Eugenie Marlitt
Im Schillingshof
Eugenie Marlitt

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25.

Unter dem Laubdach der Platanen dunkelte es bereits, und noch schritt Donna Mercedes auf und ab. Zu dem heftigen Widerstreit in ihrem Innern stand die feierliche Abendstille, die über dem Garten schwebte, in seltsamem Gegensatz: selbst der letzte flüsternde Hauch des Zugwindes in den Wipfeln und Büschen schien erloschen; kein Vogelflügel regte sich: auch das Gelärm der Enten, das tagsüber vom Teiche her klang, war verstummt – man hatte die wackelnde und schnatternde Gesellschaft längst unter Dach und Fach gebracht ... Dafür kamen jetzt vereinzelte klatschende Laute, ein Geräusch, als würden Steine in das Wasser geworfen, von drüben her ...

Die junge Dame verließ die Allee; sie schritt auf dem schmalen Sandwege, der die Wiesenflächen quer durchschnitt, und blieb beobachtend hinter einem Rosenbusche stehen.

Am Teiche stand ein Knabe, den sie noch nie im Garten gesehen hatte – ein spindeldürres Kerlchen mit langen Beinen und auffallend gewandten und sicheren Bewegungen. Er holte Stein um Stein aus der Hosentasche und ließ die Kiesel unter einem steten, leise pfeifenden ›Hui!‹ über den Wasserspiegel springen. Und dazwischen lachte er in sich hinein, strampelte mit seinen Storchbeinen und patschte sich vor Vergnügen über jeden gelungenen Wurf die Knie.

Donna Mercedes sagte sich sofort, daß das der heimtückische kleine Bursche sein müsse, der José neulich auf den Boden des Klostergutes gelockt hatte – der Millionenerbe, der letzte Träger des Wolframschen Namens, um dessentwillen den Lucianschen Waisen das großmütterliche Vermögen gestohlen werden sollte. Ein heiliger Zorn wallte in ihr auf. Dieser zigeunerhafte, abstoßend häßliche Junge, der kichernd wie ein triumphierendes Teufelchen dort den Teichrasen stampfte, er war schuld, daß ihr schöner, sanfter José noch auf dem Siechbette lag!

Lautlos glitt sie hinter dem Busch hervor und ging auf ebenso leisen Sohlen den nach dem Teich führenden Weg entlang – es lag ihr daran, den Knaben nicht zu verscheuchen. Aber sie vergaß, daß sie ihr schwarzes Seidenkleid mit einem hellen Morgenrock vertauscht hatte, sie wußte auch nicht, daß Gesicht und Gehör des Scheusälchens dort geschärft seien wie die eines jungen Fuchses.

Er horchte plötzlich auf und wandte den schmalen, haarstarrenden Kopf jäh nach der Richtung, wo das schwache Geräusch des knirschenden Sandes erscholl. Bei Erblicken der heranschreitenden weißen Dame warf er den Stein, der eben über das Wasser tanzen sollte, von sich und ergriff die Flucht. Noch war es hell genug, um sehen zu lassen, wie er nach dem Zaun rannte – gleich darauf duckte sich der geschmeidige Körper und war verschwunden, als habe ihn der Boden verschluckt. Einige Augenblicke später rauschte es zwischen Laub und Asten, aber hoch in den Lüften, als sei ein Vogel nach seinem Nest in irgend einem Baumwipfel heimgeflogen und rüste sich, mit den Flügeln das Blattwerk streifend, zur Nachtruhe; dann war es wieder still, wie wenn das Abendschweigen nie unterbrochen gewesen wäre.

