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Achtes Kapitel.
Im »Pennal«

Die Verlobung wurde am nächsten Morgen natürlich auch der Chanoinesse angezeigt. Daraufhin reiste die alte Dame stante pede von Itzehoe ab und traf noch am Nachmittag in Flottbek ein. Die Baronin erwartete, sie würde sich über Mathildens bürgerliche Verlobung entrüstet zeigen, aber nichts dergleichen war der Fall. Im Gegentheil, als die Braut in den Armen der guten Tante lag, flossen auf beiden Seiten die üblichen Thränen recht ungenirt, und die Stiftsdame erklärte dem Freiherrn in ihrer autoritativen Weise: »Diese fiançailles sind ein glückliches mélange von affection und bon sens.« Es fiel niemanden übel auf, daß die Chanoinesse sich wieder für einige Tage häuslich in Flottbek niederließ. Kam Carlito am Nachmittag aus der Schule, so begab er sich erst zur Mama, dann aber zur Chanoinesse, und gegen 5 Uhr pflegten die drei einen five o'clock afternoon tea in Dolores' Wohnzimmer einzunehmen. Als Theo aus Heidelberg anlangte, wurde er von dem seltsamen Kleeblatt als Vierter im Bunde anerkannt. Seine Schwester fand der Student sehr zu ihrem Vortheil verändert, mit seiner Mutter dagegen ließ sich kaum ein ruhiges Wort reden. Sie war immer beschäftigt, in Anspruch genommen, im Begriffe, dies zu besorgen und dorthin zu fahren. Das große Baronaldiner rückte heran. Auf demselben sollte Mathildens Verlobung officiell proclamirt werden. Bald nachher gedachte die Baronin nach Baden-Baden abzureisen. Im Herbst wollte man nach Bernsloh übersiedeln, zu Weihnachten die neue Stadtwohnung am Harvestehuder Weg beziehen. Auf dem Gute mußte noch manches umgebaut, in dem Winterheim fast alles neu decorirt und eingerichtet werden. So handelte es sich den ganzen Tag um Besuche machen, Briefe schreiben, Toiletten aussuchen und anprobiren, Möbel, Tapeten, Teppiche, Kronleuchter und Gemälde kaufen, Architekten, Baumeister und Handwerker engagiren und anweisen – kurz, die Chanoinesse hatte recht, wenn sie eines Morgens behauptete: »Deine Mutter scheint sich selber in ihren entreprises de mille façons abzulösen. Vis-à-vis diesem trouble, liebe Mathilde, würde ich mich an deiner Stelle bald mit Octavio über euern Hochzeitstag verständigen.«

»Olly sprach davon, ob es nicht schön wäre, wenn wir eine Doppelhochzeit hätten; Dr. Brewer ist für den November.«

» Une jolie idée, und – dann kann ich die fête noch mitmachen. Ich fürchte, nächstes Jahr klopft der Tod auch bei mir an, Mathilde.«

»Aber Tantchen! du bist ja noch ganz rüstig.«

»Aber schon lange ein ausrangirtes Meuble. Ich bin alt; ich will nicht steinalt werden. Ich habe ja schon deine Eltern auf dem Schoße gehabt, und Brewers auch, und … mon Dieu, ich habe früher nie geweint, je vous en assure, mon enfant! Warum denn jetzt? Ah, la nature s'épuise.«

Und die alte Dame fing an wie ein Kind zu schluchzen, bis Theodor und Carlito ins Zimmer traten. Da hellte sich sofort ihr Blick auf.

»Tante Eveline,« rief Carlito, »hast du schon gefrühstückt?«

»Winter und Sommer à sept heures précisément. Mais pourquoi?«

»Wir haben einen griesigen Jux vor …«

»Carlito, mon cher, welche burschikosen Ausdrücke!«

»Mm, Tante Eveline, ich muß nämlich um 9 Uhr im Gymnasium sein. Nun will Mama auch zur Stadt, und Theo will uns mit dem Jagdwagen hineinfahren. Wenn du dich schnell anziehst und nicht lange herumnörgelst, kannst du mit.«

» Galant und brusque in einem Athem, Carlito! Und dann: eine alte Stiftsdame auf einem Jagdwagen durch Altona und Hamburg fahren!«

»Das geht nicht,« bestätigte Mathilde.

