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Sechstes Kapitel.
Der Hof der Königin Elisabeth

Eine lange Reihe von Equipagen und Droschken zieht sich seit acht Uhr abends vom Harvestehuder Weg durch das gußeiserne Thor und den beschneiten Fahrweg des Vorgartens bis zur glasgedeckten porte cochère des Göhringschen Hauses. Herren und Damen in den reichen Kostümen aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts entsteigen den Wagen und huschen in die Garderobezimmer des Erdgeschosses. Dazwischen schimmern die goldgestickten Fracks einiger Diplomaten und Consuln sowie die blanken Epaulettes und Knöpfe von Offiziersuniformen: Wandsbecker Husaren, Waffenröcke der 76er und 31er und hier und da Stabsoffiziere, nicht zu vergessen der breiten rothen Hosenstreifen einiger Generale. Drei oder vier Senatoren erschienen in ihrer spanischen Amtstracht mit Krause und Barett, einer Kleidung, die besser zu der Renaissancepracht stimmte als die moderne Gala der Herren vom Militär.

Aus den Garderoben bewegte sich der Schwarm der Gäste über die breite, mit blauen Teppichen belegte Marmortreppe zum ersten Stock. Zwei Diener im Kostüm von Schloßhellebardieren öffneten die Flügelthüren zum ersten Salon, dem Empfangszimmer der Gastgeber. Die Baronin trug eine kostbare Robe, welche genau nach der im Britischen Museum zu London aufbewahrten Staatstoilette einer Lady Suffolk gearbeitet war. Der Baron, auf einen Stock gestützt und sichtlich noch recht schwach, stak in dem ebenfalls genau historischen Kostüm Cecil Burleighs. Dolores hatte die minder prunkende, aber sehr geschmackvolle Kleidung einer Genter Patricierin gewählt. An ihrer Seite stand Carlos als Lord Essex. Mathilde stellte eine Hofdame vor, und ihr Verlobter Octavio hielt sich als Oxforder Doctor in ihrer Nähe. Carlito und sein Vetter Cäsar sprangen als niedliche Pagen durch die Gruppen der Gäste. Die Senatorin Göhring hatte abgesagt, aber nach vielen Bitten Cäsar mit dem Papa gehen lassen. Olga und Helene weinten sich zu Hause die Augen roth, daß »ein solches Ballkostüm viel zu viel Geld kostete«.

Und die gute Chanoinesse, welche das Weihnachtsfest natürlich in der Göhringschen Familie gefeiert hatte – wo war sie? Fern von dem ›Trubel‹ saß sie in ihrem Zimmer und las. Auf das entschiedenste hatte sie erklärt: » Ma chère baronne, ich bin zu sehr im Alter avancirt, als daß ich unter Ihrer mêlée fantastique eine glückliche Idee repräsentiren könnte. Zum Souper erscheine ich in meinem satin noir, mehr kann ich nicht wagen.«

Da hat der alte commandirende General, Excellenz von Raskow, wenigstens eine Gräfin zur Tischdame, tröstete sich die Baronin endlich. Um neun Uhr begaben sich die ältern Herrschaften und alle, die nicht im Kostüm waren, in den Musiksaal, der nach Anleitung des Professors Metzler ganz im Stile der Elisabeth decorirt war. Sie nahmen vor dem großen Vorhang Platz, hinter welchem sich das erste lebende Bild nach den Anweisungen des Balletmeisters Jumper bereits gruppirte. Die Musik spielte eine Ouvertüre, dann rauschte der Vorhang auseinander, um das erste Bild zu zeigen: »Elisabeth mit ihrem Hofe lauscht einem Sonette Shakespeares.«

»Wer ist die Königin, meine Gnädigste?« erkundigte sich Generalleutnant von Suché bei der Baronin.

