Eugenie Marlitt
Im Schillingshof
Eugenie Marlitt

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35.

Inzwischen stand Donna Mercedes behütend neben Veit. Er lag einen Augenblick still; aber unter den halbgeschlossenen Lidern sah man nur das Weiße des Auges, und von Zeit zu Zeit knirschte er mit den Zähnen. Die junge Dame wischte ihm den Schaum vom Munde, tauchte ihr Taschentuch in ein auf dem Tische stehendes Glas Wasser und legte ihm den kühlen Umschlag auf den Kopf.

Die schlanke, schneeweiße Frauengestalt hob sich seltsam von den Wänden der urdeutschen Bürgerstube ab: und sie selbst sah sich fremd und staunend um, als sei sie unversehens aus blauen Lüften in düstere unterirdische Regionen gefallen.

In modernen, luftigen Plantagenhäusern, mit ihren üppig heiteren Wandmalereien und weißen grünumrankten Marmorhallen, war sie groß geworden, und auf deutschem Boden hatte sie nach Verlassen der eleganten Salons und Kabinen auf dem Dampfschiff der Schillingshof aufgenommen. Noch nie war ihr Fuß über so uralten Bretterboden gegangen, hatte sie ein solches Ofenungetüm gesehen, wie es dort in der Ecke dräute. An dem mächtigen Bogenfenster, vor dessen unteren Scheiben nur ein paar grüne, ausgeblichene, lappenhafte Wollvorhänge in Ringen liefen, der wunderlichen Holzgalerie mit den geschnitzten Heiligenbildern, den schweren Türen in den klaftertiefen Wölbungen schlich der Geist vergangener Jahrhunderte hin, und so peinlich und unheimlich auch die Lage war, in der sich die junge Dame augenblicklich befand, es wurde ihr doch so traumhaft zu Sinne, als lebe und atme sie in der Zeit, aus der die deutschen Sagen und Märchen erblüht sind.

Die Majorin kam wieder herein. Sie bog sich forschend über den Knaben und horchte auf seine Atemzüge, und dabei sah sie empor zu dem alten Mann, unter dem der jüngste Sproß seines Hauses, ein markloser Schößling, mit einer der Familie fremden, unheilvollen Krankheit behaftet lag ... Und den Blick starr auf das Bild geheftet, als sei sie nur auf diese Weise fähig zu sprechen, sagte sie kurz wie mit vertrockneter Kehle zu Hannchen: »Werden Sie Gebrauch machen von dem Vorgang?« –

Die Augen des Mädchens glühten auf wie im Fieber. »Ganz gewiß werde ich das, Frau Majorin,« erklärte sie unumwunden und streckte energisch die Hand aus, als lege sie Beschlag auf das unselige Geheimnis. – »Ich wäre nicht wert, daß mich die Sonne bescheint, wenn ich schwiege! ... Und wenn Sie mir Ihr ganzes Vermögen schenken wollten, ich nähme es nicht! Ich gehe lieber von Haus zu Haus betteln, nur daß ich sagen darf: Mein lieber, lieber Vater ist unschuldig gestorben – er hat seinen alten Herrn nicht betrogen – Gott sei Dank, Gott sei Dank!« – Sie preßte inbrünstig die Hände auf die Brust.

»Sie haben recht, und ich – habe meine Schuldigkeit getan.« – Mit diesen tonlosen Worten wandte sich die Majorin von dem Porträt ihres Großvaters ab und stieg die Galerietreppe hinauf, in die Mauertiefe hinein.

Sie sah im Salon Deborah bei den Kindern stehen, auch Mamsell Birkner war da und blickte ihr mit namenlos erschreckten Augen in das Gesicht.

Das Tageslicht, das vom Salon hereinfiel, zeigte ihr, daß die glatte, braune Holzfläche unter den Schnitzarabesken an dieser Stelle eine Tür war, die, augenblicklich zurückgeschlagen, an der Innenwand lehnte. Seitwärts tretend, um sie vorzulegen, stieß sie mit dem Fuß an einen Gegenstand in der dunklen Ecke; sie bückte sich und nahm ihn auf, und nachdem sie die Tür zugedrückt hatte, kam sie die Steinstufen wieder herab und trug ein silberblinkendes Kästchen in der Hand.

