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Zweites Kapitel.
Auf Plinkenau

»Kommen Sie, Herzens-Theo, hier ist ein schönes Mittelstück für Sie! Die Karpfen sind Plinkenauer Zucht. Geben Sie mir den Teller herüber, bitte. Wissen Sie, wo wir zwei allein speisen, mag ich den Diener nicht immer hinter dem Stuhle stehen haben. Ich schelle, wenn er nöthig ist.«

»Das ist vernünftig, Doctor. Sie sind kein ceremonieller Wirt – es scheint überhaupt hier bei Ihnen äußerst gemüthlich zu sein.«

»So, so? Gefällt Ihnen Plinkenau?«

»Ich bin ja erst eine Stunde da, Doctor. Aber ich glaube, es muß mir hier gefallen.«

»Das ist gut, sehr gut. Wenn es anders wäre, dann … nun, das ist noch mein Geheimniß,« sagte Dr. von Sechow halblaut vor sich hin.

Theo sah ihn verwundert an.

»Was haben Sie wieder für ein neues Geheimniß? Sie stecken voller Räthsel.«

»Der ganze Dr. von Sechow muß Ihnen wie eine Preis-Charade vorkommen, nicht wahr?«

»Ich kann es nicht läugnen. Sie haben mir ja noch nicht einmal Aufschluß über Ihren Holländer Aufenthalt gewährt.«

»Das soll jetzt geschehen. Aber zuerst sagen Sie: wie munden die Karpfen?«

»Sie sind ganz excellent.«

»Schauen Sie: nach dem alten System bedurfte man zur eigentlichen Zucht vielerlei Teiche – Streichteiche, Streckteiche, Kammer- oder Winterungsteiche und Hauptteiche. Ich habe nun ein neues, billigeres und viel einfacheres Verfahren erfunden …«

»Haben Sie vielleicht in Holland eine Akademie für Karpfenzucht besucht?«

»Sie unartiger Junge! Na, wenn Sie absolut erst die Geschichte hören wollen, meinetwegen! Ihr Glas, bitte. Sie trinken doch gern Rheinwein?«

»Und ob! Kommen Sie aber jetzt nicht wieder auf die Pflege der Weinrebe! Ich muß endlich einmal Aufschluß über Ihre geheimnißvolle Flucht erhalten.«

»Na, rathen Sie mal, was ich getrieben habe?«

»Kann ich nicht.«

»Nur mal los!«

»Ich habe mir ja schon drei Monate den Kopf zerbrochen.«

»Was wird Ihre kleine Ethel sagen, wenn sie den zerbrochenen Kopf sieht?«

»Rücken Sie heraus, sonst bricht er noch weiter!«

»Rathen Sie, Theo!«

»Sapperment – verlobt werden Sie sich doch nicht haben?«

»Kein Gedanke.«

»Verwandte besucht?«

»Habe keine Verwandte mehr, bin einzig in meiner Art.«

»Das stimmt, Doctor.«

»Hahaha! Weiter, Theo!«

»Einen Freund besucht?«

»Nnnnja! Das könnte stimmen.«

»Darf man fragen: wen?«

»Einen alten Bekannten aus meiner Knabenzeit, einen Bruder des guten Professor Bohrmann, dessen Sie sich wohl von Helgoland her erinnern.«

»Freilich. Was haben Sie bei dem Herrn Bohrmann gemacht?«

»Exercitien.«

»Exercitien? Was ist das?«

»Geistliche Uebungen. Na, ich will Sie nicht länger quälen. Hören Sie also zu.«

Theo legte Gabel und Fischmesser höchst gespannt beiseite. Sechow begann: »Sie erinnern sich an unser Heidelberger-Gespräch am Vorabende des Frohnleichnamstages? Schön. Ich wollte, wie Sie wissen, in der Frühe zur Beichte gehen. Sie selbst waren es ja, der mir grauen Theoretiker diese praktische Lösung meiner unglücklichen Situation vorschlug. Meine Dankbarkeit dafür wird Ihnen die Zukunft beweisen, wenn – gut, das ist mein Geheimniß. Also ich gehe am Morgen in die Kirche, finde jedoch die Beichtstühle so belagert, daß mir – dem unglückseligen Hamlet – beim Warten wieder die Geduld und auch der Muth vergeht. Ich begebe mich nach Anhörung einer stillen Messe wieder ins Hotel, bin aber dann wegen meiner moralischen Schwäche so verzweifelt elend gestimmt, daß ich mir vornehme, einen ernsten, durchprüfenden Entschluß zu fassen. Ich erinnere mich eines jungen Mannes, dessen Vater ehemals, zu Lebzeiten meines Papas, Kanzler bei unserer Gesandtschaft war. Der zweite Sohn des Dr. Bohrmann – der älteste ist unser Helgoländer Ichthyologe – trat in den Jesuitenorden ein. Nun machen Sie kein Gesicht, Theo; ich wußte, daß der Pater Bohrmann seit einigen Jahren Professor der Metaphysik an einem Colleg in Holland war, und dachte: Wie wäre es, wenn du, Heinrich Sechow, diesen Mann aufsuchtest und ihm deine Generalbeichte ablegtest?«

