Eugenie Marlitt
Im Schillingshof
Eugenie Marlitt

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8.

Bald darauf hörte man draußen Männerschritte langsam durch die Galerie kommen ... Minka, die sich bei dem Donnerrollen halb und halb in die Kleiderfalten ihrer Herrin verkrochen hatte, schlüpfte schleunigst und Grimassen schneidend in ihre dunkle Fensterecke; auf dem Teetisch klirrte der silberne Kessel in den Händen der jungen Frau, und Lucile trat vom Fenster zurück und ließ die Gardinen wieder zusammenfallen, hinter denen das Unwetter draußen weitertobte – sie fürchtete sich nicht. So abergläubisch und furchtsam sie war in bezug auf unheimliches, nächtliches Spuken und Treiben zwischen Himmel und Erde, so wenig zitterte sie vor dem Walten der Naturkräfte. Je toller es in den Lüften zuging, desto »amüsanter« war es – sie fühlte sich als unbeteiligte Zuschauerin, denn an sie konnten doch unmöglich Tod und Vernichtung herantreten.

Sie war vor der niederhängenden Gardine stehen geblieben, vorteilhafter konnte sich das feingliederige Elfenkind mit den herabrollenden Locken voll goldbraunen Glanzes nicht präsentieren, als auf diesem grün- und metallischschillernden, malerischen Faltenwurf, den das Spitzenmuster gleichsam weiß überschneite.

Der alte Freiherr Krafft von Schilling trat in die durch den Bedienten weit zurückgeschlagene Tür. Er stützte sich, wie es schien, mit seiner ganzen Schwere auf Felix Lucians Arm, denn ein Schlaganfall hatte ihm das rechte Bein gelähmt ... Trotzdem war er eine gewaltige Erscheinung mit seiner breiten Brust und dein frisch geröteten Gesicht voll Humor und Lebenslust.

»Sapperment! Die kleine Ausreißerin dort wäre auch nach meinem Geschmack, Felix!« rief er, überrascht auf der Schwelle stehen bleibend – er strich sich schmunzelnd den starken, graumelierten Lippenbart. »Ein ganz scharmantes Kind – eine berückende kleine Hexe!«

Die derbe Schmeichelei, ja, schon der Klang dieser ungeniert lauten, kräftigen Männerstimme brachten das erbitterte junge Mädchen sogleich wieder in das gewohnte Fahrwasser. Wie eine hingewirbelte Schneeflocke huschte sie über den Teppich und knickste schelmisch à la Goßmann vor dem alten Herrn.

Sein Blick hing wie verzaubert an ihr: »Schau, solch ein seltenes Zugvögelchen hat der Schillingshof seit Menschengedenken nicht gesehen! – Das erquickt einem alten, einsamen Patron wie mir Herz und Augen! ... Na, es ist ins rechte Netz geflogen – wollen schon weiterhelfen – nur Mut!«

Er lenkte seine Schritte nach dem Teetisch. »Nun sage mir aber, Klementine, weshalb du uns ganz außer Atem da herüberjagst – brennt's? oder hast du gar Angst vor dem Gewitter? Das tut dir nichts – wir haben einen Blitzableiter auf dem Dache.« – Das alles sagte er scherzend, in seiner drastisch jovialen Art; aber in Blick und Haltung lag auch eine entschiedene Auflehnung gegen das Kommando der Frau Schwiegertochter.

Die Baronin goß Tee in eine Tasse und hob dabei flüchtig die Augen nach der altertümlichen Standuhr. »Es ist unsere Teestunde – nicht um eine Minute früher,« sagte sie mit ihrer füllen Miene.

