weniger als sie.

Rings um die Doppelhalle zogen sich die Wohnungen der Bonzen. Der Führer geleitete die Fremden in einige derselben, um ihnen zu zeigen, wie die Hüter der fünfhundert Geister sich eingerichtet hatten. Ueberall wurden ihnen Räucherstäbchen und beschriebene bunte Zettel, auf denen Gebete standen, angeboten, denn die Bonzen handeln mit derlei Gegenständen. Der Methusalem verteilte eine Handvoll Li unter diese Leute, gab dem Führer ein Com-tscha Theegeld, Trinkgeld und wurde infolgedessen von der ganzen Schar unter einem vielstimmigen »Tsching tsching tsching« bis vor den Tempel geleitet, wo die noch immer sehr heiteren Besucher in ihre Sänften stiegen.

Von da aus ging es durch mehrere Gassen, in einen finstern, tunnelartigen Bau, dann eine Stufenreihe hinan, und nun befanden sich die Reisenden auf der Mauer, welche die Stadt umzieht. An alten, verrosteten Kanonen vorüber ging es nach der roten Pagode, einem wegen seiner Aussicht viel besuchten Riesenbau. Sie ist vierseitig und hat fünf Stockwerke mit weit vorspringenden Simsen, aber keine schlanke, wohlgefällige, sondern eine gedrungene, schwerfällige Gestalt. Die Simse und Schnörkel sind keineswegs nach der Art, wie man sich bei uns eine Pagode vorzustellen pflegt, mit Glocken und Glöckchen behängt.

Die Gesellschaft stieg auf hölzernen Treppen zum obern Stockwerke empor und genoß dort einen Ausblick, welcher weit über das Weichbild der Stadt hinausreichte.

Im Süden dehnte sich das gewaltige Häusermeer der Stadt aus. Auf den Dächern der Gebäude sah man gefüllte Wasserkrüge stehen, ein von der Behörde gebotenes Mittel gegen Feuersgefahr. Darüber ragten Pagoden und die Dächer zahlreicher Tempel, auch hohe Holzgerüste, welche als Warten und Ausluge dienen.

Im Osten stiegen die Berge des Tian-wang-ling empor und im Südwesten die Höhen des Sai-chiu. Im Norden lag eine weite, wohlbewässerte und dörferreiche Ebene, welche nahe der Stadt in jene Sandhügel überging, in denen Kanton schon seit Jahrtausenden seine Toten begräbt.

Von dieser Pagode aus wurden die Reisenden nach dem Sing-gu, dem Kriminalgebäude getragen. Sie stiegen vor einer offenen Pforte aus, an welcher spießtragende Soldaten Wache hielten, schritten durch einen engen Hof und gelangten dann in eine weite Halle, deren Dach von Säulen getragen wurde.

Es waren viele Menschen da, welche die fremden Ankömmlinge mit erstaunten Blicken betrachteten. Diese aber kehrten sich nicht an die Aufmerksamkeit, welche sie erregten, und drängten sich so weit vor, als es möglich war.

Da saß an einem Tisch ein alter Mandarin, welcher eine riesige Brille auf dem Näschen trug; sein Zopf hing hinter dem Stuhle bis zur Erde herab. Von Akten und Schreibrequisiten war nichts zu sehen. Der Beamte schien von solchen Ueberflüssigkeiten nicht viel zu halten, sondern die anhängigen Fälle gleich aus dem Stegreife zu behandeln.

Sechs Personen standen vor seinem Tische, zwei als Kläger und vier als Beklagte. Das außerordentlich kurze Verhör ergab, daß die ersteren Kompagnons eines Schuhwarengeschäftes waren und die letzteren als säumige Kunden geladen hatten. Die Schuldner gaben zu, geborgt zu haben, behaupteten aber, arm zu sein und nicht bezahlen zu können. Nach kurzem Nachdenken erklärte der Mandarin alle für schuldig, sogar die Kläger, da diese wegen leichtsinnigen Kreditgebens und zweckloser Belästigung der hohen Behörde zu bestrafen seien. Er warf einigen hinter ihm stehenden Vollzugsorganen, welche mit Bambusstöcken versehen waren, einen halblauten Befehl zu, worauf sie sich der sechs Personen bemächtigten, um ihnen gleich am Platze die für sie bestimmte Züchtigung zu erteilen.

Die Helden des Prozesses mußten sich nebeneinander, mit dem Rücken nach oben, lang auf die Erde legen. Zur Verabreichung der Strafe waren drei Polizisten nötig. Der erste hielt den Kopf des Delinquenten nieder, der zweite kniete ihm auf die Beine, und der dritte führte mit dem Bambus jene gefühlvolle Prozedur aus, welche auch manchem nichtchinesischen und sonst braven Manne aus seinen Jugendjahren her noch in gutem Gedächtnisse steht. Jeder erhielt fünfzehn Hiebe und zwar aus voller Kraft. Keiner schrie; vielleicht waren dergleichen Vorkommnisse bei ihnen zu herkömmlichen geworden. Dann standen sie auf, verbeugten sich vor dem Mandarin und trollten von dannen. Als die beiden Kläger an den Deutschen vorüberkamen, sagte eben der eine zum andern: »Put-ko tschu-san tai, put yit-tschi – nur die ersten drei thun wehe, die andern nicht.«

Jedenfalls besaß der Mann in diesem Fache eine Erfahrung, welcher mancher europäische Kenner desselben Genres vielleicht widersprechen würde.

Sie waren noch nicht verschwunden, so begann bereits die Verhandlung einer neuen Sache. Es traten zwei Männer auf, von denen der eine eine dunkel gefärbte Beule seines Gesichtes unter der Behauptung vorzeigte, daß sie ihm von dem andern geschlagen worden sei. Der Angeklagte stellte das ganz entschieden in Abrede. Es zeigte sich sofort, daß es für beide besser gewesen wäre, wenn sie sich den vorher verhandelten Fall zur Warnung hätten dienen lassen. Sie wurden von ganz demselben Schicksale, natürlich in Gestalt der Polizisten, ergriffen und erhielten vierzig Hiebe zu ganz gleichen Hälften, worauf sie ihre Verbeugungen machten und mit sehr befriedigten Mienen, aber die Hände zärtlich auf die in Mitleidenschaft gezogene Gegend gelegt, hinter dem Kreise der Zuschauer verschwanden.

»Wollen jehen!« meinte Gottfried. »Mich wird angst und bange, denn dieser Mandarin bestreicht alles aus einem Topfe. Dat is mich zu jefährlich. Ich will mir nicht der Jefahr aussetzen, auch mir als Partei betrachten und behandeln zu lassen. Tsching tsching!«

Sie entfernten sich, um sich nach dem Hing-miao, dem Tempel des »Schreckens und der Bestrafungen«, tragen zu lassen.

Dieser ist der besuchteste Tempel der Stadt und sein Idol der Schutzgeist von Kanton. Man gelangt durch ein verschnörkeltes Thor in einen Hof, in welchem Hunderte von Bettlern stehen, um die Besucher mit wildem Heulen anzufallen. Die ganze Schar stürzte sich förmlich auf die Sänften, so daß die Insassen kaum auszusteigen vermochten.

Da kam dem Methusalem der Gedanke, die Wirkung seines T'eu-kuan zu erproben. Er zog das winzige Büchelchen aus der Tasche, öffnete es und hielt es, ohne ein Wort zu sagen, den ihm am nächsten stehenden zerlumpten Gestalten vor die schmutzigen Gesichter. Der Erfolg war ein augenblicklicher.

»T'eu-kuan-kiün – der Besitzer eines T'eu-kuan!« rief ein starker Kerl, dem ein Arm fehlte.

»T'eu-kuan-kiün!« schrieen andre ihm nach.

Der Ruf pflanzte sich fort, und die Leute zogen sich ehrerbietig bis an die Mauern zurück. Auf das wüste Geschrei vorher war eine tiefe Stille eingetreten.

Degenfeld sah, welche erstaunliche Wirkung der Paß ausübte; aber er hatte nicht die Absicht gehabt, die Bittenden von sich zu weisen. Jedenfalls war es geraten, den Armen zu beweisen, daß auch der Besitzer eines Passes des Bettlerkönigs sich ihnen nicht entziehe. Er winkte einem Manne herbei und fragte ihn, ob es ein »Haupt« unter ihnen gebe, dem die andern zu gehorchen hätten. Die Frage wurde bejaht, und als der Methusalem den betreffenden zu sich wünschte, wurde eben jener Einarmige herbeigerufen. Er gab diesem einen Silberdollar, eine Münze, welche in Kanton gerne gewechselt wird, und bat ihn, diese Gabe unter die Leute zu verteilen. Der Mann bedankte sich mit einer Ehrfurcht, als ob er einen König vor sich habe, entfernte sich, indem er als Zeichen seiner Hochachtung rückwärts ging. Außer diesen Bettlern gab es noch andre Leute in dem Hofe, Quacksalber, Taschenspieler, Zahnkünstler, Zauberer, bei denen man einen Blick in die Zukunft thun konnte, Kuchenbäcker, Garköche und andre Händler. Der Tempel ist sehr stark besucht und also ein Ort, an welchem diese Leute auf guten Absatz rechnen können.

Seinen Namen hat der Tempel von den da zu sehenden bildlichen Darstellungen der Schrecken, welche den Sünder nach seinem Tode erwarten. Man sah da alle Strafen, welche sich die Phantasie des Menschen zu denken vermag.

Da wurde ein Sünder, welcher als Klöppel in einer Glocke hing, zu Tode geläutet; der Leib eines andern wurde wie ein Korkzieher aufgeschraubt; ein dritter lag zwischen zwei Brettern, von denen er zu Teig gepreßt wurde. Man sah Seelen, welche in Oel gesotten, durch Messer zerstückelt, durch angespannte Ochsen zerrissen, in Mörtel erstickt, auf Pfählen gespießt, auf Rosten gebraten, verkehrt aufgehängt und von Rädern zermalmt wurden. Der Anblick war so grauenhaft, daß der Methusalem dem begleitenden Priester sehr bald das Com-tscha reichte und die Gefährten aufforderte, mit ihm diesen Ort des Schreckens zu verlassen.

»Aber wohin nun?« fragte Turnerstick. »Ich denke, wir wollen nach dem ›Hause der hundert Himmelsherren‹, in welchem gestern abend der Diebstahl ausgeführt worden ist?«

»Das wollen wir allerdings,« antwortete Degenfeld. »Ich werde die Träger instruieren.«

Begleitet von dem dankbaren Tsching tsching der Bettler durchschritten sie den Hof, um sich nun nach dem Pek-thian-tschu-fan bringen zu lassen.

Der Weg führt bis in den Stadtteil, in welchem der Tong-tschi wohnte, woraus zu ersehen war, daß die Diebe gestern gar nicht weit von dem Orte ihrer That bis nach dem Garten des Juweliers zu gehen gehabt hatten. Im andern Falle wäre ihnen die Ausführung des Raubes, wenn nicht unmöglich, so doch viel schwerer geworden.

Auch hier mußte man vor dem Thore aussteigen. Als sie die Sänften verlassen hatten, machte der Methusalem den Vorschlag, nur noch diesen Tempel zu besichtigen und dann das Mittagsmahl entweder in einem Speisehause oder daheim bei dem Mandarinen einzunehmen, da es nun Zeit dazu geworden sei. Der Vormittag war längst vorüber.

Der Vorhof, durch welchen sie mußten, war leer von Menschen. Ein einziger Bonze stand da. Er begrüßte sie und fragte, ob sie auch gekommen seien, die Stätte zu sehen, an welcher gestern eine so grausige That begangen worden sei.

»Der Tempel ist heut nicht leer geworden,« fuhr er fort. »Nun aber sind alle Menschen gegangen, um die Götter zurück zu begleiten, welche unsre Priester feierlichst einholen. Das wird ein großer Triumphzug werden. Nur der große Tong-tschi ist da, dem wir das Ergreifen der Diebe verdanken. Er will sehen, welche Vorbereitung wir zum Empfange des Zuges getroffen haben.«

Der Tempel besteht aus zwei Teilen, der größere war nach rückwärts gelegen und enthielt die bedeutendere Anzahl der Götterbilder. Die Deutschen traten in den kleineren, nach vorn gelegenen ein. Da standen achtzehn Figuren; zwei Postamente, auf denen die Geraubten gethront hatten, waren leer. In der Nähe derselben sahen sie den Tong-tschi stehen, welcher, als er sie erblickte, ihnen rasch und erfreut entgegenkam.

