Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtes Kapitel.
Des Doctors Philosophie

»Meine Seele hat für mich das größte Interesse von allen Dingen in der Welt. Ich halte sie für dasjenige Princip, welches bewirkt, daß diese Materie, welche ich meinen Leib nenne, lebt und functionirt. Wenn meine Seele den Leib verläßt – was sie beim Tode wirklich thun wird –, so gehorcht der Leib widerstandslos den Gesetzen der organischen Natur und unterliegt den betreffenden chemischen Veränderungen der Elemente wie jeder andere Körper. Meine Seele ist ein geistiges Wesen, einfach, untheilbar, thätig, ohne Ausdehnung, den Trägheitsgesetzen der Materie nicht unterworfen, so eingerichtet, daß sie zwar den Leib als ihr Instrument benutzt und durch ihre Lebenskraft die Sinnesorgane zur Aufnahme von Eindrücken befähigt, aber doch für sich allein existiren, sich selbst betrachten, rein geistig functioniren und sagen kann: Ich bin ich.«

»Ich weiß nicht, ob ich Sie verstehe, Doctor. Auch müßten Sie mir wohl die einzelnen Sätze näher erklären, theilweise begründen …«

»Gut. Dann müssen wir Schritt für Schritt, ganz langsam vorgehen. Nehmen wir also für heute den Satz: ›Die Seele ist ein geistiges Wesen.‹ Wir werden zwar kaum damit fertig werden, indes …«

»Wie? So viel Nachdenken ist nöthig, um diesen Satz einzusehen?«

»Ja, man muß ja auch alle möglichen Einwände berücksichtigen.«

»Und das haben Sie gethan?«

»Freilich. Mein ganzes System habe ich durchdacht. Viele Jahre habe ich gelesen, speculirt und geprüft.«

»Nun, da sehe ich, würden wir mit Beweisen in ebenso viel Jahren nicht fertig werden. Fahren Sie lieber fort und legen Sie mir einfach Ihre Gedanken dar. Ich will ruhig zuhören; vielleicht regt mich das eine oder andere Wort aus Ihrem Munde zu eigenen Studien an. Lassen Sie also die Beweise nur, und tragen Sie mir das Ganze vor, so wie es Ihnen als bewiesen gilt.«

»Wie Sie wollen, Theo. Wo standen wir? Ah so! Die Seele kann sich selbst betrachten, kann sich aber auch in Beziehung zu andern Dingen setzen. Ihr Leben ist Thätigkeit, concentrirt aus ihr eignes Ich oder auf ein Object der Außenwelt. Spreche ich von der Natur der Seele, so möchte ich sie ein ›geistiges Wesen‹ nennen; fasse ich ihre Thätigkeit ins Auge, so möchte ich sagen: sie ist ein ›sinnendes‹ oder ›sinniges‹ Wesen. Die Thätigkeit der Seele als Lebensspenderin, Bildnerin und Erhalterin unseres thierischen Leibes nenne ich nämlich die vegetative; ihre Thätigkeit im Vereine mit den Sinneswerkzeugen des Körpers die sinnliche; ihre vom Körper unabhängigen Functionen bezeichne ich als ›sinnige‹. Was nun die letztgenannten angeht, so spreche ich von fünf höhern Sinnen. Warum mir dieses Wort gefällt, sollen Sie später hören. Vermuthen Sie keinen Materialismus, Theo; die Natur der Seele ist geistig. Passen Sie aus! Verstand nennt man gewöhnlich die Fähigkeit der Seele, das Wesen, die wesentliche Gutheit der Dinge in concreten Fällen zu erkennen, und Vernunft gilt vielen mehr als die Fähigkeit, die Dinge mit einander zu vergleichen, sie zu analysiren, durch Schlüsse zu neuer Erkenntniß fortzuschreiten u. s. w. Verstand und Vernunft, die mir nur graduell verschieden zu sein scheinen, möchte ich mit dem gemeinsamen Namen ›logischer Sinn‹ bezeichnen. Die Seele beschäftigt sich ferner mit dem sittlich Guten und Bösen der Dinge und zwar durch den ›moralischen Sinn‹, oder mit der Schönheit und Erhabenheit der Dinge – sie gebraucht ihren ›ästhetischen Sinn‹. Oder die Seele erkennt die eigene Schwäche und Endlichkeit, das Verlangen nach Kraft und Hilfe von außen, die Quelle dieser nothwendigen Stärke und ihres eigenen Seins, Gott, und wir haben den ›geistlichen Sinn‹. Verwechseln Sie dieses Wort ›Sinn‹ nicht mit den materiellen Sinnen des Gehörs, Gefühls, Geschmackes, Gesichtes etc. – Ich könnte auch sagen ›Kraft‹. Da ich kein Philosoph aus der Schule bin, kann ich die Schulausdrücke nicht immer brauchen. Ueberdies sind sie zumeist nur den Eingeweihten verständlich. Sie werden mich begreifen, wenn ich Ihnen sage, daß jene ›geistigen‹ Sinne oder Kräfte nach meiner Meinung nichts äußerlich von der Seele Verschiedenes sind, sondern die Seele selbst, insofern sie auf verschiedenen Gebieten oder in Beziehung zu verschiedenen ihr äußerlichen Dingen thätig ist.«

