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Drittes Buch.
Kreuz und Rosen

»Wohl bin ich nur ein Ton
Im schönen Liede Gottes;
Doch wie das schöne Lied
Wird nimmermehr verklingen.
So wird der Ton im Liede
Auch nimmer gehn verloren,
Nicht brechen sich am Grabe;
Und was im Erdenleben
Mit ihm zusammenklang,
Wird einst mit ihm erklingen
Zu freudigen Accorden
Im Strom des ew'gen Liedes.«

N. Lenau.


Erstes Kapitel.
Herbst

Es war in den letzten Tagen des October. Der Park von Bernsloh stand bereits zum größten Theile kahl; die unbarmherzigen Herbststürme hatten ihn seines buntschillernden Laubschmuckes beraubt, und die wenigen Baumgruppen, die an windgeschützten Stellen Büschel oder Fetzen von dem kläglichen gelben Blattflitter zurückbehielten, predigten noch deutlicher als die nackten Aeste von dem Wechsel und Vergehen aller irdischen Schönheit. Eine blasse, melancholische Sonne blickte durch die getreuen immergrünen Zweige des Tannenwäldchens am Weiher auf den sandigen Fußweg, der vom Herrenhause zur Försterei hinüberführte. Das war die einzige Stelle, wo man noch den Abschiedstraum der schönen Jahreszeit träumen konnte, denn selbst die dichten Thujahecken hatten ein dunkleres Trauerkleid angelegt.

» Ma chère Dolorès,« sagte die Stiftsdame zu der Spanierin, mit der sie ihren Nachmittagsspaziergang durch das Nadelholz machte, »wie müssen Sie sich jetzt nach Ihrer warmen, sonnigen Heimat zurücksehnen! Sie werden mir von Woche zu Woche blasser, gerade wie der méchante Octoberhimmel.«

»O Comtesse, mir wäre alles recht, wenn nur mein Mann wieder in Europa wäre!«

»Er kommt ja, mon enfant! Er kommt ja, vers la mi-novembre!«

»Gott sei Dank! Aber wie wird er erschrecken, wenn er Papa sieht!«

»Ihr Papa scheint mir wieder besser, ces derniers jours! Sonst hätte man Theodor gewiß nicht zu diesem uniquen Doctor von Sechow abreisen lassen.«

»Endlich mußte Theo gehen. Der Doctor hatte ihn schon dreimal nach Plinkenau eingeladen, aber er mußte doch wenigstens so lange bei Papa bleiben, bis man sicher war, daß der Schlaganfall keine unmittelbare Lebensgefahr nach sich ziehen würde.«

» C'est ça. Ja, es ruht ein merkwürdiges Fatum auf dieser campagne. Wenn Sie wüßten, was ich schon alles auf Bernsloh erlebt habe, von dem Tage an, da ich als jeune fille zuerst bei den Eltern des Präsidenten Brewer Besuch machte, bis auf diesen Tag! Mon Dieu, Ihr Papa kaum ein Jahr propriétaire – gleich am ersten Tage, wo alles eingerichtet und neu decorirt ist, einen coup d'apoplexie und gelähmt! Ist es nicht, als wollte Gott all seine Pläne paralysiren? Theodor will nichts davon wissen, eine publique Rolle zu spielen und attachirt sich den beaux arts. Ihr mari, ma bonne, zieht es vor, fern von Hamburg zu weilen auf Jahre! La pauvre Mathilde liebt nicht denjenigen, den ihr der Papa auf den Rath der maman ausgesucht hat; Dolorès, ma chérie, will absolut nicht protestantisch werden …«

»Ich kann nicht. Ich beginge eine Lüge, ein Verbrechen.«

» Je le sais fort bien, ma pauvre petite! Lassen Sie sich nicht einschüchtern! Aber sagen Sie nur: ist Ihr beau-père nicht ein bedauernswerther Mann trotz seiner Millionen?«

»Mir thut es am meisten leid, daß er jetzt, wo er elend und schwach in seinem Rollstuhl sitzt und vor sich hinbrütet, so gar nichts von der Religion wissen will.«

»Sie ist ihm während der fetten Jahre nicht unter die Augen gekommen, daher erkennt er sie nicht mehr, wenn sie jetzt an sein Bett tritt. Voyez-vous?«

