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Neuntes Kapitel.
Elastisches Christenthum

Pastor Turner, der berühmte Prediger, von welchem die Damen behaupteten, er habe einen »Christuskopf«, war noch vor einigen Jahren ein Anhänger der seichten Aufklärungsmoral gewesen und hatte in öffentlichen Vorträgen sogar die Gottheit des Erlösers bekämpft. Allmählich wandte er sich jedoch der innerlichen Richtung zu, und obschon er noch lange nicht »orthodox« genannt werden konnte, hofften doch die Vertreter des altgläubigen Lutherthums, welches unter den Predigern Hamburgs immer noch einige wirklich fromme und geistreiche Apostel zählt, ihn dereinst für ihre gute Sache gewinnen zu können. Turner hatte den Fanatismus des Freidenkers längst abgestreift. Das Uebergangsstadium, in welchem seine Seele sich befand, machte es auch begreiflich, daß der Pastor die üblichen Vorurtheile gegen Rom immer wieder aufs Tapet brachte, sobald er mit irgend etwas Katholischem in Berührung kam. Er sah, daß es mit dem Rationalismus nicht so weiter ging; aber seine Redeweise war noch immer echt rationalistisch, wenn er in eine religiöse Discussion hineingezogen wurde. So sprach er denn oft anders als er fühlte, und da er dieses selbst erkannte, befand er sich leicht in gereizter und mißmuthiger Stimmung. Dazu kam, daß er unglücklich verheiratet war. Seine Frau gehörte leider nicht zu jenen vortrefflichen Pastorinnen, die sich mit wahrhaft christlicher Opferliebe der Armen und Kranken erinnern und so gewissermaßen an der protestantischen Seelsorge theilnehmen. Turner beneidete manche seiner Amtsbrüder um ihr häusliches Glück und ihre wohlgerathenen Kinder, und wenn er dann an die Verhältnisse der eigenen Familie dachte, stellte er sich wohl die Frage, ob es nicht besser für den Diener des Evangeliums wäre, nach Pauli Wort nur Gott zu gehören und aller weltlichen Sorgen frei und ledig zu bleiben. In trüben Stunden trösteten ihn dann ein wenig die schönen Verse Funks aus dem frommen Hamburgischen Gesangbuche:

»Wie ist mein Herz so fern von dir,
Von dir, du Quell des Lebens!
Mein Geist bekümmert sich in mir,
Sucht Ruh', und sucht vergebens.
Verlaß mich, Gott, mein Vater, nicht!
Verbirg mir nicht dein Angesicht,
Du aller Geister Wonne!

»Ringsum ist Dunkelheit um mich.
Wie strebt mein Geist mit Beben
Nach Licht und Trost, und ängstet sich!
Doch fruchtlos ist sein Streben.
Der Sünden täglich neuer Streit,
Die Bürde meiner Sterblichkeit
Beugt in den Staub mich nieder.

»Ich bin zu schwach, aus eigner Macht
Zu dir mich aufzuschwingen;
Zu schwach, durch diese dunkle Nacht
Der Anfechtung zu dringen.
Wirst du nicht meine Stärke sein.
Wo find' ich Trost? Zu dir allein,
O Gott, steht mein Vertrauen.«

Bisweilen suchte Turner auch Trost im Studium oder im Spiel mit seinen Kindern. Er war jedoch so nervös geworden, daß jede Störung zu solcher Zeit ihn gewaltig aufbrachte. So gern er sich der persönlichen Seelsorge unter seinen Pfarrkindern angenommen hätte: wenn sie im unrechten Augenblicke bei ihm Trost suchten, fanden sie ihn kalt und sogar barsch. Turner führte dann eine Sprache, die nichts davon verrieth, daß er im Herzen doch christlich fühlte. Er hatte eben Furcht vor seiner Vergangenheit, vor der Zukunft, vor sich selbst und ganz besonders vor seinen Freunden in der Stadt, die ihn als den Führer des Freidenkerthums schätzten und feierten. Die offene Umkehr erschien ihm zu schwer, fast als ein Ding der Unmöglichkeit.