»Frau von Weißensee, geborene von Rebkow.«

»Doch nicht die Gattin des pensionirten Rittmeisters, der damals im Duell so unglücklich verwundet wurde?«

»Jawohl, Ex'lenz. Ihre Mutter sitzt drei Stühle von Ihnen, sie ist eine geborne Prätorius, die Schwester des verstorbenen Bürgermeisters.«

»Ah, ich sehe. Eine imposante, königliche Erscheinung und dabei doch graziös. Ist der Rittmeister auch in dem Tableau?«

»Nein, Ex'lenz, er verläßt sein Gut Weißensee fast nie. Wir sind auf Bernsloh seine Nachbarn geworden und haben ihn schon oft herüber gebeten, aber er kam nur ein- oder zweimal.«

»Was treibt denn der Egon Weißensee? Als junger Leutnant war er sehr fidel und äußerst social.«

»Seit dem Duell lebt er fast für sich und hat nur Interesse für Landwirtschaft und was damit zusammenhängt. Die arme Frau langweilt sich auf dem Lande halb zu Tode.«

»Verstehe, und spielt darum lieber die Königin Elisabeth. Ihr Herr Sohn, der da links am Thronsessel steht, ist wohl als Essex zu denken?«

»Ganz recht, Ex'lenz.«

»Ein stattlicher Mann! Aber bitte, meine gnädigste Baronin, wer ist denn der Shakespeare?«

»Doctor Kerkenhusen, Ex'lenz.«

»Jurist?«

»Ja, Anwalt. Ex'lenz kennen jedenfalls unsern greisen Bürgermeister Kerkenhusen?«

»Allerdings, meine Gnädige. Habe bereits die Ehre gehabt, auf der Esplanade bei Seiner Magnificenz zu diniren. Liebenswürdiger, einfacher alter Herr! Im Hause gediegene Vornehmheit. So habe ich mir immer die alten Hamburger Patricier vorgestellt.«

Die Baronin fühlte wohl die Spitze, welche in den Worten des Generalleutnants lag, ließ sich aber nichts anmerken und bestätigte: »Ich habe bei Kerkenhusens zu meiner Freude dasselbe beobachtet. Aber kommt Ihnen, Ex'lenz, als Preußen diese hansestädtische Einfachheit nicht ein wenig nüchtern vor?«

»In Ihrer guten Stadt, meine gnädige Baronin, findet sich bei vielen Familien, Gott sei Dank, noch jene schlichte, anspruchslose, gemüthliche Vornehmheit, die auch in gewissen Kreisen des alten preußischen Landadels gepflegt und gewürdigt wird. Gehen Sie nach Berlin – da finden Sie selbst die beste Gesellschaft vom Streberthum angekränkelt. Protziger Stolz, Wichtigthuerei, Verachtung des ›kleinen Mannes‹, moralische Haltlosigkeit, jüdisches Raffinement im Verkehr und allen Genüssen – – kurz, ungesunde sociale Zustände. Aber – o! das schöne Tableau ist schon wieder verschwunden!«

Auf den allgemeinen Applaus hin wurde das Bild noch einmal gezeigt. Dieses Mal stand Graf Essex noch näher bei der Königin. Er stützte sich leicht auf die Seitenlehne des Thronsessels und schien auf eine Bemerkung zu lauschen, welche Elisabeth über den vorlesenden Dichter machte.

Dolores war vielleicht die einzige der anwesenden Frauen, die nicht bei der Sache war. Sie hatte in einer Gruppe von Cavalieren und Hofdamen zu stehen und konnte gerade auf den Thron blicken, welcher das Hauptinteresse aller Zuschauer in Anspruch nahm. Das Herz der kleinen Spanierin pochte heftig; noch ehe der Vorhang sich wieder schloß, ließ sie ihren Fächer fallen und störte dadurch das tableau vivant. Wie ungeschickt! dachte ihre Schwiegermutter.

Wieder folgte eine Musikpièce, dann das zweite Bild: »Elisabeth zögert, beim Einsteigen in ihr Lustboot, über eine Pfütze hinwegzuschreiten. Sir Walter Raleigh breitet seinen Mantel vor der Königin aus, damit sie trockenen Fußes die Stelle passire.«

Stürmischer Beifall bricht im Saale los. Leutnant von Essen-Immerum macht den galanten Höfling. Das Antlitz Elisabeths ist pure Huld und Gnade. Der Gesamteffect ist überraschend malerisch. Dolores denkt: »Gott sei Dank, Raleigh gefällt besser als mein Essex.«

Und so folgt ein Bild dem andern. In der Scene »Begegnung Elisabeths mit Maria Stuart« erscheint die gefeierte Gattin des italienischen Generalconsuls als Schottenkönigin. Fast wird Elisabeth in den Schatten gestellt, und Dolores freut sich, sie weiß nicht warum. Aber das letzte Tableau zeigt die »Letzte Begegnung Elisabeths mit Essex«.