Einen Augenblick stand Donna Mercedes blaß und bewegungslos wie eine Bildsäule, dann sagte sie in bebenden Tönen: »Nun können Sie Felix' letzten Brief an seine Mutter lesen – er ist in Ihren Händen.«

»Ich wußte es ja, daß die Mäuse vom Klostergut dagewesen waren,« murmelte Hannchen, und jenes stille, bittere Lächeln, das Lucile und die Leute des Hauses für irrsinnig erklärt hatten, hob ihre Lippen leicht von den schönen Zähnen. »Aber das geht mich nichts an, gar nichts!« setzte sie rasch und errötend hinzu, als schäme sie sich einer unbefugten Bemerkung.

Das Kästchen war auf die Dielen gepoltert, und die Majorin schlug die Hände vor das Gesicht; Veit aber verfiel unter einem schrillen Aufschrei aufs neue in heftige Zuckungen.

In diesem Augenblick sah auch die Magd, die bei dem in nächster Nähe wohnenden Arzt gewesen war, aus der Eßstube herein und meldete, daß der Herr Doktor sogleich kommen werde.

Die Majorin raffte sich auf; sie ging nach der Tür und schloß sie vor der Nase der verblüfft und neugierig Herüberlauschenden. »Ich habe noch einen harten Strauß auszufechten,« sagte sie mit ihrer früheren harten, unerbittlichen Stimme zu Donna Mercedes. »Gehen Sie jetzt zu meinen Enkeln; ich komme nach, wenn ich – zu Ende bin.«

Hannchen hob das Kästchen auf und verbarg es unter einem zustimmenden Blick der jungen Dame in den Schürzenfalten – selbst Deborah sollte es nicht erfahren, wo es gefunden worden war. Sie kehrte mit Donna Mercedes in den Salon zurück, und die Majorin schloß hinter ihnen die braune Holztür, auch die seltsame Polsterwand, aus deren geborstenem Leder Roßhaare und Wergbündel quollen, legte sie vor und versuchte, den in die Amtsstube mündenden Eingang zu verschließen. Es gelang ihr bis auf eine schmale klaffende Fuge – sie wußte ja nicht, daß der Eisenstift, der den Verschluß bewirkte, in der ehemaligen Orgelbehausung zu suchen war.

Als der Arzt kam, fand er die Frau, entfärbt wie ein Gespenst, aber vollkommen gefaßt in ihrer bekannten strengen Haltung neben dem erkrankten Knaben sitzen. Er selbst war tief bewegt über das Grubenunglück, das die ganze Stadt in Aufruhr versetzte, und begann schon beim Eintreten davon zu sprechen. Allein die Majorin zeigte stumm auf Veit, und er fuhr sichtlich erschrocken zurück, als sein Blick auf das Kind fiel. Er forschte nach der Ursache des entsetzlichen Anfalles, stellte eine heftige Gehirnerschütterung infolge des Sturzes fest, und erklärte die Erkrankung für einen sehr schweren »Fall«, von dem der Vater sofort in Kenntnis gesetzt werden müsse. Ohne Verweilen sandte er einen Boten fort.

Es hatte lange, lange Zeit ein unveränderlicher Stern über dem Klostergute gestanden. Er hatte Sonnenschein und Regen, Säen und Ernten wohl behütet, auf daß die goldene Frucht des Reichtums, des Familienansehens immer üppiger anschwelle; und als das biderbe Geschlecht zu erlöschen drohte, da war er scheinbar noch höher aufgeglüht und hatte die kümmerliche Menschenblüte angestrahlt, die der alte Stamm getrieben – nahezu mit dem ersten Augenaufschlag des Kindes zugleich war ja die neue Goldquelle im kleinen Tale für die Wolframs zutage gesprungen – und nun erlosch er urplötzlich! Nicht heraufziehende, wieder verwehende Wollen verdeckten sein Licht, nein, er zerstob in Trümmer und riß den Wolframschen Namen mit sich in die ewige Nacht! ...

