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Illustration: O. Herrfurth

Eine wichtige Beratung.

Zehntes Kapitel

Tsche ta-ping, Tur-ning sti-king kuo-ngan ta-fu-tsiaug, keng hiang-schaug tsien ful.

Als die Reisenden volle und stete Fahrt genommen hatten, kam Turnerstick auf das Mitteldeck herab, beorderte einige der Marineleute als Wachen in das Unterdeck und sagte dann, daß es Zeit sei, nach den beiden Männern im Kasten zu sehen. Es wurden Laternen angebrannt, worauf er mit dem Methusalem, Gottfried, Richard und Liang-ssi hinabstieg. Dabei wurde der letztere von Degenfeld gefragt, ob er nicht wisse, wer die Personen seien.

»Nein,« antwortete er. »Ich habe nicht geahnt, daß sich Leute da unten befinden, bin auch nie in den vorderen Kielraum gekommen, da das den Matrosen verboten war.«

Als sie unten anlangten, konnten sie mit Hilfe der Laternen die Oertlichkeit deutlich erkennen. Der Raum war niedrig und nach dem Kiele zu sehr schmal, erweiterte sich aber nach der andern Seite hin. Er war so hoch mit feuchtem, dumpfig riechenden Sande angefüllt, daß man nicht aufrecht stehen konnte. Links von der Treppe standen die Stinktöpfe, von denen wohl noch über sechzig vorhanden waren. Man sah, daß sie erst mit Sand überdeckt worden waren, jedenfalls um von dem das Schiff im Hafen besichtigenden Beamten nicht bemerkt zu werden. Rechts war die Scheidewand, welche diesen Ort von dem Mittelkielraume trennte. An derselben stand der betreffende Kasten. Er war aus hartem Holze gefertigt, oben mit kleinen Luftlöchern versehen, nicht viel über zwei Ellen lang, ebenso tief und nicht ganz so hoch. Die Decke bildete zugleich die Thür, welche mit einem sehr starken Querriegel verschlossen war. Wenn sich zwei Personen in diesem Behältnisse befanden, so hatten sie jedenfalls große Pein zu erleiden, da sie zu einer gebückten, sitzenden Stellung gezwungen waren und sich kaum bewegen konnten.

»Jetzt will ich selbst mal mit ihnen reden,« meinte Turnerstick. »Wenn die Kerls vom Ho-tschang zu dieser Strafe verurteilt wurden, so sind sie zehnfach gefährliche Subjekte, mit denen man nicht vorsichtig genug sein kann. Da muß einer mit ihnen reden, welcher Haare auf den Zähnen hat und die Sprache sehr genau versteht.«

»Es sind keine Piraten,« entgegnete der Methusalem. »Sie haben uns ja vorhin gesagt, wer sie sind.«

»Ja, gesagt haben sie es; aber ich bin nicht so dumm, es zu glauben. Also mal los mit unsrer Sprachwissenschaft! Haben ihre zehn Kameraden beim Segelbrassen mich so ausgezeichnet verstanden, so werden wohl auch diese sofort bemerken, daß sie es mit einem tüchtigen Sprachkenner zu thun haben.«

Er klopfte an den Kasten und fragte: »Hallo, halling, hallung! Wer ist da dring im Kastong?«

Zwei Seufzer und ein kratzendes Geräusch waren die Antwort.

»Nun, köngt ihr nicht antworting? Wer ist da in dem Hühnerkäfing?«

»Ngot kieu schin tsa!« lautete die flehende Antwort.

»Was sagen sie? Wie heißt das?«

»Heda, helft uns! heißt es,« antwortete der Methusalem.