Er zog die dicken, graubereiften Brauen finster zusammen. »Ganz schön, mein Kind,« versetzte er mit hörbarem Ärger. »Als alter Soldat bin ich auch ein Freund der Pünktlichkeit; aber ich hab' mich nie nach dem Hausbrauch drillen lassen – auch von meiner guten Frau nicht – und der dort –« er deutete nach dem Uhrzeiger – »darf mich nicht tyrannisieren, am allerwenigsten aber, wenn ich mitten in einer Besprechung bin, wie vorhin – verstanden, junges Frauchen?«

Langsam ließ er seine schwere Gestalt in einen hochlehnigen Armstuhl am Teetisch sinken und winkte Lucile auf einen Schemel an seine Seite. Bei diesem Anblick griff die Baronin mit gesenkten Lidern nach der Tischglocke und befahl dem eintretenden Bedienten, noch zwei Kuverts aufzulegen – auffallender konnte es nicht an den Tag gelegt werden, daß die Hausfrau bis zu diesem Augenblick nicht auf Gäste gerechnet hatte.

Baron Schilling saß neben ihr, seinem Vater schräg gegenüber. Vater und Sohn sahen sich sehr ähnlich; sie waren wie alle Schillings nicht durch besondere Schönheit ausgezeichnet ... Oben im Mittelsaal über dem Portale des Säulenhauses hingen Bilder aus der Zeit, da das alte Geschlecht noch auf seiner Ritterburg gehaust hatte. Schon damals waren die zu volle, kirschrote Unterlippe, die kantige Stirn und die starke, charakteristisch deutsche Nase die Familiensignatur gewesen – es waren kraft- und lebensvolle Trotzköpfe auf wahren Reckengestalten, die dazu geboren schienen, in schwerer Rüstung zu kämpfen. Auch die zwei letzten gehörten in jeder Linie zu ihnen, nur war das ursprünglich starre, gelbe, dem reifenden Weizenfelde gleichende Haar beim alten Freiherrn zum dunklen, jetzt graugesprenkelten Blond geworden, während der Sohn mit seinem krausen, schwarzbraunen Kopf- und Barthaar nahezu für einen Südländer gelten konnte ... Das große, feurigblaue Auge aber, das oben auf den Bildern durch einen stolzen, sicheren Falkenblick imponierte, hatten beide gemein; beim alten Herrn strahlte es schalkhaft, sinnlich glühend, voll Leichtlebigkeit in die Welt hinein – der Sohn hielt es meist gesenkt, als schaue es nach innen.

Seine junge Frau reichte ihm eine Tasse Tee hin, und mit einem prüfenden Aufblick nach ihrem Gesicht hielt er die spendende, schlanke Hand einen Augenblick fest. »Dir spielt das Gewitter mit, Klementine – du leidest?« fragte er freundlich teilnehmend.

Sie zog ihre Hand zurück und stellte die Tasse auf den Tisch vor ihm nieder, während sie den Kopf mit dem Ausdruck des Widerwillens seitwärts bog. »Ich habe Schwindel, du bringst wieder einmal den unleidlichen Farben- und Ölgeruch aus deinem sogenannten Atelier mit,« sagte sie erregt.

Der alte Freiherr wurde dunkelrot im Gesicht. »Hm – läßt sich vielleicht das geringschätzende ›sogenannte‹ in ›lächerliche Dilettantenanmaßung‹ übersetzen, Klementine?« fragte er scharf, und sich mit beiden Händen auf die Armlehnen stützend, richtete er den Oberkörper gespannt und herausfordernd in die Höhe.

»Du hast Klementine mißverstanden, Papa; sie will damit nur das allerdings notdürftige Arbeitslokal bezeichnen, das mir vorläufig die Dachstube mit dem rasch improvisierten Oberlicht sein muß,« sagte sein Sohn mit Nachdruck, und sein weitaufgeschlagenes Auge fixierte stolz das Gesicht der jungen Frau.

Sie hielt den Blick mit einem schattenhaft um den Mund irrenden, spöttischen Lächeln aus und schüttelte den Kopf, als sei sie entschieden nicht gewillt, den eigentlichen Sinn ihrer Worte auch nur um ein Jota verdrehen zu lassen. Es war überraschend zu sehen, wie ein starrer Eigenwille jeden Muskel dieser scheinbar schlaffen, energielosen Nonnengestalt urplötzlich spannte und belebte.

