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Illustration: O. Herrfurth

Der Triumphzug.

Neuntes Kapitel

Das Ende der Raubdschunke.

Degenfeld ging auf dem Deck hin und her. Er kam an Liang-ssi vorüber, blieb bei ihm stehen und sagte: »Vorhin, als Sie zu uns in die Kajüte kamen, gab es keine Zeit zu eingehenden Erkundigungen. Jetzt ist die Gefahr hoffentlich vorüber, und nun möchte ich Sie fragen, wie Sie mit unsrem Landsmanne Stein bekannt geworben sind. Wie lange befinden Sie sich bei ihm?«

»Nach Ihrer Rechnung genau seit vier Jahren.«

»Ist die Provinz Hu-nan Ihre Heimat?«

»Nein. Ich stamme aus der Nachbarprovinz Kwéi-tschou.«

»Ah, das ist mir höchst interessant!«

»Das glaube ich, denn Kwéi-tschou ist die interessanteste Provinz des ganzen Reiches.«

»Warum?«

»Weil dort die Seng und Miao-tse wohnen.«

»Das ist richtig. Man hält sie für Ueberreste der Urbevölkerung von China, und sie sind seit mehr als drei Jahrtausenden dem spezifisch chinesischen Volkselemente fern und fremd geblieben. Aber das war es nicht, was ich meinte. Ich interessiere mich für diese Provinz, weil ich hin will.«

»Sie nach Kwéi-tschou? Herr, das ist gefährlich!«

»Mag sein, aber ich muß hin, denn ich habe es mit meinem Ehrenworte versprochen. Sind Sie dort bekannt?«

»Nicht allzu sehr, da ich die Heimat seit acht Jahren meiden mußte. Ihr Ehrenwort haben Sie gegeben?«

»Ja, mein Kong-Kheou.«

»Sogar Ihr Kong-Kheou? Wo ist das geschehen? Hier in China?«

»Nein, sondern in Deutschland, meiner Heimat.«

»Ist das möglich? Sind dabei auch Tsan-hiang angebrannt worden?«

»Räucherstäbchen, ja.«

»Herr, so ist es ein wirklicher Chinese gewesen, welcher Ihnen das Kong-Kheou abgenommen hat!«

»Allerdings. Er war Kaufmann und hatte in der Stadt, in welcher ich lebte, einen Laden für alle möglichen chinesischen Artikel errichtet.«

»In Deutschland? Das ist seltsam. Bisher habe ich geglaubt, daß meine Landsleute nur nach dem Süden und Osten, also nach Indien, den Sundainseln und Amerika, nicht aber nach Europa gehen. Er muß sein Vaterland unfreiwillig verlassen haben.«

»Sie raten das richtige. Er hat China als Flüchtling verlassen müssen.«

»Hatte er Familie?«

»Ja. Leider mußte er sie zurücklassen.«

»Dann wehe ihr, denn sie hat jedenfalls für ihn büßen müssen! Ich habe ganz dasselbe Unglück auch erfahren.«

»Sie? Mußte ein Verwandter von Ihnen fliehen?«

»Ja, mein Vater.«

»Wann?«

»Vor nunmehr acht Jahren. Ich war damals sechzehn Jahre alt.«

»Was hatte er gethan?«

»Nichts. Er war unschuldig. Sie werden vielleicht wissen, daß die Taipings eine neue Religion gründen und die herrschende Dynastie stürzen wollten. Fast wäre ihnen das gelungen. Es dauerte lange Zeit und kostete blutige Kämpfe, bis sie überwunden wurden. Sie lösten sich endlich in Banden auf, welche raubend das Land durchzogen und bis in die südlichen Provinzen kamen. Eine derselben warf sich auch nach Kwéi-tschou. Einer der Unteranführer war ein früherer Freund meines Vaters, suchte uns auf und wohnte einige Tage bei uns, ohne daß wir ahnten, daß er zu den Taipings gehörte. Man fand ihn bei uns. Er wurde arretiert und mein Vater mit ihm, obgleich derselbe seine Unschuld beteuerte und der Freund ihm bezeugte, daß er nichts gewußt habe. Beide wurden in das Sing-pu Kriminalgebäude gebracht und dort wie wilde Tiere in Käfige gesperrt. Einer der Beamten wollte meinem Vater wohl, weil dieser ihm viel Gutes gethan hatte. Er schlich sich des Nachts zu ihm, öffnete den Kerker und ließ ihn entkommen. Der Vater kam für einige Augenblicke zu uns, um Abschied von uns zu nehmen. Seit dieser Stunde haben wir nichts von ihm gehört.«

Der Methusalem hatte diesen Bericht mit ungewöhnlicher Teilnahme vernommen.

»Sonderbar!« sagte er. »In welcher Stadt ist das geschehen?«

»In Seng-Ho.«

»Und wie ist Ihr Geschlechtsname?«

»Pang.«

»Pang, in Seng-Ho! Werden Sie mir erlauben, Sie nach Ihrem Milchnamen zu fragen, obgleich das eigentlich eine Unhöflichkeit ist?«

»Gern! Ich habe Ihnen meine Freiheit zu verdanken; wie könnte ich Ihnen da wegen dieser Frage zürnen! Mein Milchname ist ›Fuk-ku‹, was ›Ursache des Glückes‹ bedeutet. Die Eltern waren bisher kinderlos gewesen; darum gaben sie mir, ihrem Erstgeborenen, diesen Namen, um anzudeuten, daß sie nun glücklich seien.«

»Welch ein Zusammentreffen! Nicht wahr, Ihre Mutter hieß Hao-keu, lieblicher Mund?«

»Ja. Woher wissen Sie das?«

»Sie hatten noch einen Bruder und zwei Schwestern. Der erstere hieß Yin-Tsian, Güte des Himmels, und die beiden letzteren Méi-pao, schöne Gestalt, und Sim-ming, Herzenslicht?«

Der Chinese fuhr einen Schritt zurück und rief: »Herr, was höre ich! Sie kennen die Namen meiner Verwandten!«

»Noch mehr! Nicht wahr, Ihr Vater heißt Ye-lin-li?«

»Ja, ja! Wer hat Ihnen diese Namen genannt?«

Da legte Degenfeld ihm die Hand auf die Achsel und antwortete: »Sagen Sie mir zunächst, ob Sie stark genug sind, so ganz unvorbereitet eine für Sie hochwichtige und überraschende Neuigkeit zu hören.«

»Ist es eine traurige?«

»Nein, eine beglückende.«

»Nun, dazu bin ich stark genug. Die Stimme des Glückes vernimmt man stets gern.«

»Sie fragten, von wem ich die Namen gehört habe, und ich antworte Ihnen: Von Ihrem Vater.«