»Wie Sie alles so kurz und drastisch sagen können, Gräfin!«

»Ich mache keine Ceremonien. Aber eines müssen Sie mir erklären: wie hat Theodor, ce petit magicien, es fertig gebracht, auf die Akademie gehen zu dürfen?«

»Mit einem Muthe und einer Energie, die ich nicht in ihm vermuthete, verfolgte er seinen Plan. Sobald Papa wieder das Bett verlassen durfte, wiederholte Theo täglich seine Bitte: Lasset mich endlich einmal nach Berlin abreisen!«

»Warum nach Berlin?«

»Er hatte einem jungen Italiener in Heidelberg sein Herz eröffnet, der ihn an Professor – nun, den Namen habe ich vergessen – an einen Professor in Dresden wies. Mein Schwager wollte mit der Reise nach Dresden auch den Besuch bei Herrn von Sechow verbinden, aber da kam Papas Krankheit dazwischen, und Theo mußte bei uns bleiben. Er schickte aber seine Skizzen und Arbeiten an den Dresdener Professor ein, und von diesem kam die Antwort: ›Der Herr scheint ein ausgesprochenes Talent für Composition und Historie zu besitzen, weniger für Landschaften. Ich würde ihm rathen, sich bei Professor Metzler in Berlin zu melden.‹ Für diesen Vorschlag begeisterte sich Theo um so leichter, als auch sein italienischer Freund in den Berliner Museen Studien machen wollte. Er besucht nun zuerst Herrn von Sechow und gedenkt dann sofort nach Berlin zu reisen.«

»Aber wie brachte er es zu dem concert mit seinem Papa?«

»Papa ward endlich der täglich wiederholten Bitte müde und gab ihm im Aerger die Antwort: »Gut, gehe, pinsele! werde ein hungriger Künstler! Von mir erhältst Du dann aber keinen Pfennig zu Deinen Studien …«

»Und Theo, cette tête chaude, nimmt seinen Papa beim Wort.«

»Sie haben es errathen, Gräfin. O, es war eine traurige Scene!«

» Cet esprit capricieux me plaît, je l'avoue, sans gêne.«

Schweigend gingen die beiden Damen weiter in den Tannenforst hinein, bis die Chanoinesse fragte: »Und was that Ihre Mama?«

Sie war zuerst furchtbar aufgeregt, gab dann aber merkwürdigerweise selbst Theo das Reisegeld und eine hübsche Summe obendrein, die wohl für ein paar Wochen reicht, bis Papa sich erweichen läßt.«

»Daraus sehen Sie, Dolores, daß auch Ihre Mama nicht ganz in ihren gesellschaftlichen Frivolitäten aufgeht. Es ist seltsam, auch das Herz einer solchen Mutter verläugnet sich nicht. Ich bin sehr offen, n'est-ce-pas, ma pauvre petite baronne? Aber glauben Sie mir, ich konnte in meinem Leben erfahren, daß auch die unbegreiflichsten Menschen Herz haben. Das äußert sich manchmal gerade da, wo man es am wenigsten glaubt. Nun noch eine Frage, dann bin ich wieder ganz au fait und en famille: Wie geht es Carlito?«

»Gut. Er ist jetzt Quintaner. Ich möchte ihn freilich gern vom Hamburger Johanneum fort haben, denn er bekommt dort eine ganz protestantische Erziehung. Schon seit dem Frühjahr versuche ich von meinem Manne die Einwilligung zu erhalten, den Knaben entweder nach Feldkirch zu den Jesuiten oder nach Venlo zu den Dominikanern zu geben. Mein Mann schreibt aber immer, ich solle mit dem Plane warten. Nächstens«, fügte die kleine Frau energisch hinzu, »handle ich auf eigene Faust, trotz der Großmama.«

»Sie haben Energie, ma chère Dolorès. Ich bewundere Sie oft. Aber diese innere Sorge, die Sie beständig quält, untergräbt Ihre Kräfte.«

Während die Damen sich weiter über Carlito unterhielten, saß die Baronin in ihrem Schreibzimmer und studirte eifrig den neuen Band des »Gothaischen Genealogischen Taschenbuches der Freiherrlichen Häuser«. Standen doch die Göhrings dieses Mal zuerst darin, unter ihren Standesgenossen! Wie großartig klang es nicht:

 

Göhring.