Die junge Dame ging bis zu der Stelle, wo der Knabe verschwunden war – durch dieses wilde, scheinbar undurchdringliche Gestrüpp war auch José neulich gekrochen, ahnungslos mit seinen kleinen Füßen den Boden betretend, auf dem sein Vater auch als Kind gespielt, und nicht wissend, daß ihm in dem dunklen, fremden Hause die Großmutter lebe, die harte Großmutter, um derentwillen er und sein kleines Schwesterchen über die große, weite Wasserwüste hatten schwimmen müssen. Donna Mercedes' Fuß verirrte sich selten bis an den Teich, und seit sie neulich in Todesqualen unter den Linden gestanden und jeden Augenblick erwartet hatte, das blonde Köpfchen ihres ertrunkenen Lieblings müsse sich aus der dunklen Flut heben – seit jenem grauenvollen Augenblick hatte sie diesen Teil des Gartens förmlich gemieden. Bis an den Zaun selbst war sie überhaupt nie gekommen. Die ganze lange Linie bildete eine völlige Wildnis von Haselstauden und Syringenbüschen, die man auch auf dem Schillingschen Grund und Boden nur notdürftig beschnitt. Ein allzu kräftiger Geruch von Lauch und Zwiebeln quoll durch das Geäst, und da, wo die junge Dame stand, hingen volle Büschel reifender, kleiner Sauerkirschen zwischen dem Laub – ein niederer Kirschbaum hatte seine Äste durch den Zaun nach der Südsonne hin getrieben– edle Obstsorten schienen da drüben nicht gepflegt zu werden.

Ein kreischender Laut unterbrach die Stille, die auch jenseits des Zaunes herrschte, eine Tür drehte sich in rostigen Angeln und fiel knarrend wieder zu; dann traten feste Füße auf Kiesgeröll – sie schritten langsam einen jedenfalls geradlinigen Weg entlang und bogen plötzlich auf weicheres Erdreich ein, direkt auf den Zaun losgehend.

Donna Mercedes zog sich zurück unter dem seltsamen Gefühl, als müsse die wandelnde Gestalt drüben durch das Gestrüpp brechen und an sie herantreten ... Sie ging unter den Teichlinden hin; aber ehe sie den Weg wieder betrat, der nach der Allee führte, wandte sie noch einmal unwillkürlich, wie durch eine magnetische Kraft angezogen, den Kopf zurück. Und sie hatte wohl auch unter einem Bann gestanden – es waren zwei Augen gewesen, zwei glühende Augen mit verzehrendem Blick, die ihr über den Zaun weg nachstarrten ...

Sie kannte diesen Kopf mit dem Haardiadem über der Stirn, mit dem wachsbleichen Gesicht und den schmalen, scharfgeschnittenen Lippen, die eines Abends schmerzverzerrt das erschütternd fragende »Gestorben?« hervorgestoßen hatten ... Das Herz stand ihr fast still vor Überraschung. Jetzt wußte sie um das Geheimnis der nachtwandelnden Erscheinung in der Säulenhalle – es war die Unerbittliche, die Sohn und Gatten in grausamer Härte und unbeugsamem Starrsinn von sich gestoßen und über das Meer in eine neue Heimat getrieben hatte. Das immer noch schöne, einer Statue gleichende Weib dort war die Vorgängerin der stolzen Spanierin, war Major Lucians erste Frau. Sie schlummerten beide unter der Erde, deren Geschick sie eigenmächtig gewandelt, denen sie bitter wehe getan – die gewaltige, festgefügte Gestalt dort hatte sie überdauert, sie lebte und – litt. Ja, sie litt, das bezeugte ihr in finsterem Gram fast versteinertes Gesicht. Die Nemesis war gekommen; sie rüttelte an diesem Gewissen, wer weiß wie lange, lange schon. Und an die erschütterte Seele klopfte ein neues Element, bis jetzt vielleicht nur als Ahnung, aber als eine untrügliche, in Gestalt des unschuldigen, blondlockigen Kindes, das die Züge des verstoßenen Sohnes trug – die großmütterliche Liebe war mächtiger als der Mutterzorn, sie quoll auf in dem verschütteten Herzen, unwiderstehlich, zersprengend, wie die Triebkraft einen werdenden Baum durch Gestein und Geröll an das Licht treibt ...

