Guy de Maupassant
Miß Harriet
Guy de Maupassant

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

II

Ich war damals zwanzig Jahre alt und »klexte« längs der Küste der Normandie herum. »Klexen« nenne ich nämlich dieses Vagantenleben mit dem Ränzel auf dem Rücken, wo man von Wirtshaus zu Wirtshaus zieht, um in freier Natur Skizzen zu machen. Ich kenne nichts Schöneres als diese Wanderzeit, ohne Fesseln, ohne Sorgen, ohne Vorurteil, selbst ohne an den nächsten Tag zu denken. Man geht, wohin es einem beliebt, als Leitstern nur die Phantasie, ohne etwas Anderes zu wollen, als Schönes zu sehen. Man bleibt stehen, weil ein Bach einen verlockt, weil der Geruch geschmorter Kartoffeln aus dem Wirtshaus in die Nase zieht. Manchmal hat der Duft einer Clematis unsere Wahl entschieden, oder das Augenspiel eines Mädchens unter der Gasthausthür. Man verachte nur solche ländliche Liebe nicht. Diese Mädchen haben auch Herz und Sinne, feste Wangen und frische Lippen und ihr heißer Kuß ist köstlich wie eine wilde Frucht. Woher die Liebe auch komme, sie gilt überall: ein Herz, das pocht, wenn wir kommen, ein Auge, das weint, wenn wir gehen, das sind so seltene, süße, köstliche Dinge, daß man sie nie verachten soll.

Ich habe Liebeshuld erfahren am Wegesrande, wo die Primeln blühen, hinter dem Stalle, wo die Kühe schlafen und auf dem Boden im Stroh, das noch warm war von der Hitze des Tages. Ich erinnere mich grober Leinwand auf elastisch-festem Fleische und denke wehmütig an naive Zärtlichkeiten, süßer in ihrer aufrichtigen Derbheit als die zarte Liebe vornehmer, reizender Frauen.

Aber das Schönste bei diesem Herumstreifen ist die Landschaft, der Wald, Sonnenaufgang, Dämmerung, Mondschein. Das ist für den Maler die Hochzeit mit der Natur. Man ist allein mit ihr in ruhigem, langem Verweilen, man wirft sich in eine Wiese, mitten unter Gänseblumen und Mohn und sieht mit offenen Augen beim strahlend hellen Tageslicht weit drüben das kleine Dorf mit seinem spitzen Kirchturm, von dem es Mittag schlägt.

Man setzt sich an den Rand einer Quelle, die am Fuße eines Eichstammes sprudelt, mitten unter zarten, hohen, glitzernden Gräsern. Man kniet sich hin, man beugt sich nieder, man trinkt dieses kalte, durchsichtige Wasser, das den Bart und die Nase netzt, man trinkt es mit körperlichem Behagen, als küßte man die Quelle, Lippe auf Lippe gedrängt. Manchmal, wenn man tiefere Stellen in diesen schmalen Wasserläufen trifft, badet man und fühlt auf der Haut, von Kopf zu Fuß wie eine eisige, süße Liebkosung, das Brausen des rinnenden Wassers.

Man lacht auf den Hügeln, man wird schwermütig gestimmt am Teich, und wenn die Sonne in ein Meer von blutroten Wolken sinkt und rote Lichter auf das Wasser wirft, überkommt einen selige Wonne, und abends, wenn der Mond am Himmel aufsteigt, denkt man an tausend wundersame Dinge, die einem nicht zu Sinnen kämen bei hellem lichtem Tage.

Als ich nun so durch diese Gegend strich, wo wir eben sind, kam ich eines Abends in das kleine Dorf Bénouville, das am Felsenufer liegt zwischen Yport und Étretat. Ich kam von Fécamp längs der Küste, die mit ihren vorspringenden Kreidefelsen jäh wie eine Mauer ins Meer abstürzt. Von früh an war ich auf dem kurzen, feinen, wie ein Teppich weichen Rasen dahingeschritten, der am Rande des Abgrundes wächst, vom salzigen Seewind bestrichen. Ich sang aus voller Kehle und ging mit langen Schritten, wahrend ich ab und zu dem langen Bogenflug einer Möve zusah, die auf dem blauen Himmel die weiße Rundung ihrer Flügel zeigte, dann wieder einen Blick auf das grüne Meer warf, oder auf das braune Segel einer Fischerbarke. So hatte ich frei und sorglos einen glücklichen Tag verlebt.