»Es scheint mir, Sie haben den Willen vergessen.«

»Bravo, Theo! Darauf wollte ich gerade kommen. Außer den genannten vier Lebensbethätigungen der Seele auf rein geistigem Gebiete und außer jenen Functionen, die sie im Körper hat, d. h. in Bezug auf das vegetative und sinnliche Leben – besitzt die Seele die Kraft, sich selbst zu bestimmen, mit andern Worten: den Willen. Nehme ich nun noch die Thatsache hinzu, daß auch der lebendige Körper auf Grund seiner Sinneseindrücke ein niedriger stehendes Begehren hat, das ich kurz ›Trieb‹ nennen will, so habe ich für meinen praktischen Privatbedarf eine Psychologie fertig. Logischer Sinn, moralischer Sinn, ästhetischer Sinn, geistlicher Sinn, Wille müssen harmonisch erzogen werden und harmonisch functioniren, dann habe ich die mens sana. Dazu kommt dann die Pflege des vegetativen und sinnlichen Lebens unter der Controlle der fünf eben genannten höhern Seelenthätigkeiten, und ich habe, soweit es an mir selbst liegt, das corpus sanum. Meine philosophische Devise ist also: Mens sana in corpore sano, ein gesunder Sinn in gesundem Leibe, ein Sprichwort, das Sie längst kennen.«

»Wo bleibt denn da Gott? Wo die religiösen Pflichten?«

»Sehen Sie das nicht, Theo? Das, was ich die geistliche Kraft der Seele nannte, führt mich zur Beschäftigung mit Gott und göttlichen Dingen. Freilich kann ich diese Kraft verkümmern lassen, d. h. meine Seele aus Absicht oder Nachlässigkeit von der Lebensbethätigung auf diesem speciellen Gebiete wegwenden. Wenn ich aber dieses Gebiet sorgfältig cultivire, werde ich Gott, meine Abhängigkeit von ihm, meine Pflichten ihm gegenüber und manche seiner Eigenschaften erkennen. Dabei bediene ich mich ebenfalls des logischen Sinnes, weil es auf Vergleichen, Schließen und Prüfen ankommt. Auch kann ich die Seelenthätigkeit auf die moralischen und ästhetischen Dinge richten, und von ihnen statt von der eigenen Seele ausgehend, auf Gott kommen. Endlich vermögen die verschiedenen Gebiete der Außenwelt miteinander die Action der Seele in Anspruch zu nehmen. Es ist ja ein und dieselbe Seele, die sich ›hinwendet‹, ›beschäftigt‹ und ›aufnimmt‹. Im selben Augenblicke freilich kann sie nicht bei verschiedenen Gegenständen verweilen, wohl aber kann sie sich im Nu von einem Gebiet auf das andere begeben.«

»Aber es scheint mir, Doctor, daß die Seele doch nicht ihre eigene Thätigkeit sein kann. Denn manchmal ruht diese Thätigkeit, manchmal ist sie wirksam. Ich vermag zum Beispiel zu reden, zu schreiben, zu lesen, aber wenn ich auch das alles und noch manches andere thun kann, so bin ich doch nicht meine Thätigkeit, mein Lesen, Schreiben, Reden u. s. w. Und wenn ich meine eigene Thätigkeit wäre, so beginge ich ja Selbstmord, sobald ich der Ruhe pflegte.«