Hier, im Klosterhause, zersplitterte nur ein dünnes, morsches Holzgeflecht unter dem Stoß eines Hundes, um das junge Menschenleben, an das sich tausend heiße Wünsche und Hoffnungen klammerten, zu vernichten; draußen im kleinen Tale aber, fast zur gleichen Stunde, empörte sich ein furchtbares Element gegen die Hand, die gierig und räuberisch in den Eingeweiden der Erde gewühlt hatte, um Schätze über Schätze auf jenes kindliche Haupt zu häufen – die Nemesis ging schweren Trittes über den Schuldigen hinweg, aber sie zertrat dabei auch Menschenleben, die nicht mitgesündigt hatten.

Man hörte auf dem Schauplatz des Unglücks immer noch Hilferufe aus der Tiefe; allein den Abgesperrten, die das Wasser unerbittlich unter sich steigen sahen, ohne daß sie auch nur noch um eine Linie höher zu klettern vermochten, war schwer beizukommen. Was Menschenkraft vermochte, das geschah. Man arbeitete, daß das Blut unter den Nägeln hervortrat, und der Rat war der Tätigsten einer, aber das beschwichtigte und versöhnte die Gemüter nicht.

Alles, was sich an Haß und Groll seit langen Jahren in der Bevölkerung gegen den reichen, gewalttätigen ehemaligen Oberbürgermeister aufgespeichert hatte, es kam jetzt zum Austrag. Er war stets mit verächtlichem Lächeln an den Leuten vorübergegangen, wenn sie mit bösen Blicken, aber dennoch unterwürfig, den Hut vor ihm gezogen; denn ein Mächtiger war und blieb er auch noch nach seinem Rücktritt vom öffentlichen Amte, ein Mächtiger an Kapital und Einfluß.

Jetzt lächelte er nicht der murrenden Menge gegenüber. Alles, was an schmähenden und beschuldigenden Zurufen sein Ohr traf, sagte ihm mit vernichtender Kritik, daß er nicht allein tödlich verhaßt, sondern auch verachtet sei, daß der alte Klaus nicht wiederkommen dürfe, weil er sehen müsse, daß einer seiner Nachkommen das alte Ansehen der Wolframs beim Publikum durch seine zuchtlose Habgier, sein brutales und anmaßendes Auftreten vollständig untergraben habe.

In diesen inneren und äußeren Sturm hinein kam die ärztliche Botschaft vom Klostergute. Das zum Hinablassen in die Tiefe bestimmte Seil, das der Rat eben herbeischleppte, entrollte seinen Händen; einen Augenblick stand er wie vom Blitz getroffen; dann verließ er seinen Rettungsposten, um nach der Stadt zu laufen.

Zwar hatte die Gendarmerie bereits eine gewisse Absperrung um die Unglücksstätte zu ziehen gewußt; aber die Menschenmassen, denen immer neue von der Stadt her zuströmten, standen doch so nahe und dicht gedrängt, daß sich die Fortgehenden eine förmliche Bresche erzwingen muhten.

»Haltet ihn! Er will uns entwischen, weil er weiß, daß den armen Teufeln da unten nicht zu helfen ist!« rief es plötzlich aus der Menge, durch die sich der Rat, gefolgt von der Magd, die ihm die Botschaft gebracht hatte, zu wühlen suchte.

Augenblicklich griffen ein paar Dutzend Hände nach ihm – der Hut flog ihm vom Kopf, sein Rock wurde zerrissen, und die wütende Masse hätte den Verhaßten zertreten, wenn nicht die Sicherheitsbeamten zu seinem Schutz herbeigeeilt wären und ihn bis zu den ersten Häusern der Stadt, begleitet hätten.