Und dabei hatte ihm neulich nach einer öffentlichen Vorlesung in der Aula des Johanneums ein naseweiser Mensch geschrieben:

 

»Ihr gestriger Vortrag über ›Das Lebensprincip der evangelischen Kirche‹ hat gewiß alle Parteien befriedigt. Mich persönlich hat die irenische Färbung Ihrer gelehrten Auseinandersetzungen sehr angenehm berührt. Nach Hause gekommen, setzte ich mich sofort an mein Pult und stellte mir nach Ihrem Recepte ein neues Glaubensbekenntniß zusammen – natürlich auf Grund Ihrer fesselnden Darlegungen. Würden Sie die Liebenswürdigkeit haben, es mir durchzusehen und etwaige Irrthümer zu verbessern? Ich nehme mir die Freiheit, es hier einzufügen:

§ 1. Ich glaube – ohne jedoch andern nahe treten oder eine unumstößliche Wahrheit damit aussprechen zu wollen – an einen außer- oder innerweltlichen Gott, ehedem (und theilweise auch noch jetzt) im eigentlichen oder uneigentlichen Sinne Vater genannt.

§ 2. Und an den Rabbi Jehoschuah Ben Joseph oder Jesus Christus, seinen historischen, dogmatischen, mythischen oder figürlichen Sohn, der (zufolge der Ansicht der ersten 16 Jahrhunderte nach Cäsar Augustus) empfangen wurde vom nicht nothwendig von der ebenfalls nicht nothwendig zu bekennenden Dreifaltigkeit ausgehenden Heiligen Geiste, geboren von der bei den Römischen als Göttin angebeteten Jungfrau Maria oder doch von Mirjam, dem Weibe Josephs; gelitten – wenn der evangelische Bericht anders zuverlässig ist – unter Pontius Pilatus, gekreuzigt – falls die Stelle bei Flavius Josephus XVIII, 3, 3 nicht im hierarchischen Interesse interpolirt ist –, gestorben und begraben; am dritten Tage nach einer schon früh ziemlich verbreiteten Ansicht von den Todten auferstanden, gemäß mehrerer entweder symbolisch oder wörtlich zu nehmenden Schriftstellen aufgefahren gen Himmel, sitzend zur rechten Hand Gottes des allmächtigen (siehe § 1) Vaters, von dannen er kommen wird, zu richten die Lebendigen und die Todten, aber nicht nach ihren Werken, sondern nach dem Glauben allein.

§ 3. Ich glaube (vgl. § 1) an den Heiligen Geist (vgl. § 2), eine oder mehrere, jedenfalls aber unsichtbare und schwer definirbare, im rechten Bekenntniß stehende, keinenfalls römisch-katholische Kirche, die Gemeinschaft der Widersprüche, möglicherweise Auferstehung des Fleisches, so die Wissenschaft dieses zuläßt, und ein ewiges Leben, sei es nun in meinen Kindern, meinen Ideen oder meiner Persönlichkeit. Amen.

Genehmigen Sie, Herr Pastor u. s. w.«

 

Entrüstet hatte Dr. Turner das Machwerk ins Feuer geworfen. Die nächsten Tage ging ihm das Credo aber wie ein Mühlrad im Kopfe herum. Nein, das war nicht sein Glaubensbekenntniß, nein, nein! Das Zeugniß konnte sich Turner ehrlich geben. War er auch unschuldig daran, daß seine Vorlesungen solche Früchte zeitigten? Hatte nicht Hauptpastor Regeler ihm noch unlängst gesagt: Das ist der Fluch der geschmeidigen Nachgiebigkeit, daß unsere evangelische Kirche zum Gespötte der Kinder wird? Hatte nicht Senior Dr. Herschel neulich bei Pastor Reper ernst den Kopf geschüttelt, als die Rede auf Turners »Lebensprincip« kam? Und Senator Göhring hatte ihn gestern auf der Lombardsbrücke in nicht mißzuverstehender Weise geschnitten! Aber da waren auch andere. Pastor Korp drückte ihm gleich nach dem Vortrage dankbar die Hand, Pastor Manso schrieb eine begeisterte Kritik für die Zeitungen, und die Doctorin Windisch versicherte der Doctorin Turner, als beide Damen sich im Alsterdampfboot trafen: »Mein Mann ist ganz entzückt, liebe Doct'rin.«