Professor Metzler hatte für dieses Schlußbild sein Bestes geleistet. Die Schottenkönigin war schnell vergessen. Dreimal mußte die Gruppe sich wieder ordnen. Als der Vorhang dann endlich geschlossen blieb, suchte Dolores ihren Gatten. Aber Carlos führte bereits Frau von Weißensee in den Saal, und die Polonaise aller historischen Persönlichkeiten begann. Die Spanierin mußte den Arm Walsinghams, eines Oberlandesgerichtsrathes, nehmen und auch an dem Festzuge theilnehmen.

An die Polonaise schloß sich sofort das Souper, welches im Speisesaale und dem daranstoßenden Wintergarten servirt wurde. Die Chanoinesse war nunmehr auch in ihrem schwarzen Atlas erschienen. Sie saß zwischen dem commandirenden General, Excellenz von Raskow, und Senator Göhring. Nachdem sie eine Zeitlang die bunte Menge lorgnettirt hatte, erklärte sie ihrem Tischherrn: » Mon Dieu, ich kenne mich nicht mehr aus in der société. Nicht nur die costumes und modes sind neu, nein auch die Gesichter. Ma foi, et quel changement de goût!«

Als nach dem Essen der Ball begann, ließ sich die gute, alte Gräfin bewegen, auf dem für die ältern Herrschaften hergerichteten haut-pas Platz zu nehmen und von dort aus dem Tanze der jungen Welt zuzuschauen. Sie fühlte sich aber nicht mehr recht gemüthlich und wurde erst wieder heiter, als Carlito in seiner hübschen Pagentracht zu ihr gesprungen kam und sagte: »Wie amüsirst du dich, Tante Stormarn?«

»Wie man sich in meinen Alter amüsirt, mon cher.«

»Hast du früher auch getanzt, Tante Stormarn?«

» Mais oui, Carlito. Glaubst du, ich hätte immer weiße Haare gehabt?«

»Nein, schwarze.«

»Dunkelbraune, dunkelbraune,« sagte die Chanoinesse wie in Gedanken, so daß der alte Bürgermeister Kerkenhusen sie überrascht von der Seite anschaute.

»Mit wem hast du getanzt, Tante? Mit Großpapa?«

»Nein, mon enfant. Großpapa war damals noch zu jung.«

Der Knabe machte erstaunte Augen. Bürgermeister Kerkenhusen fragte:

»Erinnern Sie sich noch, wie der junge Dr. Kerkenhusen mit der Comtesse Stormarn in einem Menuett tanzte?«

Die Chanoinesse nickte ernst: »Es war auf dem Polterabend von Helene Brewer mit Cäsar Prätorius.«

»Ganz recht, Gräfin. Wo sind sie jetzt alle, die damals mit uns jung waren?«

»Dort, Magnificenz, wohin uns der Herr auch bald rufen wird. Ich komme mir gar seltsam vor in dieser assemblée.«

»Tante,« fing Carlito wieder an, »weißt du, was ich finde?«

» Impossible! Euch jungen Geschöpfen geht ja so vieles durch den Kopf.«

»Ich finde, daß dieses Tanzen dumm und häßlich ist.«

» Pourquoi cela?«

»Ist es nicht dumm, sich in einem fort herumzudrehen, um sich selber und um den Kronleuchter?«

» Cela dépend. Aber warum häßlich?«

»Weil die Leute krebsroth dabei werben und schwitzen.«

»Man sagt nicht ›schwitzen‹, mon enfant.«

»Wie denn, Tante Stormarn?«

»Transpiriren.«

»Im Pennal sagen wir immer ›schwitzen‹.«

»Wo? Im pénal? code pénal? Wovon redest du?«

Der Bürgermeister erklärte lächelnd: »Sie nennen das Gymnasium so. Gehst du denn gern aufs Gymnasium, kleiner Freund?«

»Nein, Magnificenz.«

»Nicht? Willst du denn nicht ein kluger, studirter Mann werden?«

»Doch, Magnificenz. Ich will alles wissen, was man lernen kann, aber ich will fort vom Johanneum.«

»Lieber aufs Wilhelm-Gymnasium?«

»Nein, auf eine katholische Schule. Ich bin ein katholischer Junge und mag mich nicht immer foppen lassen.«

Der erstaunte Bürgermeister wollte eine Antwort geben, aber da redete ihn der General von Raskow an. Carlito lief wieder fort, und die Chanoinesse dachte: Er hat etwas Aehnlichkeit mit Theodor, diesem armen Exilirten!