Man bezeichnete mir ein kleines Häuschen, wo man Reisende aufnahm. Es war eine Art Wirtshaus, das eine Bäuerin hielt. Ein normannischer Hof von doppelter Buchenreihe umgeben.

Ich schritt landeinwärts und ging auf das Haus zu inmitten der großen Bäume und fragte nach Mutter Lecacheur.

Eine alte, runzlige, ernste Bäuerin erschien, die den Eindruck machte, als ginge es ihr wider den Strich, Gäste aufzunehmen, gegen die sie offenbar überhaupt eine Art Mißtrauen hatte.

Es war im Mai. Die Apfelbäume blühten und überdeckten den Hof mit einem Blütendach, von dem unausgesetzt ein Regen kleiner rosa Blätter niederwirbelte auf die Menschen und ins Gras.

– Nun, Frau Lecacheur, haben Sie ein Zimmer für mich frei?

Sie war erstaunt, daß ich ihren Namen wußte und antwortete:

– Wi wullt mal seihen, allens ist vermiet'. Ich wer' trotzdem mal verseuken, wat sich maken läßt.

Nach fünf Minuten waren wir einig und ich stellte meine Tasche auf den Lehmboden eines ländlichen Zimmers, in dem ein Bett stand, zwei Stühle, ein Tisch und eine Waschschale. Das Zimmer lag nach der großen räucherigen Küche zu, wo die Pensionäre mit dem Gesinde und der Wirtin, die Witwe war, ihre Mahlzeiten einnahmen.

Ich wusch mir die Hände, dann ging ich hinaus. Die Alte briet zum Mittagessen ein Huhn im großen Kamin, in dem der rauchgeschwärzte Kesselhaken hing.

– Haben Sie denn Gäste jetzt? fragte ich sie.

Sie antwortete in ihrer unzufriedenen Art:

– Jä, ne Dame habe ich wull, ne ole Engländerin, die hat das andere Zimmer.

Ich machte einen Aufschlag von täglich fünf Sous aus für das Recht, solange es schönes Wetter sei, allein draußen im Hofe zu essen.

Man deckte mir also den Tisch vor der Thüre und ich begann die mageren Knochen des normannischen Huhns zu zerlegen. Dazu trank ich hellen Apfelwein und aß grobes Weißbrot, das schon vier Tage alt war, aber ausgezeichnet schmeckte.

Plötzlich öffnete sich die Holzthür, die hinaus zur Straße führte und eine ganz eigentümliche Person kam auf das Haus zu.

Sie war sehr mager, sehr groß und derartig in einen rotgewürfelten schottischen Shawl gewickelt, daß man hätte denken können, sie besäße keinen Arm, wenn nicht an der Hüfte eine lange Hand erschienen wäre, die einen weißen Touristensonnenschirm hielt. Ihr Mumiengesicht war von grauen Locken umrahmt, die bei jedem Schritt wackelten. Sie erweckte in mir – ich weiß nicht warum – den Gedanken an einen sauren Hering, der Löckchen trug. Schnell ging sie mit gesenkten Augen vorüber und verschwand im Haus.

Die eigentümliche Erscheinung stimmte mich heiter. Das war sicher meine Nachbarin, die alte Engländerin, von der unsere Wirtin gesprochen.

An dem Tage sah ich sie nicht wieder. Als ich mich am nächsten Morgen in dem reizenden kleinen Thälchen zum Malen niedergelassen, das Sie kennen und das nach Étretat hinabzieht, gewahrte ich plötzlich auf der Höhe etwas ganz Eigentümliches, etwas wie ein Mast mit einer Flagge daran. Sie war es. Als sie mich sah, verschwand sie.