»Von – – ist's wahr, ist's wahr?«

»Ja. Er ist es, dem ich mein Kong-Kheou gegeben habe, daß ich nicht eher zurückkehren werde, als bis ich im stande bin, seine Familie oder wenigstens sichere Kunde derselben zu bringen.«

»Er lebt also, er lebt?«

»Er befindet sich wohl, und es geht ihm sehr gut.«

»O Himmel, o Himmel! Welch eine Nachricht, welch eine Botschaft!«

Er war ganz außer sich vor Entzücken. Er dachte zunächst nicht daran, sich nach dem Näheren zu erkundigen. Es war ihm einstweilen genug, zu wissen, daß sein Vater noch lebe. Er rannte fort und eilte zwei-, dreimal um das Deck. Dann endlich blieb er wieder vor dem Methusalem stehen und sagte: »Herr, fast kann ich es nicht glauben. Acht volle Jahre habe ich vergeblich auf eine Nachricht von dem Verschollenen gewartet; ich mußte ihn für tot halten. Und nun höre ich so plötzlich, so ganz unerwartet, daß er in Deutschland lebt! Es ist ein Wunder! Es ist ein ebenso großes Wunder wie dasjenige, daß Sie zu Sei-tei-nei wollen, dessen Untergebener ich bin. Wie herrlich trifft beides zusammen! Mir ist, als ob ich träume!«

»Auch ich bin tief ergriffen, mein Freund. Ich fühle mich sehr glücklich, Sie gefunden zu haben, denn dadurch erspare ich eine lange Zeit des Suchens.«

»O, suchen werden Sie, werden wir doch noch müssen!«

»Wieso?«

»Sie sollen doch nicht nur mich, sondern auch die Mutter und die Geschwister finden?«

»Natürlich! Hoffentlich aber wissen Sie, wo sie zu treffen sind?«

»Nein, eben das weiß ich nicht.«

»Wie? Sie wissen das nicht? Sie sind von ihnen getrennt worden?«

»Ja. Ich habe ebenso lang, acht Jahre lang, sie weder gesehen noch etwas von ihnen gehört.«

»Wie ist das möglich?«

»Es ist sehr einfach. Sie wissen wohl, daß in China die Verwandten eines Uebelthäters sein Vergehen mit zu büßen haben?«

»Ja.«

»Es ist das wenigstens in den meisten Fällen so üblich. Als der Vater entkommen war, bemächtigte man sich unsrer. Wir wurden eingesperrt, aber einzeln, damit wir nicht miteinander verkehren könnten. Ich und der Bruder sollten getötet werden, also die Strafe der Aufrührer erleiden. Man wollte unsre Köpfe auf die Mauer stecken. Die Mutter und die Schwestern aber sollten als Sklavinnen verkauft werden. Dieses Urteil wäre sofort vollstreckt worden, wenn es den Beamten nicht nach unserm Gelde gelüstet hätte.«

»Das war aber vergraben.«

»Woher wissen Sie das?«

»Von Ihrem Vater.«

»So muß er Ihnen sein ganzes Vertrauen geschenkt haben!«

»Er hat mich seiner Freundschaft gewürdigt, und ich werde mir alle Mühe geben, die Hoffnungen, welche er in mich gesetzt hat, zu erfüllen. Ich weiß, daß er Ihnen nur so viel Geld gelassen hatte, wie Sie zum Leben brauchten.«

»Das hat man uns abgenommen. Da aber mein Vater reich war, so wußte man, daß unser Vermögen beiseite gebracht worden sei. Wir sollten gestehen, wo es sich befände.«

»Das konnten Sie nicht, da Ihr Vater Ihnen den Ort nicht gesagt hatte.«

»Ja. Das war sehr vorsichtig von ihm, hat uns aber große Qualen verursacht, da wir gefoltert wurden.«

»Aber es hat Ihnen auch das Leben gerettet. Hätte man das Vermögen gefunden, so wären Sie dann wohl sofort hingerichtet worden.«

»Jedenfalls. Also habe wenigstens ich mein Leben der Vorsicht meines Vaters zu verdanken; die andern aber werden wohl zu Tode gefoltert worden sein.«

»Wollen das nicht befürchten. So wie Sie gerettet worden sind, können auch sie die Freiheit wieder erlangt haben. Wie ist es Ihnen denn gelungen, aus dem Gefängnisse zu entkommen?«

»Durch denselben Freund, welcher meinen Vater befreit hatte. Er öffnete auch mir den Kerker, gab mir Geld, wies mich über die Grenze von Kwéi-tschou und nannte mir einen Ort, an welchem ich auf die Meinigen warten sollte. Sie sind nicht gekommen. Darum vermute ich, daß es ihm nicht gelungen ist. sie zu befreien.«

»Warum öffnete er nur Ihnen die Thür und nicht auch den Ihrigen zugleich?«

»Das war unmöglich, da wir zu weit voneinander getrennt waren.«

»Haben Sie nicht später Erkundigungen eingezogen?«

»Viel später, ja. Aber da war eine zu große Zeit vergangen, als daß ich etwas hätte erfahren können.«

»So hätten Sie es eher thun sollen.«

»Das ging nicht an. Ich konnte mich doch keinem Menschen anvertrauen, und selbst durfte ich mich so bald nicht nach Kwéi-tschou wagen. Als ich nach fünf Jahren mich so verändert hatte, daß ich glauben durfte, nicht erkannt zu werden, reiste ich nach Seng-ho. Der Freund war gestorben, und von den Meinen wußte kein Mensch etwas.«

»Das ist traurig für Sie und unangenehm für mich. Ich muß mein Wort halten und werde also unbedingt nach Seng-ho reisen, um zu versuchen, etwas zu erfahren. Auch habe ich den Auftrag erhalten, das Geld auszugraben und Ihrem Vater zu bringen.«

»Wissen Sie denn, wo es liegt?«

»Ja.«

»Das ist gut! Aber wird es sich auch noch dort befinden?«

»Ich hoffe es.«

»Darf ich den Ort erfahren?«

»Jetzt möchte ich noch nicht davon sprechen; doch zur geeigneten Zeit werde ich Ihnen ganz gewiß das Nötige mitteilen. Sind Sie bereit, Ihren Vater in Deutschland aufzusuchen?«

»Sofort! Das versteht sich ja ganz von selbst, zumal ich so glücklich bin, ganz leidlich deutsch sprechen zu können.«

»Das haben Sie bei Herrn Stein gelernt?«

»Ja. Er wollte seine Muttersprache hören. Er wollte einen Menschen haben, mit welchem er sich in derselben unterhalten könnte. Ich hatte mir seine Zufriedenheit erworben, und so wählte er unter allen seinen Leuten mich aus und gab mir Unterricht.«