»Unsinn! Aus welcher mongolischen Provinz sind denn diese Kerls, daß sie mich nicht verstehen und mir da einen Dialekt bringen, bei welchem man Zahnschmerzen bekommen kann!«

»Ja, der Dialekt ist schauderhaft,« stimmte Degenfeld bei, um die armen Teufel nicht länger schmachten zu lassen. »Ich will sehen, ob ich besser mit demselben vorkomme.«

»Möglich, da Ihr Chinesisch auch nicht mehr wert ist als dasjenige dieser Leute!«

Der Blaurote handelte zunächst anstatt zu sprechen. Er zog den Riegel fort und schlug den Deckel des Kastens zurück. Zunächst wurden nur zwei rasierte Schädel sichtbar. Die dunkeln Haarstummeln auf der Mitte derselben bewiesen, daß sich da Zöpfe befunden hatten, welche aber abgeschnitten worden waren, bei den Chinesen eine ebenso große Schändung wie bei einem Indianer, dem man die Skalplocke raubt.

Die beiden Männer blickten nach oben. Ihre Gesichtszüge waren wegen des dick darauf haftenden Schmutzes nicht zu erkennen. Sie wollten sich erheben, um aus dem Kasten zu steigen, fielen aber zurück. Die Einsperrung in diesen entsetzlichen Kasten hatte sie des Gebrauches ihrer Glieder beraubt. Degenfeld griff in den Kasten, hob sie nacheinander aus demselben und setzte sie in den Sand. Sie waren ganz der Kleider beraubt. Der eine von ihnen starrte vor Schmutz, der andre sah reinlicher aus, doch verbreiteten beide einen Geruch, welcher kaum auszuhalten war.

»Mok put, ni-men put kian – nicht wahr, ihr seid keine Piraten?« fragte der Methusalem in mitleidigem Tone.

»Yu, yu – nein, nein!« antworteten sie sofort im Tone des Abscheues und der eine fügte hinzu: »Tsa-men put tsche fam-fu-suk-tsi – wir gehören nicht zu diesem Gesindel!«

»Ni-teng kuan-fu – ihr seid Mandarinen?«

»Tsche, tsche, tet kuan-fu – ja, ja, hohe Mandarinen. Ngo ho-po-so, tsche tong-tschi tsai Kuang-tschsu-fu – ich bin Ho-po-so und dieser ist Tong-tschi in Kanton.«

»Ngo ko ni-tschai Yen – ich werde eure Aussage prüfen!«

»Tsa-men ko tsän – wir werden die Prüfung bestehen.«

Das sagte der Mann in so zuversichtlichem Tone, daß Degenfeld ihm nun geglaubt hätte, wenn er vorher noch zweifelhaft gewesen wäre. Er setzte seine Fragen fort, um zu erfahren, auf welche Weise diese beiden Beamten auf die Dschunke und dann in den schrecklichen Kasten gekommen seien, und erfuhr da folgendes: Der Tong-tschi hatte auf einer Kriegsdschunke nach Kam-hia-tschin gewollt, einer kleinen Stadt in der Hong-Hai-Bai, und war da von der Piratendschunke überfallen morden. Die Seeräuber hatten die Mannschaft des Kriegsschiffes durch Stinktöpfe überwältigt. Auch der Tong-tschi war betäubt worden. Als er erwachte, befand er sich in diesem Kasten. Wie lange er da gesteckt habe, wußte er nicht genau. Es war hier dunkel und er konnte die Zeit nur noch dem Knallen des Feuerwerkes bemessen, welches bei jedem Sonnenuntergänge auf jedem Schiffe abgebrannt zu werden pflegt. Nach dieser Rechnung war er schon über eine Woche hier. Es war ihm unmöglich, seine Beine auszustrecken.

Da er nach europäischen Begriffen Inspekteur der in der Provinz Kuang-tung stehenden Militärmacht war, wozu auch die Marine gehört, so waren ihm die Piraten ganz besonders feindlich gesinnt. Er hatte ihnen ein bedeutendes Lösegeld geboten; der Ho-tschang aber hatte ihm geantwortet, daß er die Sonne niemals wiedersehen und hier in diesem Kasten langsam sterben werde. Man hatte ihm täglich nur einen Schluck Wasser und dazu nur wenige, halb faule Früchte gebracht. Da er sich, seiner Schätzung noch, schon über eine Woche hier befand, so war er so abgemattet, daß er nur mit Anstrengung sprechen konnte. Als ganz besonderen Schimpf hatte man ihn seines Zopfes beraubt.

