Guy de Maupassant
Miß Harriet
Guy de Maupassant

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Miß Harriet

I

Wir fuhren zu sieben, vier Damen und drei Herren, von denen einer neben dem Kutscher auf dem Bock Platz genommen hatte. Im Schritt zogen uns die Pferde die große Steigung hinan, die die Straße in Kehren überwand. Bei Tagesanbruch waren wir aus Étretat fortgefahren, um die Minen von Tancarville zu besehen. Wir schliefen alle noch halb. Die Morgenkühle lähmte uns. Am müdesten waren die Damen, die solch frühes Aufstehen nicht gewöhnt. Alle Augenblicke fielen ihnen die Augen zu, der Kopf sank zur Seite oder sie gähnten, ohne von der Schönheit des Morgens etwas zu ahnen.

Es war Herbst. Zu beiden Seiten des Weges dehnten sich kahle Flächen. Gelb leuchteten die Haferfelder herüber, wie die Stoppeln eines unrasierten Bartes. Nebel krochen hin als dampfte die Erde. Lerchen schmetterten hoch oben in den Lüften und die Vögel sangen in den Büschen ihr Morgenlied.

Endlich ging gerade vor uns rotglühend am Horizont die Sonne auf. Und je höher sie stieg von Minute zu Minute, desto mehr schien die Landschaft zu erwachen, zu lächeln und wie ein Mädchen, das dem Bett entsteigt, ihr weißes Nachtgewand abzuwerfen. Graf d'Étraille, der auf dem Bock saß, rief:

– Ein Hase.

Dabei deutete er mit dem Arm nach links auf ein Kleefeld. Das Tier floh und man sah nur noch seine langen Löffel über das Grüne huschen. Dann wechselte der Hase auf ein Ackerfeld hinüber, ging wie wahnsinnig davon, schlug einen Haken, that sich nieder und äugte ängstlich, Gefahr witternd umher, unschlüssig, welchen Weg er nehmen sollte. Jetzt ward er wieder mit großen Sätzen flüchtig und verschwand in einem Rübenfeld. Die Herren waren wach geworden und blickten dem Tiere nach.

Reno Lemanoir meinte:

– Wir sind heute früh nicht gerade sehr artig gegen die Damen!

Zu seiner Nachbarin, der kleinen Baronin de Sérennes, die gegen den Schlaf ankämpfte, sagte er halblaut:

– Baronin, Sie denken an Ihren Gatten. Seien Sie ohne Sorge, er kommt erst Sonnabend zurück. Sie haben noch vier Tage Frist.

Sie antwortete halb schläfrig lächelnd:

– Reden Sie keinen Unsinn.

Dann schüttelte sie die Müdigkeit ab und fügte hinzu:

– Erzählen Sie uns lieber eine hübsche Geschichte, Herr Chenal. Sie sollen doch mehr Glück bei den Frauen gehabt haben als der Herzog von Richelieu. Erzählen Sie uns eine Liebesgeschichte, die Ihnen passiert ist. Ach bitte, bitte.

Léon Chenal, ein alter Maler, der einst sehr schön gewesen und ein großer Don Juan dazu, strich sich den langen weißen Bart, lächelte und sann nach. Dann ward er plötzlich ernst:

– Lustig wird's gerade nicht werden, meine Damen. Ich will Ihnen die traurigste Liebesgeschichte meines Lebens erzählen. Ich will nur wünschen, daß keinem meiner Freunde etwas Ähnliches geschehen möge.

 


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