»Sie sind da!« sagte er, sie begrüßend. »Haben Sie eine Tour durch die Stadt gemacht?«

»Durch einen Teil derselben,« antwortete der Methusalem. »Dieser Tempel soll vor Tische der letzte Ort sein, den wir besuchen.«

»Das ist recht. Aber leider kann ich Sie nicht begleiten, da ich noch in der Götterangelegenheit beschäftigt bin. Man wird sie baldigst bringen und Sie können Zeuge der Feier sein, unter welcher sie ihre Plätze wieder erhalten. Es sind gestern um die Zeit des Raubes gar keine Besucher hier gewesen, der einzige Grund, daß die That gelingen konnte. Kommen Sie weiter! Ich will Ihnen den Haupttempel zeigen.«

Bei den beiden hatten nur der Wichsier, Richard und Liang-ssi gestanden. Sie folgten ihnen in den Hauptteil des Tempels, und der Bonze ging ihnen langsam nach.

Turnerstick und der Mijnheer waren gewöhnt, die letzten im Zuge zu sein. Sie hatten sich, als sie über den Hof schritten, nicht allzu sehr beeilt. Sie schauten sich da sehr gemächlich um und traten infolgedessen in den vorderen Tempel ein, als die andern denselben bereits verließen.

Sie hatten auch die Rede des Bonzen nicht verstanden und wußten also nicht, daß der Zug der Priester mit den zurückkehrenden Göttern erwartet wurde.

Nun blickten sie sich im Vortempel um. Als sie die beiden leeren Plätze sahen, sagte Turnerstick: »Ach Mijnheer, da haben die beiden gestohlenen Gottheiten gesessen. Meinen Sie nicht auch?«

»Wat ik zeg?« antwortete der Dicke. »Ja, daar hebben zij gestaan.«

Sie traten näher und betrachteten sich die Plätze. Die Fläche derselben war so groß, daß ein Mann ganz behaglich da sitzen konnte. Turnerstick legte unternehmend den Kopf zur Seite und meinte: »Gar kein übler Sitz. Habe schon öfters schlechter gesessen. Bin aber auch kein Gott. Möchte wissen, wie es so einem Götzenbilde zu Mute ist. Muß gar nicht so übel sein, angebetet zu werden und Räucherstäbchen unter die Nase zu bekommen! Nicht?«

»Ja, het moet zeer heerlijk zijn – ja, es muß sehr vortrefflich sein.«

»Nun, man kann hier ja sehen, wie es ist. Die Gelegenheit ist vortrefflich. Ich werde mich mal auf diesem Postamente niederlassen und mir einbilden, daß ich ein chinesischer Götze sei. Bin neugierig, ob die andern Gottheiten etwas dazu sagen.«

So schnell ihm dieser Gedanke gekommen war, so schnell wurde er auch ausgeführt. Der Kapitän setzte sich nieder, rückte sich zurecht, nahm eine bequeme Haltung an, kreuzte die Beine übereinander, wie die andern Götter es thaten, und fragte dann: »Nun, Mijnheer, wie nehme ich mich aus?«

»Zeer goed.«

»Und nun den Fächer dazu! Jammerschade, daß wir allein sind! Ich wollte, es käme ein Chinese. Möchte wissen, ob er mich für Buddha oder für Heimdall Turnerstick hält. Ich glaube für Buddha. Schade, daß keiner da ist. Und der Schreck, wenn ich ihn dann mit meinem prachtvollen Chinesisch anreden würde! Diese Verbeugungen!«

»Ik word u eene maken – ich werde Ihnen eine machen!«

Turnerstick hatte den Riesenfächer ausgespannt und hielt ihn graziös in der Rechten, während er durch die Linke seinen Zopf gleiten ließ. Auf seiner Vorlukennase saß der Klemmer. Der Dicke stellte sich vor ihn hin, verbeugte sich und sagte: »Mijne komplimenten, Mijnheer Buddha! Hoe staat het met uwe gezondheid?«

»Wie es mit meiner Gesundheit steht? Ganz vortrefflich, besonders seitdem ich einer von den hundert Himmelsherren bin. Aber, Mijnheer, es sitzt sich hier als Gott wirklich ganz ausgezeichnet. Wollen Sie es nicht auch einmal versuchen?«

Der Dicke streichelte sich bedenklich das Kinn und antwortete: »Wordt men want mögen – wird man denn dürfen?«

»Dürfen? Warum denn nicht? Was fragen Sie noch! Sie sehen ja, daß ich darf, daß ich hier sitze! Oder fürchten Sie sich etwa?«

»Neen!«

»Nun, so folgen Sie meinem Beispiele! Ich möchte auch Sie einmal als Gott sehen.«

»Als god? Mij? Goed, ik word het verzoeken – als Gott? Mich? Gut, ich werde es versuchen.«

Die beiden hatten in ihrem Eifer gar nicht auf ein erst sehr entferntes Geräusch geachtet, welches aber schnell näher kam. Man konnte jetzt deutlich die Töne von Gongs, Pfeifen, Klingeln, Glocken und andern chinesischen Musikinstrumenten hören.

Der Dicke ließ sich krächzend auf das andre Postament nieder, schob sich richtig in Positur und fragte dann: »Ziet zij mij, Mijnheer Turnerstick – sehen Sie mich, Herr Turnerstick?«

»Ja, natürlich! Sie sitzen ja gleich neben mir.«

»Ben ik even zoo hoe een god – sehe ich eben aus wie ein Gott?«

»Ganz genau so. Nur würden Sie einen noch viel göttlicheren Eindruck machen, wenn Sie den Regenschirm aufspannten.«

»Dat kan ik maken. Derhalve heb ik het regenscherm en parasol ja metgenommen.«

Er spannte das Familiendach auf und blickte stolz umher. Dabei gab er sich die größte Mühe, die Stellung Turnersticks nachzuahmen, brachte oder die kurzen, dicken Beinchen nur mit großer Anstrengung übereinander.

Nun war die Musik und der Lärm so stark geworden, daß die beiden darauf achten mußten.

»Wat is dat vor een fluitenspel?« fragte der Mijnheer.

»Für ein Flötenspiel? Hm! Es wird irgend ein Aufzug sein, die Feuerwehr vielleicht oder die Kommunalgarde, die Bürgerschützen, welche Vogelschießen haben,« antwortete Turnerstick sehr unbesorgt.

»Vogelschießen? In China?«

»Ja? Warum denn nicht? Sie scheinen vorüber zu ziehen. Schade darum! Wie hübsch wäre es, wenn einer hereinkäme und wir könnten sehen, ob er uns für Götter hält! Sie bringen einen Tusch. Jedenfalls müssen sie das vor jedem Tempel thun. Wir wollen annehmen, daß es uns zur Ehre geschieht. Nicht?«

»Ja, wij willen so denken.«

»Horchen Sie! Jetzt ziehen sie weiter.«

Draußen vor dem Thore war der erwartete Zug angelangt. Er bestand aus Bonzen mit ihren Oberpriestern, zahlreichen behördlichen Personen und einem nach Hunderten zählenden Gefolge von Civilisten. Die mit Blumen geschmückten Götter wurden auf mit Teppichen behangenen Bahren von Oberpriestern getragen. Die Musiker, welche an der Spitze marschiert waren, blieben draußen stehen, schmetterten eine tuschartige Fanfare und begonnen dann ein neues Getöse, welches einen Marsch vorstellen sollte, um den Zug an sich vorüber und in den Tempel gehen zu lassen. Da sich die Musik nicht näherte, so hatte der unglückselige Kapitän geglaubt, daß die »Kommunalgarde« weiter ziehe.

Einer chinesischen Musikantentruppe darf man keine europäische Kammermusik zumuten. Da gibt es Gongs, Schellen. Glocken und Klingeln, auch Triangeln, Metallplatten, Musikurnen, Faßtrommeln, hölzerne Totenköpfe zur Tempelmusik, Flöten, Castagnetten, zweisaitige Geigen, drei- und viersaitige Guitarren, kreischende Trompeten, welche weder im Kammer- noch im Kabinettstone stehen, und sonderbar geformte, mit kleinen Schellen behangene Bambusgestelle, deren einheimischer Name in das Deutsche mit »Musikgeklimper« zu übertragen ist. Jeder bearbeitet sein Instrument aus Leibeskräften, ohne Noten und ohne Takt. Von einer Harmonie ist keine Rede. Die Melodie, wenn es je eine gäbe, würde in dem allgemeinen Lärm verschwinden, denn derjenige, welcher das größte Getöse hervorbringt, gilt als der beste Musikant.

Darum war es kein Wunder, daß bei dem Heidenskandale, welchen die Musiker verübten, die Schritte des nahenden Zuges nicht zu hören waren, und daß die Spitze desselben am Eingange des Tempels erschien, während die beiden falschen Idole sich noch vollständig sicher fühlten und der Kapitän sogar immer noch den Wunsch hegte, es möge jemand kommen, mit dem er sich einen Spaß machen könne.

Indessen hatte der Tong-tschi den andern die größere Abteilung des Tempels gezeigt und war dann mit ihnen durch ein Hinterthor nach einem Hofe gegangen, um welchen die Wohnungen der Bonzen standen. Dort nahm er den Methusalem beiseite und fragte ihn: »Wissen Ihre Gefährten alles, was am gestrigen Abende geschehen ist?«

»Ja.«

»Das ist sehr unrecht. Sie hätten es ihnen nicht erzählen sollen!«

»Es ging nicht anders, sie mußten es auf alle Fälle erfahren, um sich danach richten zu können.«

»So erwarte ich wenigstens, daß sie nichts verraten?«

»Das darf Ihnen keine Sorge machen. Diese Leute sind verschwiegen. Ich wünsche, daß die Ihrigen es nicht weniger sind.«

»O, diese wagen nicht, ein Wort zu sagen. Und Hu-tsin werde ich nochmals auf das strengste zum Schweigen ermahnen.«

»Ich war am Morgen bei ihm und er hat mir versprochen, gegen niemand ein Wort zu äußern. Man wird also die Götter bringen. Wie aber steht es mit den drei Missethätern?«

»Die sollten eigentlich mitgenommen werden, um den Triumphzug zu verherrlichen. In diesem Falle wären sie wahrscheinlich vom Publikum zerrissen worden.«

»So haben Sie es verhütet?«

»Nein, denn ich hätte nicht die Macht dazu gehabt. Die Priester verlangten es, und der Sing-kuan hätte es ihnen nicht verweigern können.«

»Und dennoch kommen sie nicht mit? Das hat also einen besonderen Grund?«

»Ja. Sie konnten nicht mitgenommen werden, weil sie nicht mehr da sind.«

»Nicht mehr da? Also fort?«

»Fort!« nickte der Mandarin, indem er ein sehr pfiffiges Gesicht machte.

»Ich verstehe,« lächelte der Methusalem.

»Sie sind in die Verbannung, welche Sie ihnen gestern versprochen haben?«

»So ist es; sie sind entflohen.«

»Wann?«

»Während der Nacht.«

»Jedenfalls mit fremder Hilfe?«

»Sehr wahrscheinlich, da sie fest eingesperrt waren.«

»Diese Hilfe sollte ich kennen. Ich habe gestern gewisse Münzen gesehen, denen sich die Gefängnisse öffnen.«

Der Tong-tschi sah sich um, und als er keinen Lauscher bemerkte, sagte er: »Sie werden verschwiegen sein, und ich denke, daß ich Ihnen trauen darf. Die drei Verbrecher konnten Sie, auch ohne daß sie es beabsichtigten, beim Verhören mit in die Sache verwickeln. In diesem Falle wäre auch ich mit gefaßt worden, weil Sie mein Gast sind und ich für alles, was Sie thun, verantwortlich bin. Das zu verhüten, standen mir nur zwei Wege frei: Entweder mußte ich sie töten, und das wollte ich nicht thun, oder ich mußte ihnen gar zur Flucht verhelfen, und das habe ich gethan. Ich selbst habe sie aus dem Gefängnisse geholt und bis an die Grenze der Stadt geleitet. Dafür wird nun freilich das ›Haupt‹ des Gefängnisses bestraft werden, aber an das Leben wird es ihm nicht gehen.«

»Weiß man denn nicht, daß Sie es sind, der die Leute befreit hat?«

»Nein, denn ich hatte meine Maßregeln so getroffen, daß man mich nicht erkennen konnte.«

»Aber man mußte Sie doch kennen, um Sie in das Gefängnis zu lassen!«

»Nein. Die Münze öffnet einem jeden die Thür, auch einem Unbekannten. Nun ist die Sache vorüber, und wir wollen nicht mehr von ihr sprechen. Aber ich bitte Sie, solange Sie noch mein Gast sind, nichts mehr ohne mich zu thun, damit ich nicht wieder in eine solche Verlegenheit komme! Morgen wird der Ho-po-so Sie besuchen, den Sie mit mir errettet haben. Er wußte noch nicht, daß Sie sich hier befinden. Er hat heute den Fluß bis hinauf zur Insel Lu-tsin zu inspizieren. Wird er eher fertig, als er glaubt, so wird er seinen Besuch noch heute machen. Wenn Sie Kuang-tschéu-fu auf dem Wasserweg verlassen wollen, so kann er Ihnen jedenfalls von Nutzen sein. Doch, hören Sie die Musik? Der Zug kommt. Sie werden Gelegenheit haben, Interessantes zu sehen.«

Er hatte mehr als recht, denn es war auch mehr als Interessantes, was sie zu sehen bekamen.