»Aber einem Jesuiten! Sie hätten doch …«

»Mal still, Theodor! Auf den Jesuiten kam es mir auch nicht gerade an. Ein katholischer Priester ist ein katholischer Priester, und die Jesuiten sind selbstverständlich nicht die einzigen Priester, die einem armen Sünder helfen können. Ich hatte aber meine Gründe. Ich wußte, daß Franz Bohrmann ehedem ein fescher, flotter Student gewesen war. Der wird, so nahm ich an, vor seinem Eintritt in den Orden die Welt kennen gelernt haben und im Orden ein Mann des Gebetes und der Wissenschaft geworden sein. Daher wäre er geeignet, mir auf die Strümpfe zu helfen. Nebenbei bemerkt: der Bruder, der Fischenthusiast, war zuerst Jurist und wollte in den Staatsdienst eintreten. Nachdem aber Franz Jesuit geworden war, wurde dem Eugen bedeutet, er werde jetzt nicht auf eine Staatsanstellung rechnen können. Darum warf sich der gute Eugen auf die Fische. Nun, das in Parenthese; es ist ein Kapitel über die menschliche Gerechtigkeit. Sie wären darüber zum Pessimisten geworden, während der brave Eugen Professor wurde.«

»Erzählen Sie nur von sich weiter, Doctor!«

»In Holland finde ich richtig meinen Pater Franz. Er war noch ebenso kindlich heiter wie früher, aber trotzdem ruhiger, vergeistigter, ascetisch geworden. Er hört meine Beichte und räth mir, auf einige Tage geistliche Uebungen, Exercitien, zu machen. Anfangs – weil ich die Geschichte nicht kannte – gab ich eine sehr kühle Antwort. Ich hielt die Sache für irgend eine jesuitische Spiegelfechterei, wurde aber von Pater Franz einfach bedeutet, daß ich über eine Sache urtheile, die ich absolut nicht kenne. Das biß mich. Ich fragte: Wie lange dauern denn diese Exercitien? – ›In drei Tagen sind Sie damit durch.‹ Ich dachte: drei Tage kann ich Gott wohl widmen, nachdem ich mich mehrere Decennien nicht um ihn gekümmert habe. Also, ich sing an …«

»Gewiß mußten Sie drei Tage lang furchtbar fasten.«

»Theo, Sie romantischer Terrorist! Ganz vorzügliche Verpflegung erhielt ich bei den guten Patres. Keine vier Stunden hintereinander habe ich gefastet; nur am Freitag gab's kein Fleisch, wie bei allen anständigen Katholiken. Konnte mich also gleich einmal wieder an diese Pflicht erinnern, die ich kaum je beobachtet hatte.«

»Ja, wozu auch solchen Mumpitz?«

»Sie reden, wie Sie es verstehen, und wie ich es, leider, lange Zeit auch verstand. Jetzt finde ich es sehr geziemend, daß der Christ sich zum Andenken an die Leiden des Erlösers kleine Entbehrungen auferlegt. Außerdem bekennt er dadurch seinen Gehorsam gegen die Kirche.«