»Da hast du's, Arnold!« lachte der Freiherr grimmig auf. »Nun kannst du dich abermals aufsetzen, und noch dazu gegen Frauenvorurteil – o je!« – Er fuhr sich mit komischer Verzweiflung in das dicke, volle Grauhaar hinter dem Ohr. »Hab's übrigens nicht viel besser gemacht... Schau, meine liebe Klementine, ich bin blind – deutsch herausgesagt –, ein Einfaltspinsel gewesen, weil ich Arnolds Begabung nicht verstanden habe. Na, gar so verwunderlich ist's im Grunde nicht, denn wir Schillings haben eigentlich immer zu den schönen Künsten gepaßt wie der Esel zum Lautenschlagen. Gerade aus dem Grunde habe ich aus Leibeskräften gegen die ›Kleckserei‹ protestiert, und da hat's der arme Kerl hinter meinem Rücken tun müssen ... Nun schreiben sie mir aus Berlin, mein Sohn werde eine große Karriere machen, und ich muß mich schämen vor den Leuten, schämen wie ein begossener Pudel ... Hätte ich nur die blasse Ahnung davon gehabt, was in meinem Jungen steckt, da – na, da war' vieles anders gekommen.«

Ein dunkler Seitenblick aus den grauen Augen traf ihn. »Ach so, du meinst, Papa, der Malerpinsel hätte die letzten Schillings reichlich ernähren können?« –

»Klementine!« unterbrach sie der junge Mann rasch mit tiefverfinstertem Gesicht.

»Ich bitte dich, brause doch nicht so auf. Arnold!« klagte sie und fuhr mit der Hand leicht nach dem Ohr, als berühre sie der Klang dieser schönen, tönenden Männerstimme peinvoll. Sie war offenbar nervenleidend und augenblicklich in sehr gesteigerter Aufregung; aber sie schwieg nicht. – »Sage doch selbst, ob du von dem Honorar leben könntest, das dir die Leute aus der – der Demimonde zu zahlen vermögen? ... Zum Exempel, was hat dir die Desdemona im weißen Atlaskleide eingetragen?« – Unter der nervös aufzuckenden Oberlippe glänzten perlweiße, aber lange Zähne.

Jenes charakteristische Lächeln, das schon in der Flurhalle um den Mund des jungen Mannes gespielt hatte, erschien flüchtig wieder. Er sah ausdrucksvoll ironisch nach Lucile hin, der es sichtlich in allen Fibern prickelte, der »langen, grauen Person« für die »Demimonde« eine allerliebste Wahrheit ins Gesicht zu sagen.

»Das Bild hat mir nach vielen gescheiterten Versuchen das Glücksgefühl eingetragen, die rührende Gestalt der unglücklichen Dogentochter doch annähernd so veranschaulicht zu haben, wie sie in meiner Phantasie lebt,« sagte er mit heiterer Ruhe. »Madame Fournier hat ein herrliches Profil, und ihre Aufopferung, ihre Geduld, sich während der Sitzungen zu langweilen –«

»Zu langweilen?!« wiederholte die Baronin unter einem leisen, hysterischen Auflachen. »Es ist schlimm, Arnold, ja, es führt zu Täuschung und Betrug in der Ehe, wenn vor der Verheiratung eines vom anderen so wenig erfährt, wie zum Beispiel wir beide.« setzte sie gleich darauf hinzu – ihre schwache Stimme erstickte fast in Bitterkeit.

Der Freiherr war eben im Begriff, ein Ei aufzuklopfen – wie auf einen Ruck hielt er inne; mit seinem mächtigen Kopf, in dem die Augen unter den tiefgefalteten Brauen grimmig funkelten, sah er aus wie ein zornig knurrender Löwe. Er hatte offenbar eine sehr derbe Antwort auf den Lippen, aber er bezwang sich. »Zum Kuckuck auch, da höre ich ja etwas ganz Neues!« sagte er anscheinend humoristisch. »Also Arnold weiß nicht genug von deiner Vergangenheit? Wozu denn aber auch, kleine Frau? Die Verheiratung ist ja doch kein Eintritt in ein Geschäft oder dergleichen, bei welchem man einen schriftlichen Lebenslauf abzugeben hat! ... Du bist zwar bis zu deinem siebzehnten Jahre im Kloster erzogen worden; aber wir setzen trotzdem anständigerweise voraus, daß da alles mit rechten Dingen zugegangen ist – oder nicht, Klementine? Wie?!« –