In trüben Gedanken saß der Pastor denn auch heute vor dem Fenster seines Wohnzimmers und schaukelte Martin und Johannes, seine beiden jüngsten Knaben, auf den Knieen. Da die beiden noch nicht mit dem ältesten Bruder Ernst zur Schule gingen, mußte sich der Papa ihrer von Zeit zu Zeit annehmen. Wenn kein Besuch da war, durften sie manchmal sogar ihre Hottopferdchen und Muhkühe mit in das Studirzimmer bringen, und während der Pastor an seiner Predigt oder dem nächsten Vortrag für den Protestantenverein arbeitete, balgten sich die zwei lebhaften Knaben zu seinen Füßen. Heute saß der Prediger in der Wohnstube, weil er in dem sogen. »Spion«, dem Fensterspiegel, einen guten Theil der Paulsstraße beobachten konnte. Er vermuthete nämlich den langweiligen Besuch einer armen Wittwe, die ihn von Zeit zu Zeit mit ihren Klagen und Familiensorgen belästigte, wobei sie steif und fest auf dem Principe fußte, Luther habe die Ohrenbeichte zwar als Gewissensfolter abgeschafft, aber denen, die ein Bedürfniß zu einer heimlichen Aussprache oder zu einem Privatbekenntniß in sich fühlten, eine so fromme Uebung keineswegs verwehrt. Turner empfing nun allerdings recht gern Besuche, denn er war ein socialer und gewandter Mann, die querulante und weinerliche Wittwe Frommerling indes wünschte er in seinen nervösen Stunden dahin, wo der Pfeffer wächst. Sobald der Pastor die Alte im »Spion« erblicken würde, wollte er schellen und dem Dienstmädchen sagen, er sei nicht zu Hause. Gewöhnlich saß die Frau Pastorin an diesem Fensterplatz, aber sie hatte heute im ersten und im zweiten Stock »Reinmachen«. Das Schrubben, Kratzen und Bürsten hörte man im Parterre ganz deutlich, und auch dieser Umstand trug zu der übeln Laune des geistlichen Herrn bei; denn am folgenden Tage pflegten die »Scheuerdrachen« in seinem friedlichen Parterre zu erscheinen und sogar das Studirzimmer zu profaniren.

Während der Pastor dieser trüben Perspective entgegensah, amüsirten sich Martin und Johannes königlich. Sie hatten ihren Ritt auf den Knieen des Papas im Geiste schon bis Bremen ausgedehnt, und Martin hatte gerade wie ein Wachtmeister commandirt: »Ga – lopp marsch!« da schellte es an der Hausthüre.

»Sollte die Frommerling heute von der andern Seite kommen?« rief Turner erschreckt und ließ die Reiter absitzen.

Niemand erschien, um zu öffnen. Die Weibsleute waren ja alle oben beim Klopfen und Scheuern.

Es klingelte zum zweitenmal.

Wieder kam kein Mensch.

Der Pastor schellte von seiner Stube ebenfalls, denn man konnte ja nicht wissen, wer der Besuch sei. Vielleicht eine Taufe oder eine Trauung. Gerade wollte der geistliche Herr mit selbsteigener Hand öffnen, da stürzte Emma, die Köchin, mit hochgeschürztem Kleid, aufgekrempelten Aermeln und zerzaustem Haar die Treppen hinunter.

»Emma, gerade läutet man zum drittenmal – was ist denn das?«

Turner ging in sein Studirzimmer.

»Ist Herr Pastor zu sprechen?« fragte der Besuch.

»Dschawohl – bitte, wollen Sie näher treten! Wen darf ich den Herrn Pastor anmell'n?«

»Hier ist meine Karte.«

Die Köchin fuhr mit der Rechten über die Schürze und nahm die Visitenkarte vorsichtig zwischen Zeigefinger und Daumen. Als Theo »näher getreten« war und wartete, hörte er, wie der Pastor ins Treppenhaus rief: »Lizzie! Lizziiieh!«

»Ja?« tönte es von oben.