»Ist er wirklich reich?«

»Sehr reich. Er ist der reichste Mann in Ho-tsing-ting.«

»Das kann nicht viel heißen, da diese ›Feuerbrunnenstadt‹ jedenfalls nur ein kleiner Ort ist.«

»Er war klein, ist aber, seit Herr Stein dort das Petroleum entdeckte, schnell groß geworden.«

»Und er will dort bleiben?«

»Er muß, wenn er nicht seinen ganzen Besitz verlieren will. Zwar sehnt er sich nach der Heimat, aber er findet niemand, welcher ihm die Quellen und alles, was dazu gehört, abkaufen würde. Fände er einen Käufer, so würde er sofort nach Deutschland gehen.«

»Ist er chinesischer Unterthan geworden?«

»Nein. Wäre dies der Fall, so hätte er sich nicht solchen Reichtum erworben. Die Mandarinen verstehen es, dafür zu sorgen, daß der Gewinn der Geschäftsleute zum großen Teile in ihre Taschen fließt. Er ist als nordamerikanischer Bürger gekommen und ist das noch. Er steht also unter dem Schutze der Vereinigten Staaten.«

Gottfried von Bouillon hatte gesehen, daß die beiden so angelegentlich miteinander sprachen. Er schloß daraus, daß sie etwas sehr Wichtiges miteinander zu verhandeln hätten, und so trieb ihn die Neugierde von seinem Posten weg und zu ihnen herbei.

»Wat gibt's denn da für eine Konferenz?« fragte er. »Darf ich mich erlauben, mal herzuhorchen?«

»Ja, alter Gottfried,« antwortete Degenfeld. »Auch du wirst dich freuen. Wir haben, ohne es zu ahnen, einen großen Schritt zur Erreichung unsres Zieles gethan.«

»Etwa mit den jewissen Siebenmeilenstiebeln?«

»Fast ist es so. Es hat sich nämlich soeben herausgestellt, daß dieser junge Mann der älteste Sohn unsres Freundes Ye-kin-li ist.«

»Wat? Wie? Wo? Unsres alten Ye-kin-li mit dat Kong-Kheou, der mir als Nieou-chi-tchin-chi-nieou geschumpfen hat? Liegt da nicht vielleicht ein Irrtum vor?«

»Nein, es stimmt.«

»Hat er seinen Impfschein vorjezeigt?«

»Ist nicht nötig. Er hat das Legitimationsexamen vollständig bestanden.«

»Dann jeschehen noch Zeichen und Wunder alltage und auch noch jetzunder! Sollte man es denken! Sie Chinesige sind der kleine Ye-kin-li! Wie ist dat denn eijentlich entdeckt worden?«

Er sprach vor Freude seine Frage so laut aus, daß der Dicke auch herbei kam und sich erkundigte: »Wat krijscht de Godfrijd want zoo – was kreischt der Gottfried denn so?«

»Wat ich kreische?« meinte dieser. »Dat fragen Sie noch, Dicker? Sehen Sie sich mal diesen Sohn der Mitte an! Er ist janz derjenige, den wir hier suchen, nämlich der leibhaftige Isaak von dem Abraham, welchen wir daheim Ye-kin-li genannt haben!«

»Deshalve zijn zoon?«

»Ja, mithin sein Sohn! Wat sagen Sie dazu?«

»Wat ik zeg? Zull ik dat gelooven – was ich sag? Soll ich es glauben?«

»Natürlich! Er ist der Sohn unsres chinesischen Händlers. Wir haben ihn jefunden, ohne ihn noch jesucht zu haben!«

»God zij geprezen! Goeden morgen, mijn vriend! Ik ben Mijnheer van Aardappelenbosch. Ik heb gewild ju ook met zoeken – Gott sei gepriesen! Guten Morgen, mein Freund! Ich bin Mijnheer van Aardappelenbosch. Ich wollte Sie auch mit suchen.«

Er schüttelte ihm beide Hände und war so erfreut, als ob ihm persönlich ein großes Glück widerfahren sei. Er hatte, wie die meisten dicken Leute, ein sehr gutes Herz und ein weiches Gemüt.

Auch Turnerstick und Richard kamen, um zu erfahren, warum so große Freude vorhanden sei. Der Methusalem aber trieb die unvorsichtige Gesellschaft schnell wieder auseinander. Es gab jetzt keine Zeit zu solcher Unterhaltung, da es galt, den Gefangenen die größte Aufmerksamkeit zu erweisen.

Zu diesem Zwecke ließ Degenfeld alle auf dem Verdeck vorhandenen Laternen anbrennen. Das war eine so große Zahl, daß die Beleuchtung dann fast einer richtigen Illumination glich.

Die Matrosen waren so fest angebunden, daß sie sich nicht losmachen konnten. Die Gefangenen in der Kajüte vermochten auch nicht, sich von ihren Stricken zu befreien, und unter Deck herrschte die vollständigste Ruhe. Die Leute schliefen ohne Ahnung, daß das Erwachen ihnen den größten Schreck bringen werde, den es für sie geben konnte.

Unter solchen Umständen wurde den sechs Personen ihr Wächteramt nicht schwer. Sie mußten auf den Schlaf verzichten; das war alles.

Der Landwind blies bis gegen Morgen stet; dann holte er nach und nach um und schlief für eine kurze Weile ein. Als er wieder lebendig wurde, hatte er die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen. Er blies von der See nach dem Sande, und nun war es für Turnerstick Zeit, die Matrosen wieder an die Brassen zu kommandieren, um das Schiff mit dem Seewinde nach dem Hafen zurückgehen zu lassen.

Der Tag graute und die Laternen wurden ausgelöscht. Man band die Matrosen los, und sie waren, wie schon in der Nacht, gezwungen, die Befehle des Kapitäns, welche ihnen in derselben Weise verdolmetscht wurden, auszuführen. Dann wurden sie wieder angebunden.

Freilich waren die Gesichter, welche sie dabei machten, keineswegs freundlich. Sie gehorchten nur, weil sie die Waffen auf sich gerichtet sahen. Malaiische Seeleute, die es ja in jenen Gegenden häufig gibt, hätten sich ganz anders verhalten; diese hätten selbst den Gewehren und Revolvern getrotzt. Der Chinese aber ist nur dann ein Held, wenn es keine Gefahr für ihn gibt, oder wenigstens wenn er mit ziemlicher Sicherheit auf das Gelingen rechnen kann.

Es wurde bald so hell, daß man den ganzen Gesichtskreis überblicken konnte, und da sahen die Männer denn, daß die Dschunke nicht das einzige Schiff war, welches sich in demselben befand. Hinter ihnen stieß ein Dampfer seine Rauchwolken aus den mächtigen Schloten.