Der Ho-po-so befand sich erst seit vorgestern in der Gewalt der Piraten. Er schien ein sehr pflichttreuer Mann zu sein, denn er erzählte, daß er ganz allein, und zwar am Abende, die »Königin des Wassers« bestiegen habe, um nach deren Papieren und sonstigen Verhältnissen zu fragen. Die Mandarinen pflegen sonst ihres Amtes nur mit dem gewohnten Gepränge zu warten. Niemand außer ihm wußte, daß er auf diese Dschunke gegangen sei. Ueber diesen Umstand hatte er eine unvorsichtige Bemerkung gemacht und war dann sofort festgenommen worden.

Sein Amt brachte es mit sich, jedes unredliche Treiben zur See mit der Strenge des Gesetzes zu verfolgen. Da verstand es sich von selbst, daß die Piraten ihn haßten. Sie hörten, daß niemand von seiner Anwesenheit auf der Dschunke wisse, und daß man ihn also auch nicht auf derselben suchen werde. Darum hatten sie kein Bedenken, sich des Unvorsichtigen zu bemächtigen, ihn seines Zopfes und seiner Kleider zu berauben und zu dem Tong-tschi in den Kasten zu stecken. Er sollte mit diesem das gleiche Schicksal erfahren.

Eine solche Behandlung zweier Menschen darf nicht allzu sehr wunder nehmen. Unter den schlechten Eigenschaften des ungebildeten Chinesen steht neben der Feigheit die Grausamkeit obenan. Er ist im stande, ein Huhn lebendig zu rupfen und zu braten, und zwar die Beine zuerst, damit diese stark anschwellen und einen knusperigen Leckerbissen geben. Dieselbe Gefühllosigkeit hat er auch dem Menschen gegenüber, sobald es sich um seinen Vorteil oder um eine That der Feindschaft handelt. Gegen seine Angehörigen aber zeigt er eine desto größere Milde.

Der Ho-po-so vermochte seine Glieder noch leidlich zu bewegen. Er konnte, wenn auch mit Anstrengung, an das Deck steigen, während sein Leibensgefährte getragen werden mußte. Das geschah selbstverständlich erst dann, als man die nötigen Kleidungsstücke für sie herbeigeschafft hatte. Ihre eigenen Anzüge waren vernichtet worden. Sie mußten sich mit den gewöhnlichen Gewändern begnügen, die man in den Kajüten der Dschunke fand.

Nun saßen sie oben auf dem Verdecke und sogen die frische Morgenluft mit wonnigen Zügen ein. Es wurde im Vorratsraume und der primitiven Küche nach Speisen für sie gesucht. Als Reis und auch noch ein Fleischrest gefunden wurde, sagte der Mijnheer: »Ik il voor ze kochen en braden; een vuurhaard is daar, ook een ketel hout en be vuurschop – ich will für sie kochen und braten; ein Feuerherd ist da, auch ein Kessel, Holz und die Feuerschaufel.«

»Wat Sie denken!« lachte Gottfried. »Sie und kochen! Ich möchte mal den Pudding sehen, den Sie zusammenwürgen würden! Nein, dat Kochen ist die meinige Anjelegenheit. Sie würden zu viel Fett in dat Kasserol schwitzen, wat janz so viel wie ein jelinder Selbstmord wäre.«

Er ließ es sich nicht nehmen, das Essen zu bereiten; der Mijnheer aber stand dabei und erging sich in allerlei kulinarischen Bemerkungen, welche zu seinem unendlichen Mißbehagen von Gottfried leider nicht beachtet wurden.