»Lizzie, nimm die Jungens herauf!«

»Hier oben sind sie im Wege, Martin.«

»Ich habe Besuch.«

Nachdem die Knaben aus der Studirstube entfernt waren, öffnete der Pastor die Verbindungsthüre nach dem Wartezimmer. Auf der Schwelle blieb er stehen, breitete die Arme aus wie der Thorwaldsensche Christus mit dem Prophetenmantel und sagte freundlich: »The-o-dor!«

»Guten Tag, Herr Pastor! Wie geht es Ihnen?«

»Wie geht es selbst? Theodor – oder aus Ihrer Karte lese ich ›Freiherr von Göhring‹!«

»Sagen Sie nur wie früher: Theodor. Sie wissen wohl, daß Papa kürzlich geadelt wurde. Mama schenkte mir neulich sofort neue Visitenkarten …«

»Ehre, wem Ehre gebührt. Der Herr ist über Ihrer Familie mit seiner Gnade, Theodor. Mit Dank gegen den Geber aller guten und vollkommenen Gaben habe ich von der Standeserhebung Ihres ausgezeichneten Papas gehört, ja. Nehmen Sie Platz, liebster Theodor, oder kommen Sie … wir setzen uns nebenan in mein Arbeitszimmer.«

Zuerst mußte der Student natürlich wieder von der Universität und von dem Wohlergehen der Seinen berichten. Der Pastor hörte ihm zu mit jenem milden Lächeln, das seinen Verehrern, zumal seinen Confirmandinnen, so ausnehmend gefiel. Turner war in der That ein ansehnlicher, stattlicher Mann. Er wußte das und suchte seine Vorzüge durch eine gewisse, doch nicht übertriebene Sorgfalt bei der Toilette wohl zu conserviren. »Wie aus dem Ei gepellt« sah er aus und stach deshalb angenehm ab gegen die Erscheinung der Frau Pastorin, welcher Theos Mama vor Jahren einmal den Ehrentitel »schludderige Schlampe« verliehen hatte. Nachdem der Pastor genug erfahren und hinreichend gelobt, gebilligt und »gedankt« hatte, ging Theo zu einem andern Thema über: »Herr Pastor, mein Besuch hat noch einen praktischen Zweck: ich möchte Ihnen als Theologen gern ein paar Fragen vorlegen, die ich mir nicht selbst beantworten kann.«

»Unser Wissen, liebster Theodor, ist Stückwerk. Indessen, wenn ich Ihnen behilflich sein kann – es sollte mich freuen.«

»Ich habe in letzter Zeit gedacht: ich sollte einmal wieder zum Abendmahl gehen.«

»Das hat keine Schwierigkeit, Theodor.«

»Ich weiß. Aber sehen Sie, seit meiner Confirmation bin ich nicht mehr gegangen.«

»Sie und Ihre Familie haben sich für die freiere Richtung innerhalb der Kirche entschieden. Da ist es nur die natürliche Folge, daß Sie auf äußere Uebung weniger Gewicht legen. Ich will nicht gerade in Abrede stellen, daß es wünschenswerth wäre, wenn die ganze Gemeinde jedes Jahr einmal am Tische des Herrn erschiene, aber nothwendig ist das nicht. Man kann trotzdem im Bekenntniß stehen.«

»Mein Onkel, der Senator Göhring, behauptete neulich, man solle wenigstens an allen Hauptfesten das Abendmahl nehmen.«

»Der Herr Senator hält sich, soviel ich weiß, zur orthodoxen Richtung, was Ihr Papa, solange ich ihn kenne, nicht gethan hat. Die Orthodoxen betonen allerdings die häufigere Praxis.«

»Und das scheint mir nicht so verwerflich zu sein.«

»Behüte, nein. Es kommt eben auf die eigene Richtung an, denn nicht eines jeden Gemüth hat die nämlichen Bedürfnisse. Sagt nicht der Herr selbst: ›Der Geist wehet, wo er will‹?«

»So würden Sie als Pastor nicht zu einem häufigen Empfange des Abendmahls anhalten?«