Die Baronin war bis dahin, selbst bei ihren schneidend und boshaft betonten Bemerkungen ihren Obliegenheiten als Herrin am Teetisch pünktlich nachgekommen – jetzt zog sie ihr Taschentuch hervor und drückte es mit zitternder Hand wiederholt an Mund und Stirne, als errege sie die anzügliche, derbe Ausdrucksweise ihres Schwiegervaters bis zur Ohnmacht, oder auch, als befürchte sie Blutspucken.

Baron Schilling sah seinen Vater vorwurfsvoll bittend an und zog die Hand seiner Frau liebreich an sich. »Du darfst meiner Vergangenheit ebenso ruhig vertrauen, wie der Zukunft, die du an meiner Seite verleben wirst,« sagte er mild und freundlich, wie ein treuer, zartfühlender Bruder, der über die weiblichen Schwächen einer Schwester nachsichtsvoll hinwegsieht. »Du wirst dich auch allmählich in die Überzeugung einleben, daß mich mein Streben mit allen Schichten der menschlichen Gesellschaft in Berührung bringen muß. Darf irgendwo der Satz, der Zweck heiligt das Mittel, Anwendung finden, so ist es in der verklärenden Kunst. Ihre Motive sucht sie im Boudoir, wie in der Dachstube, und wenn mich ein Charakterkopf interessiert, so gehe ich ihm nach, und sollte es bis in die Höhle des Verbrechens sein ... Diese Duldung muß jede Künstlerfrau üben, und auch du wirst sie lernen.«

»Nein, Arnold. Derartige sanguinische Hoffnungen lasse dir nur gleich vergehen,« erklärte sie mit einer Ruhe, die nach der eben an den Tag gelegten beängstigenden Nervosität förmlich verblüffte. »Ich bin streng wahrhaftig erzogen und verstehe nicht zu lügen ... Zu den Madonnenbildern bete ich, und in der Messe harre ich aus bis zum letzten Ton – als gute Katholikin muß ich das –, sonst aber ist mir alles, was Malerei, Musik und dergleichen heißt, in tiefster Seele zuwider.«

Sie sprach mit gesenkten Augen völlig leidenschaftslos und eintönig und zupfte dabei mechanisch an der Spitzenecke ihres Taschentuchs. Aber ihre flache Brust dehnte sich wie befreit unter den verletzenden Worten ihres Bekenntnisses, das einer kaltblütigen Rache für die Malersünden des jungen Ehegemahls sehr ähnlich sah. »Du siehst, ich habe auch den Mut der Wahrhaftigkeit, Arnold,« fuhr sie in demselben Tone fort und hob die Lider. »Ich mache es nicht wie viele meines Geschlechts, die nicht einen Schritt weit gehen würden, um einen Raffael zu sehen, oder Beethovensche Musik zu hören, wenn sie nicht die Verachtung der Kunstnarren fürchteten – sie heucheln; ich aber bekenne offen, daß Gemälde für meine angegriffenen Augen Farbenkleckse sind, und Zeichnungen mich langweilen, daß die Musik an meinen Nerven schmerzhaft reißt, daß ich eine ausgesprochene Abneigung hege gegen alles, was sich Künstler nennt – und deshalb darf es dich nicht wundern, bester Arnold, wenn ich wohl die Gemahlin des Baron Schilling, auf keinen Fall aber eine Malerfrau sein will und die gewünschte Duldung niemals üben werde.«

»Das wird sich finden,« sagte Baron Schilling kurz; er war bleich geworden, und seine Stirn furchte sich; aber seine ruhig stolze Haltung bewies unwiderleglich, wer schließlich »der Herr« sein würde.

Die junge Frau blickte vor sich nieder – diesmal augenscheinlich betroffen; der rauh gebieterische Ton schien ihr erschreckend neu zu sein; sie hatte vielleicht von ihrer »Wahrhaftigkeit« einen anderen Effekt erwartet.