»Sie vergessen, daß ich annahm, eine und dieselbe untheilbare, einfache Lebenskraft äußere sich bald in dieser bald in jener Beziehung zu den Außendingen. Auch ruht die Seele nie; denn wenn sie sich weder als Wille, noch als moralische Erkenntniß, noch als ästhetischer Sinn, noch als spiritueller Sinn, noch als schließende Vernunft, noch als materieller Sinn bethätigt, so lebt sie wenigstens in der Vegetation. Wenn wir schlafen, sind wir doch nicht todt.«

»Darüber muß ich einmal nachdenken. Erzählen Sie mir, bitte, noch etwas über das, was Sie harmonische Erziehung und harmonische Function nennen.«

»Auch hier werde ich mich vielleicht kaum schulgerecht ausdrücken, Theo. Was ich für richtig halte, ist aber dieses:

1. Bildet die Seele nur ihre sinnlichen, materiellen Fähigkeiten aus, oder wird gar alle Kraft auf die Vegetation verwandt, so verthiert, versinnlicht der Mensch.

2. Einseitige Kraftbethätigung des logischen Sinnes macht den Menschen zu einem Wesen ohne Gefühl, Sinn für Kunst und schöne Wissenschaften, ja ohne Frömmigkeit und Andacht.

3. Ueberwuchert die Thätigkeit auf ästhetischem Gebiete, so führt das zur Sentimentalität und Weichlichkeit.

4. Die nicht controllirte Anspannung der geistlichen Kraft artet in religiöse Schwärmerei, Bigotterie, Fanatismus, Pietismus – ja in Ketzerei aus.

Arbeitet die Seele aber gleichmäßig auf allen Feldern, die ihr zugänglich sind, so wird eine harmonische Cultur erreicht. Was den moralischen Sinn angeht, so scheint mir dieser nicht leicht überbildet werden zu können, es sei denn daß man Scrupulosität und übertriebene Aengstlichkeit als eine Ausartung dieser Seelenthätigkeit gelten lassen will.«

»Dieser moralische Sinn ist nicht der Wille?«

»Nein, ich meine, er sei die Kraft der Seele, vermöge welcher sie das Gute und Böse erkennt. Die Entscheidung, gemäß dieser Erkenntniß oder gegen dieselbe zu handeln, nenne ich den Willen. Uebrigens – an dem Ausdruck ›Sinn‹ dürfen Sie sich nicht stoßen, noch einmal wiederhole ich es. Ich könnte statt ›moralischer Sinn‹ auch sagen: der Verstand, insofern er die Moralgesetze erkennt; statt ›geistlicher Sinn‹: der Verstand, insofern er die göttlichen Dinge und das Verhältniß des Menschen zu Gott erkennt; statt ›ästhetischer Sinn‹: der Verstand, insofern er die Schönheit der Dinge erkennt u. s. f. ›Verstand‹ nehme ich dann als die Seele, insofern sie Wahrheiten anschaut und versteht, während die Seele als ›Vernunft‹ die Wahrheiten ›nimmt‹, um sie zu vergleichen, zu analysiren und weiter zu entwickeln – kurz, als das Princip, das eigentlich die Wissenschaft aufbaut. Aber, wie gesagt, statt ›Verstand‹ will mir ›Sinn‹ besser gefallen, trotz der möglichen Verwechslung mit den materiellen Fähigkeiten, die man gewöhnlich die ›Sinne‹ nennt.«

»Und warum gefällt Ihnen die Bezeichnung ›Sinn‹ besser?«

»Wegen einer Analogie. Wie die niedern Sinne gewissermaßen die niedern Functionen des Menschen darstellen, so die höhern Sinne die höhern. Die Sprache drückt sie ja auch demgemäß aus: der Mensch ›sinnt‹ nach, was gut, wahr, schön u. s. w. sei. Wenn ich dieses Nachsinnen, oder vielmehr die Kräfte dazu, als ›höhere Sinne‹ bezeichne, so sage ich damit noch nicht, daß sie ›sinnlicher‹ Natur seien. Freilich gebe ich zu, daß meine Ausdrucksweise von manchen mißverstanden werden könnte. Aber ich will meine Philosophie auch nicht drucken lassen. Mir gefällt es privatim, von den materiellen Sinnen des Körpers und den geistigen Sinnen der Seele zu sprechen. Das althochdeutsche Wort ›sinnan‹ heißt gehen, reisen, seine Richtung auf etwas nehmen. Meine Seele nimmt eben die verschiedensten Richtungen, geht gleichsam auf Reisen. Und was heißt ›sinnig‹ anders als verständig, seines Verstandes mächtig? Doch da komme ich in die Philologie. Wenden wir uns wieder zur Seele zurück. Ich will Ihnen erst einmal zeigen, auf welchem Wege es mir leicht wird, meinen Glauben, meine katholischen Anschauungen in diesen Rahmen einzufügen.