Mittags ging ich zum Frühstück nach Haus und setzte mich an den allgemeinen Tisch, um die Bekanntschaft dieses alten Originals zu machen. Aber sie ging auf meine Artigkeiten nicht ein und schien für meine kleinen Aufmerksamkeiten nicht empfänglich zu sein. Trotzdem goß ich ihr Wasser ein und reichte ihr so liebenswürdig als möglich die Schüsseln. Als Dank hatte sie kaum eine Kopfbewegung für mich oder ein englisches Wort, so leise daß ich es nicht verstand.

Ich kümmerte mich nicht mehr um sie, aber meine Gedanken beschäftigten sich mit ihr.

Nach drei Tagen wußte ich von ihr soviel, wie Frau Lecacheur selbst.

Sie hieß Miß Harriet. Auf der Suche nach einer einsamen Sommerfrische war sie vor sechs Wochen in Bénouville angekommen und es schien, als würde sie nicht wieder fortgehen. Bei Tisch sprach sie niemals, aß schnell und las dabei fortwährend kleine protestantische Traktätchen. Diese Bücher verteilte sie an alle Welt, selbst der Pfarrer hatte vier Stück bekommen, die ihm ein Junge für zwei Sous Botenlohn gebracht. Manchmal sagte sie plötzlich zu unserer Wirtin, ohne jede Einleitung:

– Ich lieben Gott über alles. Ich ihn anbeten und die ganze Schöpfung, und den ganze Natur, ich habe ihn immer in mein Herz.

Dabei gab sie der verblüfften Bäuerin sofort eines jener zur Erbauung des ganzen Weltkreises bestimmten Traktätchen.

Im Dorf konnte man sie nicht leiden. Der Lehrer hatte erklärt, sie sei eine Atheistin und seitdem wurde sie von der Seite angesehen. Der Pfarrer, den Frau Lecacheur um Rat gefragt, antwortete:

– Sie ist eine Ketzerin, aber Gott will den Tod des Sünders nicht. Und ich glaube, daß sie eine durchaus moralische Person ist.

Diese Worte »Atheistin« und »Ketzerin«, deren genauen Sinn im Dorfe niemand ahnte, machten die Leute stutzig. Unter anderem wurde behauptet, die Engländerin wäre sehr reich und hätte ihr ganzes Leben hindurch die Welt durchstreift, weil ihre Familie sie verstoßen. Warum hatte ihre Familie sie verstoßen? Natürlich, wegen ihres Unglaubens.

In Wirklichkeit war sie eines jener Wesen mit fixer Idee, eine jener versessenen Puritanerinnen, wie England deren so viele hervorbringt, eine jener guten und ganz erträglichen alten Jungfern, die alle table d'hôtes Europas heimsuchen, die einem Italien verleiden, die Schweiz vergiften, die die reizenden Städte an der Riviera unmöglich machen und die überall hin ihre Verschrobenheiten mitbringen, ihr Benehmen wie versteinerte Vestalinnen, ihre unmöglichen Toiletten und einen gewissen Kautschukgeruch, der den Verdacht erregt, als steckten sie nachts in einem Futteral.

Wenn ich sonst in einem Hotel ein solches Wesen sah, entfloh ich wie ein Vogel vor der Vogelscheuche. Doch diese kam mir so eigentümlich vor, daß sie mir nicht gerade mißfiel.

Frau Lecacheur, die instinktmäßig Allem feindlich gegenüberstand, was nicht Bauer war, fühlte in ihrem beschränkten Verstand eine Art Haß gegen das verzückte Wesen der alten Jungfer. Sie hatte einen Ausdruck gefunden, um sie zu bezeichnen, einen wegwerfenden Ausdruck, der ihr, Gott weiß wie, auf die Lippen gekommen war und zu dem sie durch irgend einen verdrehten wunderlichen Schluß gelangt. Sie sagte:

– Dat ist 'ne »Besessene«.