Donna Mercedes ging auf die Frau zu, und diesmal wich sie nicht zurück. Sie mußte auf einer Bank stehen, denn vom Boden aus ließ sich der hohe Zaun nicht überblicken. Mit beiden Armen drängte sie das struppige Gezweig kraftvoll auseinander; ihre breiten Schultern, die immer noch eleganten Linien ihrer Büste waren vollkommen sichtbar. So stand sie bewegungslos – so hatte sie seit Josés Erkranken vielleicht täglich gestanden, um von irgend einem Diener des Nachbarhauses Nachricht über das Kind zu erlangen, das sich im großmütterlichen Heim, von dem übermütigen Erben des Klostergutes gemißhandelt, die tödliche Krankheit geholt hatte.

»Das Kind –« begann sie und schwieg sofort wieder, als schrecke sie selbst entsetzt vor den Tönen zurück, die nach langen, langen Jahren zum erstenmal wieder auf das nachbarliche Gebiet hinüber schollen.

Die junge Dame verharrte erwartungsvoll schweigend auf ihrem Platze. Sie stand der Frau so nahe, daß sie trotz der Abenddämmerung jeden Zug des Gesichts erkennen konnte, das sich zu ihr niederbog; und jetzt begriff sie. daß Vater und Sohn, warmherzige, phantasievolle Naturen, vor dieser Macht hatten weichen müssen. Auf der Stirn mit den herrlich geschwungenen Brauen lag noch das Gepräge der Herrschsucht, des eisernen Willens – Donna Mercedes war jetzt selbst Zeuge, wie ein edles, warmes und mächtig emporquellendes Gefühl mit dem Starrsinn in dieser Frauenseele um die Oberhand rang.

»Ich möchte wissen,« hob sie mit unsicherer Stimme wieder an, da kein ermutigendes Wort von den Lippen der jungen Dame kam – »ob der Kleine –«

»José Lucian wollen Sie sagen,« fiel Donna Mercedes jetzt fest und äußerlich vollkommen ruhig ein, obgleich ihr das Herz so heftig schlug, daß sie meinte, man müsse es hören.

Mit einem Laut unwilligen Schreckens fuhr die Frau zurück; die Büsche schlugen rauschend zusammen, und Donna Mercedes fürchtete, die Drübenstehende müsse mit der Bank umgesunken sein,– aber gleich darauf wühlten die kräftigen weißen Hände das Strauchwerk abermals auseinander und das bleiche Antlitz erschien wieder – jetzt aber mit einem düster drohenden Ausdruck.

»Hab' ich nach dem Namen gefragt?« – fragte sie finster und unverbindlich. »Was geht er mich an? Brauche ich zu wissen, wie die fremden Kinder heißen, die unser unbändiger Junge in unser Haus schleppt?« – Diese Frau stieß sich im grausamen Wüten gegen die eigene »Schwäche« mit ihren eisigen Worten selbst ein Messer in die Brust. »Ich wollte nichts, absolut nichts anderes wissen, nichts anderes aussprechen, als die Frage, ob der Knabe – zu retten ist ... Der kleine Sohn meines Bruders –« Eine aufkreischende, schrille Knabenstimme unterbrach sie; verstummend und sichtbar erschreckt fuhr sie herum, und ihr suchender Blick tauchte in den dunkelnden Abendhimmel.

Donna Mercedes sah, wie ein schlanker Körper drüben durch das Geäst eines hohen Baumes katzengeschmeidig schlüpfte und ebenso gewandt und flink am Stamm herunterglitt. Das war der Bursche, der vorhin die Steine in den Teich geworfen hatte. Man hörte ihn wie toll mit harten Absätzen über den Kies nach dem Hause zu laufen und dabei schrie er grob und flegelhaft herüber: »Warte nur, Tante Therese, ich sag's dem Papa, daß du mit den Leuten im Schillingshofe sprichst! Ihr habt mir's streng verboten und du tust es selber.«

Die knarrende Tür des Hinterhauses wurde aufgerissen und flog schmetternd wieder zu, und in diesem Augenblick verschwand auch die Frau hinter dem Zaun.