Ohne Hut, mit Staub und Schweiß bedeckt, verstört im Gesicht bis zur Unkenntlichkeit, so trat er in die Amtsstube.

»Was ist mit Veit?« stieß er atemlos heraus, und in seiner Stimme mischte sich mit der bebenden Angst doch auch noch der Ingrimm über die eben erlittene Mißhandlung. An die dunkle Macht, die bereits mit einem Fuß in seinem Hause stand, an den Tod, schien er doch, trotz der dringenden Botschaft des Arztes, nicht im entferntesten zu denken.

Der Knabe lag augenblicklich wieder ruhig – bei flüchtigem Hinsehen konnte man meinen, er schlafe.

»Er hat einen seiner gewöhnlichen Anfälle gehabt!« sagte der Rat tief erleichtert, aber auch fast überlegen und im Tone einer scharfen Zurechtweisung dafür, daß man ihm um deswillen einen solchen Schrecken eingejagt habe. »Ja, die Anfälle wiederholen sich nur in etwas rascher Aufeinanderfolge,« versetzte der Arzt ohne alle Empfindlichkeit, aber auch ohne den Rat anzusehen. Er trat an einen Tisch und schrieb mit dem Bleistift ein neues Rezept.

»Wie kommt das?« fragte der Rat immer noch unbesorgt – auch der Fall war ja schon öfter dagewesen.

»Er hat eine Gehirnerschütterung erlitten; er ist gestürzt –«

»Vom Birnbaum?«

»Nein,« sagte die Majorin vom Fenster herüber. Sie hatte sich beim Kommen ihres Bruders in die tiefe Mauernische zurückgezogen und war bis jetzt nicht in seinen Gesichtskreis getreten.

Er fuhr herum, und ein diabolisch triumphierendes Lächeln schlüpfte um seinen Mund. »Ei, da bist du ja, Therese! ... Wie – ich meinte vor wenigen Stunden wirklich, es sei ein Auseinandergehen fürs ganze Leben, so tragisch war deine zurückweisende Handbewegung! – Und nun hast du doch den Weg auf das Klostergut zurück gefunden?« –

»Ja – einen seltsamen,« bestätigte sie in einem fast geisterhaften Ton, während der Arzt das Zimmer verließ, um sein Rezept fortzuschicken.

Der Rat schwieg betroffen und fast verwirrt durch den verachtungsvollen Drohblick, der ihm aus den dunkeln Augen entgegenfunkelte. Aber er hatte ja nicht die leiseste Ahnung von dem, was geschehen war, und so kam ihm plötzlich die Gewißheit, daß die Schwester nicht reumütig, wie er im ersten Augenblick triumphierend gemeint hatte, sondern nur in der Absicht zurückgekehrt sei, das Ihrige zu holen und einzufordern. Eine stille Wut kochte in ihm.

»Seltsam allerdings,« wiederholte er spöttisch ihren eigenen Ausspruch. »Es fragt sich dabei nur, ob er auch mir zusagt, ob ich dir nach einem solchen Fortgehen das Wiederkommen ohne weiteres in meinem Hause gestatten will. Und daraufhin sage ich dir: Mit nichten, meine Teure! – Wir haben nichts mehr miteinander zu schaffen, und zu dem Giebelzimmer steht dir der Weg nicht mehr offen – hier ist der Schlüssel!« Er schlug gegen die Brusttasche seines Rockes. »Willst du mehr wissen, so wende dich an das Gericht – dort werde ich dir schon antworten.«

Das Blut wallte ihr nach dem Gehirn und raubte ihr den letzten Rest von Besonnenheit. »Ach so – du willst mich als Bettlerin vom Klostergut jagen?« rief sie mit heiserer Stimme. »Du glaubst, ich krieche aus Angst um mein rechtmäßiges Hab und Gut zu Kreuze, während ich doch nur hier stehe, um dich zu fragen, wie der letzte Brief meines Sohnes an seine unglückliche Mutter in deine Hände gekommen ist?« Er wurde kreideweiß, lachte aber auch sofort hart und gezwungen auf. »Ein Brief des Landstreichers? Wie möchte ich mir damit die Finger beschmutzen!«

Die Majorin biß die Zähne zusammen, um nicht aufzuschreien vor Empörung und wahnsinnigem Mutterschmerz. »Dann soll ich wohl denken,« – murmelte sie und trat ihm näher – »du habest das Kästchen nur an dich genommen, um – seines Silberwertes willen?«

Er prallte zurück, als öffne sich die Erde zu seinen Füßen.