Degenfeld stieg zu dem Kapitän hinauf, welcher am Steuer stand und fragte: »Was für ein Schiff mag das wohl sein, Master?«

»Das kann Ihnen jedes zweijährige Kind sagen. In einer Viertelstunde hat es uns eingeholt und wird uns ansprechen. Es ist ein Kriegsschiff.«

»Sehr scharf gebaut, wie es scheint.«

»Was heißt scharf bei dieser neuen Sorte von Seejungfern! Es ist ein Kreuzer, aus Stahl gebaut. Möchte mit dem Kerl nicht in Konflikt geraten. Kommt uns aber eben recht.«

»Wieso?«

»Wieso? Was für eine Frage! Habe so meine Sorge gehabt, wenn ich es auch nicht sagte. Sie sind nicht Seemann und wissen nicht, was es heißt, wenn sich unter den Kerls da im Räume der Dschunke ein einziger gescheiter und unternehmender Kopf befände. Gelänge es ihnen, die Luke aufzubrechen, so wären wir verloren.«

»Mit so mathematischer Sicherheit, wie Sie meinen, doch wohl nicht!«

»Pah! Wer's nicht kennt, der unterschätzt natürlich die Gefahr. Wir brauchen noch Stunden, um in den Hafen zu kommen. Wer weiß, was indessen geschehen könnte. Wenn die Halunken munter werden, werden Sie etwas zu hören bekommen. Darum ist mir's lieb, daß dort der Gepanzerte kommt. Wir werden uns natürlich in seinen Schutz begeben. Dann sind wir aller Sorgen los.«

»Ja, wenn Sie so meinen, so gebe ich Ihnen vollständig recht. Dann ist für uns nicht die geringste Gefahr mehr vorhanden.«

»Wenn es hier einen Signalkasten gäbe, würde ich den Kreuzer ersuchen, sich mehr zu beeilen. Wie es scheint, schenkt er uns ohnedies seine Aufmerksamkeit. Er hielt erst nach Luv, ist aber, als er uns erblickte, so weit nach Lee abgefallen, daß er uns, wenn es ihm beliebt, mit dem Ellbogen streifen wird. Sehen Sie jetzt die Rauchwolken? Er gibt mehr Dampf. Das ist ein sicheres Zeichen, daß er uns nicht traut. Wir befinden uns jedenfalls nahe der Küste, und er denkt, daß wir ihm zwischen den Untiefen entkommen wollen. Dazu will er uns nicht die Zeit lassen. In zehn Minuten ist er da.«

»Welche Flagge führt er?«

»Hat noch keine, wird sie aber in dem Augenblicke zeigen, an welchem er uns guten Morgen sagt. Passen Sie auf!«

Das Panzerschiff näherte sich mit großer Schnelligkeit. Noch waren nicht fünf Minuten vergangen, so kräuselte von seinem Decke eine helle Wolke auf und dann ertönte der Schuß.

»Können leider nicht antworten,« sagte Turnerstick. »Haben kein Geschütz oben; stecken alle in den Kisten. Will ihm aber doch zeigen, daß wir seine Sprache verstehen. Nehmen Sie das Steuer und halten Sie es genau so wie ich bisher. Ah, ein Engländer!«

Er deutete nach dem Kriegsschiffe, auf dessen Flaggenstock jetzt die großbritannische blaue Divisionsflagge gehißt wurde; dann sprang er die Treppe hinab zum Hintermaste, ließ die chinesische rotgelbe Handelsflagge, welche auf demselben wehte, herab, band sie der Länge nach zusammen, und zog sie wieder auf. Man nennt dies »die Flagge weht im Schau«, und es gilt das als internationales Notzeichen.

Dann zog er sein Messer und zerschnitt die beiden Staffen des Besansegels. welches sofort im Winde gierte. Dasselbe that er auch mit dem Groß- und Focksegel. Die schweren Matten schlugen an die Masten, daß diese erklangen; aber das Schiff stoppte. Als er nun wieder zum Steuer kam, sagte er: »Eine schwere und gewagte Sache! Aber bei dem jetzigen Winde geht es. Wollte die Matrosen nicht wieder losbinden. Sehen Sie ihre Gesichter an! Die helle Angst schaut ihnen aus den Augen. Sie wissen, daß für sie der jüngste Tag gekommen ist.«

Jetzt rauschte der Dampfer heran, ging hart vorbei, gab dann Gegendampf und legte bei.

Die ganze Deckwache stand an Steuerbord und sah herüber. Der Kommandierende stand auf der Brücke und musterte mit scharfem Blicke die Dschunke. Der Deckoffizier aber rief chinesisch herüber: »Dschuen ahoi! Nan-tao Schui-heu?«

»Mein Himmel!« sagte Turnerstick. »Soll das etwa chinesisch sein? Dann mag er sich einpappen lassen! Es ist keine einzige Endung dabei!«

»Natürlich ist's chinesisch,« antwortete Degenfeld. »Er ruft: ›Schiff ahoi! Ist's wirklich die Königin des Wassers?‹ Er ist erst an uns vorüber gegangen, um den Namen der Dschunke zu lesen.«

Und sich nach dem Kreuzer wendend, rief er: »Piratendschunke Schui-heu, aufgebracht von uns fünf Europäern. Stecken sechzig Mann im Raume, haben die Luke vernagelt. Bitten um schnelle Hilfe!«

Der Deckoffizier wendete sich zu dem Kommandanten auf der Brücke, wechselte einige Worte mit ihm und fragte dann in englischer Sprache, deren sich Degenfeld auch bedient hatte: »Wer sind Sie?«

»Drei deutsche Studenten, ein holländischer Pflanzer und Heimdall Turnerstick, amerikanischer Handelsschiffskapitän.«

»Turnerstick, Turnerstick! All devils! Wo ist der alte Swalker?« fragte der Kommandierende schnell.

»Hier bin ich, hier!« antwortete der Kapitän, mit einer Hand am Steuer und mit der andern seinen Rohrhut schwenkend. »Ah, ist's möglich! Jetzt sehe ich erst das Gesicht. Kapitän Beadle, ist's möglich!«

»Hallo! Turnerstick, Ihr seid es wirklich! Aber welcher Teufel reitet Euch denn, daß Ihr auf den Gedanken kommt, Euch in dieses heidnische Gewand zu stecken?«

»Geschieht meinem jetzigen Range gemäß. Bin Tur-ning sti-king kuo-ngan ta-fu-tsiang.«

»Der Kuckuck mag Euch verstehen! Gewiß wieder 'mal so eine linguistische Marotte! Habe auf die Dschunke, gleich als ich sie sah, acht gehabt. Traute ihr nicht. Muß sie schon kennen. Traute auch der Angabe Eures Nachbars nicht. Da ich aber Euch am Steuer sehe, glaube ich alles. Müssen einmal hinüber zu Euch!«

»Ja. Wir haben jetzt die Morgenwache. Schickt die Vormittagswache herüber.«

»Was? Die halbe Mannschaft!«

»Ist notwendig. Haben über sechzig Piraten im Raume.«

»Gut! Bin begierig, zu hören, wie sich das zugetragen hat. Jedenfalls wieder 'mal ein Meisterstück von Turnerstick!«

Der Deckoffizier rief das bekannte » Rise out, Quartier in Gottes Namen!« und bald strömten die kräftigen Blaujacken aus den Luken. Das Boot und das Fallreep wurde herabgelassen, und auch Turnerstick bat den Gottfried und Richard, die Treppe der Dschunke niederzulassen. Kapitän Beadle übergab seinem Offizier das Kommando des Schiffes, um sich selbst mit auf die »Königin des Wassers« zu begeben.