Die junge Dame wartete vergebens auf ihr Wiedererscheinen; sie hörte nur, wie sich rasche Schritte drüben immer weiter von der trennenden grünen Wand entfernten und auf den geradlinigen Weg einbogen ... Ihr war seltsam zumute. Nun hatte sie der Mutter ihres Bruders Auge in Auge gegenüber gestanden – sie hatte stets bitteren Haß gegen dieses tyrannische Weib gefühlt, und seit sie das Klosterhaus gesehen, aus dem ihres Vaters erste Frau stammte, hatte sich jener Empfindung auch der Abscheu vor gemeiner Berührung beigemischt. Diese Vorstellung war jetzt versunken vor der herrlichen, stolzen Matronenerscheinung, die sie eben gesehen. Sie begriff vollkommen, daß diese Frau Major Lucians Jugendliebe gewesen; sie verstand jetzt den letzten heißen Wunsch ihres Bruders, die Mutter zu versöhnen und in ihrem Herzen Liebe für seine Waisen zu erwecken ... Mochte sie auch zeitlebens durch Starrsinn und unbeugsam durchgeführte harte Prinzipien die Eisluft der Unzugänglichkeit um ihre schöne Gestalt verbreitet haben – tief in ihrer Seele lag doch verborgene Glut, der schlimmste Feind, mit dem sie zu kämpfen hatte, eine wahre Geißel, welche die Natur der Tochter der Wolframs mitgegeben; gerade diese Gabe hatte sie zu dem gemacht, als was sie erschien, zu dem »Eiszapfen«, zu der Unerbittlichen, die ihrem Herzen als schlechtem Ratgeber mißtraute und standhaft seine Einflüsterungen verwarf ... Donna Mercedes fühlte einen geheimnisvollen Zug – in dieser Natur lag eine gewisse Verwandtschaft mit der ihrigen ... Aber seltsames Rätsel! Dieselbe Frau, die gewalttätig in das Schicksal der Ihren eingegriffen, die ein Zurückweichen nie gekannt, sie war eben vor einer boshaften kindischen Drohung geflohen, und Donna Mercedes mußte, peinlich berührt, der Tatsache gedenken, daß oft die gewaltigsten Kreaturen der Schöpfung vor einem winzigen, aber bösartigen Insekt flüchten.

Die Schritte drüben gingen auf das Hinterhaus zu und mochten wohl der Tür nahe sein, als diese aufgestoßen wurde. Eine starke, tiefe Männerstimme sagte einige heftige Worte, die nicht zu verstehen waren; dann aber folgte ein kurzes, hartes Auflachen, so hämisch, so verletzend, daß es selbst die unbeteiligte Zuhörerin reizte.

Die Majorin aber schien ihre Haltung wieder gewonnen zu haben. »Bin ich deine Gefangene, Franz?« hörte Donna Mercedes sie mit ihrem klangvollen Organ eisig kalt sagen. »Oder wollen wir in unseren alten Tagen noch Vormund und Mündel spielen? – Lasse mich! – Was fällt dir ein, mich so ungebührlich anzuschnauzen, wenn ich einfach tue, was sich schickt, wenn ich nach dem fremden Kind frage, das durch unsere Schuld krank geworden ist?«

Damit ging sie in das Haus. Die Tür wurde zugeschlagen – in Nachbars Garten rührte und regte sich nichts mehr.

Donna Mercedes verließ ihren Posten. Wie traumbefangen, von völlig neuen Gedanken und Empfindungen bestürmt, wanderte sie noch einigemal in der Allee auf und ab und schlug dann den Weg nach dem Säulenhause ein.