Der alte Freiherr fühlte sich nach dem Souper plötzlich unwohl. Um kein Aufsehen zu erregen, sagte er niemanden etwas und schlich sich leise fort. Nur mit Mühe konnte er sich die Treppe zu dem Stockwerk hinaufschleppen, wo sein Schlafzimmer lag. Er wollte dort ein halbes Stündlein ausruhen und dann wieder dem Balle zuschauen.

Langsam und schwerfällig zog er sich einen ledernen Polsterstuhl in den Erker und blickte hinaus in die Winterlandschaft. Der Schnee schwebte in so dichten Flocken hernieder, daß man kaum noch die graue Eisfläche der Alster jenseits des Harvestehuder Weges erkennen konnte. Die kleinen Dampfboote hatten sich trotz der Kälte noch eine Fahrrinne offen gehalten, und ab und zu tönte ihr heiserer Pfiff schrill in die wogenden Klänge der Ballmusik, welche gedämpft durch das Treppenhaus heraufschallten.

Der Freiherr dachte an Theo. Was war denn eigentlich der Grund, daß er sein jüngstes Kind nicht begriff? Warum standen sich Vater und Sohn seit langen, langen Jahren so fremd gegenüber? Wie konnte der Junge in der Fremde, bei einem brodlosen Studium sich wohler fühlen als im elterlichen Hause?

Hatte der Freiherr nicht alles gethan, um seine Familie groß zu machen? Und Theodor hielt nichts, rein gar nichts von dem Reichthum seines Vaters, obwohl der Erwerb solchen Besitzes so viele Schweißtropfen, schlaflose Nächte, sorgenvolle Stunden angestrengtester Speculation und lange Jahre energischer Arbeit gekostet hatte. Wozu die kleinen Verhältnisse, in denen man trotz allen Ansehens der Familie in Hamburg bisher gelebt, wozu eine Wirksamkeit in engem Kreise höher schätzen als das weite, unermeßliche Feld des Ehrgeizes?

In wenigen Jahren konnte man vielleicht den gräflichen Titel erwerben. Wenn nur Mathilde sich nicht mit diesem langweiligen Vetter verlobt hätte! Und daß Carlos diese bigotte Spanierin nehmen mußte! Oder wenn Theodor wenigstens Jurist geblieben und dadurch Aussicht auf eine höhere Staatscarriere des ansehnlichen und talentvollen Jungen vorhanden wäre! Aber ein elender, unberühmter Farbenkleckser! »Ach,« rief der arme Freiherr aus, »im Grunde versteht mich Keiner! Und meine Gattin? Mathilde versteht mich, ja! Aber wie verlassen, wie liebeleer war mein Krankenzimmer auf Bernsloh!«

Bernsloh! Das war ebenfalls ein trüber Gedanke, nein, mehr als das: ein Gespenst, ein Schreckbild. Wenn die Leute erfahren, daß er, Nikolaus Göhring, den Bankrott des Brewerschen Hauses durch ein einziges Wechselaccept, durch einen Federzug hätte verhindern können! Wenn auf der Börse, in den Comptoirs, in der Gesellschaft bekannt wurde, welche Manipulationen Lacañas & Göhring zu London inscenirt, als der alte Brewer … nein, der Freiherr wollte nicht an die Geschichte zurückdenken! Was konnte auch schließlich passiren? Vor dem Gesetze war ja alles in Ordnung. Die Gerichte hatten nie Grund zum Einschreiten. Rivalität, Ehrgeiz, Streben nach Reichthum und Besitz werden nicht vor das Forum citirt; nicht vor das Forum dieser Welt. Und das Gericht der andern Welt? Bah, es gibt keines. Die Prediger wissen, was und warum sie von Mitleid und Redlichkeit auch im Geschäftsleben reden müssen. Ihre Worte sind Wasser auf die eigene Mühle. Sprachen nicht viele dieser Herren in der Loge ganz anders, jene wenigstens, die über die untern Grade hinausgekommen waren und das wirkliche Geheimniß kannten?