Sie winkten die andern herbei und kehrten in den Tempel zurück. Die Hauptabteilung war noch leer; aber aus dem kleinen Vortempel tönte ihnen ein vielstimmiges, verworrenes Geschrei entgegen.

»Mein Himmel!« sagte der Student. »Der Zug ist da, und Turnerstick und der Mijnheer sind noch nicht bei uns. Sie sind zurückgeblieben. Wer weiß, was geschehen ist, was sie für Dummheiten begangen haben!«

Er wollte vorwärts eilen, aber der Mandarin hielt ihn am Arme zurück und warnte: »Halt! Wenn sie einen Fehler begangen haben, so ist es besser, man erfährt nicht, daß wir zu ihnen gehören. Nicht durch die Thür. Sehen wir an der Seite hinein!«

Degenfeld sah ein, daß der Chinese recht hatte, und ließ sich von ihm seitwärts führen. Nämlich rechts und links der Thüre waren enge Bambusgitter angebracht, durch welche man, ohne selbst leicht bemerkt zu werden, aus der einen Abteilung in die andre blicken konnte. Dorthin gingen sie und sahen hinaus. Was sie da bemerkten, war keineswegs geeignet, sie zu beruhigen. Dem Methusalem wollte sich vielmehr das Haar auf dem Kopfe sträuben.

Als die beiden unvorsichtigen Männer die Leute erblickten, welche durch die Thüre kamen, war Turnerstick in die hastigen, aber leisen Worte ausgebrochen: »Hallo! Da kommen welche!«

»Ja, zij komen,« nickte der Dicke.

»Still! Kein Wort! Halten Sie sich ganz steif und ruhig wie eine Bildsäule! Wollen sehen, ob sie so gescheit sind, zu entdecken, daß wir keine Buddhas sind.«

Er saß bewegungslos, hielt den Riesenfächer vor sich hin und blickte starr in eine Richtung. Der Dicke that ganz dasselbe. Keiner von ihnen hatte einen richtigen Begriff von der Gefahr, in welche sie sich begeben hatten.

Voran kamen acht Polizisten, hinter ihnen die Oberpriester mit den beiden Tragbahren. Jetzt begriff Turnerstick, daß er sich in Beziehung des »Feuerwehraufzuges« oder »Vogelschießens« gewaltig geirrt habe. Er erriet, was hier vorgehen solle, und es wurde ihm außerordentlich schwül unter der Mandarinenmütze.

»Alle Teufel!« flüsterte er seinem Mitgotte zu. »Sie bringen die Götzen zurück und wollen sie auf die Dinger stellen, auf denen wir sitzen! Was ist da zu thun?«

Man konnte die Bewegung seiner Lippen nicht sehen, da er den Fächer vorhielt.

Auch dem Dicken wurde himmelangst. Er begriff, daß die Götter auch Augenblicke haben können, in denen sie lieber gewöhnliche Menschen und weit fort vom Tempel sein möchten.

»Ja,« antwortete er möglichst leise. »Wat zullen wij maken?«

»Es gibt nur eine einzige Rettung. Bleiben wir sitzen, ohne uns zu rühren. Vielleicht sind unsre Plätze doch nicht diejenigen, auf welche die beiden Götzenbilder gehören.«

Starr vor sich hinblickend, steif wie von Holz, aber innerlich bebend, warteten sie auf das, was nun geschehen werde.

Die Polizisten waren vorgeschritten, ohne zu bemerken, daß zwei Götter zu viel vorhanden seien. Sie wußten nicht, wohin die beiden Geraubten gehörten. Die Oberpriester aber hatten ihre Blicke unwillkürlich dorthin gerichtet, wo die Feierlichkeit vor sich gehen sollte. Sie sahen die Plätze besetzt und blieben vor Erstaunen halten. Und als sie von den nachfolgenden Bonzen weiter vorgedrängt wurden, setzten sie die Bahren nieder und deuteten auf die inzwischen angekommenen Götter.

War das möglich! Hatten sich Himmlische herbeigelassen, herniederzusteigen, um das Kloster für den Raub dadurch zu entschädigen, daß sie nun sich an die verwaisten Plätze setzten? Es überlief die frommen Buddhisten ein kalter Schauder. Sie getrauten sich nicht vorwärts und wurden doch von den Nachdrängenden immer weiter vorgeschoben, so daß sie in die nächste Nähe der beiden Wundergestalten kamen.

Die im Innern des Vortempels Stehenden flüsterten den draußen Befindlichen die Kunde des Wunders zu. Jeder wollte dasselbe sehen, und so begann ein Schieben und Stoßen, welchem die Bonzen, die in den Tempel gehörten, dadurch ein Ende machten, daß sie die Thür verschlossen, was allerdings nur unter Anwendung von Gewalt geschehen konnte.

Nun befanden sich nur die Polizisten, die Oberpriester, die Bonzen und mehrere Mandarinen, welche sich unmittelbar hinter den Tragbahren im Zuge befunden hatten, in dem Tempel. Draußen schwieg die Musik; unterdrücktes Gemurmel drang wie ein leises Brausen Herein; im Innern aber herrschte noch feierliche Stille.

Dann flüsterten die Priester einander leise Bemerkungen zu. Sie hielten einen Rat, was zu thun sei. Dann trat der Ta-sse Vorsteher des Tempels vor die beiden Götter, verbeugte sich tief vor ihnen und fragte: »Schui ni-men, thian-tse – wer seid ihr, Himmelssöhne?«

Es erfolgte keine Antwort.

»Hi-weï iü-tsi – warum seid ihr hier?« fuhr er fort.

Die Göttlichen geruhten nicht, zu antworten. Keine Bewegung von ihnen zeigte an, daß sie sich eines sehr irdischen Daseins erfreuten. Nur von der Schläfe des Dicken rollte ein schwerer Angstschweißtropfen, welcher aber von niemand bemerkt wurde.

Da wendete sich der Ta-sse zu den Priestern zurück und sagte: »Schu-tschi-ho, schok-tschi-ho – was soll man davon denken, wie soll man sich dazu verhalten?«

Turnerstick brachte es fertig, ganz ruhig zu bleiben. Der Mijnheer aber hatte keine solche Gewalt über sich. Es war ihm glühend heiß im ganzen Körper. Auf seinem kahlen Kopfe, welchen die schottische Mütze nicht ganz bedeckte, sammelte sich der Schweiß und begann in großen Tropfen herabzuperlen. Seine Hand zitterte, so daß der Schirm wankte, nicht allzusehr zwar, aber einer hatte es doch bemerkt. Dieser eine war ein junger Mann von vielleicht einundzwanzig Jahren, der jüngste unter den Anwesenden. Er hatte unter den Mandarinen gestanden. Jetzt trat er vor, schob den Ta-sse beiseite und sagte zu ihm: »Ngo yen huo t'a-men – ich werde mit ihnen sprechen.«

Er schritt zu den beiden heran und betrachtete sie. Dann ging er nach der Ecke, in welcher auf einer Art Altar Räucherstäbchen glimmten, ergriff eins derselben, kehrte zurück und hielt es dem Dicken unter die Nase.

Der Mijnheer gab sich alle Mühe, dem scharfen, wenn auch angenehmen Geruche zu widerstehen, doch vergeblich. Der Rauch drang ihm in die Nase, und – – – »Ha – ha – ha – – zieeh!« drang es aus seiner Brust, wie aus einem Vulkane.

»Thian-na, nguot-tik – o Himmel, o Wunder!« erklang es rundum.

Der junge Mandarin versuchte sein Experiment nun auch an Turnerstick. Dieser biß die Zähne zusammen und nahm sich vor, auf keinen Fall zu niesen. Aber auch er konnte nicht widerstehen. Es erfolgte bei ihm eine ebenso gewaltige Explosion wie bei dem Dicken.

»Thian-na! Nguot-tik!« riefen die Umstehenden wieder.

Da Turnerstick chinesische Kleidung trug, hielt man ihn für einen heimischen Gott, den Mijnheer aber für einen Gott aus einem fremden, bisher noch unbekannten Himmel. Daß beide geniest hatten, war ein ebenso großes Wunder wie auch ein sicheres Zeichen, daß ihnen das Räucheropfer wohlgefallen habe. Schon dachte der Ta-sse an die Berühmtheit, welche sein Tempel durch diese beiden unbegreiflichen Wesen erlangen werde, und an die Einnahmen, welche eine natürliche Folge davon sein mußten. Da aber riß ihn der Mandarin durch die Worte aus seiner Täuschung: »T'a-men put tschian-tse, t'a-men ti-jin – es sind nicht Himmelssöhne, sondern irdische Menschen!«

Mit diesen Worten nahm er dem Dicken den Schirm aus der Hand und stieß ihm die Spitze desselben an den Leib.

»Oei, seldrement – o weh, potztausend!« rief der Mijnheer, indem er mit beiden Händen nach der getroffenen Stelle griff.

Auch der Kapitän erhielt einen kräftigen Stoß, so daß er zornig ausrief: »Alle Wetter! Nimm dich doch in acht, Kerl!«

Auf diese beiden Interjektionen erhob sich in dem Tempel ein Lärm, welcher ganz unbeschreiblich war. Man erkannte, daß man ganz gewöhnliche Menschen vor sich habe und daß das Heiligtum geschändet worden sei. Man drang auf die beiden ein.

»Rechtvaardige Hemel! Dat God verhoede – gerechter Himmel! Gott mag's verhüten!« schrie der Mijnheer, indem er sich von vom Postamente herabwälzte, um hinter dem Kapitän Schutz zu suchen. Dieser aber, als er nun die wirkliche Gefahr vor sich sah, ließ alle Angst schwinden. Er sprang auf, streckte den Andrängern die geballten Fäuste entgegen und schrie: »Zurück, ihr Chineseng! Ich werde mich nicht anrühreng lassing! Könnt ihr boxeng? Wollt ihr meine Fäustung fühlang?«

Sie prallten wirklich zurück, und das war der Augenblick, an welchem der Methusalem jenseits an das Gitter getreten war, um durch dasselbe herüberzublicken. Er sah den Kapitän, welchem der Klemmer von der Nase gerutscht war, in drohender Stellung vor seinen vielen Angreifern auf dem Postamente stehen. Er erriet, was geschehen war, und erkannte die Gefahr, in welcher die beiden schwebten; aber wie war da Hilfe zu bringen?

Turnerstick benutzte das momentane Zurückweichen seiner Gegner zu einer donnernden Rede, in welcher er ihnen die Gefahr auseinandersetzte, welche ihnen drohte, wenn sie sich seiner friedlichen Entfernung widersetzen sollten.

»Welche Unvorsichtigkeit!« sagte der Methusalem. »Sie werden kaum zu retten sein. Ich muß hinein!«

»Nein, nein!« entgegnete der Tong-tschi. »Die Unvorsichtigen haben die Stelle der Götter eingenommen gehabt und sind dabei überrascht worden. Wenn Sie ihnen zu Hilfe eilen, sind auch Sie verloren, wir alle! Wir können sie nur aus der Ferne retten.«

»Ich rette sie!« sagte Liang-ssi. »Ich bringe es wenigstens so weit, daß ihnen jetzt kein Leib geschieht. Man wird sie in das Gefängnis stecken, aber ich hoffe, daß wir sie aus demselben befreien können.«

Er wollte fort. Der Methusalem hielt ihn zurück und fragte: »Was wollen Sie thun?«

»Lassen Sie mich! Sie sind Lamas aus Lhassa.«

»Das glaubt niemand!«

»Mag man es bezweifeln! Man muß sie doch einstweilen als solche behandeln.«

Er riß sich los und trat in die vordere Halle, nicht eilig, sondern ganz so, als ob er sich in der hinteren Abteilung befunden habe und von dem Lärm herbeigelockt worden sei.

Noch stand Turnerstick da und sprach. Er wollte die Anwesenden durch die Gewalt seiner Rede niederschmettern, natürlich aber wurde kein Wort verstanden.