Indessen beschäftigten sich der Methusalem und Turnerstick mit den beiden Mandarinen, welche von Dankbarkeit für ihre Rettung überflossen. Leider konnten sie ihre Freude nicht ohne einen Wermutstropfen genießen: Sie hatten keine standesgemäßen Anzüge und – keine Zöpfe mehr. Wie durften sie sich in Hongkong ohne beides sehen lassen! Nach längerem Hin- und Herreden kamen sie mit Degenfeld dahin überein, daß er ihnen Kleider und falsche Zöpfe, aber recht lange und starke, in Hongkong, wo das alles zu haben war, besorgen solle. Das dafür ausgelegte Geld sollte er in Kanton erhalten. Aus letzterem Grunde und auch aus Dankbarkeit wurde er von ihnen eingeladen, mit seinen Gefährten ihr Gast zu sein.

Er nahm diese für seine Zwecke so vorteilhafte Aufforderung sofort an. Er konnte ihnen den eigentlichen Zweck seiner Reise freilich nicht sagen; von ihnen nach demselben befragt, erklärte er, daß er aus der fernen Heimat gekommen sei, um in der Hauptstadt von Hu-nan einen dort wohnenden weltberühmten Gelehrten zu besuchen. Er sei von dem Han-lin yuen Akademie der Wissenschaften Deutschlands extra zu dem Zwecke abgesandt worden, diesem großen Kenner der klassischen Bücher die Hochachtung der westlichen Länder zu erweisen.

Das schmeichelte ihrem nationalen Selbstgefühle so, daß der Ho-po-so erklärte: »Das freut mich sehr. Ich ersehe daraus, daß die Tao-tse-kue ein gebildetes Volk sind, würdig, von uns Unterricht zu empfangen. Ich werde, soviel ich kann, dieser Reise allen Vorschub leisten.«

»Auch mir gefällt dieser Auftrag, den Sie erhalten haben,« stimmte der Tong-tschi bei. »Ich ersehe aus demselben, daß Ihre Landsleute vernünftige Menschen sind, welche die Ueberlegenheit unsrer Litteratur anerkennen. Diese Bescheidenheit ist der erste und sicherste Schritt zur wissenschaftlichen Größe. Die Fu-len, Holländer Flan-ki Franzosen und Yan-kui-tse Engländer sind schon so lange mit uns in Verbindung, ohne zuzugeben, daß wir ihnen überlegen sind. Sie werden also nichts lernen und zu Grunde gehen. Zwar ist es meine Pflicht, darüber zu wachen, daß sich nicht Ausländer unnötig in unsern Distrikten bewegen und gar durch fremdländische Kleidung und ungewöhnliche Manieren unserm Volke ein schlechtes Beispiel geben; aber bei Ihnen will ich eine Ausnahme machen, weil ich aus Ihrer Bescheidenheit ersehe, daß Sie nicht beabsichtigen, die loyalen Unterthanen zu andern Sitten und Gebräuchen zu bewegen. Auch gegen Ihre Kleidung will ich nichts einwenden, obgleich dieselbe diejenige eines Landes ist, welches noch nicht durch die Kleiderordnung des ›Herrn des Reiches der Mitte‹ beglückt worden ist. Ich bin überzeugt, daß Ihre Anzüge Ihnen durch die heimatlichen Fakultäten vorgeschrieben worden sind, so daß Sie gegen den Kaiser Ihres Landes sündigen würden, wenn Sie hier andre tragen wollten. Darum werde ich Ihnen schriftlich gestatten, in dieser Kleidung bei uns einherzuwandeln. Auch werde ich Ihnen einen Ta-kuan-kuan Paß der obersten Behörde ausstellen, welchen Sie nur vorzuzeigen brauchen, um überall als ein Mann behandelt zu werden, welcher die höchsten Ehren verdient. Sie brauchen in keinem Tien Herberge, Gasthaus einzukehren, sondern steigen, wohin Sie kommen, beim Kuang-kuan Gemeindepalast ab und zeigen dem höchsten Beamten, welcher da wohnt, meinen Paß vor. Sie werden dann seine Gäste sein, nichts zu bezahlen haben und bis zum nächsten Reiseziele Sänften oder Pferde bekommen, ganz wie es in Ihrem Belieben steht. Alle diese Beamten sind verpflichtet, allen Ihren Befehlen, welche nicht gegen die Gesetze und Vorschriften dieses Landes verstoßen, Gehorsam zu leisten, und müssen für Ihre Sicherheit und für diejenige Ihrer Begleiter haften.«

Das waren Worte und Anerbietungen, wie Degenfeld sie sich nur wünschen konnte. Wie mußte ihm dadurch seine Reise erleichtert werden! Und welchen Vorschub mußte diese Erleichterung den Zwecken dieser Reise gewähren! Er hätte den Mandarin vor Freude umarmen mögen.