»Daran habe ich nicht gedacht,« sagte Carlito traurig; »es wäre aber so spaßig, wenn du mitführest.«

Die Chanoinesse schüttelte den Kopf: » Impossible, wenn du keinen bessern Plan hast.«

Theodor schlug vor: »Wir nehmen statt des Jagdwagens die alte Chaise. Der Gärtner kann den Kutscher machen, da Emil mit dem Landauer für Mama dableiben muß. Wir setzen Carlito dann beim Gymnasium ab und frühstücken um 12 Uhr bei Senators auf dem Glockengießerwall. Um 2 Uhr holen wir Carlito wieder ab und fahren heim.«

»Das klingt raisonnable, Theodor.«

»Also komm,« drängte Carlito, »in zehn Minuten mußt du fertig sein!«

» Eh bien, mes enfants. Allons!«

Mathilde wollte nun auch bei Senators frühstücken. Sie konnte, da man die Chaise nahm, ganz gut mitfahren – Carlito mußte dann auf den Bock.

Nach einer Viertelstunde rollte der Wagen auf der Elbchaussee dahin. Als man beim Nobisthor war, schlug es schon ¾9 Uhr.

»Ich komme zu spät,« jammerte Carlito vom Bocke herunter, »und dann läßt der Canarienvogel mich brummen.«

»Der Canarienvogel?« fragten die Damen.

»Ach ja, mein Ordinarius. Er trägt im Sommer immer einen gelben Anzug, darum nennen wir ihn so. Er hat mich so wie so schon auf dem Strich, weil ich ein ›Römling‹ bin, wie er sagt.«

Theodor, welcher ein ehemaliger Schüler desselben Gymnasiums war, versprach mitzukommen und Carlito selbst zu entschuldigen, worauf sich der Sextaner beruhigte.

Es war entsetzlich heiß in den engen Straßen der belebten Stadt. Wehmüthig schaute Theo zu den Fenstern der Angelsächsischen Bank hinauf, als sie dort vorbeifuhren. Da oben war er geboren und hatte er seine Kinderjahre verlebt. Wie einfach, wie gemüthlich … diese hohen, halbdunkeln Zimmer! Wie weit schien die Knabenzeit bereits hinter ihm zu liegen! Nie war Theo eigentlich glücklich und froh gewesen, aber doch zufriedener als jetzt bei all der Vornehmthuerei und inmitten des gesellschaftlichen Trubels. Und Hans lebte damals noch … ja, Hans! Wen hatte er jetzt zum Vertrauten? Sechow? Seit fast vierzehn Tagen war jede Spur von dem Doctor verloren. Kein Brief, kein Lebenszeichen von ihm, keine Andeutung, wo er etwa weilen mochte.

Dann ging es über den Adolfsplatz, an der Börse vorbei: der Geburtsstätte der großen Vermögen mit ihren unsichern Freuden und unvermeidlichen Leiden; der Pflanzschule der heimatlichen Größe, das Centrum einer der bedeutendsten, weitest reichenden Handelssphären in der Welt; einer Arena, in der sich Einfluß, ehrlicher Fleiß und Gemeinsinn mit raffinirter Verlogenheit, waghalsiger Speculation und gewissenlosem Egoismus messen müssen, um einen Namen, eine Stellung, einen Antheil an den Gütern dieser Erde zu gewinnen, um ganze Familien zu erhalten und zu heben oder den Kreis der Freunde und der Lieben mit hinabzuziehen bei dem plötzlichen Sturz in die Tiefe der Armut.

Weiter die Johannisstraße, dann der große Platz mit dem neuen Rathhause, wo die Väter der Stadt über das Wohl und Wehe der fleißigen Bürger beschließen, immer rührig, immer thätig, vielleicht hier und da kurzsichtig gegenüber den idealen, religiösen Interessen, aber doch noch die Erben und Vertheidiger des kosmopolitischen Geistes, der unternehmenden Intelligenz, des ruhig würdevollen Deutschthums, der praktischen Lebensweisheit der guten, alten Hammonia.

Durch die Rathhausstraße geht es zur altehrwürdigen Petrikirche mit ihrem schlanken, spitzen Himmelsfinger. Der Haupttheil des Gebäudes stammt noch aus der Zeit der Glaubenseinheit. Das Gotteshaus hat die Spaltung der Herde erlebt: dient es der Wahrheit oder dem Irrthum? Denn ein Glaube kann nur der von dem Stifter des Christenthums gewollte sein; alle andern Systeme sind von denen gewollt, die Christus mißverstanden oder verworfen haben. In der Petrikirche wurde Theo vor acht Jahren confirmirt. Seitdem hat er sie nur einmal wieder betreten, gelegentlich einer Trauungsfeier, der er beiwohnte. Merkwürdig! Theo kommt der Gedanke, ob nicht der Name der Kirche an jenen Petrus erinnere, dessen Nachfolger zu sein noch jetzt die römischen Päpste sich rühmen. Warum doch ward die Einheit zerstört? Hätte man nicht die Mißbräuche heben können, ohne die Kirchen zu trennen? Waren wirklich die vielen Millionen Christen im Unrecht, die bei der römischen Kirche bis auf diesen Tag verblieben?