Während dieser Wechselreden hatte Felix Lucian schweigend zwischen Baron Schilling und Lucile gesessen. Neben der eigenen Angst und Sorge quoll tiefe Wehmut in seiner Seele auf – was war aus dem trauten Schillingshofe geworden! – Ein vornehmer Adelssitz, aufs neue angestrahlt vom zurückgewonnenen alten Glanz. Aber früher war es bei leerer Kasse, in spärlicher Beleuchtung, doch hell und lustig im Säulenhause gewesen – Groll- und Schmollwinkel hatte es damals nicht gegeben, und das Nachtgetier böser Launen hatte sich nie breit machen dürfen – während jetzt, bei aller Lichtflut, Hochmut, Bigotterie und versteckte Bosheiten wie Eulen und Fledermäuse aus den Ecken schwirrten ... Und der neue Hausgeist, in Gestalt der halbgeknickten, nervösen Frau dort, rang um die absolute Herrschaft; er legte die langen totenblassen Hände beschlagnehmend auf Menschenseelen, Schiff und Geschirr, und auf der eigensinnigen Stirn stand ihm lesbar geschrieben: »Es ist alles mein!« ... Auch hier der despotische Frauenwille, der ihn selbst eben heimatlos gemacht hatte! ...

Wer sah es dem kalten Gesicht mit den beharrlich und nonnenhaft gesenkten Lidern an, daß diese Frau den jungen Gatten geradezu errungen hatte? ... Vor Jahresfrist war der Freiherr mit seinem Sohne in Koblenz bei dem schwererkrankten Vetter gewesen. Nach der Zurückkunft hatte er Felix lachend ins Ohr geflüstert, daß man ihm insgeheim hinterbracht, die reiche Erbin sei »bis über die Ohren verliebt in seinen Jungen« – um seinetwillen würde sie ihr Vorhaben, nach Ableben ihres Vaters für immer in das Kloster zurückzukehren, freudig aufgeben ... Dann war Baron Steinbrück seinem Leiden erlegen; die Tochter hatte dem Freiherrn den Todesfall angezeigt und seitdem eifrig mit ihm korrespondiert. Sie mußte gut zu schreiben verstanden haben, denn seit der Zeit war es ein glühender Wunsch des alten Herrn gewesen, seinen Sohn mit ihr zu vereinen und damit zugleich sein altes Geschlecht in den Besitz der verpfändeten Güter wieder einzusetzen. Der Schlaganfall, der ihn selbst an den Rand des Grabes gebracht hatte, war sein Helfershelfer bei der Verwirklichung des Planes geworden – Arnold, der mit inniger Zärtlichkeit an dem Vater hing, hatte am Krankenbett scheinbar ohne jedweden inneren Kampf in alles gewilligt, um den alten, schwerleidenden Mann beruhigt zu sehen.

Und wie fand er sich nun in sein Geschick, das ihn so jung mit der kaum gesehenen »langen Koblenzer Cousine« für immer zusammengekettet hatte? Liebte er sie? – Felix fühlte ein Grauen durch seine Nerven schleichen bei dem Gedanken, daß der Freund mit den Idealgestalten hinter der Stirn, in seltsamer Geschmacksverirrung das Skelett dort voll Manneszärtlichkeit an sein Herz schließen könnte – unmöglich! ... Und doch verriet nicht ein Zug seines interessanten Gesichts, daß er sich unglücklich fühle. Er hatte einen eisernen Willen; schon als Knabe war es ihm nie in den Sinn gekommen, irgend jemand, auch seinen Vater nicht, für seine Entschlüsse mitverantwortlich zu machen – das mochte ihm auch jetzt seine unzerstörbare heitere Seelenruhe geben.