Der junge Mandarin erblickte den Eintretenden; er trat auf ihn zu, ergriff ihn am Gewande und fragte: »Gehörst du zu diesen beiden?«

»Nein,« antwortete Liang-ssi, allerdings nicht der Wahrheit gemäß.

»Was willst du hier?«

»Den Tempel besuchen.«

»Das ist jetzt nicht erlaubt! Kein Fremder darf herein!«

»Diese beiden sind ja auch fremd!«

»So kennst du sie also doch!«

»Nein. Ich verstehe aber ihre Sprache und hörte diesen Lama sprechen.«

»Welche Sprache ist es?«

»Tibetanisch.«

»Das verstehest du?«

»Ja. Ich war zweimal in Tibet.«

»So bleib! Du wirst den Dolmetscher machen.«

Jetzt hatte Turnerstick seine Rede beendet, ohne Liang-ssi bemerkt zu haben. Dieser letztere befürchtete, daß der Kapitän, wenn er ihn erblickte, durch ein Zeichen verraten werde, daß er ihn kenne, und hielt es infolgedessen für geraten, ihn gleich selbst anzureden. Darum rief er ihm in deutscher Sprache zu: »Wenn Sie gerettet sein wollen, so thun Sie so, als ob Sie mich nicht kennen, sonst sind Sie verloren.«

Der Kapitän drehte sich nach ihm um und antwortete: »Ich fürchte mich nicht vor diesen Kerls. Ich habe meine Pistolen mit, vor denen sie alle ausreißen.«

»Diese Berechnung ist falsch. Sie haben ein großes Verbrechen begangen, und wenn Sie auch hier entkämen, würde man Sie doch verfolgen und wir alle müßten die Folgen Ihres Fehlers miterleiden.«

»Alle Wetter, das ist dumm!«

»Ja, dumm von Ihnen. Ich werde aber versuchen, Sie herauszureißen. Ich gebe Sie für einen heiligen Lama aus Lhassa aus. Setzen Sie sich getrost nieder, als ob Sie ein Recht hätten, aus diesem Postamente zu sitzen, und auch Sie, Mijnheer, müssen ganz dasselbe thun.«

»Sonst gibt es keinen Ausweg?«

»Nein.«

»Gut! Aber wenn so ein Schlingel mir abermals unter die Nase räuchert, so gebe ich ihm eine Ohrfeige, an die er längere Zeit denken soll. Steigen Sie wieder auf Ihren Thron, Mijnheer!«

»Weder opstijgen?« fragte der Dicke kleinlaut.

»Ja. Sie hören doch, daß es uns sonst schlimm ergehen kann.«

Er setzte sich wieder nieder und spannte seinen Fächer aus. Der Dicke kletterte auf das Postament und nahm seine alte Stellung ein. Liang-ssi nahm ganz unbefangen dem Mandarin den Schirm aus der Hand und gab ihn an den Holländer zurück, wobei er sagte: »Nun bewegen Sie sich nicht, und starren Sie immer vor sich hin, gerade wie leblose Gestalten.«

Sie folgten, indem der Mijnheer seinen Schirm wieder aufspannte, diesem Gebote.

Die Anwesenden hatten dem Gebahren Liang-ssis zugesehen, ohne ihn zu hindern; aber auf ihren Gesichtern war das größte Erstaunen zu lesen.

Es befanden sich Mandarinen da, welche bedeutend älter waren und auch im Range höher standen als der junge Beamte, welcher das Wort geführt hatte; aber sie schienen ihn zu kennen und zu wissen, daß die Angelegenheit bei ihm in guten Händen sei. Er seinerseits that, als ob es ganz selbstverständlich sei, daß er die Sache weiterführe. Er sagte in zornigem Tone zu Liang-ssi: »Wie kannst du es wagen, mir den Schirm zu nehmen?«

»Weil er dir nicht gehört.«

»Und,« fuhr der Mandarin in noch stärkerem Tone fort, »wie darfst du dich unterstehen, mich ›du‹ zu nennen?«

»Weil du mich ebenso nennst.«

»Ich bin Kuan-fu und Moa-sse!« Doktor der Feder

»Kannst du behaupten, daß ich nicht dasselbe bin?«

»Wie willst du ein Kuan-fu sein, da du nicht die Kleidung eines solchen trägst!«

»Wer ein Gelübde gethan hat, soll alle Zeichen seiner Würde ablegen, bis es von ihm erfüllt worden ist.«

Liang-ssi spielte ein gewagtes Spiel; aber er hatte es nun einmal begonnen und mußte es nun auch zu Ende führen. Der Mandarin musterte ihn mit mißtrauischem Blicke und sagte dann in milderem Tone: »Ein Gelübde? Welches denn?«

»Bist du ein Priester, dem ich es anvertrauen kann?«

»Nein. Behalte es für dich. Wo kommst du her?«

»Aus Tsching-tu in der Provinz Sze-tschuen.«

»Das ist weit von hier!«

»Mein Gelübde gebietet mir, nach Kuang-tchéu-fu zu gehen und da täglich dreimal dieses Haus der hundert Himmelsherren zu besuchen. Meine Heimat liegt hoch oben an der Grenze der Wüste, und so bin ich nach Tibet gekommen und habe die Sprache dieses Landes gelernt. Als ich mich jetzt hier im Tempel befand, hörte ich viele Leute sprechen und sodann eine Stimme, welche tibetanisch redete. Ich kam herbei, um zu sehen, wer das sei. Ich habe nichts Unrechtes gethan, und du redest zu mir, als ob ich ein Verbrecher wäre.«

»Was hast du soeben mit diesen Menschen verhandelt?«

»Ich habe sie gefragt, auf welche Weise und warum sie hierher gekommen sind. Da hörte ich, daß sie Lamas seien, die man in ihrer heiligen Ruhe gestört hat. Sogar den Schirm hast du dem Ehrwürdigen entrissen. Ich habe ihm denselben wiedergegeben.«

»Sagst du die Wahrheit?«

»Erkundige dich! Es wird wohl jemand hier sein, welcher die Sprache von Tibet auch versteht.«

Das war viel gewagt. Dennoch blickte Liang-ssi in einer Weise umher, als ob er sehr wünsche, daß ein solcher Mann anwesend sei.

Glücklicherweise meldete sich niemand. Darum fuhr der Mandarin fort: »Weißt du, was gestern abend hier geschehen ist.«

»Ja.«

»Wer hat es dir gesagt?«

»Ich erfuhr es auf der Straße.«

»Man hat die Götter gestohlen. Und nun wir sie zurückbringen, wird der Sitz derselben zum zweitenmal entweiht.«

»Entweiht?« fragte Liang-ssi im Tone des größten Erstaunens. »Wer hat das gethan?«

»Diese beiden fremden Männer.«

»Diese? Nimm es mir nicht übel, aber ich muß dich fragen, ob du weißt, was ein Lama ist?«

»Ja, ich weiß es. Ein Lama ist ein Priester, ein Mönch, welcher in einem Kloster, in einem Tempel lebt.«

»Das sagst du und willst ein Doktor der Feder sein? Hast du noch nichts vom Dalaï Lama, vom Tsong Kaba, vom Hobilgan, vom Pantscham Ramputschi gehört? Sind das nicht Götter, deren Seelen auf die Auserwählten übergehen? Heißt nicht Lhassa die Stadt der hunderttausend Heiligen? Sind nicht im großen Ku-ren dreimalhunderttausend Lamas versammelt, welche niemals sterben können, weil ihre Seelen von einem Leibe in den andern übergehen?«

Er hatte das in einem sehr überlegenen und zugleich vorwurfsvollen Tone gesagt. Der Methusalem stand hinter dem Gitter und bewunderte ihn. Er hatte dem jungen Chinesen, der nur Kaufmann war, diese Kenntnisse, diese Energie und diesen Mut nicht zugetraut. Liang-ssi schien plötzlich ein ganz anderer geworden zu sein.

Freilich kam ihm zu statten, daß die Chinesen sehr schlechte Geographen sind; ihr Nationalstolz verbietet ihnen, sich allzusehr mit anderen Ländern und Völkern zu beschäftigen.

Der junge Mandarin schien verlegen zu werden. Er antwortete in hörbar höflicherem Tone: »Ich habe diese Namen alle längst gehört.«

»Die Namen, ja, aber die Verhältnisse scheinen dir unbekannt zu sein. Der Dalaï Lama ist nicht der Unterthan des chinesischen Himmelsherrn, denn letzterer sendet ihm jährlich kostbare Geschenke, um ihm seine Ehrfurcht zu erweisen. Jeder Lama ist ein Gott und hat alle Rechte eines solchen. Ein Lama kann einen Tempel errichten, um sich verehren zu lassen, und es gibt jenseits der großen Mauer berühmte Lamas, welche so heilig sind, daß Hunderttausende zu ihnen wandern, um sich ihre Sünden vergeben zu lassen und von ihnen die Unsterblichkeit zu erlangen. Zu diesen berühmten Wesen gehören die beiden, welche ihr da vor euch erblickt. Der eine ist sogar ein Lama des Krieges und hat die Feinde der Chinesen, die Oros, Russen in vielen Schlachten besiegt. Sie sind nach Kuong-tschéu-fu gekommen, warum, das weiß ich nicht, denn ich konnte sie noch nicht fragen, aber sie werden sich hier nicht verweilen, weil sie die Ehrerbietung nicht gefunden haben, welche man ihnen widmen muß.«

»Sie haben sich auf den Thron unserer Götter gesetzt!«

»Wer will ihnen das verbieten, da sie ja selbst Götter sind? Erkundige dich, so wirst du erfahren, daß ich die Wahrheit sage. Ein Lama darf mit keinem Menschen speisen; kein anderer darf es sehen, wenn er sich wäscht. Wen er mit seiner Hand berührt, der ist geheiligt für die ganze Lebenszeit. Selbst ein Vizekönig muß, wenn ein Lama bei ihm eintritt, seinen Sitz verlassen, um denselben ihm anzubieten.«

»Davon steht nichts im Buche der Zeremonien zu lesen.«

»Weil sich hier im Lande keine Lamas befinden. Aber schlage nur nach im Buche der Gebräuche der Völker jenseits der großen Mauer! Da wirst du es sogleich finden.«

»Ich werde nachschlagen. Aber wie kommt es, daß diese Lamas so verschieden gekleidet sind?«

»Weil es verschiedene Tempel gibt, deren Bewohner sich durch die Kleidung unterscheiden. Und zweifelst du daran, daß diese Heiligen den Göttern gleich zu achten sind, so blicke sie an! Sind sie nicht ganz in das All versunken? Schau diesen Lama des Krieges an! Ist ihm nicht die Unsterblichkeit auf die Stirne geschrieben?«

Turnerstick saß allerdings da, als ob ihm diese Erde ganz und gar gleichgültig sei.

»Ja,« gab der Mandarin zu. »Seine Seele scheint nicht in ihm zu sein.«

»Sie ist tief im Weltenall versunken. Und sieh ich den andern an! Ist er nicht ein Gott der Schönheit und des Glückes zu nennen?«

Dem Mijnheer war es gar nicht göttlich zu Mute, und glücklich fühlte er sich auch nicht übermäßig: aber er machte ein möglichst sorgloses Gesicht, und da er wohlbeleibt war, so befriedigte er ganz wohl die Ansprüche, welche der Chinese an das Bild eines Gottes macht.