[Evangelisch. – Hamburg, Flottbek bei Altona (Prov. Schleswig-Holstein), Schloß Bernsloh bei Oldesloe (ebend.) und Guatemala. – Hamburgische und lübische Patricier. Gerhard Henning Göringh oder Köring, um 1550 als Syndikus und Mitglied E. E. Rathes erwähnt. Von seinen Enkeln Peter Nikolaus und Octavio stammen die Linien Göhring-Altengamme und Göhring von der Linde. Wappenanerkennung (drei goldene Karpfen in blauem Felde) für die Altengammer Linie durch Leopold I. d. d. Wien 20. Januar 1703. Octavio Lebrecht Göhring († 1876) vereinigt beide Linien 1829 durch seine Heirat mit Anna Gesina, Tochter des letzten Göhring (Albert Hinrich) aus dem Altengammer Hause. Von dessen Söhnen Cäsar Octavio (Senator seit 1878) und Nikolaus stammen die bestehenden Zweige zu Hamburg und zu Bernsloh. Adelsdiplom für Nikolaus durch Allerh. Handschreiben Sr. Mas. des Königs Karl I. von Württemberg d. d. Nizza, 10. Januar 1890. Fürstl. Reuß-Greizisches Freiherrnpatent d. d. Greiz 1. April 1890. Wappenbesserung (nach dem Diplom v. 13. Mai 1890): in der Mitte des gespaltenen Schildes ein kleines goldenes Herzschild mit silberner, geöffneter Couponschere. Das linke, blaue Feld enthält die drei goldenen Karpfen (wegen Altengamme), das rechte einen schwarzen Bären auf rothem Grunde (wegen Bernsloh). Der Schild ist von einer Freiherrnkrone bedeckt, auf welche drei Helme gestellt sind, von denen die beiden äußern jeder eine adelige Krone und auf derselben einen Elefantenrüssel tragen; der mittlere Helm ist mit einer Freiherrnkrone geschmückt, aus der sich eine Linde erhebt. Die Helmdecke ist golden und roth mit rother und silberner Unterlage. Der Schild wird an der rechten Seite von einem Hermes und an der linken Seite von einem Eskimo gehalten. Devise: Deos minores conculcabo Die niedern Götter werde ich zertreten..

Nikolaus Friedrich Freiherr von Göhring zu Bernsloh, geb. 7. März 1830 (des † Oberalten Octavio Lebrecht Göhring von der Linde und der † Anna Gesina, geb. Göhring a. d. Hause Altengamme Sohn), Inhaber und Nutznießer des freiherrl. v. Göhringschen Familienfideicommisses, Besitzer des adeligen Gutes Bernsloh, verm. 2. August 1855 mit

Mathilde, geb. 11. September 1837, des † dänischen Amtmannes zu Trippstrille Christian de Katt und der † Luise geb. Schmitt Tochter.

Kinder: 1. Carlos Nikolaus Alfred, geb. 10. Juli 1856, Theilhaber des Großhandelshauses Laccñas y Göhring zu Guatemala, verm. 23. October 1880 mit

Maria Dolores Catalina Josefa Antonia, des † mexikanischen Generals Don Diego de Bombardos y Pudrices und der Doña Maria geb. Caramillas Tochter (katholisch).

Sohn: Carlos Maria José Federigo, geb. 10. September 1881 zu Guatemala (katholisch).

2. Mathilde Luise Gesina, geb. 10. November 1860 zu Flottbek, verm. 7. März 1880 mit Emich Waldemar Grasen zu Stormarn, Rittmeister etc. († 13. August 1888).

3. Theodor Gerhard Julius, geb. 8. Mai 1869 zu Hamburg, stud. iur. et cam.


Die begeistert lesende Baronin dachte gar nicht mehr daran, daß ihr eigener Großvater, der Papa »des † dänischen Amtmannes zu Trippstrille Christian de Katt«, noch ganz bürgerlich »Katz« geheißen. Von wessen Gnaden kam das »de«? Darüber machte man sich in der gegenwärtigen Generation keine Scrupel mehr. Nach dem Freiherrlichen Taschenbuche wurde auch noch das Genealogische Taschenbuch der Gräflichen Häuser studirt, denn da lautete ein Artikel:

 

Stormarn.