Turnerstick stand am Steuer und jauchzte ihm entgegen. Sie kannten einander von früher her; sie hatten sich schon oft getroffen und schüttelten einander erfreut die Hände. Der Kommandeur lachte trotz des Ernstes der Situation laut auf, als er nun die Kleidung Turnersticks genau betrachtete. Dieser aber blieb sehr ernst und sagte: »Was gibt's da zu lachen, Sir? Ich bin jetzt chinesischer Generalmajor, und daß ich mein Fach verstehe, beweise ich Euch dadurch, daß ich Euch über ein halbes Hundert Piraten samt ihrer Dschunke in die Hände liefere!«

»Weiß schon! Kenne Euch ja! Aber nur fünf Mann, wahrhaftig nur fünf Mann? Sagt, wie ist das möglich?«

»Werde es Euch erzählen. Eigentlich gehört der Ruhm nicht mir, sondern unserm blauroten Methusalem da.«

»Blaurot? Methusalem? Hm!« sagte Beadle, indem er Degenfeld musterte.

Es war ihm anzusehen, daß ihm nicht nur Turnerstick drollig vorkam; er gab sich aber Mühe, ernst zu bleiben.

Turnerstick erzählte ihm in kurzen Worten das erlebte Abenteuer. Der Kommandant wurde jetzt ernst, ohne sich Mühe geben zu müssen, es zu sein.

»Bei Gott.« sagte er. »das ist wirklich eine That, welcher man alle Ehre geben muß! Im Studentenwichs nach China zu kommen, ist – – hm! Aber Sie haben sich so verhalten, daß ich Ihnen allen die Hände drücken muß.«

Er that es auch und fuhr dann fort, indem er einen prüfenden Blick über das Deck warf: »Ich sagte bereits, daß ich denke, diese Dschunke zu kennen. Darum ließ ich fragen, ob es wirklich die ›Schui-heu‹ ist.«

»Natürlich ist sie es.«

»So? Hm! Ich möchte wetten, daß ich da vielmehr einen alten Bekannten vor mir habe, der mir leider schon einige Male zwischen Untiefen, wo ich ihm nicht folgen konnte, entkommen ist. Ein Seemann kennt ein Schiff wieder, mag man ihm zehn andre Namen geben. Ich bin überzeugt, daß dieses Fahrzeug der berüchtigte ›Hai-lung‹ (Seedrache) ist. Wollen doch einmal sehen.«

Seine Leute standen in Reihe und Glied bewaffnet aufgestellt. Er winkte Turnerstick, ihm zu folgen, stieg auf das Vorderdeck und bog sich über die Bugbrüstung nach außen.

»Dachte es mir! Falsches Bild! Man braucht es nur umzukehren, so sieht man den gemalten Drachen und unter demselben jedenfalls die beiden Schriftzeichen, welche Hai-lung, also Seedrache bedeuten. Das Bild ist angeschraubt. Hätten wir einen Schraubenschlüssel, so ...«

»Unten an der Kajüte steht ein Kasten, welcher allerlei Werkzeuge enthält,« fiel der Methusalem ein. »Auch die beiden Bohrer, mit denen sie die Löcher in unsre Thür gemacht haben.«

Richard ging, den Kasten zu holen. Er enthielt einen Schraubenzieher. Der Kapitän befahl zwei seiner Leute herbei, welche hinaussteigen und das Bild umdrehen und so wieder festschrauben mußten. Da war wirklich ein häßlicher Drache, welcher den Rachen aufsperrte, mit der Unterschrift »Hai-lung,« abgebildet.

»Das genügt,« sagte Beadle. Weitere Beweise brauchen wir eigentlich gar nicht. Der Hai-lung ist in diesen Gewässern so berüchtigt, daß man mit seiner Bemannung sehr kurzen Prozeß machen wird. Aber wie uns nun dieser Leute bemächtigen? Was meint Ihr, Kapitän?«

»Hm!« brummte Turnerstick. »Eine böse Frage!«

»Allerdings. Ich möchte meine Jungens nicht geradezu in den Tod schicken. Die Kerls haben genug Waffen unten, um uns, wenn wir durch die Luke eindringen wollen, mit Salz und Pfeffer zu empfangen. Und die Pulverkammer ist auch unten. Wenn sie auf den Gedanken kämen, sich und uns lieber in die Luft zu sprengen, als sich zu ergeben!«

»Dazu fehlt ihnen die Courage.«

»Denkt Ihr? Ich halte es doch für besser, List anzuwenden. Aber wie? Mein Lieutenant hat zwar bereits unsre Geschütze herüber aufs Deck gerichtet. Er kann es mit einigen Salven leer fegen. Aber die Halunken sind doch nicht oben, sondern unten.«

»Lassen Sie mich einige Worte hier mit Liang-ssi sprechen!« bat der Methusalem. Und sich zu dem Chinesen wendend, fragte er diesen: »Es gibt noch eine Vorder- und Hinterluke hier. Sind diese beiden Räume unten mit dem Mittelraume verbunden?«

»Nein.«

»Die Piraten befinden sich also nur in dem letzteren?«

»Ja.«

»Auf welche Weise kommandiert der Ho-tschung alle Mann auf Deck?«

»Mit seiner Pfeife.«

»Wo ist dieselbe?«

»Er hat sie stets am Halse hängen.«

»Ja, ich besinne mich, sie gesehen zu haben.«

»Dann denke ich, brechen wir die Mittelluke wieder auf. Wenn wir pfeifen, so kommen die Leute herauf.«

»Daß sie dumm wären. Meinen Sie etwa, daß sie noch schlafen?« sagte Beadle. »Die stehen unten an den Fenstern und sehen, daß sie neben einem Kriegsschiffe liegen. Sie wissen also bereits, woran sie sind. Und der erste von ihnen, welcher an Bord steigen wollte, würde meine Leute sehen, sogleich wieder verschwinden und seine Genossen warnen.«

»Gut. so gibt es noch ein Mittel, nämlich wenn wir zu demselben kommen könnten. Wir schlagen sie mit ihren eigenen Waffen. Ich meine die famosen Hi-thu-tschangs.«

»Was ist das?«

»Die Stinktöpfe.«

»Das wäre freilich ein Prachtmittel. Aber wo befinden sich dieselben?«

»Im Vorlukenraume,« antwortete Liang-sii.