»Die Seele hat das lebhafte Bestreben, in den verschiedenen Richtungen zu sinnen. Je mehr und je öfter der Wille sich zum Sinnen in einer gewissen Richtung bestimmt, desto mehr lernt die Seele nach dieser Richtung hin kennen. Wie feinfühlig, wie empfindlich, wie aufmerksam wird zum Beispiel die Seele des Künstlers für die Schönheit! Wie groß ist die Routine der Seele eines Denkers, eines Mannes der Wissenschaft, der gewohnt ist, Schlüsse und Analysen zu machen! Wie leicht erregbar, wie gewissenhaft wird die Seele durch Einsicht in die Forderungen der Sittlichkeit, und wie stark ist sie erst, wenn sie sich häufig in Selbstbestimmungen zu guten Entschlüssen geübt hat! Bei all ihrem Sinnen findet trotzdem die Seele, daß das Ziel ihres Sinnens immer weiter hinausrückt. Je mehr sie der Schönheit, Wahrheit, Gutheit nachsinnt, desto klarer wird ihr, daß das Ideal ihr durch eigene Kraft nicht erreichbar ist. Und doch will sie – es liegt das in ihrer Natur – dieses Ideal besitzen. Solange sie nicht im Genusse so vieler Schönheit, Wahrheit und Gutheit lebt, als sie zu fassen vermag, so lange ist sie nicht zufrieden, nicht glücklich. Und dennoch sinnt sie nothwendig nach dem sichern, nie endenden Genusse dieses Ideals. Sie hat sich nicht selbst das Leben gegeben, daher verdankt sie mit ihrem Leben und ihrer Natur auch dieses ihr angeborne ›Sinnen auf das höchste Ziel‹ demjenigen, der sie geschaffen hat. Wenn wir nun genauer zusehen, so werden wir finden, daß das höchste Ziel der Seele nichts anderes ist als ihr Ursprung. Mit andern Worten: Gott hat sie ins Dasein gerufen und gibt ihr ein Wesen, in dessen Eigenart es liegt, mit nichts vollständig zufrieden zu sein außer mit dem Genusse des vollkommensten Gutes. Dieses vollkommenste Gut neunen wir Gott. Solange die Seele auf Gott sinnt, bewegt sie sich ihrem Glücke entgegen; bestimmt sie sich aber zu einem entgegengesetzten Streben, so ist sie unglücklich. Daß nun Gott wirklich das höchste Gut ist, daß ihr Ideal keine Einbildung, sondern eine Realität sei, erkennt die Seele, wenn sie auf den verschiedenen ihr zugänglichen Gebieten in der Weise nachsinnt, daß sie sich bei jeder Erkenntniß fragt: 1. Warum verhält sich dies so? 2. Wer hat dieses Ding hervorgebracht oder diese Wahrheit angeordnet? 3. Zu welchem Zwecke und 4. mit welchen Mitteln wurde die Natur dieses Wesens mit all seinen Eigenschaften oder die Natur jener Wahrheit mit ihren Consequenzen begründet? 5. Wie muß ich selbst zu der eben gewonnenen Erkenntniß Stellung nehmen? 6. Was ist die Folge, je nachdem ich meinen Willen für, gegen oder gleichgiltig gegen solche Erkenntniß stimme? Versucht es die Seele, sich diese sechs Fragen nach Kräften zu beantworten, so wird sie Gott als letzte Ursache aller Dinge, als Schöpfer und Erhalter der Welt, als Ziel der Creatur, als unumschränkten Herrn des Weltalls, als höchsten Gesetzgeber, als ein freies, persönliches, geistiges, unendlich vollkommenes Wesen erkennen. Um dahin zu gelangen, zur letzten Ursache alles Seins, alles Werdens und aller Bewegung nämlich, steigt sie eine ganze Stufenleiter von Erkenntniß zu Erkenntniß empor. Für alles, was da ist, wird ein Grund gesucht, für diesen Grund wieder ein Grund u. s. f., bis sie zuletzt bei einem Grunde angekommen ist, welcher vermöge der Vollkommenheit seiner Natur keinen weitern Grund verlangt, mit andern Worten, sich selbst Grund und im Besitze aller nur denkbaren Vollkommenheiten ist. Mit ein paar armseligen Sätzen, Theo, habe ich hier unendlich viel gesagt. Eine ganze Kette von Beweisen, eine Reihe von Antworten auf die verschiedenartigsten Einwürfe wäre hier vonnöthen, bis Sie mich vollständig verstehen könnten. Es kommt indessen heute darauf an, daß Sie meine Weltanschauung einmal als ein Ganzes vernehmen.