(Im Mannesstamme erloschen.)

[Lutherisch. – Holsteinische Dynasten, schon um 1190 in Dithmarschen und auf Fünen erwähnt. – Schleswig-Holstein.]

† Emich Waldemar Graf von Stormarn, Herr von Nixmeer und Allfort (geb. 2. November 1855 zu Schleswig, † 13. August 1888, kgl. preuß. Rittmeister im Schleswig-holst. Husaren-Reg. Nr. 16), verm. 7. März 1880 mit

Mathilde Luise Gesina, geb. 10. November 1860 zu Flottbek, des Nikolaus Friedrich Freiherrn von Göhring zu Bernsloh und der Mathilde geb. de Katt Tochter.

Großvaters Schwester.

Armgart Eveline Franziska Luise Friederike, geb. 17. Juni 1818, Stiftsdame des adeligen Conventes zu Itzehoe, Dame des Luisen-Ordens, des † Grafen Knud Waldemar und der † Therese geb. v. Pelesky Tochter.


Was war doch die Baronin für eine glückliche Frau, daß sie unter den obwaltenden traurigen Verhältnissen wenigstens aus dem Gothaer Almanach ein bißchen Trost und Poesie zu schöpfen wußte! Ihr Schwager, der Senator, stand zwar schon jahrelang im Hofkalender, einmal unter den Mitgliedern des deutschen Bundesrathes, dann bei dem Artikel »Hamburg, Freie und Hansestadt«; doch was war das diplomatisch-statistische Jahrbuch des Hofkalenders gegen den freiherrlichen Almanach! Der erste und zweite Theil des Hofkalenders, das wäre noch etwas gewesen: die regierenden Häuser und die Standesherren; aber das statistische Jahrbuch, da hinein konnte ja jeder höhere Beamte kommen! Die Baronin genoß einen zufriedenen Nachmittag – hatte auch ein gewisses Recht dazu, denn die Zusammenstellung der genealogischen Vorbemerkungen über das freiherrliche Geschlecht Göhring entstammte ihrer eigenen Feder. Allerdings hatte die Firma Perthes in Gotha die Patente sorgfältig geprüft, aber die Redaction des Artikels fiel glücklicherweise recht aristokratisch aus.

Allmählich trat nun an die so hoch über ihre Mitmenschen erhobene Dame die Forderung heran, einige Partien aus den genealogischen Handbüchern auswendig zu lernen. Wenigstens von den holsteinschen Adelsfamilien mußte sie doch Bescheid wissen. So studirte sie denn mit eisernem Fleiße die Artikel Rantzau, Buchwald, Reventlow, Schimmelmann, Holstein, Baudissiu u. s. w. u. s. w., bis diese nützliche Beschäftigung durch das Erscheinen der Schwiegertochter und der Chanoinesse unterbrochen wurde.

»Es ist doch schon recht unfreundlich draußen,« meinte Dolores, nachdem sie ihren Shawl auf eine Stuhllehne geworfen hatte.

»Nur für die chasseurs ist das eine angenehme Saison. Schade, daß Sie keine Jagd haben können, chère baronne. Aber was studiren Sie denn da so eifrig?«

»Ich habe heut früh den neuesten Jahrgang des Perthesschen Almanachs erhalten.«

»Die ennuyantesten Bücher, die man sich denken kann, nicht wahr?«

Die Baronin sah die Chanoinesse erstaunt an, war aber klug genug, nichts zu antworten.

»Sagen Sie, baronne, wollten Sie nicht heute oder morgen nach Hamburg?«

»O Sie erinnern mich daran! Ich muß nothwendig für unser neues Haus auf dem Harvestehuder Weg Treppenläufer aussuchen, es ist wahr. Gut, ich fahre morgen früh mit dem 11 Uhr-Zug von Oldesloe.«

»Dann könnte ich Sie begleiten. Wenn Sie mich wirklich bis Weihnachten hier auf Bernsloh behalten wollen, so möchte ich mich etwas mit Lectüre versorgen. Die Tage sind schon kurz. Durch Ihre Güte habe ich zwar immer eine Partie Whist gehabt, aber es ist ein sacrifice für Sie und Dolores, je ne m'en deute point. Eine alte Frau derangirt jüngere Leute.«

»Sie fühlen sich nicht mehr so ungenirt und gemüthlich bei uns, Gräfin,« meinte die Baronin etwas piquirt.