»Na, meinetwegen. Aber wie ging es denn bei diesen Exercitien?«

»Aus den drei Tagen wurden auf meinen eigenen Wunsch acht. Ja, liebster Theo, diese Exercitien bestehen darin, daß man auf Grund einer Reihe von geistlichen Vorträgen, die ein religiös und philosophisch gut durchgebildeter Pater drei- oder viermal des Tages hält, in der Einsamkeit und in Gebetssammlung über Gott, die ewigen Wahrheiten und sich selbst nachdenkt. Die Exercitien sind höchst interessant, anregend und belehrend. In wunderbar folgerichtiger Entwicklung wird man belehrt über sein eigenes Herz, über seinen Ursprung, seine Bestimmung auf Erden, die Pflichten seines Berufes und sein ewiges Ziel. Sie sehen sich selbst sozusagen in einem Spiegel, und das Seltsame an der ganzen Sache ist, daß Sie jene Wahrheiten, um die es sich handelt, selbst entwickeln und anerkennen müssen. Der vortragende Priester regt gewissermaßen Ihren gesunden Menschenverstand und Ihren guten Willen nur an. Die eigentliche geistige Arbeit, die Wissenschaft, welche Sie gewinnen, die Entschlüsse, die Sie fassen, sind das Resultat Ihrer eigenen Logik, selbstverständlich nächst der gnadenvollen Führung und Erleuchtung Gottes. Kurz, eine Woche lang habe ich gebetet, meditirt und reflectirt und bin – Gott sei's gedankt! – ein anderer Mensch, ein glücklicher, treuer, lebensfroher Katholik geworden.«

»Sie sprechen da eine Sprache, die ich nur halb verstehe, Doctor. Später müssen Sie mir noch mehr von diesen Dingen erzählen. Mich würde es vorläufig interessiren – das heißt, wenn meine Frage nicht unzart ist –, wie es Ihnen mit jener Beichte ging.«

»Ich beichtete, was Sie wissen. Reue hatte ich, Gott ist mein Zeuge. Dann wurde ich absolvirt, und war froh, Theo, unsäglich froh.«

»So einfach ging das?«

»Ich mußte eine Genugthuung versprechen.«

»Dem Kloster einige tausend Thaler für den Ablaß vermachen?«

»Sie unverbesserlicher Romantiker! Nein, ich muß mich bemühen, den wahren Sachverhalt herauszufinden, d. h. ob der Bräutigam Lucias, den ich damals an der Felswand in meiner zornigen Aufwallung von mir stieß, zu Schaden gekommen ist oder nicht. Es wäre meine Pflicht gewesen, das schon längst zu thun. Daß ich Ceccos Familiennamen nicht weiß, ist keine Entschuldigung für mich; denn durch Lucia hätte ich alles erfahren. O Theodor, ein männlicher Entschluß damals, zur rechten Zeit, hätte mir viele Jahre des Kummers erspart! Ich habe schlecht und zugleich unbegreiflich blind und thöricht gehandelt: die Lösung meiner Zweifel lag stets in meiner Macht; nur war ich zu feige, um eventuell der schrecklichen Wahrheit ins Auge zu blicken. Die Ungewißheit schien mir erträglicher – und doch, wie unerträglich war gerade sie! Wie gesagt: jetzt gilt es, zu handeln.«

»Mein Gott, Doctor, da verrathen Sie sich ja! Die Sache könnte Sie noch mit den Gerichten in Conflict bringen.«

»Ich brauche nur solche Nachforschungen anzustellen, bei denen ich mich nicht verrathe. Auch sind keine außerordentlichen Anstrengungen geboten.«

»Und falls sich herausstellt, daß … o Doctor, ich mag nicht an die Möglichkeit denken!«

»Seien Sie unbesorgt! Allenfalls müßte ich anonym der Familie eine kleine Summe zukommen lassen – nämlich, wenn der Verlobte Lucias der Ernährer der Seinen war und diese somit Schadenersatz beanspruchen könnten. Gott ist mein Zeuge, daß ich wünsche, meine Leidenschaft beherrscht zu haben, Theo – aber auch, daß ich frei von der entsetzlichen Schuld bin. Der Pater hat mir die Ruhe wiedergegeben.«

»Ich hätte Ihnen vielleicht dieselbe Antwort gegeben. Der Pater scheint ein vernünftiger Mann zu sein. Indessen, haben Sie schon Nachforschungen angestellt?«

»Von Holland, Theo, reiste ich nach Köln; denn ich alter Graukopf war noch nicht gefirmt, was sich auch bei den Exercitien herausstellte. Nach dieser heiligen Handlung richtete ich mich hier auf Plinkenau ein und sann darüber nach, wie ich jene Nachforschungen anstellen könnte.«

»Und Sie haben noch nichts in dieser Richtung gethan?«

»Nein; aber ich bin entschlossen, obwohl der Pater das gar nicht verlangt hat, im Frühjahr selbst nach Italien zu gehen.«