Mit gehobenem Arm zeigte sie auf die klaffende Fuge in der Holzwand – fast wider Willen folgten seine Äugen der Richtung, und ein nicht zu beschreibender Schrecken durchfuhr ihn.

»Dort ist Veit gestürzt – er ist dir auf deinem Schleichweg nachgegangen bis in das Zimmer des fremden Hauses,« sagte sie mit gedämpfter, aber harter, unerbittlicher Stimme. »Dort hast du einst gestanden und dem alten Freiherrn sein Geheimnis schurkisch abgelauscht; dort den Weg der Schmach bin ich vorhin herübergegangen, und mit mir Adams Tochter. Das Mädchen jubelte, und nicht um alle Reichtümer der Welt wird sie den Mund verschließen – sie schweigt nicht! Morgen wird man an allen Straßenecken der Stadt Feuerjo schreien über den Skandal auf dem Klostergute, über den Spion, den ehrlosen Schleicher, der die Nachbarhäuser unsicher macht –«

»Schweige – oder ich erwürge dich mit diesen meinen Händen!« raunte er und schüttelte seine geballten Hände dicht vor ihrem Gesicht. »Glaubst du, ich gehe solch einem Spatzenschrecken, wie ihn der Weiberklatsch da drüben zurechtgemacht hat, aus dem Wege? Meinst wohl gar, ich solle mein Bündel schnüren und mit meinem Jungen eines solchen hirnlosen Geschwätzes wegen Haus und Hof verlassen, damit du dich mit deiner Brut hineinsetzen kannst? ... Das Schlupfloch kenne ich,« – er deutete nach der Fuge – »aber wer will mir beweisen, daß ich je drin gewesen bin?«

Er stieß ein wildes, halbunterdrücktes Hohngelächter aus und sprang mit einem Satz die Galerietreppe hinauf. Es war das Werk einer Sekunde, daß er die neue Wandschranktür zurückschlug, mit einem Arm in die Tiefe griff und geräuschlos den festen Schluß der Holzwand bewerkstelligte.

Die Majorin dachte schaudernd, daß die Habgier, die Lust am Besitz, vor allem aber die Affenliebe für seinen spätgeborenen Nachkommen den Mann zu einer Art von listigem, brutalem Raubtier umgewandelt habe. So stand er dort mit den geschmeidigen Bewegungen seiner immer noch elastischen Gestalt, ungebeugt, sichtlich entschlossen, der Wucht der auf ihn einstürmenden Ereignisse mit all seiner wilden Energie, seiner juristischen Meisterschaft die Stirn zu bieten.

Sorgfältig schloß er die Schranktür zu und war im Begriff, den Schlüssel herauszuziehen; aber er blieb plötzlich wie erstarrt in seiner Stellung stehen und wandte nur den Kopf mit dem Ausdruck eines jähen Entsetzens nach dem Sofa, auf welchem Veits Körper eben wieder von den Krämpfen gepackt und grauenhaft, fast schraubenförmig verdreht und emporgehoben wurde; dabei entrang sich ein nie gehörtes, anhaltendes, schrilles Pfeifen der gepreßten kleinen Kehle.

Unwillkürlich fuhr der Rat mit beiden Händen nach dem Kopfe. »Um Gottes willen, was ist das, Doktor?« schrie! er dem Arzt entgegen, der eben wieder in das Zimmer trat.