»So können wir dazu. Führen Sie uns!«

Er winkte noch einige seiner Leute herbei und stieg mit ihnen hinab. Turnerstick und der Methusalem folgten. Der Mijnheer wollte sich ihnen anschließen, aber es zeigte sich leider, daß die Luke nicht für seinen Körperumfang berechnet war. Er mußte oben bleiben.

Sie gelangten in einen nicht sehr großen Raum, welcher vollständig leer war. Er hatte jedenfalls den Zweck, die geraubten Güter aufzunehmen. Eine noch schmalere Treppe führte weiter hinab in den Kiel- oder Ballastraum. Dort war es vollständig dunkel. Beadle brannte ein Wachshölzchen an, und beim Scheine desselben sah man mehrere Reihen verschlossener Töpfe im Sande stehen, welcher den Ballast bildete.

»Da sind sie,« sagte Turnerstick. »Schaffen wir eine Anzahl hinauf!«

Das Hölzchen verlöschte. Es war wieder dunkel. Aber man wußte nun, wo die Töpfe standen und stieg nun im Sande zu ihnen hin. Während dieser Pause, in welcher niemand sprach, ertönte ein lauter stöhnender Seufzer.

»Ist jemand hier?« fragte Beadle.

»Ngái ya!« erklang es von der Seite her.

»Das war chinesisch. Was bedeutet es?«

»O wehe!« antwortete der Methusalem.

»Sollte sich einer der Piraten hier befinden?«

»Vielleicht zur Strafe!«

»Kieu schin!« ertönte es abermals.

»Was heißt das?«

»Zu Hilfe!« antwortete der Blaurote.

»Vielleicht ist's doch ein ehrlicher Mensch, der in die Gewalt dieser Piraten geraten ist. Wollen es untersuchen.«

Er gebot seinen Leuten, inzwischen eine Anzahl von Töpfen hinauf zu schaffen, und brannte abermals ein Hölzchen an. Als er sich mit Turnerstick und Degenfeld nach der Seite wandte, von welcher her die Seufzer hörbar gewesen waren, gewahrten sie einen niedrigen Bretterverschlag. Beadle klopfte an denselben und fragte: »Ist jemand hier drin?«

»Hu-tsi – o wehe!« antwortete es.

»Schui-tschung-kian – wer ist da drinnen?« fragte der Methusalem.

»Ngo-men-ri – wir zwei,« hörte man es erklingen.

»Schui ni-men – wer seid Ihr?«

»Ngo Tong-tschi, t'a Ho-po-so – ich bin der Tong-tschi und der andre ist der Ho-po-so.«

Degenfeld mußte dem Kapitän die Antworten übersetzen.

»Alle Wetter!« meinte dieser. »Sollte das möglich sein? Ho-po-so heißen die beiden Beamten, welche alle Schiffer im Hafen von Kanton zu beaufsichtigen haben. Sollte einer von ihnen in die Hände der Piraten geraten sein? Was der zweite ist, weiß ich nicht. Tong-tschi ist mir unbekannt. Wissen Sie es vielleicht?«

»Ja. Tong-tschi und Tong-pan sind sehr hohe Magistratspersonen, mit deren Obliegenheiten ich mich oft beschäftigt habe, da sie sehr viel zu thun haben müssen. Das Gesetz trägt ihnen auf, die Abgaben an Geld oder Naturalien zu erheben, das Militär zu überwachen, die Polizei zu leiten, die Poststationen zu revidieren, für die Verbesserung der Pferderassen Sorge zu tragen, die Domänen des Staates zu beaufsichtigen, Dämme und Kanäle in stand zu halten, auf die noch nicht ganz, unterworfenen Bergvölker acht zu geben und endlich vor allen Dingen auf die Fremden an den Grenzen und im Innern des Reiches zu vigilieren und das Paßwesen in Ordnung zu halten!«

»O wehe! So ein armer Teufel möchte sich doch in Stücke zerreißen!«

»Ja, das Amt eines Tong-tschi ist ein schwieriges und bedeutungsvolles. Wo ist der Verschluß dieses Kastens?«

Man konnte es nicht sehen, da das Hölzchen wieder verlöscht war.

»Lassen wir das einstweilen!« sagte Beadle. »Wir haben Nötigeres zu thun. Die beiden Kerls können noch eine Viertelstunde stecken, mögen sie nun sein, wer sie wollen. Wir müssen uns vor allen Dingen der Mannschaft versichern.«

Es waren inzwischen wohl zehn bis zwölf Stinktöpfe an Deck gebracht worden. Das genügte für den beabsichtigten Zweck. Die drei stiegen wieder nach oben, und nun wurden die schweren Körbe von der Luke weggenommen. Unter derselben regte sich nichts. Man hätte versucht sein können, zu bezweifeln, daß so viele Menschen sich unterhalb derselben befanden. Sie wurde aufgesprengt.

Wer gedacht hätte, daß die Piraten nun heraufspringen würden, der hätte sich in einem bedeutenden Irrtume befunden. Sie ließen von sich weder etwas hören noch sehen. Natürlich aber hütete man sich, der offenen Luke nun nahe zu kommen. Man hätte leicht eine Kugel bekommen können.

Nun wurden die Stinktöpfe herbeigebracht. Sie schienen sehr dünnwandig zu sein und hatten fast die Gestalt und auch die engen Oeffnungen unsrer thönernen Wärmflaschen. Natürlich waren sie luftdicht verschlossen.

Einer der Matrosen warf, sich aber von der Luke so fern haltend, daß er nicht von unten gesehen werden konnte, den ersten Topf hinab. Seine Kameraden hielten ihre Gewehre schußbereit. Man hörte, daß der Topf in Scherben ging.

»Ngu-hu, hi-thu-tschang – o wehe, Stinktöpfe!« ertönte unten ein lauter Schrei.

Ein zweiter und dritter flog hinab. Die Wirkung war eine solche, daß man sie auch oben spürte.

»Macht schnell,« gebot Kapitän Beadle, »sonst müssen wir selbst ausreißen!«

Man gehorchte diesem Befehle, und dann wurde die Luke wieder zugemacht.

Unten erhob sich ein vielstimmiges Geschrei, ein wüstes Lärmen und Klagen. Es wurde an die Luke gestoßen, um sie zu öffnen, aber man hatte die Körbe wieder darauf gestellt. Dann hörten die auf dem Decke befindlichen, daß an den Schiffsseiten die Fenster aufgerissen wurden. Die Piraten schnappten nach frischer Luft.