Es dunkelte stark. Aus den weißen Lampenkugeln der Flurhalle strömte blendendes Licht und fiel auch aus der weit offenen Tür wie ein breiter, glänzender Teppich streifen über die Stufen der Freitreppe draußen. – Donna Mercedes wollte eben den Fuß auf die unterste Stufe setzen, als sie durch die entgegengesetzte, gleichfalls offene Haustür eine Dame in den Flurraum treten sah, der alsbald eine zweite folgte.

Angesichts der zuerst eintretenden Gestalt schrak Donna Mercedes unwillkürlich zusammen – schattenhaft lang, schmal und grau, geräuschlos wie auf nackten Sohlen hereingleitend, und ein gespenstisch fahles Gesicht forschend nach allen Seiten hinwendend, war es, als schwebe der Hausgeist des alten Schillingshofes inspizierend durch die Halle. Aber diese geisterhafte Erscheinung hatte eine sehr menschliche Stimme, eine Stimme voll nervöser Gereiztheit und gleichsam getränkt in Arger und Entrüstung, in bitterer Galle.

»Mein Gott, wie bettelhaft ist der Eingang!« sagte sie in jenen weinerlich hauchenden Tönen, wie sie aus einer grollgepreßten, vornehmen Damenkehle zu kommen pflegen. »Die Türen weit offen wie in einer Schenke, und kein Diener zu hören und zu sehen!... Ich bitte dich, Adelheid,« wandte sie sich zurück nach der anderen Dame, die eben mit sichtlichem Unwillen einige Strohhalme von ihrer schwarzen Schleppe schüttelte – »ziehe die Türglocke, aber so stark du kannst.«

Die Dame im schwarzen Kleide trat wieder hinaus in die Säulenhalle und tat, wie ihr geheißen – selbstverständlich gab die Glocke keinen Laut, da sie abgenommen war.

Dieser Tatsache gegenüber stand die graue Dame wie versteinert, die andere aber rauschte an ihr vorbei und bog in den nach Süden laufenden Korridor ein. »Robert, wo stecken Sie?« rief sie mit gebieterischer Stimme in das Erdgeschoß hinab.

Die vollklingenden Laute schienen eine wahrhaft elektrisierende Kraft zu besitzen. Polternde Füße stürzten sofort die Treppe vom Erdgeschoß herauf, und der Bediente Robert, gefolgt vom Gärtner, dem Hausknecht und dem Stallburschen, erschien aufgeregt und atemlos in der Flurhalle.

»Verzeihung, gnädiges Fräulein,« stammelte er; »ich war nur für einen Augenblick in die Küche gegangen, um einen Schluck Wasser zu trinken.« Er schritt vor und verbeugte sich tief vor der grauen Dame, die unbeweglich inmitten der Flurhalle stehen geblieben war. »Gnädige Frau Baronin kommen völlig unerwartet; wir –«

Sie unterbrach ihn mit einer ungeduldigen Handbewegung. »In welchem verwahrlosten Zustande finde ich mein Haus!« sagte sie, in ihre vorhin so aufgeregte Stimme nunmehr die strafende eisige Kälte der Gebieterin legend. »Ist der Schillingshof ein Gasthaus, daß die Türflügel angelweit offen stehen? – Die Türglocke ist eingerostet, im Vorgarten brennt kein Gas – und was soll das Stroh auf den Wegen, durch das man buchstäblich waten muß?« wandte sie sich an den Gärtner und hob als Beweismittel, unter Zeichen ihrer inneren Empörung, den mit Strohresten behangenen Kleidersaum leicht von der Fußspitze. – »Seit wann wird die Streu für die Stallungen durch Vorgarten und Flurhalle geschafft?«

Die graue Schattengestalt mußte den erstarrenden Blick der Klapperschlange haben; denn der angeredete Mann stand da wie gelähmt – er brachte kein Wort zu seiner Verteidigung über die Lippen. Der Bediente Robert war entschlossener.