Anders schien es um den alten Freiherrn zu stehen. Er verhielt sich offenbar in steter Kriegsbereitschaft zu der Schwiegertochter, die den lustigen, alten Haudegen in ihren Briefen gründlich zu täuschen gewußt hatte. In seinen Zügen malte sich augenblicklich ein Gemisch von Ingrimm, tiefer Reue und Jammer um den Sohn; aber er schwieg; mit schwerem Geschütz durfte er nicht kommen, wenn er nicht die bösesten Nervenzufälle am Teetisch heraufbeschwören wollte, und das Plänkeln hatte er satt ... Er schob, nachdem er hastig einige Bissen genossen, Tasse und Eierbecher fort, zog ein kleines Paket, das er beim Fortgehen in seinem Zimmer eiligst zu sich gesteckt hatte, aus der Tasche und legte es auf den Tisch. Sein Gesicht hellte sich auf; er schien sichtlich froh, auf ein anderes Thema zu kommen.

»Schau, in dem Papier da liegt die Erledigung deiner Angelegenheit,« sagte er zu Felix, indem er seine Brille aus dem Futteral nahm und sorgfältig an ihren Gläsern wischte. Dann setzte er sie auf und schlug das Papier auseinander – ein in Seidenpapier gewickelter flacher Gegenstand und ein viele Bogen starker, in engen Linien geschriebener Brief lagen darin. – »Also alles, was du mir drüben anvertraut hast, kurz zusammengefaßt, hat dich deine Mutter verstoßen, will dich selbst nach dem Tode nicht wiedersehen – dummer Schnickschnack! – und dein Hundsfott von Onkel hat natürlich mit tausend Freuden seinen Segen dazu gegeben – Punktum!« hob er an. »Du bist vogelfrei erklärt, die Majorin Lucian hat keinen Teil mehr an dir, und damit – ist auch mir der Riegel vom Munde genommen.« – Er stützte die Hände auf den Tisch, und sich weit vorbeugend, sah er über die Brillengläser hinweg mit seinen großen, feurigen Augen durchdringend in das Gesicht des jungen Mannes. – »Hab' ich je deinen Vater gegen dich erwähnt?«

Felix schüttelte den Kopf; er war totenbleich geworden – jähes Erschrecken und atemlose Erwartung machten ihn sprachlos.

»Gut, mein Sohn – also nicht!« sagte der alte Herr, indem er sich in den Armstuhl zurücksinken ließ. – »Durfte auch nicht, obgleich mir's manchmal in den Fingern gejuckt hat, dich einzupacken und heimlich übers Meer zu schicken, wo du von Gott und Rechts wegen hingehörtest; denn die auf dem Klostergute haben dich gestohlen, gestohlen sage ich – der Sohn gehört zum Vater – damit basta!« Er schlug mit den Knöcheln so hart auf den Tisch, daß die Platte dröhnte – seine Schwiegertochter las, erschrocken, mit bebenden Fingern verschiedene Pfeffer- und Salzlöffelchen zusammen, die klirrend umherflogen.

»Aber ich hatte deiner Mutter mit Handschlag versprechen müssen, daß in meinem Hause vor deinen Ohren nie von deinem Vater gesprochen werden sollte,« fuhr der Freiherr fort. »Was wollte ich denn machen? Ich mußte wohl, sonst hätte ich dich nie vor die Augen gekriegt; und ohne mich wärst du da drüben in dem Unkenloch verbauert und versauert, und sie hätten sich aus dem jungen Lucianschen Blut schließlich doch noch einen Wolframschen Mistfinken zurechtgeknetet. Deinem Vater aber hätte ich nie nähere Mitteilung über dich machen können –« er verstummte in sichtlicher Bewegung, er hatte wohl selbst den furchtbaren inneren Aufruhr nicht vorhergesehen, den der Vatername in der Seele des jungen Mannes weckte.

Felix war aufgesprungen, und auf den Sprechenden zustürzend, umklammerte er dessen Rechte und zog sie stürmisch gegen seine Brust. »Sie wissen von meinem Vater? Lebt er? Denkt er an mich?« stammelte er in halberstickten Tönen.

»Ruhig Blut, mein Junge,« ermahnte der alte Herr, aber seine Augen wurden feucht vor Rührung. »Tut mir leid, daß er dich nicht so sehen kann – das Herz im Leibe müßte ihm lachen – er hat seinen Jungen ebenso lieb, wie ich den meinen.« – Ein verstohlener, trüber Blick streifte den Sohn, wobei ein Seufzer seine Brust hob.