»Die Gnade ist um der Menschen willen da, Theodor. Gott bedarf weder der Gnade noch der Gnadenmittel. Der Gebrauch der Gnadenmittel muß sich daher nach den Bedürfnissen des Einzelnen richten. ›Fordert nicht mehr, denn gesetzt ist,‹ sagt der Täufer. Das Wort gilt auch hier.«

»Daraus würde aber doch folgen, daß, wenn ein Ungläubiger gar kein Bedürfniß fühlt, das Abendmahl zu empfangen, er es nie zu empfangen braucht.«

»Doch nicht,« sagte Turner etwas nervös, »denn es handelt sich nur um jene, die im Bekenntniß stehen.«

»Wie meinen Sie das? Sind es jene, die das Glaubensbekenntniß annehmen, oder erst jene, die auch danach leben?«

»Der Gerechte fällt siebenmal des Tages. Die aufrichtige Annahme des Bekenntnisses genügt, weil der Glaube unsere Gerechtigkeit ist, Theodor.«

»Gut, Herr Pastor. Aber muß ich das Apostolische Glaubensbekenntniß in allen seinen Theilen annehmen?«

Turner wurde unruhig: »Sagen wir lieber, in seinem ganzen Glaubensinhalte.«

»Was gehört denn zu diesem Inhalte?«

»Was zu diesem Inhalte gehört? Nun – nun, das ist doch klar: was mit der Schrift übereinstimmt.«

»Gut; z. B. daß Christus von der Jungfrau Maria geboren ist.«

»Das ist kein wesentlicher Satz.«

»Aber er ist doch durch das Lucasevangelium begründet!«

»Ja,« lachte Turner mit hoheitsvoller Miene, »wenn die Anfangskapitel des Lucasevangeliums echt sind!«

Theo war verblüfft: »Zweifelt man denn daran?«

»Nicht allgemein. Aber namhafte Gelehrte thun es, ja; z. B. Hilgenfeld in Jena. Oder nehmen Sie Schwalb in Bremen. Oder Johannes Müller in Darmstadt. O, eine ganze Reihe der ersten Namen könnte ich Ihnen anführen. Uebrigens hat die Forschung nicht nur die Unhaltbarkeit dieses einzigen Abschnittes festgestellt: der moderne Theologe weiß, daß die Ueberlieferung der Schrift, wie sie seit Jahrhunderten geschehen, vor der Kritik nicht mehr bestehen kann. Meinhold in Bonn hat z. B. die Waffen seiner gesunden Exegese gegen die Glaubwürdigkeit der fünf Bücher Mosis gerichtet. Theodor Zahn, Dammann, Spitta, Jülicher, Harnack – der letztere ist Ihnen wohl bekannt – haben die Abendmahlstellen sondirt, und wie mir scheint, manchen Stein des Anstoßes aus dem Wege geräumt. Doch das interessirt mehr den Theologen von Fach … wir kommen vom Thema ab.«

»Ich habe in der That schon ab und zu vernommen, wie man mit der Bibelkritik zu Werke geht. Der eine will diese, der andere jene Stelle fallen lassen.«

»Allerdings; es läßt sich nicht läugnen, daß die Kirche sich mehr und mehr von dem Buchstabenglauben emancipirt.«

»Aber wie soll man dann noch aus der Schrift den Glaubensinhalt beweisen?«

»Man muß eben nicht den Buchstaben nehmen, sondern den Geist. Der Inhalt der Schrift als ein Ganzes, das Wort Gottes, verbürgt den Glaubensinhalt.«

»Ja, aber Herr Pastor! Wer sagt mir denn, wie ich zu dem Inhalt der Schrift gelange?«

»Prüfet alles und das Beste behaltet. Forschen, studiren Sie in der Schrift. Freilich, auf die Urtexte müßte man da zurückgehen, denn die traditionellen Uebersetzungen sind voller Mängel, Absurditäten und Irrthümer!«

»Dann kann ein unstudirter Bauer sich nie seinen Glaubensinhalt zurechtlegen. Selbst ein gelehrter Jurist wäre nicht im stande, alle theologischen und philologischen Vorkenntnisse zu erwerben …«

»Ach, Theodor! Der Laie muß natürlich von den Fachmännern, den wissenschaftlichen Autoritäten belehrt werden.«