Der Wagen hielt vor dem Porticus der Gelehrtenschule. Theo stieg mit Carlito aus und befahl dem Kutscher, die drei Damen nach Senator Göhrings Wohnung zu fahren.

Genau wie in frühern Jahren stand der Pedell Möller vor dem Eingange zum linken Gebäudeflügel, die Hände mit dem Schlüsselbunde auf dem Rücken und grimmig den Eindringlingen entgegenschauend, die es wagten, nach Anfang des Unterrichtes die gußeiserne Thüre zu dem Säulengange erknarren zu lassen. Aber als sein Blick auf Theo fiel, heiterte sich seine Cerberusmiene auf, denn als Schüler des Johanneums hatte Theo immer ein hübsches Weihnachtsdouceur für Herrn Möller bereit gehabt. Er grüßte den Herrn Baron so devot und manierlich, daß Carlitos Sextanerherz ganz stolz wurde; denn bei Herrn Möller gelten die Knaben bis Untertertia inclusive nicht viel mehr als die Mücken im Juli, was zur Folge hatte, daß sie von den dicken Händen des Pedells fortwährend geklatscht wurden, wo immer sie Se. Gestrengen umschwärmten. Carlito fühlte, daß er um seines Onkels Theo willen künftig bei Herrn Möller besser angeschrieben sein würde, und er beschloß, seinen Freund und Vetter Cäsar Göhring an diesem Bene theilnehmen zu lassen.

Theodor wechselte einige freundliche Worte mit dem Pedell und versprach sodann, später noch Frau Möller im Souterrain besuchen zu wollen. Vorerst möchte er bei dem Herrn Director angemeldet werden, und zwar sofort, da er nicht viel Zeit habe. Bei diesem Zusatze dachte Carlito, was doch so ein Universitätsstudent für ein olympisches Wesen sein müsse, daß er ganz frei und furchtlos vor das Angesicht des Schulmonarchen geführt zu werden verlange.

Ohne das geringste Zeichen von Beklommenheit – man denke nur! – folgte Theo Herrn Möller den langen Gang hinunter an das Zimmer Sr. pädagogischen Majestät. Carlito ging mit. Er war durchaus kein Hasenfuß, aber die Nähe des gewaltigen Lenkers des gymnasialen Mikrokosmus hat für solche Infusorien, wie es Sextaner nun einmal sind, immer etwas Ueberwältigendes.

»'rein!« rief Serenissimus.

»Bitte, Herr Baron,« sagte Möller und öffnete die Pforte des Heiligthums. Theo schob seinen Neffen vor sich hinein. Da stand der Student denn wieder in dem Tempel der Autorität, von dessen Wänden die Oelgemälde der frühern Potentaten so gebieterisch auf die nichtsnutzige, verderbte Jugend unserer Tage herabschauten. Der Pedell zog sich zurück. Vor einem mit Büchern und Papieren bedeckten Tische saß ein kräftig gebauter, wohlbeleibter, selbstverständlich bebrillter Herr, der zuerst den Kopf etwa 30 bis 45° nach rechts drehte und sich dann majestätisch erhob: »Ah … Herr Studiosus von Göhring – oder muß man schon Herr Doctor sagen?«

»Nein, Herr Director. So weit sind wir noch nicht. Ich freue mich, daß Sie mich wieder erkennen …«

»Möller hat mir gesagt, wer der Besuch sei. Uebrigens rectorem memorem esse oportet Muß ein Rector ein gutes Gedächtnis haben.. Soooäh! Na, wie geht es denn? Nehmen Sie Platz!«

Carlito war ganz erstaunt: im Zimmer des Monarchen »Platz nehmen!« Aber Onkel Theo schien das ganz natürlich zu finden. Er setzte sich sofort in einen Stuhl und wagte sogar, seinen Hut auf das sacrosancte grüne Tuch des directorialen Büchertisches zu legen. Dann begann er ungenirt: »Herr Director, ich wollte Ihnen gern einmal meine Aufwartung machen …«

»Das ist sehr hübsch und freundlich von Ihnen, Herr von Göhring.«

»Zuvor möchte ich Sie bitten, meinen Neffen Carlito zu entschuldigen, der meinethalben zu spät in die Klasse kommt. Er ist bange, daß sein Ordinarius ihn nachsitzen läßt.«

Carlito dachte: Jetzt treffen die Donnerkeile Jupiters entweder mich oder Onkel Theo. Aber es wetterleuchtete nicht einmal. Der Herrscher im Donnergewölk legte nur die väterliche Rechte auf die Schulter des Sextaners und sagte mit ambrosischem Lächeln: »Na, das holst du wieder ein, Göhring. Geh nur in deine Klasse und sage, du seist schon bei mir gewesen. So, ist gut, geh nur.«

Noch nie war Carlito so triumphirend in die Klasse eingezogen.