»In der schönen Jugendzeit waren wir treue Kameraden und sind es bis auf den heutigen Tag verblieben,« setzte er nach einem augenblicklichen Verstummen hinzu. »Lucian war ein ebenso flotter Kerl, ein so lustiges Haus wie ich und im Schillingshofe besser daheim, als bei seinen Verwandten – wär' freilich besser für den armen Teufel gewesen, er hätte das Säulenhaus nie gesehen, und den Eiszapfen, die schöne Therese Wolfram dazu ... Als er Deutschland verließ, da war er noch eine Nacht verstohlenerweise hier bei mir im Schillingshofe. Er war wie toll vor Sehnsucht nach dir und hatte die verrücktesten Pläne in seinem Kopfe ausgeheckt – entführen wollte er dich und Gott weiß was alles tun, um mit Gewalt zu seinem Rechte zu kommen; aber er mußte einsehen, daß dem alten verwünschten Klosternest und dem Rechtsverdreher drin auf keine Weise beizukommen war. Und da ist er gegangen – über dem Meer drüben hat er sich eine neue Heimat gesucht und auch gefunden. Er hat sich wieder verheiratet mit einer sehr vornehmen Spanierin und ist glücklich mit ihr gewesen ... Solange sie lebte, waren seine Briefe ruhig – er hat die Frau lieb gehabt und schien mit seinem Schicksal ausgesöhnt – nun ist sie aber gestorben, und da muß ihn wohl die Sehnsucht nach seinem Jungen wieder gepackt haben.«

Er hielt inne und schüttelte lächelnd den Kopf, indem er die Hand auf das Schreiben legte. »Närrischer Zufall! Just gestern kam der Brief da in meine Hände ... Lucian kränkelt auch, wie ich armer Lazarus, und kann deshalb nicht reisen. Er bittet mich dringend, nunmehr mit dir über ihn und seine Lebensverhältnisse zu reden – na, was braucht's da der vielen Worte und Salbadereien –, du packst eben auf und gehst zu deinem Vater – jetzt ist Amerika deine Heimat!«

Felix war einigemal wie beflügelt im Zimmer auf und ab geschritten – Röte und Blässe, Jubel und Wehmut kämpften abwechselnd auf seinem schönen Gesicht – jetzt blieb er vor Lucile stehen. Sie sprang auf und warf sich mit leidenschaftlicher Heftigkeit an seine Brust.

»Und wirst du mit mir gehen, Lucile?« fragte er mit erschütterter Stimme.

»Na, natürlich, du närrischer Felix!« lachte sie. »Sofort, stehenden Fußes, wie ich da bin! ... Himmel, eine Seereise! ... Das wird ja noch viel toller und lustiger, als ich mir je hätte träumen lassen! ... Nach Amerika gehen wir? ... Doch jedenfalls nach dem brillanten Neuyork?«

»Nein, schönes Kind, direkt nach den Südstaaten, nach dem reichen Plantagenstaat Südkarolina ... Freund Lucian ist ein Baumwollenbaron geworden; er hat von seinem Schwiegervater bedeutende Besitzungen ererbt. Diese Herren Pflanzer spielen dort eine Rolle, vor der sich unsere heutige Aristokratie verkriechen muß – sie sind in Wirklichkeit Feudalherren ... Lucians Schwiegervater ist ein Spanier aus Florida gewesen, und der Schilderung nach hat das Leben auf der Plantage einen stolzen Zuschnitt, wie kaum ein deutsches Fürstenhaus.«

Mit einem ausdrucksvollen Lächeln winkte er Felix näher an sich heran. »Siehst du, mein Junge, das mütterliche Erbteil, das sie dir hundsföttischerweise entziehen, kannst du ruhig verschmerzen – dein Vater sammelt und legt seit Jahren für dich zurück; und wenn er dir auch nicht die Plantage selbst hinterlassen kann –« er hielt inne, schlug das Seidenpapier auseinander und nahm eine Elfenbeinplatte heraus – »denn du hast eine Schwester, Felix; es ist eine dreizehnjährige Tochter zweiter Ehe da – das ist sie!«