Das Mittel war außerordentlich drastisch. Es wirkte nicht nur auf die Patienten, sondern auch auf die Aerzte. Der schreckliche Gestank, welcher jeder Beschreibung spottet, drang durch die Fenster herauf auf das Deck. Kapitän Beadle zog sich auf das Quarterdeck zurück, Turnerstick mit ihm. Die Marineleute wären gern auch ausgerissen, mußten aber stehen bleiben.

»Na, wer diese Erfindung jemacht und vorher jeprobt hat, der muß eine Nase jehabt haben mit Nerven, so dick wie ein Heubaum!« rief Gottfried von Bouillon. »Wat soll mein Fagott denken! Es wird mich in die schönste Seelenverstimmung jeraten. Ich retiriere es und mir mit. Wat sagen Sie dazu, Mijnheer?«

»Wat ik zeg? Foei! Donder em bliksern! Dat ruikt waarachtig na Honbert duizend ongeluffigen nijlpaarden – was ich sage? Pfui! Donner und Wetter! Das riecht wahrhaftig nach hunderttausend unglücklichen Nilpferden!«

Er ergriff schleunigst die Flucht und retirierte sich an das äußerste Ende des Vorderschiffes.

Nur der Chinese kann aus eine solche Erfindung verfallen. Der Räuber eines jeden andern Landes wagt sein Leben. Der chinesische Pirat besiegt seine Gegner mit Gestank!

Es dauerte eine geraume Zeit, bevor dieser Geruch sich so verflüchtigt hatte, daß Kapitän Beadle wieder auf das Mittelschiff herabkam.

»Was nun?« fragte er abermals. »Ich möchte wissen, wie die Kerls sich da unten befinden. Versuchen wir, die Luke zu öffnen!«

Einige seiner Leute machten sich daran, diesen Befehl auszuführen. Kaum war es geschehen, so ergriff der Kapitän die Flucht schleunigst wieder. Die Luke glich einer Esse, aus welcher die Dämpfe der Hölle entstiegen. Man mußte wohl zehn Minuten vergehen lassen, ehe man ihr wieder nahen konnte.

Nun galt es, nachzuforschen, welche Wirkung die Stinktöpfe gehabt hatten. Beadle wollte Freiwillige vortreten lassen. Da aber meinte Gottfried von Bouillon: »Nein. Sir, dat ist nicht nötig. Ich habe auch die meinige Ehre im Leibe und lasse mir nicht lumpen. Ich binde mir an einen Strick und nehme meine Oboe mit. Sobald ich blase, ziehen Sie mir wieder ans joldene Tageslicht. Die Oboe soll das Zeichen jeben, dat da unten nicht alles in jutem Zustande ist. Wer Opium jetrunken hat, der kann wohl auch Ammoniak vertragen. Mijnheer, halten Sie mir am Seile fest!«

Er band sich einen Strick um den Leib, hielt sich das Taschentuch an die Nase und stieg mit dem Fagotte in die Tiefe. Niemand hatte ihm abgeraten. Was er unternahm, war doch eine Heldenthat. Er hatte nicht nur die Gase zu fürchten, sondern wohl noch mehr die Piraten, welche vielleicht nicht betäubt worden waren.

Der Mijnheer hielt das andre Ende des Strickes und horchte. Da, wirklich, da hörte man unten einen ganz unbeschreiblichen Triller auf dem Fagott erschallen.

»Ziehen Sie, Mijnheer, ziehen Sie!« rief Turnerstick. »Er ist umgefallen. Er ist ohnmächtig!«

Der Dicke zog aus Leibeskräften.

»Het is zoo zwaar – er ist so schwer!« feuchte er.

»So helfe ich mit. Aber ziehen Sie nur, sonst erstickt er.«

Die beiden zogen fürchterlich. Ihre Gesichter wurden rot und immer röter, aber sie brachten den Verunglückten um keinen Zoll vorwärts. Da erschien in der Lukenöffnung erst das Fagott und dann der Gottfried selbst. Er hatte den Strick nicht mehr um den Leib und fragte im Tone der größten Verwunderung: »Aber Mijnheer, wat ziehen Sie denn so entsetzlich? Wat echauffieren Sie Ihnen denn so außerordentlich?«

Der Dicke sah ihn verwundert an, ließ den Strick fallen, nahm die schottische Mütze ab, wischte sich den Schweiß von seinem Kahlkopfe und antwortete: »Ik dacht, gij zijt daaraan!«

»Nein, ich hänge nicht mehr daran, sondern ich habe das andre Ende unten an einen Balken gebunden.«

»Nijlpaard!«

Er warf ihm dieses Wort mit einem zornigen Blick in das Gesicht und ging davon.

»Herr Ziegenkopf, ich habe auch mit gezogen!« rief Turnerstick. »Ich verbitte mir solche Jungenstreiche!«

»Jungenstreiche? Wieso?«

»Sie haben gesagt, daß wir sofort ziehen sollen, wenn Sie blasen!«

»Ja, dat ist meine Rede jewesen. Aberst habe ich denn jeblasen?«

»Ja, und wie!«

»Nein, sondern ich habe jetrillert. Dat ist wat janz andres! Dat ist wat für een jeübtes musikalisches Jemüt. Mit dieses Trillern habe ich anjedeutet, daß meine Seele voller Jubel ist über dat, wat ich da unten jesehen habe. Jetrillert ist niemals jeblasen; merken Sie sich bat. Blasen kann mancher, auch den Kaffee; aberst trillern Sie ihn mich einmal!«

»Sie sind ein unverbesserlicher Schlingel! Was haben Sie denn gesehen?«

»Die janze Janitscharenmusik. Sie liegen kreuz und quer über- und durcheinander und wissen nicht, wohin ihre Jeistesjegenwart jeraten ist. Sie sind von die Stinktöpfe hypnotisiert worden.«

»Wirklich?«

»Wenn Sie es nicht glauben wollen, so jehen 'Sie jefälligst näher! Dann können Sie auch den Strick wieder vom Balken knüpfen, wofür er Ihnen sehr dankbar sein wird. Wegziehen haben Sie ihn doch nicht können.«

Das war eine Botschaft, welche man so gern hörte, daß man ihm den kleinen Streich gern verzieh. Kapitän Beadle kommandierte seine Leute hinab. Es war so, wie der Gottfried gesagt hatte. Die Chinesen lagen besinnungslos und halb erstickt im Raume, in welchem es noch jetzt eine Luft gab, welche zum Husten und Niesen reizte.

Zunächst wurde der Raum genau untersucht. Da standen die Kisten mit den Kanonen. Da hingen Waffen aller Art an den Wänden. Auf dem Boden lagen Strohmatten, welche die Lagerstellen gebildet hatten. Hinten gab es eine verschlossene Thüre, von welcher Liang-ssi sagte, daß sie zur Pulverkammer führe.