Doctor Knüppler legte zwar sofort bei seinem Eintritt los: »Aha! Kommst du auch einmal? Merkwürdig, Göhring, deinem Vetter Cäsar passirt das nie. Habt ihr nicht Pferd und Wagen, wie? Also keine Entschuldigung. Primus! Kriechmann! Nimm das Klassenbuch und schreib ein: Göhring II eine halbe Stunde …«

»Entschuldigen Sie, Herr Doctor …«

»Ich schicke dich zum Director, wenn du renitent bist …«

»Ich komme gerade von Herrn Director.«

»So, hat er dich erwischt?«

»Nein, mein Onkel Theo, der ein Universitätsstudent ist, hat mich gebracht, und der Herr Director hat gesagt, ich solle nur sagen, daß er gesagt hätte …«

Die Sexta war bereits am Kichern.

»Was hat er gesagt?« donnerte Knüppler.

»Daß es gut sei, soll ich sagen.«

»Warum hast du das nicht gleich gesagt? Setz dich auf deinen Platz! Kriechmann, dieses Mal laß noch die Bemerkung im Klassenbuche. Nebelmüller, laß dein dummes Lachen! Schmidt: Genetivus pluralis von … gens!!!«

» Gentum.«

»Nicht repetirt, setz dich! Bösewill: Genetivus pluralis«

» Gentorum.«

»Setz dich! Rabener! Weiß nichts. Kaspary? Nichts angesehen. Wilms? Natürlich. Göhring I?«

» Gentium.«

»Brav, Cäsar! Setz dich über diese Stricke.«

Cäsar that es, vergaß aber den unter der Bank geöffneten Ellendt-Seyffert, so daß nun Wilms im Vortheil war. Knüppler repetirte Dinge, die man unmöglich wissen konnte, und Carlito dachte, ob wohl Onkel Theo auch das alles habe durchmachen müssen. Der hübsche und zarte Junge war sehr empfindsam und hatte vor dem nervösen Ordinarius heillosen Respekt, zumal letzterer ihn oft in einer Anwandlung culturkämpferischer Schneidigkeit wegen seiner Confession angriff, obwohl der Director den Magister deswegen wiederholt gerügt hatte. Cäsar, der Sohn des Hamburger Senators, galt dagegen alles bei Dr. Knüppler; denn so ein Senator konnte am Ende einmal Chef der Oberschulbehörde werden.

Theo erzählte unterdessen dem Director von der Universität, soviel er für gut fand. Serenissimus fragte ihn: »Wollen Sie denn eigentlich Anwalt oder Richter werden, oder was ist sonst der Zweck Ihres Studiums der Jurisprudenz?«

»Ich denke die Jurisprudenz an den Nagel zu hängen …«

»Wie? Umsatteln?«

»Ja, ich habe keinen Beruf zum Juristen, Herr Director. Man sagt mir aber, ich besäße genügendes Talent zum Maler.«

»Eine brodlose Kunst. Na, wenn Sie den Beruf in sich fühlen, gut, gut. Ich bin nicht dafür, junge Leute gegen ihren Willen zu irgend einem Berufe zu zwingen. Ich bin zuviel Pädagoge dazu! Quoquo fert quemque cupido Wohin nur jeden die Begierde trägt.. Und Sie haben einen reichen Vater.«

»Gerade mit dem habe ich noch Schwierigkeiten. Ich kann ihn nicht überzeugen, daß die Kunst meine Lebensbestimmung ist.«

Tröstend sagte der Director, der im Grunde ein wohlwollender Gebieter war: »Vielleicht ist der Herr Papa mehr ein Freund der Minerva oder des Mercurius als gerade der Musen. Sehen Sie zu, was Sie durch gute Gründe erreichen können. Ich sollte in meiner Jugend auch absolut kein Philologe werden. Aber ich fühlte, daß meine Ideale schließlich doch triumphiren müßten. Die Vorsehung gibt uns nicht umsonst Neigungen und Talente. Iustum et tenacem propositi virum Den Biedermann, der seinem Entschlusse treu. – Sie erinnern sich ja an Flaccus; gerade lese ich ihn wieder mit den Primanern – die Oden nämlich. Sie hatten dieselben einst gern bei mir, nicht wahr?«