»Auf keinen Fall gehen Sie nach Capri!« rief Theo; »Sie könnten sich durch Unvorsichtigkeit verrathen oder von andern erkannt werden. Nein, Doctor, das gebe ich nicht zu! Ihr Pater hat das offenbar auch nicht gewollt …«

»Aber es wäre der beste Weg …«

»Nein, Doctor! Ich will Ihnen einmal einen Vorschlag machen: geben Sie die ganze Sache in meine Hand …«

»Theo!«

»Jawohl, ich werde an die Familie Lucias schreiben oder sonst Mittel und Wege finden, den Sachverhalt zu erfahren. Sie dürfen sich nicht compromittiren.«

Sechow übermannte die Rührung. Er stand auf, umarmte seinen Gast und sagte: »Theo, Sie goldener Mensch! Wollen Sie wirklich? O, da nehmen Sie mir die letzte Sorge vom Herzen. Theo, Sie einziger …«

»Doctor, machen Sie wegen der lumpigen Gefälligkeit keine Scene! Es bleibt dabei. Setzen Sie sich wieder – Ihr Diener kommt dort mit dem Braten. Geben Sie mir noch ein Glas Rheinwein, ja?«

»Von ganzem Herzen, alter Junge! Sie sind ein Prachtmensch. Ich nehme alles zurück, was ich über Ihren Pessimismus und Ihre Romantik je gesagt habe. So, Ihr Glas!«

Der Diener war erstaunt, Thränen in den Augen seines Herrn schimmern zu sehen. Als er wieder fort war, erklärte Sechow: »Glauben Sie aber nicht, Theo, daß mein Dank nur in Worten besteht. So Gott will, habe ich für Sie eine besondere Ueberraschung in petto. Aber die Sache ist noch nicht perfect – bleibt noch mein Geheimniß.«

»Sie wollen mich wieder neugierig machen, es gelingt Ihnen aber nicht. Zu danken haben Sie mir gar nichts. Ich bin Ihnen dagegen großen Dank schuldig; denn Sie haben mich von dem Banne befreit, unter dem ich seit Hans' Tode so unsäglich litt.«

»Oder Ihre Ethel hat das fertig gebracht; jedenfalls aber hat die Vorsehung Gottes Sie bisher wunderbar geführt. Bleiben Sie nur dabei, katholische Bücher zu lesen, wie Sie seit jener Unterredung gethan, von der Sie mir erzählten. Gott wird Sie weiter leiten. Auch Ihre Ethel werden Sie bald heimführen.«

Theos Antlitz wurde traurig. Er dachte: Wie liegt mein Glück noch in so weiter Ferne!

Sechow fragte: »Warum wollen Sie übermorgen schon wieder fort? Sie müssen sich anders besinnen, Theo!«

»Ich habe von Dresden aus bereits an Mallatini telegraphirt. Er erwartet mich. Außerdem muß ich bald fleißig an der Arbeit sein.«

Er berichtete dem Doctor, unter welchen Bedingungen nur er sich der Kunst widmen dürfe und welche Scene er am Krankenbett des Vaters erlebt habe.

Sechow schüttelte verwundert den Kopf: »Ihr Papa wird sich bald eines Bessern besinnen.«

»Da kennen Sie ihn schlecht. Ich bin der verlorene Sohn.«

»Unmöglich. Wie wollen Sie ohne Wechsel in Berlin leben?«

»Ich habe 600 Mark von Mama.«

»Wie lange werden die für den Baron von Göhring reichen?«

»Ich schränke mich ein und suche etwas zu verdienen.«

»Theo, ich schieße Ihnen vor, was Sie brauchen.«

»Nein, Doctor; ich setze meinen Stolz darein, arm wie Mallatini zu leben. Auf eigenen Füßen will ich stehen, ja, das will ich, schon Ethels wegen! In Berlin werde ich mich unter einfachem, bürgerlichem Namen aufhalten!«

»Na, na, na, Theo! Sie sind doch noch Romantiker.«

»Es ist mir Ernst, und Sie werden sehen, ich halte Wort.«

»Wir sprechen morgen darüber. Ich accreditire Sie bei einem Bankier in Berlin, bis Ihr Papa weich geworden ist.«

»Das werde ich ganz gewiß nicht annehmen.«

»Findet sich morgen. Heute nehmen Sie vorläufig dies schöne, saftige Lendenstück an. Nun reden wir von etwas anderem. Wie geht es der famosen Chanoinesse?«