Da zogen alle Bilder aus dem Logenleben vorüber. O wie anders wäre ich vielleicht, hätte ich mich nie einweihen lassen! In den ersten drei Graden achtete ich mich noch selbst; aber je höher ich stieg, desto erbärmlicher wurde der Zustand meines Gewissens. Ich könnte noch ein Christ sein, wie mein Bruder. Aber zu spät! Jetzt darf ich nicht mehr zurück. Hätte ich nur Carlos nicht auch eingeweiht! Es wird Dolores ins Grab bringen. Fort mit den thörichten Gedanken! Geschehen ist geschehen. Er, den ich verläugnete bei jener entsetzlichen Ceremonie, wird mir nicht helfen. Und ohne ihn bin ich reich und angesehen geworden. Es muß weiter gehen, wie es bisher ging. Wenn ich wenigstens genießen könnte! Aber mein Alter naht, und diese unselige Krankheit quält mich! Was habe ich von meinen Millionen? …

Der Baron stand auf, um die Fenstervorhänge zuzuziehen. Die Winternacht war so schaurig. Trüb brannte die gelbe Ampel in dem ungeheizten Schlafzimmer; die Kälte wurde recht empfindlich.

Während Göhring an der Gardine riß, ging draußen auf dem Corridor der treue alte Diener Karl vorbei.

»Was? Ist da jemand in 'n Herrn sein Schlafzimmer zu Gange?«

Er blieb einen Augenblick stehen und lauschte. Da hörte er einen dumpfen Fall und einen angstvollen, unartikulirten Schrei.

»Was ist das?«

Schnell öffnete er die Thüre: du gütiger Himmel! der Freiherr lag neben dem großen Polsterstuhl auf dem Teppiche. Karl sprang hinzu und sah auf der Stelle, daß es ein neuer Schlaganfall war. Es gelang ihm, den schweren Mann aufzurichten und in den Stuhl zu drücken. Da schlug der Baron die Augen auf und versuchte zu sprechen, doch es ging nicht. Der Diener wollte fort und Hilfe holen; aber sein Herr lehnte sich plötzlich gegen seine Brust, verzerrte das Antlitz, als ob ein entsetzlicher Schmerz den ganzen Leib durchzucke, holte einmal tief Athem und ließ das Haupt sinken.

Ein Windstoß fuhr gegen die Erkerfenster, das Licht in der Hängelampe flackerte unruhig hin und her, und die Uhr auf dem Kamine schlug Mitternacht.

Freiherr Nikolaus von Göhring hatte den letzten Seufzer gethan, und seine Seele stand vor ihrem Richter. – Drunten im ersten Stock spielte die Militärkapelle den Walzer »Ich bin der arme Jonathan; was fang' ich armer Teufel an?« – –

Carlos von Göhring tanzte bereits die dritte Extratour mit der gebornen von Rebkow. Er sah recht wohl die thränenfeuchten Augen seiner Dolores, als er die Königin Elisabeth an ihren Platz zurückführte; doch ein böser Geist verhärtete sein Herz. An der Seite der schönen Partnerin nahm er Platz, den Rücken halb gegen die Mutter seines Kindes gekehrt, und erzählte von Guatemala, den Stiergefechten in Mexico und der letzten Seereise. Dolores beobachtete ihn hinter ihrem Fächer und hörte gleichgiltig die Conversation der Herren in ihrer Nähe an. Der italienische Generalkonsul schloß aus ihren mechanischen, einsilbigen Antworten, daß diese kleine Baronin keine besonders geistreiche Frau sein könne. Endlich bemerkte Dolores, wie der alte Diener Karl sich zu ihrem Gatten durchdrängte und ihm leise eine Bestellung machte. Carlos' Antlitz wurde bleich. Er machte Frau von Weißensee eine hastige Verbeugung und verschwand aus dem Saale.

Ein geschäftliches Telegramm, eine verunglückte Speculation! dachte Dolores.



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