Der Doktor zog die Schultern empor, und zu dem Kranken tretend, versetzte er gedrückt: »Ich sagte Ihnen ja schon von der beängstigend raschen Aufeinanderfolge der Anfälle.«

Wie ein Wahnwitziger stürzte der Rat die wenigen Stufen herab. »Sie wollen mir doch nicht weismachen, daß Gefahr vorhanden sei?« stotterte er ohne Atem, ohne Stimme.

Beim Anblick dieser völligen Fassungslosigkeit schlug der Arzt die Augen zu Boden und beobachtete ein ernstes Schweigen.

»Mann, foltern Sie mich nicht! Muß – muß mein Veit sterben?« stöhnte der Rat auf und schüttelte den Arm des Arztes.

»Meine Hoffnung ist eine ganz geringe –«

»Lüge! Wahnwitz! Sie sind ein Stümper – Sie haben keine Ahnung von einer Diagnose! Da sollen und müssen mir andere her!«

Er stürzte hinaus, und nach wenigen Sekunden liefen die Mägde und einige inzwischen aus dem kleinen Tal zurückgekehrte Tagelöhner nach allen Richtungen hin, um die Ärzte, deren sie habhaft werden konnten, herbeizuholen.

Wenige Stunden später lag ein völlig gebrochener Mann zu Füßen des Lagers, auf dem ein junges Leben in rasender Schnelligkeit seiner Auflösung entgegenging – mit dem letzten Pulsschlag dieses jungen Herzens wurde er selbst in das Nichts hineingerissen. Was war er ohne das eine Ziel, dem er in fieberhafter Anstrengung, über Ehre und Gewissen hinweg, unausgesetzt Goldklumpen zugewälzt? Er hatte für seinen Abgott nach jener Höhe gestrebt, an deren Fuß sich das »Menschengesindel« zusammendrängt und ehrfürchtigen Blickes hinaufschaut zu dem Kapital, das von einem blendenden Schein umfunkelt wird, mag es auch mit dem boshaftesten Menschenantlitz in die Welt hineinblicken, mag sein Träger an Geist, Fleisch und Bein die kümmerlichste Jammergestalt sein.

Nun hatte er sich mit halberschöpfter Körperkraft und verlorener Seele hinaufgearbeitet; nun stand er droben und sah in ein Grab, und in den Staub und Moder hinein konnte er seine Schätze nicht werfen. Wohin damit?

Er hatte die Hälfte dessen, was er zusammengescharrt, den Ärzten geboten für ihre rettende Hilfe; er hatte gerast und sich mit den Fäusten die Brust zerschlagen, und in wahnsinniger Verzweiflung Gott angerufen und ihn zugleich verlästert und seine Allmacht und Barmherzigkeit mit dem beißendsten Hohn in Frage gestellt – und währenddessen waren die Krämpfe des Knaben in immer kürzeren Unterbrechungen wiedergekehrt; nicht ein einziges Mal mehr hatte ihn der kluge Blick, der sein Stolz gewesen, bewußt gesucht. Das Denken war längst erloschen, während der Körper noch rang und kämpfte – dieser Körper, den er einst wie ein Königskind in jauchzendem Glücksgefühl, fast in Ehrfurcht aus den Händen der Hebamme entgegengenommen, den er in Daunen, unter grünseidenem Baldachin gebettet! –

Angesichts dieses entsetzlichen Endes stieg der Anfang, stiegen jene Tage in grausamer Deutlichkeit vor ihm auf... Er sah sein Weib sterben – sie hatte ihre Schuldigkeit getan und konnte die Welt getrost verlassen, hatte er damals hartherzig gemeint und keinerlei Schmerz empfunden. Er sah die wahrhaft fürstlichen Zurüstungen zu dem Taufschmaus im ehemaligen Refektorium der Mönche, sah »die stolze Gevatterschaft in Samt und Seide« glückwünschend unter den Myrten- und Orangenbäumen stehen – aber er hörte auch das nervenerschütternde Krachen, mit dem die uralte Orgel am Tage nach Veits Geburt in sich zusammengebrochen war.