Dieser aber saß bleicher und matter als vorher da. Die lange Rede hatte ihn angegriffen. Dennoch fuhr er bereits nach kurzer Zeit fort: »Wenn ich das alles für Sie thue, hoffe ich, daß auch Sie mir eine Bitte erfüllen.«

»Gewiß, wenn es in meiner Macht liegt.«

»Sie können es. Verschweigen Sie, daß Sie uns hier gefunden haben! Kein Mensch darf wissen, daß wir gefangen waren und so geschändet worden sind. Wenn das vor die oberste Behörde käme, würde man uns sicher unsres Amtes entsetzen. Wollen Sie mir versprechen, daß auch Ihre Gefährten schweigen werden?«

»Sehr gern! Hier ist meine Hand.«

»Ich danke Ihnen! Alles übrige können wir später besprechen. Jetzt bin ich zu ermüdet. Ich muß ruhen und schlafen, vorher aber essen. Ich werde, wenn wir nach Hongkong kommen, mich mit dem Ho-po-so in die Kajüte zurückziehen, damit wir nicht gesehen werden. Am Abende werden wir dann in den Anzügen, welche Sie uns besorgen und die ich Ihnen ganz genau beschreiben werde, die Dschunke verlassen. Vor allen Dingen dürfen Sie die Knöpfe auf unsern Hüten nicht verwechseln. Ich habe die Würde eines Staatsrates und trage einen blauen Stein. Der Ho-po-so hat den Rang eines Assessors der höchsten Kollegien und muß einen lichtblauen Stein haben.«

»Werden dieselben in Hongkong zu kaufen sein?«

»Ja, wenn auch nicht echt; aber für die kurze Fahrt nach Kuang-tschéu-fu werden wir uns ihrer bedienen können. Ferner versteht es sich ganz von selbst, daß wir mit der englischen Behörde, welcher die Piraten ausgeliefert werden, nichts zu thun haben mögen. Diese Beamten dürfen ja nicht wissen, daß wir hier gewesen sind. Da aber die Schuldigen chinesische Unterthanen sind, wird man sie uns ausliefern, und dann werde ich dafür sorgen. daß sie die Strafe der Räuber, nämlich den Tod, erleiden.«

Jetzt brachte der Gottfried den Reis und das Fleisch. Die beiden Mandarinen erhielten Eßstäbchen und begannen ihre Mahlzeit. Als dieselbe beendet war, zogen sie sich in die Kajüte zurück, welche die fünf Reisenden gestern angewiesen erhalten hatten.

Mittlerweile trat die Flut ein. Die See bewegte sich nach dem Lande zu, gerade so wie der Wind, und die Dschunke machte eine gute Fahrt. Backbordseits wurden Felsen sichtbar, in denen Turnerstick das Kap Aquila erkannte. Die Dschunke segelte an den vor demselben liegenden kleinen Inseln hin und gelangte noch am Vormittage durch die Bai von Si-wan auf die Reede von Hongkong und wendete nach dem Hafen von Viktoria.

Man sah den ganzen Landungsplatz von einer, wie es den Anschein hatte, nach Tausenden zählenden Menschenmenge besetzt. Die Leute standen Kopf an Kopf, auch auf den vor Anker liegenden Schiffen.