Die Unterhaltung drehte sich fortan um gemeinsame Bekannte und Tagesereignisse. Nach dem Essen führte Sechow Theo in seine kostbare Bibliothek, wohin der Diener Kaffee und Cigarren brachte. Der Doctor hatte ein besonderes System erfunden, wie man möglichst viele Bücher auf möglichst engem Raume unterbringen könnte. Lächelnd lauschte Theo seiner Erklärung. Dann wurde die in drei Zimmern aufgestellte ethnographische Sammlung bewundert. Sie enthielt nur Stücke, die der Doctor selbst auf seinen vielen Reisen erworben hatte. Es war ein hochinteressantes Museum für schöne Künste und Völkerkunde.

»Bei Tageslicht,« sagte der Doctor, »müssen Sie die ganze Collection studiren; heute Abend haben Sie nichts davon. In diesem Tische hier finden Sie eine ziemlich vollständige Sammlung von Seekarten und Generalstabsplänen. Darüber sehen Sie alle bis jetzt erschienenen Reisewerke von Bädeker, Tschudi, Meyer, Gsell-Fels und einigen andern, wie Murray u. s. w. Nun gehen wir dort hinein; das ist mein physikalisches Cabinet: es taugt nicht viel, weil ich die neuesten Erfindungen der Elektrotechnik ganz vernachlässigt habe. Der Experimentir-Enthusiasmus ist schon seit drei oder vier Jahren erkaltet; ich lese jetzt lieber etwas Philosophisches oder Nationalökonomisches und gebe so viel Geld für die Bibliothek aus, daß die übrigen Sammlungen zu kurz gekommen sind. Nun, mein Nachfolger und Erbe muß zusehen, ob er all den Plunder hinausschmeißen will oder ob er die Geschichte vervollständigen kann.«

Theo dachte bei sich: wer wohl dieser Nachfolger und Erbe sein möge? Der Doctor hatte niemals von Personen gesprochen, die ihm besonders nahe standen.

Von dem physikalischen Cabinet kam man auf einen Corridor, und am Ende desselben ging es über eine Wendeltreppe in den untern Stock. Vor einer alterthümlichen, schön geschnitzten Eichenthüre blieb Sechow stehen: »Hier ist mein kleines Oratorium. Dieser Theil des Gebäudes ist der einzige, der noch aus der Zeit vor der Reformation stammt. Plinkenau war damals ein Cistercienserkloster und dieses hier Krankenkapelle; das heißt, jetzt ist von der eigentlichen Kapelle nur noch das Chörchen da. Meine Vorfahren saßen damals eine Stunde von hier, drüben an dem Walde, dessen munteres Quellbächlein noch heutigen Tages die ›Sechau‹ heißt. Ich besitze ein Vorwerk da droben, welches aber verpachtet ist. Die alten Herren von der Sechau hatten in dem Kloster Patronatsrechte, und als sie lutherisch wurden, kehrten sie, als echte Raubritter, dieses Privileg gegen diejenigen, die es ihnen gewährt hatten. Sie verjagten die Mönche und richteten sich selbst auf der Abtei ein. Es trifft sich merkwürdig, daß der letzte Sechow wegen seiner katholischen Mutter wieder ein Katholik ist. Ich würde drunten im Dorfe eine katholische Kirche bauen, wenn es hier in der Gegend überhaupt Katholiken gäbe. So habe ich wenigstens mit der Restauration dieser kleinen Kapelle begonnen, seitdem ich von meiner Reise zurück bin. Nun treten Sie aber ein – halt, ich will eben das Glühlicht aufdrehen – so, ich bitte!«

Als die beiden die Schwelle überschritten hatten und der Doctor die schwere Thüre hinter ihnen schloß, fiel ein Gegenstand vor Theo auf den Boden.

»Was war das?« fragte Sechow.