»Alles recht schön, Herr Pastor! Wenn aber diese Autoritäten unter sich uneins sind, wem soll man dann folgen?«

»Seinem Gewissen.«

»Und kann das Gewissen nicht irren?«

»Solange es auf dem rechten Wege ist, nicht.«

»Und wann ist es auf dem rechten Wege? Darum handelt es sich ja gerade, Herr Pastor!«

Turner gerieth außer Fassung. Ausweichend rief er: »Das Wort des Herrn ist unsere Leuchte. Das ist klar und dem schlichten, einfältigen Gemüthe verständlich.«

»Und wo finde ich das Wort des Herrn? In der Schrift? Da sagt mir einer Ihrer Forscher, die betreffende Stelle sei zweifelhaft …«

»Es sind auch viele Stellen zweifelhaft,« sagte Turner ärgerlich.

»Aber welche? Und welche sind echt? Zum Beispiel die Stelle: ›Das ist mein Leib‹? Ist sie echt? Damit komme ich auf meine eigentliche Frage: hat Luther, hat Calvin, hat Zwingli mit seiner Erklärung recht? Und wenn die ganze Stelle unecht ist, was ist dann die Folge?«

»Warum echauffirt Sie diese Controverse so, Theodor?«

»Weil sie die größten praktischen Folgen für mich hat. Nehmen Sie nur einmal an, die Katholiken hätten mit ihrer Erklärung recht, dann müßte ich in der Hostie meinen Gott anbeten …«

»Die Katholiken! Das ist ja purer Götzendienst!«

» Habeat sibi Meinetwegen.. Nehmen Sie es nur einmal an, um …«

»Unsinn kann ich nicht supponiren.«

»Was ist denn Ihre Ansicht vom Abendmahl, offen und ehrlich!«

Turner lächelte und sagte: »Als gebildeter und studirter Mann, liebster Theodor, begreifen Sie, daß der Diener am Wort nicht so sehr seine eigenen Ueberzeugungen, sondern den Glauben seiner Gemeinde zu verkünden hat. Um ihren Glauben gepredigt zu haben, stellt ihn die Gemeinde als Prediger auf, nicht, um ein ihr fremdes Christenthum zu vernehmen.«

»Aber innerhalb der Gemeinde sind ebenfalls verschiedene Richtungen.«

»Darum haben auch wir Prediger verschiedene Richtungen.«

»Und alle diese verschiedenen Richtungen sind gleich wahr?«

»Nicht so. Sagen wir: gleich berechtigt.«

»Wahrheit und Irrthum wären gleich berechtigt?«

»Sie pressen die Worte zu sehr. Jede Ueberzeugung hat ein Recht für sich.«

»Zum Beispiel wäre es einerlei, ob man Christus für Gott oder für einen Menschen hielte?«

Wieder wich der Prediger aus: »Wollten Sie einen Menschen gegen seine Ueberzeugung zu der einen oder andern dieser beiden Meinungen zwingen?«

»Nein, aber belehren, mit Gründen bewegen würde ich ihn, seine Meinung aufzugeben, wenn ich überzeugt wäre, daß seine Meinung verderblich ist. Wissen Sie, was ich meine, Herr Pastor? Gott muß uns irgend ein Mittel gegeben haben, die Wahrheit sicher und unfehlbar zu erkennen.«

»Unfehlbar! Da statuiren Sie womöglich noch ein unfehlbares Lehramt!«

»Offen gesagt, wünschte ich von Herzen, daß ein solches existirte.«

Turner wurde ernst. Er rückte mit seinem Stuhle näher und heftete die freundlichen Augen auf seinen Gast, als er sagte: »Liebster Theo, darf ich Ihnen eine freimüthige Frage stellen? Ja?«

»Nun?«

»The–o–dor. Sie katholisiren doch nicht?«

»Wie kommen Sie auf die Vermuthung?«

»Ist Ihre Frau Schwägerin nicht aus Spanien?«

»Eine Spanierin aus Guatemala.«

»Und – ist – sie – nicht – rö–misch?«

»Ja, katholisch.«

»Hat – sie – nie – versucht, – Sie – zum – alleinseligmachenden Glau–ben zu bekehren?« Es klang, als ob Turner einem Ausländer recht deutlich einen schwierigen Satz aus der Grammatik vorartikuliren wollte.