Ehrlich versetzte Theo: »Gewiß, Herr Director. Aber die Satiren hatte ich lieber. Da war doch das Leben geschildert, wie es ist. Ich dachte oft an ein Dictum, das man dem seligen Bürgermeister Prätorius zuschrieb: ›Leben lehrt leben.‹«

»Sie waren schon als Gymnasiast aufmerksam geworden auf die Verkommenheit der Zeit. Sie lasen damals privatim Juvenal, Martial und Persius.«

»Sie haben ein excellentes Gedächtniß, Herr Director.«

Serenissimus lächelte huldvoll: »Und Sie waren ein guter Schüler. Nur ab und zu ein arger Träumer. Haben Sie denn schon eine Braut? Ich habe noch nichts gehört.«

»O nein, ich denke noch nicht an solche Dinge. Uebrigens – wie sind Sie mit meinem kleinen Neffen Carlito zufrieden?«

»Nun, in den untern Klassen muß ich mich auf die Berichte der Ordinarien verlassen. Relata refero Ich erzähle Erzähltes.: gut, gut, er macht sich gut, der Junge. Er ist klug und fleißig. Akribie kann man natürlich noch nicht in tironibus Bei ABC-Schützen. verlangen. Schade, daß er katholisch ist.«

Theodor sah den Director fragend an.

»Darf ich ganz offen sein? Sie kennen mich lange genug, um zu wissen, daß ich kein Hetzer bin. Sein Vetter Cäsar wird ihm als Lutheraner zuvorkommen, in der Schule und im Leben. Ihre Familie ist zwar hochgebildet, Herr von Göhring, aber ich neige zu der Ansicht: die katholischen Principien bekennen nicht die Freiheit der Wissenschaft. Ich bin kein Culturkämpfer, kein Fanatiker, glauben Sie mir! Ich habe nie etwas persönlich gegen irgend einen Katholiken gehabt. Ich würde mich schämen. Die Katholiken empfangen nun aber ihre Parole von Rom, und die Philosophie Roms ist durchsäuert von den Principien clerikaler Interessenpolitik. Die Katholiken erblicken ihr Ziel in der andern Welt und sind für den Fortschritt im Diesseits so gut wie verloren.«

»Unsere protestantische Kirche läßt aber allmählich gar nichts Uebernatürliches mehr gelten!«

»Was wollen Sie mit dem Uebernatürlichen? Cui bono? Zu welchem Zweck? Studiren Sie die Natur und lernen Sie von ihr, wie Sie zu handeln und zu denken haben.«

»Die Natur, so scheint mir, stellt oft Forderungen an den Menschen, besonders den niedern, denen wir widerstehen müssen, wenn wir moralisch handeln wollen.«

»Natürlich! Aber dazu haben wir die Vernunft. Die Vernunft controllirt die Leidenschaften.«

»Pardon – das scheint mir ein circulus vitiosus Kreis- oder Trugschluß. zu sein.«

»Wieso circulus vitiosus?«

»Die Vernunft soll der Natur als ihrer Lehrmeisterin folgen und dennoch Autorität über die Natur ausüben.«

»Nun ja, ich spreche – im letztern Falle nämlich – nicht von der Vernunft des Individuums, des einzelnen Menschen, sondern von der Gesamtvernunft. Was die normal entwickelte Menschheit als solche richtig erkennt, das ist moralisch.«

»Und wie soll nun der Einzelne entscheiden, welcher Theil der sich über die wichtigsten Fragen streitenden Menschheit der ›normal entwickelte‹ ist? Wir befinden uns in einem fortwährenden Zirkel.«

Der Schulmonarch, welcher übrigens in seinem Amte ein Mann von großem Verdienst und praktischem Blick war, schlug mit seinem langen Bismarck-Bleistift in die flache linke Hand und rief ein wenig ärgerlich: »Mit Ihrem Zirkel! Sie haben eine ganz pessimistische Idee von der Menschheit, wenn Sie die Thatsache der Gesamtvernunft läugnen. Geraden Weges rennen Sie in den Skepticismus oder den Pessimismus hinein. Oder sehen Sie einen Ausweg?«