»Ja, er ist schön,« antwortete der Mandarin. »Aber frage sie doch einmal, ob wir erfahren dürfen, weshalb sie nach Kuang-tschéu-fu gekommen sind!«

»Du stellst mir da eine Aufgabe, welche mich zwingt, unhöflich gegen die Götter zu sein. Wenn sie in die Tiefe der Weisheit versunken sind, ist es eine Sünde, sie aus derselben zurückzurufen. Ich begebe mich in die Gefahr, ihren Zorn auf mich zu laden, so wie ihr ihn euch vorhin zugezogen habt.«

»Der Kriegslama war zornig, ja, aber der andere nicht. Er sprang vom Sitze herab, um sich zu verstecken.«

»Das geschah nicht aus Furcht, denn es kommt nur auf seinen Willen an, so kann er euch alle verderben. Aber es versteht sich ganz von selbst, daß ein Lama des Friedens, wenn er zornig ist, sich an den Lama des Krieges wendet.«

»So willst du sie also nicht stören? Dann müssen wir es thun.«

»Nein, nein! Ihr würdet es nicht mit der gebührenden Ehrfurcht thun. Also will ich es wagen. Vielleicht gefällt es ihnen doch, uns Auskunft zu erteilen.«

Er näherte sich den beiden Götzen, verbeugte sich tief vor ihnen und sagte, aber in deutscher Sprache: »Antworten Sie mir nicht sogleich, sondern starren Sie immerfort in die Ecke. Erst später thun Sie dann, als ob Sie langsam aus tiefem Nachdenken erwachen. Dann müssen Sie zunächst in zornigem Tone zu mir reden.«

Die beiden bewegten sich nicht. Liang-ssi wendete sich zu dem Mandarin: »Du siehst, wie weit sie von hier abwesend sind. Sie hören meine Stimme nicht. Ich muß weiter zu ihnen sprechen.«

Nun erzählte er den beiden, was er mit dem Mandarin gesprochen habe, und daß er hoffe, man werde sie unbehelligt fortgehen lassen. Dann holte er ein Räucherstäbchen und erklärte den Chinesen: »Ich bin noch immer nicht gehört worden. Vielleicht gelingt es mir, sie durch Wohlgerüche zurückzurufen.«

Er schwang das Stäbchen vor den Göttern hin und her. Turnerstick holte tief Atem, klappte seinen Fächer zu, sah im Kreise umher und fragte zornig: »Ist die Komödie nicht bald zu Ende? Es fällt mir gar nicht ein, länger hier sitzen zu bleiben. Heut nur zwei Tassen Thee! Ich habe einen gewaltigen Hunger. Sie nicht auch, Mijnheer?«

Der Dicke that, als ob er zu sich komme, verdrehte die Augen und antwortete: »Ja, het is tijd dat wij an tafel gaan – ja, es ist Zeit, daß wir zu Tische gehen.«

»Hören Sie es? Nun machen Sie also, daß wir fortkommen! Wo ist unser Methusalem?«

»Er steht am Gitter hinter Ihnen.«

»So hört er also, was wir reden?«

»Ja.«

»Nun, so will ich ihm sagen, daß es sehr unrecht von ihm ist, sich da draußen hinzustellen, ohne herein zu kommen und uns in Schutz zu nehmen.«

»Das kann er nicht. Die Klugheit verbietet es ihm. Käme er herein, so würde er an allem, was Ihnen geschieht, teilnehmen müssen. Hält er sich aber entfernt, so kann er später alles zu Ihrer Rettung thun.«

»Rettung? Steht es so schlimm?«

»Hoffentlich nicht. Doch weiß man nicht, was die Priester und Mandarinen beschließen werden.«

»Was haben Sie denn jetzt wieder mit ihnen verhandelt?«

»Ich soll Sie fragen, warum Sie als Lama hierhergekommen sind.«

»Weiß ich es? Das müssen Sie doch wissen, der Sie uns zu Lamas gemacht haben.«

»Ich weiß wirklich nicht, was ich antworten soll.«

»So sagen Sie Ihnen meinetwegen, daß wir hier Nilpferde, suchen, denen wir Filetstricken lehren wollen. Nicht wahr, Mijnheer?«

»Ja, ongelukkige nijlpaarden.«

»Oder sagen Sie, daß wir ungeheuer reich sind und mit unserem Gelde so wenig wissen, wohin, daß wir auf den Gedanken geraten sind, ihnen eine Pagode zu bauen, an welcher wir sie alle aufhängen lassen werden.«

»Das Aushängen werde ich verschweigen: aber eine Pagode? Der Gedanke ist sehr gut. Warten Sie!«

Sich an den Mandarin wendend, berichtete er demselben: »Die heiligen Lamas waren zornig, daß sie abermals gestört worden sind; aber sie haben sich dennoch herbeigelassen, mir Auskunft zu erteilen. Sie sind gekommen, um hier einen großen Tempel der Wohlthaten zu erbauen, in welchem tausend Arme aufgenommen werden können.«

»Wer soll ihnen das Geld dazu geben?«

»Niemand. Sie selbst haben es: sie sind reich genug dazu.«

»Thian! So reich bin ich nicht. Aber können Sie auch beweisen, daß sie das wirklich wollen?«

»Wodurch kann man den Willen beweisen, als durch die That? Sie werden, da sie abermals gestört worden sind, jetzt von hier aufbrechen, um sich einen andern Ort zu suchen, an welchem niemand sie aus ihrer seligen Versunkenheit erwecken kann.«

»Sie wollen gehen?« fragte der Mandarin, indem ein eigentümliches Lächeln um seine Lippen zuckte. »Wenn sie wirklich so berühmte und heilige Lamas sind, wie du uns gesagt hast, so thut es uns sehr leid, sie von uns lassen zu müssen. Willst du sie nicht fragen, ob und wann und wo wir sie wiedersehen können?«

Diese Worte waren sehr freundlich ausgesprochen worden. Liang-ssi glaubte, gewonnenes Spiel zu haben. Aber es gab einen, dem sie nicht gefielen, und dieser eine war der Methusalem.

Er hatte jedes Wort der Verhandlung vernommen, und, da er alles sehr gut überblicken konnte, die Gesichter genau beobachtet. Da war ihm zunächst aufgefallen, daß die Züge des jungen Mandarins mit denen Liang-ssis eine fast auffallende Aehnlichkeit besaßen. Man hätte sie für nahe Verwandte halten können. Doch das war ein Zufall, welcher gar keine Bedeutung hatte. Wichtiger war das Benehmen dieses jugendlichen Beamten, welcher bereits den viel begehrten Titel eines Moa-sse führte, obgleich er nur sehr wenig über zwanzig Jahre zählen konnte.

Dieser letztere Umstand war ein Beweis, daß er ein sehr unterrichteter, begabter und kluger Mann sei. Das schienen die höheren Mandarinen anzuerkennen, da sie ihm die Untersuchung dieses so außergewöhnlichen Falles überließen.

Er sah nicht aus wie einer, der sich so leicht einer groben Täuschung unterwerfen läßt. Es war trotz seiner nachherigen Freundlichkeit etwas Ueberlegenes, Zuwartendes an ihm zu bemerken, was er nicht ganz zu verbergen vermochte. Degenfeld hatte das Gefühl, daß dieser Mann eine unsichtbare Schlinge in der Hand habe, welche er plötzlich zuziehen werde, um Liang-ssi zu fangen. Und welcher Art diese Schlinge sei, das ahnte der Student.

So geschickt Liang-ssi sich verhalten hatte, war doch eine große Unvorsichtigkeit von ihm begangen worden. Er hatte den Dicken mehreremal Mijnheer genannt, und auch Turnerstick hatte sich dieses Wortes bedient. Es gab in Macao, Hongkong und Kanton Holländer genug, mit denen die Bewohner dieser letzteren Stadt in Berührung kamen, und bei solchen Berührungen gibt es stets gewisse Worte, welche im Gedächtnisse hängen bleiben und sich weiter sprechen. Hört der Deutsche das Wort Monsieur, so wird er den Betreffenden gewiß für einen Franzosen halten. Wird eine Dame Lady oder Miß genannt, so ist sie sehr wahrscheinlich eine Engländerin oder Amerikanerin. Es stand zu erwarten, daß das Wort Mijnheer ein in Kanton nicht unbekanntes sei; wenigstens war anzunehmen, daß ein Mann von den Eigenschaften des Mandarins die Bedeutung desselben kenne. War dies der Fall, so mußte er wissen, daß ein Fremder, welcher Mijnheer genannt wurde, unmöglich ein Lama aus Lhassa sein könne.

Liang-ssi gehorchte der Aufforderung des Beamten. Er wendete sich an Turnerstick und sagte: »Die Angelegenheit steht sehr gut für Sie und wird sogleich zum Abschlusse kommen. Man glaubt mir, daß Sie heilige Lamas sind und das Recht besitzen, den Platz von Göttern einzunehmen. Ich habe gesagt, daß Sie zum Besten der hiesigen Armen von Ihrem eigenen Gelde einen Tempel bauen wollen, und das hat Ihnen Respekt verschafft.«

»Na, allzugroß wird er nicht werden!« meinte der Kapitän. »Es sind mir keine Kapitalien zur Feueresse hereingefallen, so daß ich sie hier zum Nutzen dieser Leute verpulvern könnte, Ihnen doch auch nicht, Mijnheer?«

»Neen, mij ook niet, voornaamelijk daarton niet – nein, mir auch nicht, zumal dazu nicht.«

»Sie glauben es aber,« fuhr Liang-ssi fort. »Man wird Sie jetzt ungehindert gehen lassen. Vorher aber will man wissen, wann und wo man Sie sehen und treffen kann.«

»Im Monde, sagen Sie ihnen das,« antwortete Turnerstick. »Nicht wahr, Mijnheer?«

»Ja, in den maan, en indien wij buiten zijn, in der maansverduistering – ja, in dem Monde, und wenn wir fort sind, in der Mondfinsternis,« antwortete der Dicke, indem er den Mund breit zog und vergnügt über seinen Witz lachte.

»Da haben Sie recht, Mijnheer. Es ist für uns alle am besten, uns schnell zu verdüstern, sobald wir hier fortgekommen sind. Wenn ich Ihnen sage, daß Sie gehen können, so steigen Sie möglichst gravitätisch herab und gehen hinaus, ohne, wie es Göttern geziemt, die Anwesenden eines Blickes zu würdigen.«

»Und draußen setzen wir uns in die Sänften?« fragte Turnerstick.

»Nein, das ja nicht! Man würde dadurch erfahren, daß wir zusammengehören, denn es versteht sich ganz von selbst, daß man Sie beobachten wird. Sie gehen vom Tempel aus rechts ab, dann links in die erste Gasse hinein, biegen abermals rechts ab, so daß man Sie von hier aus unmöglich sehen kann, und warten dort auf uns. Wir werden schnell nachfolgen, oder, wenn wir das für vorteilhafter halten, Ihnen zwei Sänften nachsenden, in welche Sie rasch steigen, um heimgebracht zu werden.«

Der Mao-sse war dieser Unterredung mit gespannter Aufmerksamkeit gefolgt. Es spielte ein leises Lächeln um seine Lippen, als er sich jetzt an Liang-ssi wandte: »Nun haben die Lamas meine Frage beantwortet?«

»Ja.«

»Und wo können wir sie wiedersehen?«

»Sie wissen augenblicklich nicht, wohin sie sich von hier aus wenden werden. Aber sie werden täglich hierher kommen und bei dieser Gelegenheit dem Ta-sse sagen, wo sie ihre Wohnung aufgeschlagen haben. Von ihm kannst du es erfahren.«

Der Mandarin nickte ihm freundlich-listig zu und sagte: »Vielleicht werden die heiligen Lamas mir erlauben, ihnen eine Wohnung anzuweisen, welche ihrer hohen Stellung würdig ist?«

»Sie werden dein Anerbieten mit Dank hören, aber keinen Gebrauch von demselben machen.«

»Warum sollten sie das nicht?«

»Weil sie dir nicht beschwerlich fallen wollen.«

»Davon kann keine Rede sein. Mein Haus ist ein sehr gastliches und hat Platz für viele Leute. Es wohnen in demselben oft über hundert Gäste verschiedenen Ranges. Und sollten die Lamas denken, daß mein Rang zu niedrig sei, als daß sie bei mir einkehren könnten, so will ich dir sagen, wie ich heiße und was ich bin. Mein Dienstname ist Ling Der Befehlende; mein Haus wird Huok-tschu-fang Gefängnis genannt, und ich bin in demselben als Pang-tschok-kuan Gefängnisgouverneur. angestellt.«

Liang-ssi trat einen Schritt zurück und betrachtete den Sprechenden mit unsicherem Blicke. Da dessen Gesicht aber ebenso freundlich wie vorher war, beruhigte er sich wieder und antwortete: »Da bekleidest du ein sehr wichtiges Amt, welches deine Zeit so sehr in Anspruch nimmt, daß Privatgäste dich nicht behelligen dürfen.«

»O, mein Haus steht einem jeden offen, dem es anderswo nicht gefallen will; aber wenn die Lamas mich wirklich nicht begleiten wollen, so lasse ich sie bitten, sich in die Gebräuche dieses Landes zu fügen, wenn sie sich nicht wieder der Gefahr aussetzen wollen, für andere Wesen gehalten zu werden, als sie sind. Aber wie es scheint, sind diese Gebräuche ihnen unbekannt?«

»Das weiß ich nicht, da ich sie hier zum erstenmal gesehen habe und sie also nicht kenne.«

»Mache sie ganz besonders daraus aufmerksam, daß jemand, welcher so weit her, aus Tibet nach Kuang-tschéu-fu kommt, einen Paß haben muß, welcher von dem chinesischen Wang in Lhassa ausgestellt und unterzeichnet sein muß. Haben sie einen solchen?«

»Ich weiß es nicht.«

»So frage sie! Ich möchte denselben gern sehen.«

»Wo denkst du hin! Ich soll zwei heilige Lamas, welche den Göttern gleichgeachtet werden, nach ihren Pässen fragen? Das ist unmöglich!«