»Also weiter! Bis hierher sind wir gelangt einzig mit Hilfe der natürlichen Kraft der Seele, über das Wie und Warum aller Güte, Schönheit und Wahrheit nachzusinnen. Auf ihren Excursionen in das Gebiet des Seins und bei ihrer Concentration auf sich selbst wird die Seele nun aber die Erfahrung machen, daß sie über manche nothwendige, wichtige und ihr Glück betreffende Dinge theilweise recht dunkle und wenig befriedigende Aufschlüsse erhält. Je weniger ein Mensch im Denken geübt ist, desto schwerer muß ihm an und für sich eine derartige Speculation fallen. Ganze Klassen von Menschen haben ja weder Zeit noch Talent zu planmäßigem Nachsinnen auf den verschiedenen Gebieten des Wissens. Dazu kommt, daß die Kraft des Willens, der Selbstbestimmung, trotz ihrer Freiheit sehr schwach und hilflos ist. Der Mensch wird sich bewußt, daß er in der Vergangenheit nicht immer so gehandelt hat, wie er hätte handeln sollen, und fühlt, daß er Gott irgendwie versöhnen muß, aber ebenso, daß er in Zukunft ohne besondere von außen kommende, mächtigere Erleuchtung und Hilfe weder auf den rechten Weg zurückkehren noch im unentwegten Streben nach seinem wahren Glücke beharren wird. Wie es nun natürlich ist, daß wir uns in mancherlei Schwäche und Hilflosigkeit an diejenigen wenden, die mehr vermögen als wir, so wendet sich der Mensch gewiß am allernatürlichsten an den, der selber alle Macht und alle Vollkommenheit ist, an seinen Gott. Und Gott kommt unsern Mängeln durch jene höhere Erleuchtung und jene übernatürlichen Gaben zu Hilfe, die er uns in seiner ›Offenbarung‹ anbietet. Der Philosoph kann die historische Thatsache der Offenbarung, sein eignes Bedürfniß nach derselben und Gottes Willen, daß er sie annehme, natürlicher Weise erkennen, wenn es auch wahr bleibt, daß ihn die göttliche Gnade selbst hier besonders leiten muß. Hat er aber diese Erkenntniß gewonnen, so ist es Sache seines Willens, sich dem göttlichen Willen zu unterwerfen. Es mag, nein, es wird Geheimnisse für sein Nachsinnen geben, aber das Nichtbegreifen dieser Geheimnisse berechtigt ihn nicht, an ihrem Inhalte zu zweifeln, sobald er weiß, daß Gott, die unfehlbare Wahrheit, sie geoffenbart hat.«

»O«, rief Theodor plötzlich aus, »Sie wollen, concret gesprochen, sagen, daß wer z. B. erkannt hat, daß Gott diese Offenbarung durch die katholische Kirche gibt, sich der Lehre dieser Kirche unweigerlich unterwerfen muß.«

Sechow entgegnete hoch erfreut: »Sie haben da einen Schluß selbst gezogen, auf den ich Sie allerdings führen wollte. Soweit ich Sie verstehe, Theo, gilt Ihnen nach Ihren bisherigen Studien der Mittelsatz, der in meiner Auseinandersetzung fehlte, bereits für erwiesen, nämlich daß Gott seine Offenbarung in der katholischen Kirche hinterlegt hat.«