»Wenn es eine Autorität gäbe, die, über der natürlichen Vernunft stehend, uns die richtigen Schlüsse der letztem zeigte und uns vor den Trugschlüssen warnte, dann wäre geholfen.«

»Herr Studiosus von Göhring, das ist ein katholisches Princip!«

»Katholisch oder nicht katholisch – es scheint mir vernünftig. Ich habe letzthin über derartige Fragen des öftern nachgedacht: inmitten der heutigen Confusion der Meinungen muß es eine Autorität geben, welche uns die Wahrheit von dem Irrthum sichtet, wenigstens in Bezug auf die wesentlichen Lebensfragen. Die Geister sind uneins in fast allen Dingen von ethischer Bedeutung, und doch kann die Wahrheit nur eine sein. Ich meine daher so, Herr Director: Entweder hat die Vorsehung uns einen natürlichen Trieb, die Wahrheit zu erkennen, zwar gegeben, aber dazu gar kein Mittel, diesen Trieb sicher zu befriedigen – oder sie hat uns ein solches Mittel geschaffen.«

»Na, und was soll denn aus dieser Disjunction folgen?«

»Im erstem Falle hätte die Vorsehung unvernünftig gehandelt.«

»Das will ich Ihnen vorläufig mal concediren.«

»Im andern Falle muß jenes vorhandene Mittel über der Vernunft stehen; denn diese Autorität soll ja über Wahrheit und Irrthum im Gebrauche der Vernunft entscheiden. Der Richter steht über den Parteien.«

»Bitte: nur Vernunft kann über Vernunft entscheiden!«

»Ganz recht, Herr Director. Die Vernunft, über deren Recht entschieden wird, ist unsere menschliche Vernunft. Die richtende aber ist die göttliche Vernunft, die sich der Menschheit irgendwie vernehmlich machen, historisch offenbaren muß.«

»Vollständig katholische Principien! Wo haben Sie denn so etwas nur gehört?«

»Nirgendwo. Ich habe mir die Sache selbst in dieser Weise zurecht gelegt, Herr Director, ohne eine Ahnung zu haben, daß etwas so eminent Vernünftiges katholisch sei.«

»Nehmen Sie mir's nicht übel, wenn ich Sie als Ihr alter Lehrer warne: diese Rechnung ist das katholische Einmaleins. Sie werfen sich und Ihren Verstand weg.«

»Aber widerlegen Sie mein Räsonnement …«

»Sie besuchen mich ein anderes Mal, Herr von Göhring; Amtsgeschäfte rufen mich ab, wenn es läutet. Wollen Sie noch andere Ihrer alten Lehrer besuchen? In der Pause finden Sie Professor Drescher – leider ist er noch immer thätig – und Ihren Freund, Dr. Ehrlich, auf dem Klassenhofe … so? Da läutet's schon?«

Theo erhob sich: »Ich will nicht länger stören, Herr Director!«

»Ich danke Ihnen für Ihre Anhänglichkeit. So etwas thut immer wohl. Wir Gymnasiallehrer werden ja hier in Hamburg ausgezeichnet besoldet; aber leider haben wir so gut wie gar keinen Zutritt zur bessern Gesellschaft. Die Hamburger Familien sind sehr exclusiv. In Preußen ist das ganz anders. Sie müssen noch mal wiederkommen, wenn ich mehr Zeit habe. Ich bin selten laxatus curis Der Sorgen ledig., und so wichtige Dinge wollen doch vacuo pectore Mit freiem Kopf. behandelt werden! Rem tibi Socraticae poterunt ostendere chartae Die Sache werden dir die Schriften des Sokrates erklären können.: widmen Sie sich nur soliden philosophischen Studien; Sie haben ganz recht: das positive Wissen allein hilft uns nicht durch die Welt.«

Nach einigen weitern Höflichkeiten geleitete Serenissimus seinen Gast an die Thüre, und Theo wunderte sich draußen, wie der Herr Director ehemals in der Religionsstunde so ganz anders geredet hatte. Sein Pessimismus entdeckte wieder einen Beweis für die Heuchelei der Welt, und was war denn auch von der erzogenen Menschheit zu hoffen, wenn ihre Erzieher anders dachten, als sie lehrten? Hatte nicht der Schulmonarch noch officiell bei der Abiturientenentlassung gepredigt: »Darum bewahren Sie die christliche Offenbarung wie ein kostbares Juwel, das Sie nicht für die Schätze der ganzen Welt sich entreißen lassen. Seien Sie überall und allezeit christliche Männer, die muthig den guten Kampf des Glaubens kämpfen gegen die Sophismen, die Sittenlosigkeit und den Eigendünkel unserer wissenschaftlich so großen, aber moralisch kläglichen, liliputanischen Zeit u. s. w.?«