Dieses Wort, das man diesem ernsten und sentimentalen Wesen angehängt, erschien mir unwiderstehlich komisch. Ich nannte sie selbst nur noch die Besessene. Und es machte mir ein wunderliches Vergnügen, wenn ich sie sah, laut das Wort vor mich hinzusprechen.

Ich fragte Mutter Lecacheur:

– Na, was macht denn unsere Besessene heute?

Die Bäuerin antwortete mit empörter Miene:

– Denken Se mol, se hat 'ne Padde upgelesen mit 'ne zerquetschte Pfot', hat se mit in ihr Zimmer geschleppt, in die Waschbalje gesmitten und mit 'n Leinenlappen verbunden, as wie 'en Minschen. Dat ist doch 'n Skandal!

Als sie ein andermal am Felsufer spazieren gegangen, hatte sie einen großen Fisch, der eben gefangen worden, gekauft. Nur um ihn wieder ins Meer zu werfen. Und der Fischer hatte sie, obwohl sie ihn gut bezahlte, mit Schimpfworten überschüttet und war außer sich gewesen, als ob sie ihm das Geld aus der Tasche gestohlen hätte. Noch nach Wochen konnte er davon nicht sprechen, ohne in Wut zu geraten, und die Engländerin zu schmähen. Ja, Miß Harriet war eben eine Besessene! Es war ein genialer Einfall von Mutter Lecacheur gewesen, sie so zu taufen.

Der Stallknecht, den man den Sappeur nannte, weil er in seinen jungen Jahren in Afrika gedient, war anderer Ansicht. Er sagte, mit den Augen zwinkernd:

– Ole Betschwester, junge Bettschwester.

Wenn das die arme alte Jungfer gewußt hätte!

Das kleine Hausmädchen Céleste bediente sie nicht gern, obgleich ich nicht verstand, warum. Vielleicht nur, weil sie fremd war, von einer anderen Rasse, eine andere Sprache sprach und sich zu einer anderen Religion bekannte. Es war eben eine Besessene!

Sie irrte den ganzen Tag umher, suchte Gott und betete zu ihm in der Natur. Eines Abends fand ich sie knieend in einem Gebüsch. Ich hatte durch die Blätter hindurch etwas Rotes gesehen, bog die Zweige beiseite und Miß Harriet stand vor mir. Sie war ganz betreten, daß ich sie so erblickt und sah mich erschrocken an, wie eine Eule am lichten Tage.

Manchmal, wenn ich am Felsufer arbeitete, sah ich sie plötzlich am Klippenrande wie eine Telegraphenstange stehen. Verzückt blickte sie ins weite leuchtende Meer hinaus und auf den purpurfarbenen Himmel. Ab und zu entdeckte ich sie in einem Thal, wie sie schnell mit ihrem elastischen Engländerschritt dahinging. Und ich folgte ihr, ich weiß nicht warum, vielleicht nur, um ihr verzücktes hageres Gesicht zu sehen, aus dem tiefes innerliches Glück leuchtete.

Oft begegnete ich ihr auch in der Nähe eines Bauernhofes, wie sie im Grase saß, im Schatten eines Apfelbaumes, ihre Traktätchen aufgeschlagen auf den Knien, den Blick in die Weite.

Die Zeit strich hin. Ich ging nicht mehr fort, so zog mich diese weite stille Landschaft an. Ich fühlte mich in diesem versteckten Bauernhofe wohl, allem Erdentreiben fern, nur der Natur, der guten, heiligen, schönen, grünen Erde nahe, die wir eines Tages selbst mit eigenem Leibe düngen werden. Und vielleicht – ich muß es gestehen – hielt mich auch ein wenig die Neugierde bei Mutter Lecacheur zurück. Ich hätte gern diese seltsame Miß Harriet näher kennen gelernt, hätte gern gewußt, wie es eigentlich in den Seelen solcher umherirrenden alten Engländerinnen ausschaut.

 


 << zurück weiter >>