»Von dem Factum der Offenbarung und dem, was Sie soeben sagen, bin ich allerdings durch Pater von Hammersteins ›Edgar‹ überzeugt worden. Auch habe ich mich bereits in den ›Gottesbeweisen‹ dieses Autors ziemlich umgesehen. Daher habe ich Sie besser verstanden, Doctor, als Sie vielleicht erwarten. Sie haben mir indessen – auch ohne die Beweise zu bringen – den Weg bis zur Annahme der Offenbarung in einer neuen, interessanten Beleuchtung gezeigt. Das wird mir zu denken geben.«

»Nun, Theo, dann werden Sie auch verstehen, daß es mir heute trotz Ihrer Bitte nicht darum zu thun war, Ihnen wirklich alle meine philosophischen Ansichten vorzuführen. Sie sollten nur sehen, daß ich wirklich einen vernünftigen Gang im Denken verfolge, und sich dadurch angeregt fühlen, mir nachzufolgen. Ein Philosoph von Fach würde vielleicht manchen Terminus geändert, manches schärfer gefaßt, alles haarklein bewiesen haben, doch dazu fehlt uns hier Zeit und Gelegenheit. Ich bin zwar Ehrendoctor der Rechte, mache aber absolut keine Ansprüche darauf, Philosoph zu sein. Daß ich dennoch hier und da philosophire, kann mir niemand verwehren. Habe ich unrecht, so mag mich ein besserer Philosoph überzeugen – oder jemand belehren, daß die Kirche irgend eine meiner Ansichten verwirft.«

»Würden Sie sich wirklich in einem solchen Falle der Kirche unterwerfen?«

»Ganz gewiß, weil mein Verstand mir sagt, 1. daß die höhere Wahrheit der Offenbarungsordnung angehört, und 2. daß die Offenbarung von der katholischen Kirche bewahrt und ausgelegt wird.«

»Wer Ihren Standpunkt einnimmt, Doctor, muß ja schon auf Erden den Frieden haben!«

»Freilich, wenn er sich zugleich sagen darf, daß auch sein Wille sich nach der gewonnenen Erkenntniß richtet. In diesem Leben bleibt allerdings immer die Furcht bestehen, daß unser Wille auf unglückliche Wege gerathen könne. Ja, Frieden besitzt der Katholik, aber keinen unverlierbaren.«

»Also mens sana in corpore sano ist Ihre Devise? Da gehört also auch wohl der Friede zur Gesundheit der Seele?«

»Ganz gewiß, Theo. Krank ist die Seele z. B. in gewissem Sinne, wenn sie meint, alles begreifen zu müssen.«

»Ich verstehe nicht recht …«

»Lassen Sie mich ganz deutlich reden. Sie, liebster Theo, zögern immer noch, Ernst zu machen mit Ihrer Rückkehr zur Kirche, weil Ihnen einiges dunkel und unbegreiflich ist.«

»Aber ich muß doch meinen Weg klar vor mir sehen, Doctor! Ich darf doch nicht wie ein Blinder, wie ein Blödsinniger vorantappen!«

»Wenn Ihnen jemand auf einem Bahnhofe sagte: Sie wollen nach Paris; gut, dieses ist der nächste, schnellste, sicherste, ja im Grunde der einzige Zug, der Sie dorthin führt, wohin Sie wollen, – ist es denn da absolut nöthig, daß Sie wissen, durch welche Gegenden die Reise geht? Oder müssen Sie, um nach Paris zu kommen, alle Städte vorher kennen, welche Sie unterwegs berühren? Oder setzen Sie sich gar erst dann ins Coupé, nachdem Ihnen die Verwaltung der Eisenbahnlinien, die technischen Hilfsmittel der Personenbeförderung durch Dampf, der ganze Verkehrsapparat vollständig bekannt geworden sind?«

»Mumpitz, Doctor!«

»Nun, Sie wollen von Station Planet Erde in den Himmel. Sie wissen, die katholische Lehre ist der nächste, schnellste, sicherste, ja im Grunde der einzige Weg, der Sie dorthin führt, – ist es denn absolut nöthig, daß Sie gar keine Ueberraschungen, Geheimnisse auf der Reise finden?«

»Sie wollen mich absolut herum haben!« sagte Theo ein wenig bitter, und er machte sein bekanntes bedenkliches, pessimistisch-mißtrauisches Gesicht.