»Ich halte es gar nicht für unmöglich, sondern vielmehr, für ganz selbstverständlich. Aber du bist in Lhassa gewesen und mußt das also besser verstehen als ich. Ich will es also dahingestellt sein lassen, ob sie Pässe haben oder nicht, denn ich werde mich sehr hüten, Männer zu beleidigen, welche wirkliche Lamas sind. Aber du selbst bist doch nicht etwa auch ein Lama?«

»Nein.«

»Du sagtest, daß Sze-tschuen deine Heimat sei. Kommst du direkt von dort?«

»Ja.«

»Diese Provinz liegt sehr weit von hier entfernt, und wenn man eine solche Reise unternimmt, so versieht man sich mit allem, was dazu erforderlich ist. Das hast du doch gethan?«

»Ja.«

»Das allernötigste ist da ein Paß. Es ist vorgeschrieben, daß jeder, welcher aus einer Provinz in die andere geht, einen Paß haben muß, damit er zeigen und beweisen kann, wer er ist. Du wirst dieses Gesetz kennen, da du mich erraten ließest, daß du auch ein Mandarin bist und dich im Besitze eines litterarischen Titels befindest. Ich denke also, daß du entweder bei dem Tsung-tu Generalgouverneur oder beim Fu-juen Untergouverneur von Sze-tschuen gewesen bist, um dir eine solche Legitimation ausstellen zu lassen. Hast du das gethan?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Weil mein Gelübde mich daran verhinderte.«

»So hast du ein sehr gefährliches Gelübde gethan, welches dir außerordentlich lästig fallen kann. Oder hast du vielleicht gelobt, legitimationslos aus einem Gefängnisse in das andere zu wandern?«

Jetzt erschrak Liang-ssi. Er begann sich weniger sicher als vorhin zu fühlen, und antwortete: »Das ist nicht meine Absicht gewesen. Wenn ich dir mein Gelübde mitteilen könnte, so würdest du begreifen, daß ich keinen Paß bei mir tragen darf.«

»So thut es mir leid um dich, denn ich will dir wohl. Ich erkenne deinen Rang an, ohne daß du mir beweisen kannst, daß du ihn besitzest. Ich bin dir auch dankbar für die Gefälligkeit, jetzt unser Dolmetscher zu sein, und werde dich nicht weiter belästigen. Aber andere Mandarinen werden anders denken und sich nicht an dein Gelübde kehren. Sei also von jetzt an vorsichtig, und halte dich besonders von Leuten fern, welche vorgeben, heilige Lamas zu sein! Du könntest sonst leicht in den Verdacht kommen, als Genosse von Männern behandelt zu werden, von denen du behauptest, daß sie dir fremd seien. Jetzt kannst du gehen; sage aber vorher diesen Heiligen aus Lhassa, daß ich auch ihnen die Erlaubnis erteile, diesen Tempel zu verlassen!«

Als er das gesagt hatte, erhob sich hinter ihm unter den Priestern, Bonzen und anderen Mandarinen ein unwilliges Gemurmel. Diese Leute waren mit der Entfernung der Lamas nicht einverstanden. Der Ta-sse trat herbei und sagte: »Ihre junge Würde vergißt, daß ich als Oberer dieses Tempels auch ein Wort mit den Fremden zu sprechen habe. Ich muß mich genau überzeugen, daß sie wirklich heilig sind. Wäre dies nicht der Fall, so hätten sie die Sitze der Götter entweiht, so daß diese nicht wieder darauf Platz nehmen könnten. Ich verlange also, daß die Lamas hier bleiben.«

Der Mandarin gab ihm mit den Augen einen heimlichen Wink, der ihn beruhigen sollte, und antwortete: »Ich bitte Ihre fromme Würde, ihnen doch das Thor öffnen zu lassen! Wir können ihnen nicht beweisen, daß sie keine Lamas sind, und dürfen sie also nicht belästigen. Uebrigens werden sie täglich nach hier zurückkehren, wobei vollauf Gelegenheit vorhanden ist, mit ihnen zu sprechen.«

Liang-ssi hatte den Einwand des Ta-sse gehört und war stehen geblieben, um die Antwort des Mandarins abzuwarten. Nun, da dieselbe so vorteilhaft ausfiel, wendete er sich an Turnerstick: »Sie können gehen. Man wird Ihnen sogleich das Thor öffnen. Aber entfernen Sie sich ja so würdevoll wie möglich!«

»Soll nicht an Würde fehlen! Ich werde diesen Leuten mein stolzestes Gesicht schneiden. Kommen Sie, Mijnheer; stehen Sie auf! Ich habe die Komödie satt!«

»Ik ook. Ik wil ook met opstaan en voortgaan; ik heb Honger!«

Er arbeitete sich aus seiner sitzenden Stellung empor und stieg vom Postamente, um hinter Turnerstick nach der Thür zu schreiten.

Jetzt war der entscheidende Augenblick gekommen. Der Methusalem stand hinter dem Gitter, um, vor Erwartung fast zitternd, zu sehen, ob man sie wirklich gehen lassen werde.

Langsam und gemessenen Schrittes, die Häupter hoch erhoben und weder nach rechts noch nach links blickend, bewegten sich die beiden nach der Thür. Der junge Mandarin ließ Turnerstick an sich vorüber, dann aber legte er seine Hand schnell auf den Arm des Dicken und fragte: »Mijnheer, gij zijt en Nederlander, niet?«

Der Dicke ließ sich übertölpeln. Er blieb stehen und antmottete, freundlich nickend: »Gewisseglijk, ik ben een Hollander.«

Da stieß der Mandarin ihn zurück, ergriff den Kapitän schnell beim Zopfe, um ihn festzuhalten, und rief den Polizisten zu: »Laßt niemand fort; sie sind Betrüger! Sie sind Fu-len Holländer und haben diese heilige Stätte entweiht. Ich arretiere sie!«

Diesem Befehle folgte eine außerordentlich lebhafte Scene. Turnerstick hatte zwar die chinesischen Worte nicht verstanden, aber doch begriffen, was gemeint war. Er wollte nach der Thür springen, welche noch gar nicht geöffnet worden war; dabei wurde ihm ganz selbstverständlich die Mandarinenmütze vom Kopfe gerissen, weil sein Zopf in der Hand des Gefängnisbeamten hängen blieb. Die Bonzen warfen sich ihm schreiend entgegen; er wehrte sie mit wütenden Faustschlägen von sich ab, warf ihrer mehrere nach rechts und links, kam aber nicht hindurch, da ihrer zu viele waren. Er wurde überwältigt und von zehn, zwölf, sechzehn Händen festgehalten. Sein Widerstand war so kräftig, so wütend gewesen, daß er dabei sogar die chinesischen Schuhe verloren hatte.

Was den Mijnheer betrifft, so war er keineswegs ein Feigling. Er hatte sich vorhin nicht aus wirklicher Mutlosigkeit hinter Turnerstick versteckt, sondern dieser schnelle Rückzug war aus reiner Ueberraschung geschehen und infolge der außerordentlichen Seltsamkeit der Lage, in welcher er sich befand. Er verstand kein Wort chinesisch und fühlte sich in dieser Beziehung auf Turnerstick angewiesen, welcher ja stets behauptet hatte, dieser Sprache mächtig zu sein. Aber jetzt, als er von dem Mandarin zurückgeschleudert wurde und zugleich sah, daß die Bonzen sich feindselig auf Turnerstick warfen, sagte er sich, daß die Rettung nicht mehr durch List zu erzielen, sondern nur durch Gewalt zu erzwingen sei. Er warf den Regenschirm, der ihm nur hinderlich sein konnte, weg und stieß die beiden geballten Fäuste dem Oberpriester, welcher ihm am nächsten stand, mit solcher Gewalt an die Magengegend, daß der Getroffene an eine der Bahren flog und, den darauf befindlichen Gott herunterreißend, über dieselbe hinwegstürzte. Dann fuhr er mitten unter die Mandarinen und Priester hinein und schlug in solcher Weise um sich, daß sie nach allen Seiten auseinander stürzten.

»Tapper, maar gedurig tapper, Mijnheer Turnerstick!« rief er dabei dem Kapitän zu. »Wij willen dezen Heidenhoofden onze vuisten an de neusen wrijven – tapfer, nur immer fort tapfer, Herr Turnerstick! Wir wollen diesen Heidenköpfen unsre Fäuste unter die Nasen reiben!«

Liang-ssi war aufs heftigste erschrocken, als er die holländische Frage des Mandarin und darauf die unvorsichtige Antwort des Mijnheer hörte. Er mußte nun das gefährliche Spiel verloren geben und vor allen Dingen für seine eigene Sicherheit sorgen. Dies erkennend, eilte er dem Eingange der großen Halle zu, um sich da hinaus nach dem Hofe und von da aus weiter zu retten. Er berücksichtigte dabei nicht, daß man ihn verfolgen und seine noch hinter dem Gitter stehenden Gefährten entdecken werde.

Aber mit derselben Schnelligkeit hatte der junge Mandarin seinen Befehl, niemand fort zu lassen, ausgerufen. Infolgedessen sprangen die Polizisten Liang-ssi entgegen, um ihn fest zu halten. Er konnte sich nicht einer großen Körperstärke rühmen, wehrte sich aber doch aus Leibeskräften, so daß es den acht Männern nicht allzu leicht wurde, ihn zu überwältigen. Dann hielten drei ihn fest, während die andern fünf zum Mijnheer sprangen, welcher noch immer mit einer wahren Berserkerwut um sich schlug und stampfte. Sie überfielen ihn von hinten und rissen ihn nieder.

»Brand, brand!« schrie er auf. »Zij hebben mij! Help, Help, Mijnheer Turnerstick – Feuer, Feuer! Sie haben mich! Zu Hilfe! zu Hilfe, Herr Turnerstick!«

»Unmöglich, denn sie haben mich auch,« antwortete der Kapitän, vor Anstrengung noch atemlos. »Das hat man davon, wenn man Götze spielt!«

Der Regenschirm und die schottische Mütze des Dicken, der Fächer, die Schuhe, die Perücke mit dem Zopfe und die Kopfbedeckung Turnersticks lagen auf dem Boden. Ein Glück war es, daß dem Kapitän nicht der Gedanke gekommen war, sich seiner Waffen zu bedienen!

Der Methusalem hatte Zeuge dieser aufregenden Scene sein müssen, ohne den Bedrängten zu Hilfe eilen zu können. Als sie jetzt überwältigt waren, ergriff der Tong-tschi ihn bei der Hand und raunte ihm hastig zu: »Jetzt fort, schnell fort, denn nun werden sie auch hier herein kommen!«

»Aber wohin?«

»Ich weiß es, denn ich kenne diesen Tempel. Zunächst hinaus in den Hof.«

Sie eilten fort, gefolgt von Gottfried und Richard. Im Hofe war niemand zu sehen, auch der Bonze nicht, welcher sie vorhin begleitet hatte. Zwischen den Wohnungszellen, welche ihnen vorhin gezeigt worden waren, führte ein Gang in einen kleinen Gemüsegarten, welcher an denjenigen eines Häuschens stieß, in dem ein Vertreter des Tempels Räucherstäbchen verkaufte. Die beiden kleinen Gärten waren durch eine Pforte verbunden, und das Häuschen gehörte zu einer engen Hintergasse, welche mit derjenigen Straße, in welcher der Tempel lag, parallel führte. In diese Gasse gelangten die Vier, indem sie durch die Pforte und den Laden gingen.

Eine unmittelbare Gefahr drohte ihnen nun nicht mehr. Aber nun galt es, ohne Aufsehen zu erregen zu den Sänften zu gelangen. Der Tong-tschi führte seine Begleiter durch eine Quergasse, durch welche sie auf die Tempelstraße gelangten. Von der Ecke aus sahen sie die Musikanten am Eingange des Pek-thian-tschu-fan stehen. Die Sänftenträger hatten dem Zuge Platz gemacht und standen auf der andern Seite der Straße. Einer derselben blickte zufälligerweise her und sah den Mandarin stehen, der ihm sofort einen Wink gab. Er teilte das seinen Genossen mit, welche infolgedessen mit ihren Sänften herbeigetrabt kamen.

»Gehen wir nach Hause?« fragte der Methusalem.