»Dafür können wir Dienstleute nicht, gnädige Frau Baronin,« sagte er achselzuckend. »Mit Erlaubnis zu sagen, wir machen selbst die Faust in der Tasche über die polnische Wirtschaft, die wir nun seit so und so viel Wochen im Schillingshof mit ansehen müssen ... Die Haustür hat der einfältige Bäckerjunge, der die Abendsemmeln gebracht hat, wieder einmal offen gelassen – zuschließen darf man ja nicht, weil die Zugglocke – nicht verrostet, wie gnädige Frau Baronin denken – sondern einfach abgenommen ist. Das Gas draußen brennt nicht, die Brunnenröhren sind zugeschraubt, und das Stroh liegt auf den Wegen – kurzum, die ganze heillose Wirtschaft ist nur um deswegen, weil der fremde kleine Junge den Typhus, oder so was Ähnliches gehabt hat.«

In Donna Mercedes wallte das Verlangen auf, hervorzutreten und der Dame zu sagen, daß die Krankheit des Kindes nicht der Typhus, überhaupt keine ansteckende gewesen sei; trotzdem blieb ihr Fuß wie festgewurzelt stehen, und instinktmäßig bog sie ihre Gestalt aus dem herausfallenden Licht, das sie streifte ... Nein, die erste Begegnung mit der Herrin vom Schillingshofe durfte nicht in Gegenwart der gehässigen Dienstboten stattfinden! ... Ob sie es überhaupt je über sich gewinnen würde, dieser Frau mit Worten der gebührenden Höflichkeit, des Dankes für die gewährte Gastfreundschaft zu nahen? – Etwas Abstoßenderes an Gestalt und Wesen, an Linien und Ausdruck, wie diese Heimkehrende mit dem unkleidsamen, grauumschleierten Glockenhut über dem langen Gesicht, ließ sich nicht denken. Und die Stimme, dieses Gemisch von weinerlicher Bosheit und schneidender Impertinenz, berührte sie, als werde ihr eine kalte, scharfe Messerklinge über bloßgelegte Nerven gestrichen.

»Typhus?!« wiederholte die Baronin und fuhr mit dem Taschentuch durch die Luft – Donna Mercedes sah eine starke Röte wie infolge eines heftigen Erschreckens über ihr Gesicht hinfliegen. – »Ich will doch nicht hoffen, daß der Baron während dieser Zeit hier im Hause geblieben ist?«

Die Leute sahen sich scheu an. »Der gnädige Herr kennt keine Furcht; er ist Tag und Nacht in der Krankenstube geblieben und hat das Kind gepflegt, als wenn's ein – eigenes wäre,« versetzte der Bediente mit dem Gesicht und der Haltung eines echten Duckmäusers.

Ein zornmütiges Lächeln entblößte flüchtig die langen weißen Zähne der Dame – sie sah ihre Reisebegleiterin an, die den Blick mit einem gleichgültigen Achselzucken erwiderte. »Wundert dich das, Clementine?« sagte sie kalt.

Die Baronin antwortete nicht. Sie schob mit der Spitze ihres Sonnenschirmes einen Strohhalm von ihrem Rockbehang. »Ist das Kind noch krank?« fragte sie mit einem halben Aufblick nach dem Bedienten.

»Jawohl, gnädige Frau – an ein Aufstehen ist noch lange nicht zu denken.« »Mein Gott, wie verdrießlich! – Ich habe entschieden keine Lust, die verpestete Krankenluft zu atmen – sorgen Sie dafür, daß sofort Kohlenbecken mit Räucherung hier in der Flurhalle aufgestellt werden! ... Wo ist der Baron?«

»Der gnädige Herr ist heute nachmittag mit dem Fünfuhrzug nach Berlin gereist,« berichtete er so prompt und eilig, als habe er schon längst auf diese Frage gewartet – er rieb sich vor innerer Genugtuung die Hände.