Und er wühlte die Augen tiefer in das Ende der Decke, die den zuckenden Körper seines Kindes verhüllte. Er wollte nicht mehr denken, er wollte nicht die grauenvolle Stimme hören, die ihm in das Ohr flüsterte, daß dort in der Mauertiefe auch Anfang und Ende beisammenlägen, daß sich sein Veit in diesem Augenblick wohl draußen unter dem strahlend blauen Spätnachmittagshimmel fröhlich und ausgelassen tummeln würde, wenn die alten zinnernen Pfeifen, die Holzengel noch an dem Platze stünden, da sie die Hand des musikbegabten Abtes aufgestellt, und wo sie Jahrhunderte hindurch harmlos auf die harten, aber braven Köpfe der Wolframs, auf ihr Tun und Treiben niedergesehen, nie verratend, daß ein Schleich- und Diebsweg neben ihnen die Wand durchbohre ... Verflucht, verflucht bis in alle Ewigkeit sollte der Tag sein, an dem sich das Geheimnis dem letzten Wolfram enthüllt und er der Versuchung erlegen war! ...

So war die Nacht hereingebrochen, und ein Arzt nach dem anderen hatte sich verabschiedet; nur der geschmähte alte Hausdoktor war geblieben, und die Majorin hatte es nicht über sich gewinnen können, vom Klostergut zu gehen, während ihr heißgeliebter Familienname mit seinem jüngsten Träger für immer erlosch.

Sie hatte für diese wenigen Stunden das Regiment im alten Vaterhause stillschweigend wieder übernommen. Es war ihr zumute, als müsse sie sich verbluten und sterben an den tiefen Wunden, die ihr der heutige Tag geschlagen: aber sie ging umher mit dem blassen Steingesicht, wie es die Leute des Hauses an ihr gewohnt waren. Sie holte das Nötige aus der Speisekammer, und auf dem Herde brodelte, ihrem Befehle gemäß, ein warmes Abendbrot für das Gesinde, das um sein Mittagessen gekommen war ... Aus dem kleinen Tale kam eine Nachricht um die andere, dringende Botschaften voll Jammer und Unglück – sie ließ keinen der Boten hinein zu dem Mann, der nun nicht mehr helfen konnte und am Sterbebette seines Kindes furchtbar büßte, was er gesündigt hatte. Ihr Bruder sah sie nicht. Er hob nur einmal den Kopf und knirschte wie ein Wahnwitziger mit den Zähnen, als ihm eine der Hausmägde mitleidig ein Glas mit Wein gemischten Wassers als Labung bot – er stieß voll Abscheu den Trunk von sich ... Auch den treu ausharrenden Arzt beachtete er nicht. Er seufzte nur tief auf, und ein Schauder lief durch seine Glieder, wenn sich die kleinen Füße, neben die er seinen Kopf gelegt hatte, zwar immer matter, aber in pünktlicher Wiederholung der Krämpfe zusammendrehten.

Es wurde immer stiller in der Amtsstube. Das Rauschen des Laufbrunnens im Vorderhof drang eintönig durch das offene Fenster herein, und daneben war es, als gehe ein Erschauern durch die Lindenwipfel – der Nachtwind schlich durch die Blätter und kam auch wie auf Geistersohlen über den Steinsims her und rührte an die Papiere, die auf dem Tisch in der Fensterwölbung lagen.

Nun schlug es draußen auf dem Benediktinerturm die elfte Stunde, und ehe noch der letzte Schlag verhallt war, streckte sich der Körper des Sterbenden in seiner ganzen Schlankheit aus, und als der Rat mit einem Schrei aufsprang und sein Ohr an den geöffneten Kindermund legte, da war schon der letzte Atemhauch in den Lüften verflogen.

Minutenlang hielt er den entseelten Körper an die Brust gedrückt und küßte wiederholt das noch warme, kleine Gesicht; dann strich er das Kopfkissen zurecht, bettete den Kopf des Knaben vorsichtig darauf, schloß ihm die Lider über den starren Augen und ging, ohne sich noch einmal umzusehen, schweigend hinaus.