»Sie, ja, aber ich nicht,« antwortete der Mandarin. »Ich werde einsteigen, aber mich nur eine kurze Strecke forttragen lassen und dann halten, um den Polizisten nachzufolgen, welche Ihre Gefährten nach dem Gefängnisse bringen. Ich will wissen, was man mit ihnen thut, und werde Ihnen dann Nachricht bringen. Ich habe Sie wiederholt gebeten, nichts zu unternehmen, was Sie und also mich mit in Schaden bringen kann. Was jetzt geschehen ist, das ist noch viel schlimmer und gefährlicher als das gestrige. Ihre Genossen haben nicht nur die weltlichen, sondern auch die religiösen Gesetze beleidigt und übertreten, und die Vorsicht würde mir gebieten, Ihnen von jetzt an mein Haus zu verschließen. Ich achte aber die Gastfreundschaft und bin meinen Lebensrettern zu sehr zu Dank verpflichtet, als daß ich Sie jetzt in der Gefahr verlassen möchte. Sie werden sich also jetzt unverweilt nach Hause begeben und mir versprechen, die Wohnung nicht eher zu verlassen, als bis ich zurückgekehrt bin und Sie benachrichtigt habe, wie es mit Ihren Gefährten steht.«

»Ist die Gefahr, in welcher sie sich befinden, wirklich so groß?«

»Sehr groß, denn sie haben nicht nur das Gesetz, sondern auch die Aufregung der Priester und des Volkes gegen sich. Ein Glück wird es noch sein, wenn man sie in den Gewahrsam bringt, ohne daß sich das Publikum an ihnen vergreift.«

»Dann erscheint es mir als Feigheit, sie jetzt zu verlassen. Ich kann nicht nach Hause; ich muß sofort zu ihnen, um teil an ihrem Schicksale zu nehmen.«

»Nein, denn Sie würden dadurch sich selbst und auch mich mit verderben. Wir können sie nur dadurch retten, daß wir nicht merken lassen, daß sie zu uns gehören. Verlassen Sie sich nicht auf sich, sondern auf mich! Ich will Ihnen zu Gefallen es wagen, in den Tempel zurückzukehren. Das wird nicht auffallen, denn ich habe ein Recht, bei der Rückkehr der Götter zugegen zu sein, da ich die Diebe ergriffen habe. Ich hoffe dabei aber, Ihre Gefährten werden so klug sein, nicht zu verraten, daß sie mich kennen.«

»Ich denke, daß sie vorsichtig sein werden. Liang-ssi hat es doch den beiden andern gesagt, daß das unbekannt bleiben muß.«

»So lassen Sie sich also ruhig nach Hause tragen! Ich werde zunächst versuchen, sie vor Gewalttätigkeiten zu bewahren. Gewinnen wir Zeit, so ist es wahrscheinlich, daß wir sie retten werden.«

Er hatte das in einem so energischen Tone gesagt, daß der Student nicht zu widersprechen wagte. Der letztere stieg mit Gottfried und Richard in die Sänften, worauf die Träger derselben davon rannten. Der Tong-tschi aber ließ sich nach dem Tempel tragen. Glücklicherweise hatten die vor dem Thore desselben stehenden Musikanten und sonstigen Leute nicht auf das, was an der Straßenecke vorgegangen war, geachtet. Darum glaubten sie, als der Mandarin jetzt ausstieg, er komme von fern her. Sie wichen aus Ehrfurcht vor seinem Range zurück und machten ihm die Passage frei. Auch diejenigen Teilnehmer am Festzuge, welche sich im Hofe befanden, gaben ihm Platz.

Er sah zu seiner Beruhigung, daß die Thür des Tempels noch von innen verschlossen war. Das war ein gutes Zeichen, da sich daraus vermuten ließ, daß die Menge noch nicht wisse, was im Heiligtume geschehen sei. Um ganz gewiß zu gehen, fragte er diejenigen, welche in der Nähe der Thür standen »Warum ist der Eingang nicht offen? Warum dürft ihr nicht hinein?«

Sie verneigten sich tief vor ihm und einer antwortete: »Ihre Großmut möge erfahren, daß fremde, hohe Götter angekommen sind.«

»Woher?«

»Wir wissen es nicht. Wahrscheinlich wollen sie die bisherigen Götter nicht aus ihre Sitze lassen, denn wir hörten großes Geräusch und laute Stimmen, welche nicht freundlich klangen.«

Der Mandarin horchte und vernahm eine laute Stimme, in welcher er diejenige des jungen Beamten erkannte. Er klopfte laut an und mußte das wiederholen, bevor drin eine Stimme fragte: »Schui kin – wer ist da?«

»Kuan-fu Tong-tschi – der Mandarin Tong-tschi,« antwortete er.

Die Thür wurde augenblicklich geöffnet, hinter ihm aber sofort wieder verschlossen, damit kein andrer außer ihm hereintreten könne. Mit einem schnellen Blicke überschaute er die Lage. Die Gefangenen standen, von den Polizisten festgehalten, nebeneinander, vor ihnen der Gefängnisbeamte, welcher sie, wie zu erraten war, soeben einem scharfen Verhör unterworfen hatte. Man hatte ihnen die im Kampfe verlorenen Gegenstände wiedergegeben.

Da der Tong-tschi ein höheres Amt bekleidete als die anwesenden Mandarinen, so verbeugten sie sich alle vor ihm, und der junge Beamte trat zurück, um ihm bescheiden seinen Platz zu überlassen.

Als Turnerstick den Gastfreund erblickte, rief er erfreut aus: »Gott sei Dank, da ist der Tong-tschi! Nun sind wir gerettet. Ich werde ihm die Sache ausführlich erzählen.«

Er wollte auf den Genannten zutreten, um ihm eine seiner berühmten Reden zu halten, aber Ling-ssi zog ihn zurück und sagte: »Bleiben Sie! Was fällt Ihnen ein! Er kommt uns zu retten. Das kann ihm aber nur dann gelingen, wenn niemand ahnt, daß wir seine Gäste sind.«

»So! Dann werde ich ihn freilich nicht kennen. Aber übersetzen Sie uns schnell alles, was gesprochen wird. Ich muß doch wissen, was die Kerls verhandeln, und sie sprechen leider ein Chinesisch, welches für einen guten Linguisten ganz und gar unverständlich ist.«

Der Tong-tschi musterte die Gruppe mit einem Blick des Erstaunens, ganz wie einer, welcher keine Ahnung hat von dem, was da geschehen ist. Dann fragte er: »Warum ist der Tempel verschlossen? Was ist geschehen? Ich hörte draußen, daß fremde Götter angekommen seien.«

»Sie gaben sich dafür aus,« antwortete der junge Mandarin, »und wir glaubten ihnen anfänglich. Aber Ihre hohe Würde wird bald erkennen, daß sie Betrüger sind.«

»Wie? Können Götter Betrüger sein?«

»Nein; aber diese Leute sind eben keine Götter, sondern Menschen, fremde Fu-len, welche die Sitze unsrer Gottheiten eingenommen und den Tempel geschändet haben.«

»Dann müssen sie aufs strengste bestraft werden. Mein jüngerer Bruder mag mir erzählen, was geschehen ist.«

Der Gefängnisbeamte gab ihm einen eingehenden Bericht. Der Tong-tschi hörte ihm sehr aufmerksam zu, musterte dann die Gefangenen mit strengem Blicke und sagte: »Also diese Männer geben sich für heilige Lamas aus und sprechen doch die Sprache der Fu-len? Hat sich da mein Kollege nicht geirrt?«

»Nein. Ich hatte amtlich sehr oft mit solchen Fu-len zu thun und habe mir viele ihrer barbarischen Redensarten gemerkt. Dieser eine Fremde ist doppelt strafbar, da er sich ohne alles Recht die Kleidung der Mandarinen angeeignet hat.«

»Vielleicht ist er ein Mandarin seines Volkes!«

»Gibt ihm das ein Recht, sich wie einer unsrer Kuan-fu zu kleiden?«

»Sollten sich seine Beamten nicht ebenso kleiden wie die unsrigen?«

»Nein, ich weiß das gewiß. Uebrigens kann ich leicht beweisen, daß er ein Betrüger ist. Er gibt sich für einen Tafutsiang aus und trägt doch den Knopf eines andren Offiziers. Man sehe seine Mütze! Hier ist sie!«

Er nahm dem Kapitän die Mütze vom Kopfe und hielt sie dem Tong-tschi vor die Augen. Dann riß er ihm auch die Perücke mit dem Zopfe vom Kopfe, schwenkte diese »falsche Behauptung« hin und her und sagte: »Und ist dieses Haar sein Eigentum? hat er sich den Kopf scheren lassen, wie es einem Chinesen und ganz besonders einem Mandarin geziemt? Nein, er trägt die Schande eines vollen Haares, ganz wie ein Barbar, und darüber einen Zopf, welcher nicht auf seinem Kopfe gewachsen ist. Er ist also kein Chinese und noch viel weniger ein Gott, welcher das Recht hat, sich hier zwischen den Anbetungswürdigen niederzulassen!«

»Aber,« meinte der Tong-tschi diplomatisch, »ich habe oft gehört, daß die Lamas falsche Zöpfe tragen. Vielleicht ist er dennoch einer!«

Turnerstick ärgerte sich darüber, daß der junge Mann so unehrerbietig mit dem Zopfe umging. Er fragte Liang-ssi leise: »Was will er? Was hat er mit meiner Perücke? Was sagt er?«

Liang-ssi erklärte es ihm ebenso leise wie schnell.

»Alle Wetter! Ich werde ihm sagen, daß mein Kopf mir gehört und ich mit demselben thun und lassen kann, was mir beliebt. Dieser Zopf kostet zwei Dollar; ich habe sie bezahlt und lasse ihn nun nicht wie einen Eselsschwanz behandeln!«

Er trat zwei Schritte vor und fuhr den Jüngling erbost an: »Her mit der Perücking! Her!« Dabei riß er sie ihm aus der Hand. »Sie ist mein Eigentum und du kannst die Hand davong lasseng! Ich kann tragung, was ich will, falsche Perückong und sogar falsche Augeng, ganz nach meinem Beliebang. Da, schau her, junger Frosch! Was wirst du dazu saging? Willst du mir auch das verbieteng?«

Er hatte bekanntlich ein falsches Auge. Indem er den Daumen an den Augenwinkel setzte, bohrte er es aus der Höhle, nahm es zwischen zwei Finger und zeigte es vor, indem er sein Gesicht in höhnisch grinsende Falten legte.

Die Leute fuhren zurück. Die beiden Polizisten, welche ihn gepackt hielten, ließen ihn los und traten erschrocken von ihm weg.

»Nun?« fragte er lachend, »wer kann mir das nachmacheng? Wer vong euch kann so wie ich seine Auging herausnehmung?« Keiner von ihnen hatte jemals so etwas gesehen. Sie alle standen starr und wortlos da. Der Oberpriester bekam zuerst die Sprache wieder; er schrie: »T'ien-ti-jin – o Himmel, Erde und Menschen. Miao-ya, miao-ya – Wunder über Wunder! Er kann seine Augen herausnehmen!«

»Miao-ya mu, miao-ya mu – wunderbare Augen, wunderbare Augen!« fielen die Erschrockenen ringsum ein

»Jip-mo t'a yuet, jip-mo t'a yuet – was hat er gesagt, was hat er gesagt?« fragte der junge Mandarin, welcher ebenso wie die andern erschrocken war, Liang-ssi.

Dieser letztere war vier Jahre lang bei Onkel Daniel gewesen und hatte von ihm viel gelernt Er wußte auch, daß in Europa die Kunst soweit vorgeschritten ist, falsche Augen, welche den echten zum Verwechseln ähnlich sind, hervorzubringen. Um den allgemeinen Schreck zu benutzen, antwortete er: »Er will beweisen, daß er wirklich ein heiliger und wunderthätiger Lama ist. So wie er sich sein eigenes Auge aus dem Gesicht genommen hat, will er auch den andern Anwesenden die Augen und Nasen entfernen. Er ist sogar erbötig, ihnen die Arme und Beine aus dem Leibe zu ziehen und dann wieder anzusetzen. Wer will es versuchen, sich von seiner wunderbaren Macht zu überzeugen?«

»Ngo put, ngo put – ich nicht, ich nicht,« rief es rundum, indem die Bonzen und Mandarinen sich noch weiter von Turnerstick zurückzogen.

»Niemand? Es braucht sich aber keiner zu fürchten, denn er setzt jedes Glied, welches er ausreißt, wieder an seine Stelle.« Und deutsch fügte er hinzu: »Stecken Sie das Auge wieder hinein und thun Sie dann so, als ob Sie dort dem Oberpriester das Bein herausreißen wollten.«

Turnerstick folgte dieser Aufforderung.

»I, miao-ya – seltsam, wunderbar!« riefen die Leute, als sie das Auge wieder an seiner Stelle erblickten und auch sahen, daß es sich bewegte.