»Ich mache keine Ceremonien, vous le savez. Da Sie den Gegenstand berühren, eh bien, Sie sind im letzten Jahre in extraordinärer Weise steif und cérémonieuse geworden, baronne – auch gegen mich …«

»Gnädige Gräfin, wir sind alle darauf bedacht, Ihnen in jeder Weise die zarteste Rücksicht angedeihen zu lassen. Ich wäre untröstlich, wenn Ihnen irgend jemand von den Meinigen Grund zur Klage gäbe.«

»O, ich klage nicht über einen manque d'égards. Sie nehmen nur zu viel Rücksicht auf mich. Es gab eine Zeit – bei Brewers und auch in der Familie Göhring – wo ich die drollige, aber gute ›Tante Stormarn‹ war. Da ging ich ein und aus wie zu Hause und fühlte mich wohl; bon Dieu, ich habe ja keine Seele mehr auf der Welt, seitdem meine Nichte Gertrud Hechtwitz nach Rußland heiratete und Waldemar todt ist!«

Die Baronin schüttelte unmuthig den Kopf. Solch weinerliche Scenen kamen bei der alten Dame in letzter Zeit häufig vor. Dolores tröstete die gute Chanoinesse, so gut sie konnte. Es gelang ihr aber nur halb.

»Wenn wenigstens Carlito, le petit dróle, hier wäre! Er sagt noch ›Tante Stormarn‹. Dolores, sind Sie eine hartherzige maman, warum lassen Sie den Knaben in Hamburg bei Senator Göhring wohnen?«

»Er muß doch zur Schule gehen!«

» Oui, je vois, vous avez raison.«

»Und dort kann er mit seinen Vettern spielen. Hier hat er keine Kameraden. Wenn mein Gatte von Guatemala zurückkommt, nehmen wir uns eine Wohnung in der Stadt. Dann besuchen Sie uns recht oft, Gräfin. Carlito hat seine Tante sehr lieb, Sie wissen es.«

» Oui, je le sais. Aber meine Tage sind gezählt, ma chérie, ich werde keine zwei Weihnachten mehr erleben – dann seid Ihr die alte Chanoinesse los.«

Die letzten Worte sprach die gute Dame bereits an der Thüre. Ohne eine Antwort zu vernehmen, begab sie sich auf ihr Zimmer, setzte sich dort an das Fenster und starrte lange auf den Park hinaus, den ihre Phantasie bald mit den Gestalten jener Menschen füllte, die sie seit mehr denn zwei Generationen gekannt und geliebt hatte.

Von einem Gemache jenseits des Corridors ertönte die Handglocke des kranken Freiherrn, der den lieben langen Tag in seinem Rollstuhle zubrachte.

Die Gräfin horchte auf und lauschte, bis sie vernahm, daß der bedauernswerthe Mann bedient wurde. Dann faltete sie ihre Hände und sprach leise vor sich hin: »Wie oft vergessen sie ihn doch – die nächsten Verwandten! Was helfen ihm seine Millionen? O mein Gott, nimm mich hinweg, ehe ich denen, die mich vielleicht noch lieben, so zur Last fallen muß. Oder liebt dich keiner mehr, Eveline? … Ja, er liebt dich zweifellos und gewiß, der dich so manches Jahr behütet hat, während er die Deinen rechts und links von deiner Seite vor sein Gericht rief! Du bist nicht einsam, nicht verlassen, denn der allezeit treue Gott ist dir im Alter geblieben. Vater unser, der du bist im Himmel!«

Mögen die Tage dunkler und dunkler werden, mag der Erdboden dem kommenden Winterschnee das Lager bereiten von knisternden Zweigen und falbem Blattlaub: mit dem Sturm, den Nebeln und Eiskrystallen nahet auch der Tag der Sonnenwende. Wohl beginnt nach diesem erst die echte, rechte Herrschaft des gestrengen Tyrannen; aber Muth! Er kann es nicht hindern, daß selbst unter seinem grausamen Scepter Tageslicht und Hoffnung wieder wachsen, dem Lenz entgegen, entgegen der Erfüllung des langen, ängstlich hoffenden Wintertraums.