Die Majorin hatte sich in die unbeleuchtete Eßstube zurückgezogen. Die Tür stand offen, und so konnte sie das Sterbelager im Auge behalten. Sie hörte, wie der Rat ohne Aufenthalt den Hausflur und den Vorderhof durchschritt und das Mauerpförtchen hinter sich zufallen ließ.

»Er geht wohl nach dem kleinen Tale,« flüsterte der Arzt, als sie, lautlos und entfärbt wie ein Geist, zu ihm trat. »Und so schlimm es draußen auch stehen mag, für ihn ist es gut. Es treten schwere Aufgaben an ihn heran, und die werden ihm über seinen großen Schmerz hinweghelfen.«

Auch er verließ das Haus. Die Majorin schloß die unteren Fenster der Amtsstube, zog die Vorhänge vor und öffnete dem Luftzug die oberen Flügel ... Einen Augenblick verharrte sie erschüttert vor der Leiche des Knaben, der nur über die Erde gegangen war, um mit jeder seiner kleinen Fußstapfen Unheil und Leiden für andere aus dem Boden zu stampfen – und sie legte die Hand auf die Brust und sagte sich, daß auch sie voll Schuld sei, daß sich ihr glühender, fast frevelhafter Wunsch, den Wolframschen Namen fortleben zu sehen, in seiner Erfüllung strafend auch gegen sie selbst gerichtet habe.

Sie löschte das Nachtlicht aus, schloß die Türen und ging in die Küche. Dort kauerten die Mägde auf der Türschwelle, und waren ermüdet eingeschlafen. Ohne sie zu wecken, zog sie den Docht zu einem ungefährlichen Flämmchen tiefer in die Lampe und ging hinaus, über den Hof hinweg in den Garten. Sie wußte zum erstenmal in ihrem Leben nicht, wohin sie ihr Haupt legen sollte. Der Rat hatte sie aus seinem Hause gewiesen, und den Schlüssel zu dem Giebelzimmer, dem Raume, der trotz alledem augenblicklich ihr unbestrittenes Eigentum war, trug er in der Tasche ... So setzte sie sich auf die Gartenbank und wollte das Frührot erwarten, um dann am Schillingshof um Einlaß anzuklopfen.

Die Sterne funkelten in seltener Pracht über dem Klosterhause, über den alten Giebeln und Mauern, in denen sie als glückliches Kind gespielt, als stolze Braut geträumt und als Frau und Mutter unbeschreiblich gelitten hatte – durch eigenes Verschulden! ... Und was der Tag mit seinen Stürmen nur halb vollzogen, das vollendete nun die stille, schweigende, feierliche Nacht – die Läuterung, der Frauenseele, die sich selbst heute nachmittag noch einmal erbittert, voll auflodernder Eifersucht und Rachegefühl empört hatte bei der Nachricht, daß der böslich verlassene Mann, der heute noch geliebte, mit einer anderen glücklich geworden war und sie, die Unversöhnliche, vergessen hatte. Da hatte sie mit sich ringen müssen, um nicht plötzlich voll Haß mit den Händen nach der herrlichen Frauengestalt zu stoßen, die das Kind jener verhaßten »Zweiten« war.

Aber auch das war nun vorüber und niedergekämpft zu den Schlacken, die der sturmvolle Läuterungsprozeß von ihrer Seele schüttelte ...

Am anderen Morgen lief die erschütternde Nachricht durch die Stadt, daß der Herr Rat Wolfram selbst in seinen Gruben verunglückt sei. Die Leute erzählten, er sei des Nachts wie ein Trunkener oder ein vom Schwindel Befallener hinaufgekommen, sei allen Abmahnungen zum Trotz mit der Rettungsmannschaft in die Gruben hinabgefahren und plötzlich, kaum nach Beginn der Einfahrt, lautlos von ihrer Seite verschwunden – der Schwindel müsse ihn in die gähnende Tiefe hinabgerissen haben.


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