Als sich aber nun der Kapitän dem Oberpriester näherte, sich vor demselben niederbeugte und nach seinem Fuße griff, retirierte derselbe erschrocken und fragte: »Was will er? Was hat er vor?«

»Er will Ihrer Heiligkeit beweisen, daß er alles kann, was ich sagte. Er will Ihnen die beiden Beine herausziehen.«

Da drängte der Bedrohte sich in die fernste Ecke hinter die Götterbilder und schrie: »Vu, vu! Ngo put yuk ngo; put kam; ngo kiao – nein, nein! Ich will das nicht; ich mag das nicht; ich schrei'!«

Als Turnerstick ihm dennoch bis in den Winkel nachging, rannte der Priester nach der gegenüberliegenden Ecke und brüllte, als ob es ihm an das Leben gehe.

Selbst der Tong-tschi wußte nicht, was er zu dem Wunder sagen solle. Er wußte es sich nicht zu erklären, war aber überzeugt, daß die Sache ganz natürlich zugehe. Der Schreck, welcher alle ergriffen hatte, war ihm sehr willkommen. Er bat Liang-ssi: »Sage ihm, daß wir sein Wunder nicht versuchen wollen. Wir glauben es, denn wir haben es gesehen; aber es ist doch gefährlich, es an andern probieren zu lassen.«

Liang-ssi winkte den Kapitän wieder zu sich und erklärte dem Mandarin: »Ein Glück für den Ta, daß er geflohen ist! Der Lama ist von diesen Herren unehrerbietig behandelt worden. Zur Strafe dafür hätte er dem Ta die Beine falsch und verkehrt wieder eingesetzt, das rechte links, das linke rechts und beide mit den Zehen nach hinten.

»Vu, vu!« schrie der Ta aus seiner Ecke. »Ngo put yuk, ngo put yuk – nein, nein! Ich will nicht, ich mag nicht!«

Der Tong-tschi wendete sich mit sehr ernster Miene an den Gefängnisbeamten: »Mein kleiner Verwandter hat da jedenfalls zu schnell gehandelt. Sind Sie schon einmal in Tibet gewesen?«

»Nein,« antwortete der Gefragte ein wenig kleinlaut.

»Oder haben Sie schon einmal einen Lama gesehen?«

»Nein.«

»Oder kennen Sie die Gesetze, nach denen die Lamas leben, und die Lehren, nach denen sie handeln?«

»Ich habe die betreffenden Bücher noch nicht gelesen. Ich brauchte das auch nicht zu kennen, da ich diese Leute nicht für Lamas, sondern für Fu-len hielt.«

»So! Und dennoch haben Sie sich falsch verhalten. Ich muß Ihnen eine Rüge erteilen, werde aber von einer wirklichen Strafe absehen, da Sie noch jung sind und in amtlichem Eifer gehandelt haben. Es sind zwei Fälle möglich. Entweder sind diese Herren wirklich heilige Lamas, welche man wie Götter zu verehren hat. In diesem Falle wußten Sie nicht, wie Sie sich gegen sie verhalten sollten, und mußten sich also den Rat eines höheren Kuan-fu erbitten, welcher in dieser Beziehung erfahrener war als Sie. Das haben Sie aber unterlassen. Ist es denn keinem der anwesenden höheren Kuan-fu eingefallen, Sie zu warnen?«

»Nein.«

»So kann ich Ihnen leichter verzeihen, weil die andern die Schuld auch mit zu tragen haben.«

»Aber Ihre berühmte und erleuchtete Weisheit mag gnädigst bedenken, daß ich diese fremden Wesen für Fu-len halten mußte, da der eine von ihnen die Sprache der Fu-len redete!«

»Das ist sehr leicht zu erklären. Während er vertieft auf seinem Platze saß und sich in das All versenkte, ist sein Geist durch fremde Länder geeilt und hat da die Sprache der Fu-len vernommen. In diesem Augenblicke haben Sie seine Seele gezwungen, zurückzukehren und sie hat diese Sprache noch in den Ohren und im Munde gehabt. Aber auch angenommen, daß diese verehrungswürdigen Herren Fu-len seien, so will ich meinen jungen Bruder fragen, ob Sie das Recht besitzen, sie ins Verhör zu nehmen?«

Der Gefragte blickte verlegen vor sich nieder und antwortete nicht.

»Sie sind zwar noch jung, aber als Kian-fu und Moa-sse müssen Sie die Grenzen der verschiedenen Amtsgewalten genau kennen. Jeder Fu-len ist für uns ein Y-jin, ein fremder Mann. Hoffentlich wissen Sie, in wessen Amtsbereich die Fremden gehören?«

»In denjenigen des Tong-tschi.«

»Kennen Sie diesen Beamten?«

»Ja, Ihre Hoheit ist es.«

»Warum haben Sie da nicht sofort nach mir gesandt? Sie sind Pang-tschok-kuan, eine Würde, welche für Ihr Alter so groß ist, daß ich Ihnen ungewöhnliche Kenntnisse zutrauen muß. Darum wundert es mich sehr, daß Sie nicht gewußt haben, daß Sie vor allen Dingen einen Boten zu mir senden mußten. Es gibt zwar auch Unterbeamte, denen ich einen kleinen Teil meiner Gewalt anvertraut habe, doch kommen diese hier nicht in Betracht, da es sich um einen so außerordentlichen Fall handelte.«

Sein Ton war sehr streng geworden. Es herrschte die Stille größter Verlegenheit in dem Raume. Der Pang-tschok-kuan stand da wie niedergeschmettert, und auch die andern Mandarinen wagten kaum, ihre Augen zu erheben. Mochten sie dem Tong-tschi recht geben oder nicht, sie hatten keine Erlaubnis, ihm zu widersprechen. Er fuhr in dem bisherigen strengen Tone fort: »Was beabsichtigten Sie denn eigentlich in diesem schwierigen Falle zu thun?«

Das gab dem jungen Beamten Gelegenheit, sich einigermaßen herauszubeißen. Er antwortete: »Eben als Ihre Hoheit kam, war ich entschlossen, einen Boten zu senden, um Ihre große Erfahrenheit zu bitten, sich hieher zu bemühen. Vorher aber war ich jedenfalls gezwungen, die Fremden zu verhören, um die erleuchteten Fragen Ihrer Ueberlegenheit beantworten zu können.«

»Aber Sie haben sich an ihnen vergriffen; das durfte nicht geschehen. Sie wissen doch, daß wir keinen Fremden bestrafen dürfen. Wenn ein Ausländer gegen unsre Gesetze handelt, so haben wir ihn seinem Gesandten zur Bestrafung auszuliefern. Selbst wenn diese Leute nur Fu-len sind, so werden sie sich bei dem Vertreter ihres Herrschers über Sie beschweren, und wir sind dann gezwungen, alle, welche eine Klage trifft, auf das strengste zu bestrafen. Wie leicht können Sie dann nicht nur Ihren Rang als Beamter, sondern sogar die Würde Ihres litterarischen Grades verlieren! Aber ich will aus besonderer Rücksicht gegen Ihre Jugend diese Herren bitten, von einer solchen Beschwerde abzusehen, und hoffe, daß Sie ihnen von jetzt an höflich und rücksichtsvoll entgegenkommen, da sie einstweilen unter Ihrer Obhut bleiben müssen.«

Und als der andre ihn fragend anblickte, fuhr er in belehrendem Tone fort: »Mein junger Kollege hat die Schuld dieser Herren für größer gehalten, als sie ist. Sind sie Lamas, so trifft sie überhaupt keine Schuld, da ihre Heiligkeit sie berechtigt, sich in jedem Tempel niederzulassen. Und sind sie Fu-len, so ist ihre Schuld nur gering, da sie nicht wissen konnten, daß das, was sie thaten, bei uns verboten ist und sehr streng bestraft wird. Ich werde diesen Fall selbst und sehr genau untersuchen und vertraue Ihnen bis dahin diese Leute an. Geben Sie ihnen eine gute Wohnung im Gefängnisse, und sorgen Sie für alle ihre Bedürfnisse! Wir müssen uns allerdings, bis wir ein gerechtes Urteil fällen können, ihrer Person versichern, aber wir müssen uns hüten, sie jetzt schon als Schuldige und Sünder zu behandeln. Lassen Sie Sänften für sie kommen, auch für diesen jungen Mann, welcher ihren Dolmetscher macht und den wir nötig haben, weil wir ihre Sprache nicht verstehen. Aber das muß heimlich geschehen, damit sie nicht von der draußen stehenden Menge belästigt werden. Ich selbst werde voraneilen, um sie im Huok-tschu-fang Gefängnis zu erwarten und mich zu überzeugen, daß sie uns sicher sind, ohne sich über uns beklagen zu müssen.«

Er entfernte sich, wobei sich alle wieder tief vor ihm verneigten. Die Thür wurde hinter ihm schnell wieder verschlossen.

Turnerstick stand noch frei da. Keiner der Polizisten war so kühn gewesen, die Hand wieder an ihn zu legen. Der Oberpriester hielt noch immer vorsichtig in seiner Ecke und sagte jetzt, den Blick ängstlich auf den Kapitän gerichtet: »Haben Sie es gehört, was geschehen soll? Fort sollen sie. Führt sie in den Hof und schickt nach Palankins. Sie können durch die Hintergasse fort, wo niemand ihnen Beachtung schenkt. Ich aber werde den Tempel verschlossen halten müssen, um abzuwarten, was diese Leute sind. Sind sie Fu-len, so dürfen unsre Götter erst dann wieder auf ihre Sitze, wenn dieselben gereinigt und wieder geweiht worden sind. Führt sie hinaus! Fort mit ihnen!«

Es war ihm nur darum zu thun, Turnerstick nicht mehr zu sehen. Die beiden Beine ausgerissen und verkehrt wieder eingesetzt zu bekommen, das schien ihm das denkbar größte Unglück zu sein.

Jetzt trat der junge Mandarin zu den Gefangenen, machte ihnen eine Reverenz und sagte: »Die hohen Herren haben gehört, was der mächtige Tong-tschi befohlen hat. Wollen Sie die Güte haben, mir zu folgen?«

»Was meint er?« fragte der Kapitän.

»Er will uns fortführen.«

»Wohin?«

»In das Gefängnis.«

»Fällt mir nicht ein! Wenn er sich selbst einschließen will, so habe ich nichts dagegen, mich aber lasse ich nicht hinter Schloß und Riegel sperren. Nicht wahr, Mijnheer?«

»Neen, ik ook niet. Ich heb Honger; ik wil eten!«

»Das sollen Sie ja,« drängte Liang-ssi. »Sie werden es im Gefängnis nicht schlecht haben. Wir bekommen gute Zimmer und auch Essen.«

»Aber was für welches!«

»Gutes! Der Tong-tschi hat befohlen, daß man gut für uns sorgen soll. Widerstand würde ganz vergebens sein. Nur wenn wir uns fügen, können wir gerettet werden. Sie können sich darauf verlassen, daß Herr Degenfeld uns nicht stecken lassen wird.«

»Ja, das ist freilich sicher. Wollen wir mitgehen, Mijnheer?«

»Ja,« antwortete der Dicke, welcher überhaupt nur stets das wollte, was seine Freunde wollten. »Wij willen met gaan.«

»Nun gut! Aber vorher will ich diesem Oberpriester noch eine Angst einjagen. Er sieht mich an wie das Karnickel den Eisbär. Der Mann muß einen großartigen Respekt vor mir haben. Was heißt in diesem unverständlichen Dialekt: »Ich verlange Ihre Augen?«

»Ngo yao ling-yen,« antwortete Liang-ssi leise.

»Ngo yao ling-yen. Das kann ich mir für diesen Augenblick merken.«

Er schritt langsam nach der Ecke, aber so, daß der Oberbonze weder rechts noch links ausweichen konnte, nahm sein Auge heraus, brachte es wieder in die Höhle zurück und sagte dann, die beiden Hände nach dem Gesichte des Angsterfüllten ausstreckend: »Ngo yao ling-yen!«

»Pen yen! T'ien-na, Tieu schin – meine Augen! O Himmel, zu Hilfe!« schrie der Bedrängte auf.

Er stieß, da es keinen andern Ausweg gab, den Kapitän zur Seite und flüchtete sich hinter die Bonzen.

»Schafft ihn fort, schnell, schnell!« gebot er dort. »Wir kommen sonst alle um unsre Augen und um unsre Glieder! Er nimmt uns die Augen und setzt sie verkehrt wieder ein!«

Der Gefängnisbeamte bat den Kapitän in höflichster Weise, ihm nun zu folgen und sich nicht weiter zu bemühen, ein Wunsch, dem nun auch Folge geleistet wurde. Einige Polizisten wurden nach Sänften geschickt, in welchen die Gefangenen unter Bedeckung nach dem Gefängnisse gebracht wurden, wo der Tong-tschi sie bereits erwartete.


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