Das Polizeiboot kam der Dschunke entgegen. Es war mit bewaffneten Beamten gefüllt und Kapitän Beadle befand sich bei ihnen. Sie legten, noch während die Dschunke sich in halber Fahrt befand, seitschiffs an und stiegen an Bord. Der Marinekapitän eilte aus Turnerstick zu und rief: »Ich habe den Fall bereits gemeldet und die ganze Bevölkerung ist auf den Beinen. Man ist ganz begeistert über eure That. Man freut sich, daß dem Hai-lung endlich sein verdienter Lohn werden kann. Fast glaube ich, daß man euch auf den Schultern nach dem Hotel schaffen wird. Fünf Mann eine berüchtigte Piratendschunke weggenommen! Es ist unglaublich. Der Platz, wo ihr anzulegen habt, ist schon bestimmt, da steuerbordseits in der breiten Lücke. Paßt auf! Der Krawall geht bereits los. Ich will zur Flagge gehen.«

Von dem nächstliegenden Schiffe ertönte ein Kanonenschuß, welchem Beispiele die Geschütze der andern Schiffe folgten. Soweit man sehen konnte, wurden die Flaggen gesenkt und gehoben, um die Eroberer des Hai-lung zu begrüßen und zu ehren. Tausende von Hurras und andere Zurufe ertönten in allen möglichen Zungen. Das kreischende »Tsching tsching« der Chinesen war am deutlichsten zu hören. Hundert Arten von Kappen, Mützen, Hüten und sonstigen Kopfbedeckungen wurden geschwenkt. Dann rasselte der Anker in den Grund und die Bugkette wurde an das Land geworfen.

Da standen englische Marinesoldaten, welche an Bord kamen. Der Fall war so eklatant, daß sogar der Gouverneur selbst kam, um die Voruntersuchung in eigener Person zu führen. Die Aussagen der fünf Helden wurden zu Protokoll genommen. Der Gouverneur bat sie, einstweilen noch nicht abzureisen, und sie entschlossen sich, im Hongkong-Hotel zu wohnen. Die beiden Mandarinen wurden von ihnen als unschuldige Reisende bezeichnet, welche auch ausgeraubt worden seien und erst nach erfolgter Neuausstaffierung am Abende die Dschunke verlassen könnten, wogegen die Behörde keinen Einspruch erhob.

Von den Gefangenen im Ballastraume waren einige erstickt; die andern lebten. Sie wurden an Deck geschafft und paarweise zusammengebunden, um in sicheres Gewahrsam gebracht zu werden.

Darüber waren wohl zwei Stunden vergangen; aber die Menge stand noch dicht gedrängt am Ufer. Als die Piraten unter bewaffneter Bedeckung über die Landebrücke marschierten, wurden sie mit Ausrufen des Zornes und Abscheues empfangen. Die Polizei hatte vollauf zu thun, das Publikum von Tätlichkeiten abzuhalten.

»Gottfried, meine Pfeife!« befahl der Methusalem.

»Hat ihm schon!« antwortete der Wichsier, indem er ihm das Mundstück reichte. »Wir müssen unsern Einzug mit die nötige Würde und in der jewohnten Ordnung halten, um die Chinesigen zu imponieren. Ich erhebe mir sogar zu dem Vorschlag, hier zu warten, bis man uns einige Triumphbögens oder wenigstens ein Brandenburjer Thor jebaut hat, denn wir haben uns herabjelassen, die Helden dieses glorreichen Tages zu sind. Nicht wahr, Mijnheer?«

»Ja, het is in waarheid zoo. Wij zijn tappere veldheeren en mannen geweest – ja, das ist in Wahrheit so. Wir sind tapfere Feldherren und Männer gewesen.«

Der Gouverneur und die Kriminalbeamten verabschiedeten sich von den Reisenden, um das Schiff zu verlassen. Dann setzten sich die letztem in Bewegung, und zwar in der altbekannten Ordnung: voran der Hund, dann der rauchende Methusalem, hinter ihm Gottfried mit der Pfeife und dem Fagott, gefolgt von Richard, welcher diesmal nicht allein, sondern mit Liang-ssi ging. Den Beschluß machten Turnerstick mit dem Mijnheer, welcher wiederum den, jetzt allerdings leer gewordenen Theeranzen über die Flintenläufe gesteckt hatte.