War das alles also nur Phrase gewesen? oder hatte der Mann seine Ansichten geändert? Theo kannte einerseits von früher die noble Haltung seines ehemaligen Schuldirectors, auf der andern Seite war er aber auch allzu leicht geneigt, die Menschen in seiner pessimistischen Weltanschauung für Heuchler zu halten. Er war noch zu jung, um die Schwierigkeiten zu begreifen, in denen sich Leute befinden, welche in ihrer öffentlichen Stellung dem Zeitgeist Rechnung tragen zu müssen glauben. Der gute Director verwaltete einen schwierigen Posten; denn der officielle Wind wehte nicht aus dem Lager des orthodoxen Lutherthums.

Im Corridor traf Theo auf seinen alten Ordinarius von Obersecunda bis Prima. »O Herr Professor! Professor Drescher!«

»Jaaa? Aber nu! Ja, wirklich: Theodor Göhring!«

»Jawohl, Herr Professor. Ich bin zu Besuch bei meinen Eltern.«

»Aber nu! Auf Ferien? Wirklich? Wo studiren Sie denn?«

»Bis jetzt in Heidelberg.«

»In dem schönen Heidelberg? Wirklich? Und was?«

»Bis jetzt Rechte.«

»Aber nu! Rechtsverdreher wollen Sie werden?«

»Bis jetzt habe ich freilich nicht viel studirt. Ich war im Corps …«

»Ganz recht, ganz recht. Im Corps? In welchem Corps?«

»Vangionia, Herr Professor.«

»Wirklich? Sehr flotte Leute, habe ich gehört. Nu ja, die Jugend will das Leben genießen. So, so! am anmuthigen Neckar! Die Gegend ist schön, der Wein gut und – die Mädel hübsch. Haben Sie das nicht auch gefunden, Herr Studiosus?«

Theo ärgerte sich über das faunische Lächeln und den widerwärtigen Blick des bereits ergrauten Mannes. Er antwortete nur: »Ich kümmere mich nicht viel um das letztere. Die Gegend, da haben Sie recht, ist sehr anmuthig.«

»Aber nu! Sie wollen mir nichts von Ihren interessanten Amores verrathen. Nu, Sie sind kein Secundaner mehr. Ich war auch mal Student. Ovid sagt in der › Ars amandi‹ von gewissen Liaisons …«

»Ach, Herr Professor, ich gebe mich mit solchen Dingen nicht ab. Gerade wegen gewisser Excesse, die bei den Corps fast mit zur officiellen Tagesordnung gehören, bin ich wieder aus der Vangionia ausgetreten …«

»Nee, nee, nee! Komm, komm! Wirklich? Sind Sie so? Doch kein Duckmäuser, Theodor? Als ich in Ihrem Alter war …«

»Verzeihen Sie, Herr Professor, ich sehe da auf dem Hofe gerade Dr. Ehrlich, meinen alten Geschichtslehrer – den muß ich doch auch begrüßen.«

Er suchte sich schnell von Drescher loszumachen, den er nie recht hatte leiden können, weil er die heidnischen Autoren oft in geradezu cynischer Weise vor den Jünglingen interpretirte. Der Professor blieb kopfschüttelnd stehen, schaute Theodor nach und ging dann in das Sagehornsche Café hinter der Petrikirche, um daselbst die nächste Freistunde hinter seinem Stammschoppen zu verbringen. Seine Collegen runzelten die Stirnen, als sie ihn eintreten sahen.

Dr. Ehrlich freute sich aufrichtig, Theo wiederzusehen. Während der ganzen Pause wanderte er in dem Klassenhofe mit ihm den für die Lehrer reservirten Mittelgang auf und ab, welchen die Schüler die via sacra Die heilige Straße. nannten, weil man da nicht hinüberstürmen und noch viel weniger den Professoren beim Jäger- und Hundspielen auf die Hühneraugen laufen durfte. Cäsar und Carlito hatten bereits eine Menge Kameraden auf den interessanten Besuch aufmerksam gemacht. Die ältern Gymnasiasten blickten neidisch, die kleinern bewundernd zur Via Sacra hinüber, wo der Universitätsstudent ganz ungenirt mit Professoren und Oberlehrern lachte und scherzte. Selbst die Statue des alten Bugenhagen verlor an Würde – so imponirend erschien neben ihr Theodor, der ehemalige »Johanniter«, der jetzigen Pennälergeneration.