Theodor versetzte lachend: »Keine Sorge! Meine Schwägerin hat nichts dergleichen versucht. Außerdem wäre ich doch auch noch da – denn zum Bekehren gehören immer zwei.«

»Gott sei gepriesen, daß Sie die Gefahr kennen und zu vermeiden wissen.«

»Ich bin jedoch den Katholiken nicht so gar abgeneigt …«

»The–o–dor! Theodor Göhring?«

»Nein, es sind wenigstens Leute, die wissen, was sie wollen und was sie glauben.«

»Was muß ich hören? Sie verachten das reine Evangelium, weil es von Ihnen Selbstprüfung, nicht aber blinden Glauben und jesuitischen Cadavergehorsam verlangt? O Theodor, ich habe so etwas geahnt!«

»Herr Pastor, ich kann Ihnen nur so viel sagen, daß mir Ihre elastische Anbequemungstheorie absolut nicht zusagt. Wenn es einerlei ist, ob man Christus für den Sohn Gottes oder für einen bloßen Menschen hält, dann weiß ich nicht, weshalb Christus für uns gestorben ist. Nur wenn er als Gott zu einer wirklichen Genugthuung fähig war, begreife ich, was diejenigen ihm schulden, die seinen Namen tragen. Der Tod eines bloßen Menschen, der für seine Ueberzeugung stirbt, kann mich nicht so begeistern, daß ich meine Religion auf ihm aufbaue. Nur wenn Christus Gott ist …«

Turner legte die Hand begütigend auf Theos Arm: »Gut, gut. Wenn Ihre innere Erfahrung Sie zu diesem Lichte geführt hat, bleiben Sie dabei. Nicht so sehr äußere Dogmen, sondern die innere Erfahrung und der erlebte Glaube machen uns zu Jüngern des Herrn.«

»Wenn ich mich überzeuge, daß Christus Gott ist, dann, Herr Pastor, halte ich mich ebenso für überzeugt, daß er nur einen Glauben, eine Kirche gestiftet hat, aber nicht diesen Wirrwarr von Meinungen, von einander widersprechenden Meinungen schaffen wollte, der heutzutage besteht. Hat er nicht von einem Hirten und einer Herde gesprochen? Wollte er die Seinen nicht in alle Wahrheit leiten? Seit 14 Tagen erst, Herr Pastor, habe ich wieder das Neue Testament in die Hand genommen. Wie Schuppen fiel es von meinen Augen: Christus wollte uns die Wahrheit, die sichere, unfehlbare Wahrheit bringen. Mit seinem Tode wollte er sie besiegeln. Und er hat es gethan.«

»Erlauben Sie …«

»Je mehr ich die Worte seiner Verheißungen, die Lehren seines Mundes bei mir überlege …«

»Seien Sie vorsichtig, Theodor. Nicht jedes Wort, das da überliefert ist, darf als Herrenwort gelten. Außerdem: Jesus ist auch persönlich nicht irrthumslos gewesen. Hören Sie mich an, Theodor. Professor Zöckler aus Greifswald – ein Orthodoxer, merken Sie es wohl! – beweist das. ›Irren ist menschlich,‹ sagt er; ›Jesus aber war wahrer Mensch. Also konnte er irren.‹«

Theodor erhob sich: »Und auf diesen Unsinn soll ich meinen Glauben aufbauen!? Ja, wenn Jesus nur Mensch, sündiger, schwacher Mensch war wie Sokrates oder irgend ein anderer heidnischer Philosoph! Aber da habe ich denn doch von der Person Jesu Christi eine höhere Meinung …«

»Behalten Sie doch Platz, Theodor! Vielleicht einigen wir uns doch …«

»Ich will ja gerade kein Compromiß. Sagen Sie rund heraus und bringen Sie mir für die betreffende Erklärung Ihre Beweise: Ist Christus Gottes Sohn oder nicht?«

»Theodor, sind nicht in gewissem Sinne alle guten Menschen Kinder oder Söhne Gottes?«