Eine etwas engere Luke führte noch tiefer hinab, in die mittlere Abteilung des Ballastraumes. Dorthin, so befahl Kapitän Beadle, sollten die Gefangenen geschafft werden, nachdem man ihnen alle Waffen und den Inhalt ihrer Taschen abgenommen hatte.

Das mußte aber schnell geschehen, damit sie nicht vorher wieder zum Bewußtsein kommen konnten. Es wurden Laternen angebrannt und dann ließ man die Piraten, einen nach dem andern, die untere Lukentreppe hinabgleiten, wo sie in Empfang genommen und in den feuchten Sand gelegt wurden.

Als das geschehen war, wurde die Luke verschlossen. Nur die im Boden angebrachten kleinen Luftlöcher blieben offen. Die zehn Chinesen, welche noch oben an Deck angebunden waren, blieben da. Sie sollten auch weiter die Segel bedienen, bis die »Schui-heu« oder vielmehr der »Hai-lung« den Hafen erreichte.

»Wollt Ihr uns nicht ins Schlepptau nehmen?« fragte Turnerstick den Kapitän des Kriegsschiffes.

»Wozu? Das Ueberholen des Taues macht Mühe und erfordert Zeit. Wenn Ihr das Kommando der Dschunke übernehmt, so weiß ich sie in den besten Händen. Leute zur Bedienung der Segel habt Ihr genug und außerdem lasse ich Euch für unvorhergesehene Fälle einige meiner Burschen da. Ich dampfe Euch voran und werde Eure Ankunft melden.«

»Schön! Da gibt's wohl einen Empfang?«

»Gewiß! Der ›Hai-lung‹ muß mit der nötigen Feierlichkeit eingebracht werden. Alle ehrlichen Leute werden sich darüber freuen, daß er endlich ausgesegelt hat. Und zumal wenn man erfährt, daß er von nur fünf Personen gewonnen wurde, so stehe ich nicht dafür, daß man Euch nicht eine Ehrenpforte baut.«

»Pah! Fünf Männer! Ihr seid doch noch dazugekommen!«

»Habe aber nichts thun können als eine kleine Handreichung, welche Eure Verdienste nicht im mindesten zu schmälern vermag. Die Prisengelder fallen natürlich Euch zu.«

»Ich brauche sie nicht.«

»So werden Eure Freunde klüger denken.«

»Auch ich verzichte,« meinte der Methusalem.

»Ik ook,« stimmte der Dicke bei.

»Ich ebenso,« lachte Richard.

»Aberst ich nicht!« sagte Gottfried von Bouillon. »Dem Verdienste seine Kronen, und wenn es keine Kronen sein können, so nehme ich es ebenso jern in Silber und sonstige Scheidemünze. Wer hat dat Schiff jenommen? Ich, denn ich bin's jewesen, der den Balken anjebunden hat. Darum will ich mein Teil vom Prisenjelde haben, zumal ich als Wichsier und Pfeifenräumer mit meine Oboe nicht auf Rosen jebettet bin. Ich will nun endlich auch mal für meine Zukunft Sorje tragen. Habe ich mich zu Lande nichts sparen können, so soll mich wenigstens zur See jehelfen werden.«

»Sehr schön!« lachte der Methusalem. »Ich trete dir meinen Anteil ab.«

»Ik ook,« erklärte der Dicke, welcher zu gutmütig war, als daß er an den Strick gedacht hätte, an welchem er sich vorhin vergeblich abgemüht hatte.

»So mag er alles nehmen!« rief Turnerstick. »Eine Landratte, ein Fagotttrillerer und Prisengelder! So etwas ist noch nie dagewesen!«

»Oho! Ich selbst bin auch noch nicht dajewesen, bin also ein Unikum! Sollte mich die olle Dschunke jenug einbringen, so kaufe ich mich auch eine Wasserpipe und suche mir einen Jottfried den Zweiten. Dann rauche ich mit dem Methusalem voran, und hinter mich trägt Bouillon second die Hukahs alle beide.«

»Wollen sehen, was sich thun läßt,« nickte Kapitän Beadle.

»Wir haben es hier mit einem Falle zu thun, welcher allerdings ohnegleichen ist; aber vielleicht erhalten Sie doch eine Gratifikation. Ich werde mir später Ihre Adresse ausbitten, denn ich beabsichtige sehr, einige fröhliche Tage mit meinem braven Turnerstick in Hongkong zu verleben, und hoffe dann auch die Herren, welche mir jetzt geradezu ein Rätsel sind, näher kennen zu lernen. Der Wind lebt auf, Turnerstick. Ihr habt die Brassen durchschnitten. Das war sehr gewagt. Splißt sie baldigst wieder zusammen. Ihr dürft die schweren Segel nicht so hängen lassen. Kommt eine Bö, so seid Ihr samt der Dschunke verloren.«

»Keine Sorge, Sir! Turnerstick weiß stets, was er zu thun hat.«

»Das mag sein. Also ich verlasse Euch nun. Sobald wir uns wiedersehen, werdet Ihr mir erzählen, auf welche Weise Ihr es so plötzlich zum Generalmajor gebracht habt. Im übrigen gratuliere ich den Herren allen. Das war ein Stück, von welchem man sich noch lange Zeit und nicht bloß hier erzählen wird. Seht auch nun bald nach den beiden Männern, welche unten im Kielräume in dem Kasten stecken. Und nun, auf Wiedersehen!«

Er reichte Turnerstick die Hand, auch den andern, wie er es bereits vorhin gethan hatte, und verließ das Schiff auf dem Wege, auf welchem er gekommen war, nachdem er vorher einem Seekadetten befohlen hatte, mit zwanzig Mann zurückzubleiben und Turnersticks Anweisungen genau zu befolgen.

Dann gab das Orlogschiff wieder Dampf und setzte sich in Bewegung. Mit lautem Hurra grüßte die Mannschaft desselben herüber; dann warf der scharfe Kiel die Fluten vor sich auf. Das kurze, den fünf Helden so interessante Intermezzo war vorüber.

Jetzt ließ Turnerstick die zehn Chinesen wieder losbinden, damit sie die Brassen durch Splissungen wiederherstellen sollten. Sie hatten gesehen, was vorgegangen war, und wußten, daß ein Widerstand jetzt Wahnsinn gewesen wäre. Man konnte sehen, daß sie geradezu mit Zittern und Zagen gehorchten.

Die Segel wurden wieder voll gebraßt; der Kapitän beorderte den jungen Kadetten an das Steuer und befragte ihn um die Höhe des Ortes, was diesem nicht wenig schmeichelte; dann setzte sich auch die Dschunke in Bewegung.


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