Leider hatte Dr. Ehrlich nach der Pause Geschichte in Unterprima.

»Ich möchte ganz gern noch einmal wieder zuhören,« meinte Theo.

Bescheiden wehrte der kleine Herr mit der magern Hand ab: »Auf der Universität haben Sie viel gelehrtere Professoren.«

»Für eines bin ich Ihnen besonders dankbar. Sie haben in der Geschichte immer den Grundsatz empfohlen: Audiatur et altera pars.« Man soll auch die andere Seite hören.

»O das ist nicht mein Grundsatz; als ob ich ihn entdeckt hätte!«

»Ich weiß, Herr Doctor. Aber Sie haben uns immer und immer wieder empfohlen, bei Controversen, z. B. in der Reformationsgeschichte, beide Parteien zu hören, um vorurtheilsfrei urtheilen zu können.«

»Wenn Sie weiter nichts bei mir gelernt hätten als dies, so wäre das freilich schon ein kleiner Gewinn …«

»O ein großer, Herr Doctor!«

»Nu, schon wahr. Sehen Sie: mancher ist z. B. so weit gegangen und hat Janssens Geschichte des deutschen Volkes studirt, um einmal zu hören, was eigentlich katholische Gelehrte über Luther und die ganze Bewegung sagen. Wenn man sich über das Resultat ärgert, so greift man auch natürlich zu den protestantischen Kritikern Janssens. Aber dann ist's auch alle. Janssens Wort ›an meine Kritiker‹ oder gar sein ›zweites Wort‹ verfolgt man nicht mehr. Und doch – da man einmal angefangen – sollte man die Controverse von A bis Z studiren; sonst darf man sich gar kein Urtheil erlauben. Die Wissenschaft muß lauter sein wie ein Krystallquell. Ist das nicht wahr?«

»Ich höre meinen guten Doctor Ehrlich wieder reden wie ehedem in der Unterprima.«

»Sie haben immer recht gut bei mir aufgepaßt, Theodor – ich sage noch ›Theodor‹, wenn Sie erlauben! – Nur zu Zeiten hatten Sie eine melancholische Periode und träumten. Das haben alle Ihre Lehrer bemerkt. Nun, jetzt wird der verständige Genuß aller erlaubten Freuden der schönen Gotteswelt einen andern Menschen aus Ihnen gemacht haben!«

»Doch nicht so ganz, Herr Doctor. Ich bin oft melancholisch, und ich fürchte sogar: Pessimist!«

»Ach, was, was, was! Als Knabe waren Sie eher Romantiker!«

»Mag sein.«

»Studiren Sie rechtschaffen, Theodor, mit der Absicht, überall und stets der Wahrheit die Ehre zu geben, selbst wenn Sie liebgewordenen Ideen und eingewurzelten Vorurtheilen den Hals umdrehen müßten. Das Bewußtsein, immer gut Freund mit der Wahrheit zu sein, muß Sie heiter und glücklich machen.«

»Aber um mich her ist vielleicht so viel Lüge, Heuchelei und Lächerlichkeit …«

»O, o! Wir sehen vielfach die Fehler anderer und vergessen unsere eigenen. Aber es hat schon geläutet, Theodor! Pflicht geht vor Vergnügen. Adieu – hat mich aufrichtig gefreut! Besuchen Sie mich mal, d. h. wenn Sie Zeit übrig haben für einen trockenen Magister. Ich wohne noch immer in Borgfelde. Sie erinnern sich wohl. Adieu, Gott geleite Sie durchs Leben!«

Braver Mann! dachte Theo, als Dr. Ehrlich forteilte. Er suchte dann noch Frau Möller auf, die ihm früher so manches Loch geflickt, bei nassem Wetter trockene Strümpfe besorgt und in der »großen Pause« um 12 Uhr recht saftige Beefsteaks mit Eiern bereitet hatte. Geduldig hörte er die Biographien von Hanna, Peter, Heinrich, Karl und das lange Kapitel von der Zahnentwicklung des Babys Männe an und ließ dann ein kleines Geschenk für die fleißige Frau auf dem Tische zurück.

Es war 11 Uhr geworden. Zum Frühstück bei Onkel Senator kam Theo also noch zu früh. Was thun? Er beschloß, in der nahen Paulsstraße den Pastor Turner zu besuchen, der ihm seiner Zeit Confirmationsstunden ertheilt hatte. Ohnehin wollte er sich von einem Theologen über einige Fragen Aufschluß geben lassen, die ihm seit der Fahrt nach Speier unaufhörlich durch den Kopf gingen.



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