»Sie weichen mir aus. Ist Christus Gott oder nicht?«

»Nächstens fragen Sie mich: Ist Gott beim Abendmahl zugegen oder nicht? Und wie? Und wie beweisen Sie das?«

»Allerdings hatte ich vor, Sie nach allen diesen Dingen zu fragen. Aber ich sehe. Sie weichen einem festen Bekenntniß aus. Auch über Himmel und Hölle, Seligkeit und Verwerfung wollte ich Sie fragen – aber ich sehe, es geht nicht.«

»The–o–dor! Haben Sie nicht in der Confirmationsstunde von mir gehört, daß Gott die Liebe ist, und daß die Liebe zu ihm und seinen Geschöpfen uns die Seligkeit erwirbt?«

»Gut. Dann gibt es auch eine Hölle, wenn wir ihn verachten und Böses thun. Die größte Schlechtigkeit, das Verächtlichste ist aber, die Wahrheit nicht finden wollen …«

»Ganz gewiß.«

»Daher werde ich sie suchen nach dem Satze: ›Prüfet alles, und das Beste behaltet!‹ und sollte ich darüber katholisch werden.«

»Davor bewahr' Sie der Geist der Wahrheit! Sie sind erregt. Prüfen Sie; gut. Aber immer haben Sie das Wort vor Augen: Gott ist die Liebe. Und durch die Liebe zum Nächsten beweisen wir, daß wir ihn lieben.«

»Die Liebe zum Nächsten besteht in guten Werken, nicht wahr?«

»Das klingt nicht ganz evangelisch. Die Nächstenliebe, Theodor … Halt, wer klopft da? Herein!«

Es erschien die Frau Pastorin. Turner runzelte die weiße Stirne, begrüßte aber seine Gattin freundlich und stellte seinen Besuch vor. Die Frau Pastorin gratulirte zur Verlobung von Theos Schwester Mathilde; sie hatte davon gehört, obwohl es noch nicht in der Zeitung gestanden. Dann wandte sie sich an ihren Hausherrn: »Martin, Wittekinds haben geschickt, ob du nicht heute Abend mal vorkommen wolltest: Fiffi und Jenny haben beide die Diphtheritis. Aber ich habe absagen lassen …«

»Aber beste Lizzie!«

»Ja, Männchen, es ist furchtbar ansteckend. Du könntest dir selbst etwas holen oder den Keim ins Haus tragen. Ich dachte an unsere Kinder; Johannes hat es so wie so seit gestern im Halse. Dr. Kerner meint überdies, Fiffi würde wohl kaum durchkommen.«

Verlegen sagte Turner zu Theo: »Diese christliche Gattin denkt an alles. – Du hast recht, Lizzie, es könnte unsern Kleinen die Ansteckung bringen. – Die Fräulein Wittekinds sind alle meine Konfirmandinnen, Theodor. Schade, Jenny ist gerade verlobt. Nun, des Herrn Wille sei für alles gepriesen. Er hat's gegeben, er hat's genommen!«

Theodor sah ganz deutlich, daß Turner doch lieber gegangen wäre. Und doch hatten die Gründe des Pastors und seiner Frau etwas für sich. Da es vom Petrithurme bereits 12 geschlagen, empfahl er sich schnell.

Turner geleitete ihn zur Thüre und meinte zum Abschied mit bewegter Stimme: »Sie werden sich durchringen, Theodor. Christus will erlebt sein. Forschen Sie, aber hüten Sie sich vor der römischen Propaganda, die uns hier in Hamburg bereits Sorge genug macht; ich fürchte nicht für Sie. Auch ich habe manchmal Zweifel am Bekenntniß, ich suche sie aber niederzutreten. Sie werden dasselbe thun. Adieu!«

»Leben Sie wohl, Herr Pastor!«

Noch hielt Turner die Thüre geöffnet, da war Frau Frommerling erschienen. Es war zu spät; der Pastor mußte die querulante Wittwe einlassen, und sie blieb sogar zum Frühstück. Zu seiner Ehre sei es indessen gesagt, daß er sie wirklich mit geistlichem und reichem materiellen Tröste entließ.



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