»Ja, absolut. Aber glauben Sie, daß der Papst mich dafür zum Cardinal ernennt oder mir eine Leibrente bewilligt, oder daß der Jesuitengeneral mich zu seinem Cousin macht?«

Theodor mußte lachen, obwohl er nicht wollte.

»Sie Protestanten glauben immer, die Katholiken machen ein Geschäft, wenn sie wünschen, daß jemand sich lossage von jenem Sammelsurium von sich gegenseitig widersprechenden Religionsphilosophemen, das man ›evangelische Kirche‹ nennt.«

»Doctor!«

»Ich nenne die Dinge, wie ich sie ansehe. Wahrheiten, die von einem unfehlbaren Wesen verkündet sind, deshalb bezweifeln wollen, weil man sie nicht ganz durchschaut und versteht, ist völlig unphilosophisch. Was eigentlich das Leben sei, oder wie aus einer Eichel ein Eichbaum werden kann, das werden Sie auch schwerlich capiren, Theo. Und doch glauben Sie dem Factum, daß der Eichbaum sich aus der Eichel entwickelte, und daß es lebende Wesen gibt.«

»Da kommt Luigi heim!« meinte Theo erleichtert.

»Das freut Sie, nicht? Sie selbst verlangten die Philosophie des Doctors zu hören. Wenn der Doctor immer seinen Willen nach seiner Erkenntniß gelenkt hätte, wäre er froher und glücklicher gewesen, Theo, und hätte auch nicht jene Beichte auf die lange Bank geschoben.«

Mallatini warf seinen Hut auf das Bett und rief: »At nix genutzt. Is alles aus. Nur Gott kann elfen.«

»Was ist los, Luigi?«

»Sind Sie wieder bei Ihrem Freunde gewesen?«

»Girolamo will nix wieder zur Kirche kommen. Und was mehr – seine Frau is nix die einzige Frau. Er at ein andere gelassen in Basilea, Svizzera. Jetz is alles gekommen an den Tag. Ich aben versuchet, was ich aben gekonnte. O, der Mensche, welcher läugnet sein Glaube, er ist bereit, zu thun alles Böse. Aber Teodoro, was aben Sie so rothes Kopfe?«

»Hab' ich einen rothen Kopf? So? Das macht jedenfalls des Doctors Philosophie.«

»O, ich glauben, seine Filosofia ist serr gut.«

Sechow sagte ernst: »Jedenfalls sollten wir alle eine Philosophie haben, die uns lehrt, uns nicht für Götter zu nehmen. Was nützt es, eine Lieblingsidee festzuhalten, die uns mit der Wahrheit in Conflict bringt? Denke ein jeder für sich selber; aber hüte sich auch ein jeder, seinen eigenen Verstand und seine eigene Kraft für unendlich anzusehen. Der intelligenteste Mensch kommt schließlich an eine Grenze seines eigenen Forschungsgebietes. Zwar strebt er natürlicher-, nothwendigerweise über diese Grenze hinaus; doch muß er für die Wanderung jenseits eine höhere Intelligenz als Führerin annehmen. Nur eine geistlose Weltanschauung kann diese Nothwendigkeit verkennen. Es ist ja der Beschränktheit eigen, das kleine ihr zugängliche Gebiet für das Universum anzusehen. Zum guten Glück hat uns die Vorsehung aber ein weit größeres Glück, eine viel umfassendere Einsicht bestimmt, als wir durch unsere eigene beschränkte Kraft zu erringen vermögen. Wie gut, daß es so ist! Denn sonst wären wir eher am Ziele als unsere Wünsche und Hoffnungen. Unsere Natur, daher auch unsere Wünsche nach dem Glück vermögen wir nicht zu ändern oder aus die Dauer zu unterdrücken; was sollten wir da anfangen, wenn wir nur das Ziel unserer eigenen Anstrengungen erreichen könnten?«

Mallatini wußte nicht recht, um was es sich handelte. Theodor aber bewunderte den Doctor seit dieser Stunde nur noch mehr und hoffte, sich dereinst zu dessen geistiger Höhe erschwingen zu können.



 << zurück weiter >>