Mit diesen Worten hielt er dem freudig bestürzten jungen Mann ein Miniaturgemälde auf dem Elfenbein hin. Lucile kam geflogen und drängte Felix in atemloser Spannung und Neugier fast zur Seite; auch Baron Schilling sprang auf und näherte sich; nur die junge Frau blieb gleichmütig sitzen. Sie wiegte, die Augen tief gesenkt, mechanisch den Teelöffel auf der Fingerspitze, und wäre nicht eine leichte Röte innerer Bewegung über Wangen und Schläfen hingelaufen, so hätte man meinen können, sie habe keine Ahnung von dem, was um sie her vorgehe.

»Ist sie nicht ein reizendes Kind, diese kleine Mercedes?« fragte der alte Freiherr.

»Das ist doch kein Kind?« murrte Lucile und stieß leise fortschiebend nach der Hand, die das Bild hielt. »Ein dreizehnjähriges Mädchen soll sie sein und sieht einen doch an mit einem Hochmut, einer Ernsthaftigkeit wie ein stockgelehrter Professor! ... Geh, Felix, ich bin eifersüchtig!« schmollte sie. »Wirst du sie lieben?« »Ja, Lucile, das werde ich, wenn ich auch fürchte, daß sie mir kein Herz entgegenbringt – sie hat viel Stolz und Herbigkeit in den Zügen –«

»Nicht wahr? – Und bucklig ist sie auch, darauf kannst du dich verlassen, Felix! Wer eine hübsche Gestalt hat, der läßt nicht bloß seinen Kopf malen – das tut keine – da will ich gleich meinen kleinen Finger verwetten! – Der Kopf da schwimmt ja wie abgehackt auf den Wolkenpartien –«

»Nein – er taucht aus den Wolken in engelhafter Schönheit,« sagte Baron Schilling, ohne den Blick von der längst unmodern gewordenen, aber köstlichen Malerei zu verwenden. »Das kleine Bild ist ein Meisterstück.«

»Ein alter Künstler, der bei Lucian lebt und von ihm hochgeschätzt wird, hat es gemalt,« bemerkte der Freiherr. »Ich sage auch, das ist ein Kopf, der's einem antut. Mir armem, altem Krüppel wurde gestern ganz warm und weh ums Herz bei den jungen Augen da ... Von ihrem Vater hat sie übrigens keinen Zug –«

»Von Felix auch nicht,« warf Lucile tiefbefriedigt ein. »Die gelbe Haut und das lebhaft dicke, schwarze Haar –«

»Mit seinen aufgestreuten blaufunkelnden Lichtern findet man nur unter den Tropen,« ergänzte Baron Schilling. »Für mich wäre das ein Studienkopf von unschätzbarem Werte.«

»Kannst das Bild behalten, Arnold – hast auch teil dran,« sagte der alte Herr lebhaft – über seine Stirn lief es wie ein düsterer Schatten hin. – »Der gute Lucian, er glaubt, im Schillingshof sei noch alles beim alten – unsere Korrespondenz hat längere Zeit gestockt, die Krankheit seiner Frau war schuld – nun schreibt er mir, sehr post festum, du möchtest die Juristerei und den deutschen Edelmann an den Nagel hängen und zu ihm kommen; er habe so allerlei sehnsüchtige Wünsche und Hintergedanken, ich solle dir, so gut wie Felix, seine Mercedes zeigen und – na, das übrige kannst du dir schon denken.«

Eine Blutwelle schoß bis unter das krause Haar des jungen Mannes; er legte die Elfenbeinplatte vorsichtig, aber so schnell auf das Seidenpapier zurück, als glühe sie ihm an den Fingerspitzen. Eine Hand hatte sich für einen Augenblick schwer auf seine Schulter gelegt – seine Frau glitt, mit einem Seitenblick das Bild streifend, hinter ihm weg, um ihre Handarbeit von dem kleinen Tische zu holen.


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