Die Sonne verbirgt sich schon hinter dem nebligen Schleier, der, halb aus dem feuchten Boden, halb aus den Dämpfen des Weihers gebildet, den grauen Wolken entgegen zu wallen scheint. Gegen Abend fällt der erste Jahresschnee. In feinen, aber noch spärlichen Flocken rieselt es fast wie Regen hernieder, um auf der Erde sofort zu Wasser zu werden. Die Parkwege sind unangenehm feucht und nehmen eine häßliche, schmutzige Farbe an, die Rasen verlieren ihren Herz und Auge erquickenden Schimmer, die Enten und Schwäne am Teiche putzen ihr zerzaustes und zerwehtes Gefieder umsonst in der trübseligen Fluth. Ab und zu pfeift ein Windstoß über den melancholischen Weiher; dann gleitet der am Ufer festgekettete schwarze Kahn eine Strecke auf den Spiegel hinaus, soweit es die Fessel erlaubt; aber bald treibt er langsam und schwerfällig wieder heran und stößt mit einem Krach gegen die Landungsplanke, so daß die auf den Pfählen hockenden Krähen kreischend emporflattern.

In einem Parterrezimmer des Herrenhauses sitzt der gelähmte Gutsherr in seinem Stuhle. Einsam brennt die bronzene Lampe, einförmig tickt die Pendule aus Sevres-Porzellan auf dem Kamine, mißmuthig schaut das gelbe Antlitz des Kranken zum Plafond empor. Die Frau Baronin, so hat der Diener eben gemeldet, ist mit der Schneiderin beschäftigt, aber Frau Gräfin und Frau Baronin Dolores werden gleich zum Whist erscheinen. »Zünde ein Feuer an,« sagt der Freiherr, »es ist mir kalt.«

Der Diener macht sich am Kamin zu schaffen.

»Welches Datum ist heut?« fragt der Freiherr, der ihm zusieht.

»Der neunundzwanzigste, Herr Baron.«

»Schon? O, darum ist es so frostig.«

»In Flottbek haben wir nie vor Ende November geheizt,« wagte der alte Diener zu bemerken; »oft gar nicht, bis wir in die Stadt zogen.«

»Bernsloh ist kalt. Das Haus wenigstens.«

»Die Dienerschaft findet das auch, wenn Herr Dir … Herr Baron erlauben. Es wird so früh Winter. Seitdem der Theo – ich meine, der junge Herr Baron fort sind, haben wir keinen freundlichen Tag gehabt.«

»Wer hat meinen Sohn zur Bahn nach Oldesloe gefahren?«

»Jännicke, Herr Baron.«

»Hat er was gesagt?«

»Wer, Herr Baron?«

»Der Kutscher, Jännicke.«

Der Diener schaute seinen Herrn fragend an, da er ihn nicht verstand. Der Kranke murmelte etwas vor sich hin und schien keine Antwort mehr zu erwarten. Bald flackerte in dem Kamine ein angenehmes Feuer.

»Setzen Sie mir die Lampe näher!«

»Jawohl, Herr Baron.«

»Nein, so muß ich sie ja mit dem Arm umstoßen!«

»Sehr wohl, Herr Baron, ein bißchen weiter.«

»So kann ich nichts mehr sehen. – Nun stellen Sie den Whisttisch an die andere Seite … nein, weiter vor; so, das ist recht. Warum haben Sie mir keinen Wein gebracht?«

»Der Arzt hat Wein strenge verboten …«

»Was? Unsinn!«

»Jawohl, Herr Baron. Ich habe stricte Order.«

»Thun Sie, was ich Ihnen sage, verstanden? Mensch, hören Sie nicht auf die Doctoren und die Frauenzimmer! Stundenlang sitze ich hier allein in meinem Elende … und … und, marsch, holen Sie mir eine Flasche von dem alten Burgunder! Verstanden?«

»Sehr wohl, Herr Baron.«

»Und fragen Sie mich, ehe Sie auf das Geschwätz des Doctors hören!«



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