Als sie auf der Landebrücke erschienen, wurden sie mit jubelnden Zurufen empfangen. Die Menge bildete Spalier, welches sie gravitätisch passierten, indem sie, würdevoll nickend, nach beiden Seiten dankten.

Plötzlich blieb Turnerstick stehen.

»Alle Wetter!« rief er laut. »Methusalem, da stehen die beiden Schurken mit ihrer Sänfte, in welcher ich vor kurzem gelaufen wurde! Wollen wir sie arretieren lassen?«

Der Blaurote drehte sich um. Er sah die beiden Kulis stehen. Hinter ihnen stand die Sänfte am Boden. Sein Bart zuckte; ein Lächeln glitt über sein Gesicht.

»Nein, lieber Freund,« antwortete er. »In den heutigen Jubel dürfen wir keinen Mißklang bringen. Aber ihren gestrigen Fehler sollen sie dennoch gut machen.«

Er wendete sich an die Kulis und die in ihrer Nähe stehenden Männer und rief gebieterisch, indem er auf Turnerstick und die Sänfte deutete: »Dieser große Held, Tur-ning-sti-king, der hohe Generalmajor, wünscht auf der Sänfte getragen zu werden; macht schnell!«

Diese Aufforderung konnte den Leuten nicht gelegener kommen. Der »hohe Generalmajor« wurde augenblicklich von zehn, zwölf Händen ergriffen und auf den Kasten der Sänfte gesetzt. Ebenso rasch hoben die Kulis die letztere empor und traten zwischen dem Gottfried und Richard mit Liang-ssi ein.

Der Zug setzte sich wieder in Bewegung und wurde von einem nicht enden wollenden Jubel der Menge begleitet.

Turnerstick machte erst eine Bewegung, um abzuspringen, fand sich aber schnell in seine Lage, welche er für eine sehr ehrenvolle hielt. Auf der Höhe der Sänfte war er ja der Gefeiertste von allen. Er grüßte eifrig und huldvollst mit den Händen, wobei er den Klemmer unaufhörlich verlor und wieder auf die Vorlukennase setzen mußte, und antwortete auf die vielen »Tsching tschings«, die ihm zugerufen wurden, mit seinen besten chinesischen Ausdrücken.

Vor der Thür des Hotels wurde er abgesetzt, verbeugte sich vor der Menge und rief mit lauter Stimme: »Meine verehrtesteng Herreng und liebreicheng Dameng! Es ist mir gelunging, die Piratung zu besiegeng und ihnen ihre Dschunking abzunehmang! Sie habeng mich dafür mit Huld empfanging und im Triumph hierher getragong. Gestatteng Sie mir, Ihneng meineng Dank zu Erstattung, und lebing Sie für einstweilang wohl. Hoffengtlich werdeng Sie bald noch mehr vong uns hörang. Ich wünsche Ihneng allerseits einang gutung Morging!«

Dann verbeugte er sich abermals und verschwand in der Thür. Während das Publikum, welches kein Wort verstanden hatte, dennoch in beifällige Rufe ausbrach, trat er in das Zimmer, in welchem sich seine Gefährten bereits befanden. Er schlug dem Gottfried, der ihm am nächsten stand, auf die Achsel und sagte: »Nun, Ritter von Bouillon, was sagen Sie zu diesem famosen Einzuge?«

»Dat Sie ihn besser jesehen haben als ich, weil Sie ja auf dem Laufkorbe saßen.«

»Herrlich, herrlich! Nicht wahr, Mijnheer?«

»Gewisselijk, op mijn woord!« beteuerte der Dicke.

»Ja, das war ein ganz andrer Empfang als gestern. Heut sind die ›Tsching tschings‹ nur so um mich herumgeflogen. Ich habe mich aber auch aufs herzlichste bedankt. Hören Sie es? Die Leute jubeln noch immer. Ich muß mich ihnen wirklich noch einmal zeigen.«

Er machte das Fenster auf, grüßte mit dem Fächer und schrie ein letztes, kräftiges »Tsching tsching tsching« hinaus ...


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