»Ich weiß nicht; es muß sich etwas von der Decke losgelöst haben.«

»Warten Sie, ich drehe eine zweite Glühlampe auf. Eh, die elektrische Leitung ist noch nicht in Ordnung; es ist meine eigene Stümperei. Na, jetzt geht es.«

Theo hatte sich bereits gebückt und hielt den Gegenstand in der Rechten. »Es ist ein kleines Kreuzchen,« sagte er erröthend; »es gehört mir. Ich trug es stets an der Brust, als Andenken an meinen seligen Hans. Die Schnur muß gerissen sein – ja, richtig.«

»Zeigen Sie mal. O, ein hübsches antikes Kreuz. Und das haben Sie von Ihrem Hans?«

»Ja, er gab es mir beim letzten Abschied. Es sei ein altes Erbstück in seiner Familie gewesen.«

»Offenbar aus der Zeit, da Helgoland noch katholisch war. Stecken Sie es nur sorgsam wieder ein, Theo. Uebrigens – ein ganz sonderbares Omen, daß es Ihnen gerade hier in der Kapelle vor die Füße fällt.«

»Warum betonen Sie das ›gerade hier‹?«

»Haha, ich habe dabei einen Gedanken, den ich Ihnen vorläufig nicht mittheilen kann. Der Dr. Lexikon ist einmal wieder etwas sonderbar, nicht? Nun kommen Sie hinüber an jene Wand, da will ich Ihnen etwas noch Interessanteres zeigen. Stoßen Sie sich nicht an dem Gerüste der Arbeiter. Es dient zur Renovirung des Plafonds. Das lautere Evangelium hat nämlich meine Vorfahren veranlaßt, all die schönen Malereien mit Kalk zu überschmieren. Glücklicherweise bin ich dahinter gekommen – Kneppchen, da steht eine Kiste mitten im Wege, Achtung! – und nun sind wir dabei, die Tünche vorsichtig zu entfernen. Schauen Sie mal her, Theodor: hier sehen Sie ein Bild, nicht wahr?«

»O ja, einen Soldaten. Er sieht aus, als ob er auf einem Scheiterhaufen stünde …«

»Ganz recht, thut er auch, der Soldat. Nun entziffern Sie mal die Legende in dem Heiligenschein des Soldaten.«

Theo reckte sich und buchstabirte, während Sechow schmunzelnd zusah.

»Nun?«

»S–a–n–o …«

»Nein, c, nicht o.«

»Aha, sancte … Th–e, was? Theodore …«

»Gut, gut! Sancte Theodore – weiter?«

» Ora – pro – no–bis. Sancte Theodore, ora pro nobis.«

»Famos!«

»Gibt es einen heiligen Theodor in Ihrer Kirche?«

»Freilich. Und nun will ich Ihnen noch was dazu erzählen. Der letzte katholische Abt von Plinkenau hieß – na, was denken Sie wohl?«

»Vielleicht Theodor, das ist das nächstliegende. Er hat sich seinen Namenspatron hier malen lassen …«

»Ganz recht. Aber wie hieß er wohl weiter?«

»Wie kann ich das wissen? Am Ende Theodor von Sechow.«

»Im Gegentheil, der damalige Ulrich Sechauer hat ihm seine Insul gestohlen.«

»Ja, dann kann ich es nicht wissen.«

»Nein, das können Sie auch nicht. Dann will ich es Ihnen oben in der Bibliothek erzählen oder vielmehr vorlesen. In der Kapelle hier können Sie sich morgen weiter umsehen; es liegt ohnehin alles durcheinander, und man macht sich noch kein rechtes Bild, wie sie werden soll. Es wird jeden Tag von 9 bis 6 Uhr gearbeitet – kurz und gut, wir wollen oben in der Bibliothek unsere Cigarre weiterschmauchen.«

»Das ist ja die reinste Steeplechase durch Ihr Zauberschloß! Ich möchte die Herrlichkeiten nicht so im Fluge besehen, sondern mit Muße genießen, Doctor. Sie sind wie ein Genius aus ›Tausend und eine Nacht‹, der einen verwunschenen Abenteurer im Nu von einem Weltwunder zum andern führt. Lassen Sie mich doch einmal zu Athem kommen!«

»Morgen, Theodor, oder – quartieren Sie sich nur ruhig ein paar Wochen auf Plinkenau ein.«

»Ich kann nicht.«

»Sie wollen nicht.«

»Ich will meine Entschlüsse nicht alle Augenblicke ändern.«

»Na, meinetwegen! O, Sie werden schon noch auf Plinkenau wohnen müssen, verlassen Sie sich darauf, clarissime vir. Gehen Sie voran, ich schließe die Kapelle wieder ab. Ihr Kreuz haben Sie doch?«

»Ich habe es in der Tasche.«

»Sie müssen sich ein Kettchen daran machen.«

»Mal sehen. Es ist freilich eine liebe Erinnerung an den trauten Freund.«

»Und das heilige Zeichen der Erlösung, Theo.«



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