Hatte er gehofft, seine Herrin werde vor Überraschung die Fassung verlieren, dann war er im Irrtum gewesen. Sie hatte seine Bewegung sehr wohl bemerkt und verzog keine Miene, wenn sie auch abermals die Farbe wechselte. Wieder richtete sie den Blick auf die schwarze Dame ... Lucile hatte stets behauptet, die Frau dort habe glanzlose, tote Augen; das war falsch – es glomm im Gegenteil ein intensives Feuer in den grauen Sternen; sie flackerten unruhig wie Irrlichter unter den halbzugesunkenen dünnen Augendeckeln. »Erinnerst du dich, im letzten Brief etwas über diese Abreise gelesen zu haben, Adelheid?« fragte sie ihre Reisebegleiterin anscheinend gelassen.

Die Dame schüttelte den Kopf.

»Ach, gnädige Frau Baronin, das ist wohl auch nicht gut möglich!« wagte der Bediente einzuwerfen. – »Heute morgen hatte noch niemand im Hause auch nur die blasse Ahnung von der Berliner Reise – die Sache hat sich ganz schnell gemacht. Das ist jetzt immer so bei uns, gnädige Frau. Vor ein paar Tagen ist auch die eine fremde Dame so schnell und heimlich nach Berlin abgereist, als ob – ja wirklich und wahrhaftig so ist's gewesen – als war' sie durchgebrannt.« Die letzten Worte sprach er im halben Flüsterton, wobei er scheu nach dem hinter der nördlichen Zimmerflucht hinlaufenden Gang schielte.

Jetzt hatte er doch einen empfindlichen Nerv getroffen. Die Baronin fuhr empor. – Die zusammengesunkene Haltung verwandelte sich im Nu in eine hochaufgereckte; mit nervöser Hast griffen die langen, schlanken Finger prüfend nach der Hutschleife unter dem Kinn, oh sie noch festsitze, die Strohhalme wurden von der Schleppe geschüttelt, der Schleier über das Gesicht gezogen.

»Wir fahren mit dem Neunuhrzug nach Berlin,« sagte sie kurz, aber mit fieberischer Aufregung in jedem Ton zu ihrer Reisebegleiterin.

»Mit Nichten, Clementine – du bist erschöpft und bedarfst dringend der Erquickung, der Ruhe – wir bleiben hier,« versetzte die Dame vollkommen gelassen, mit jener ernsten, unerschütterlichen Würde, die ein tüchtiger Mentor gegen seinen widerspenstigen Zögling herauskehrt.

»Ruhe?« lachte die Baronin leise auf – Donna Mercedes schrak in sich zusammen vor diesem Lachen, vor dem Blick, der es begleitete, es schien, als brächen Spuren des Irrsinns aus beiden hervor. – »Ich brauche keinen Schlaf! Ich habe weder Hunger, noch Schlaf! Ich will reisen, und zwar sofort!«

Die schwarze Dame antwortete nicht. Sie trat der Baronin nur näher und griff nach einem großen, spannenlangen goldenen Kreuz, das auf ihrer flachen Brust funkelte. »Sieh da, Clementine!« sagte sie. »Um ein Haar konntest du dein Kreuz unterwegs verlieren – es hängt nur noch lose in der Schleife. Was würde unsere liebe Frau Äbtissin zu diesem Verlust gesagt haben? – Sie hat dir das Erinnerungszeichen mit eigenen Händen umgehangen.«

Wie ein Erlöschen ging es über das aufgeregte Gesicht der Baronin; sie senkte den Kopf und zog maschinenmäßig das Kreuz an die Lippen, dessen Band ihr die andere Dame im Nacken fester knüpfte.

»Gehen Sie rasch hinauf und legen Sie einen bequemen Schlafrock für die Frau Baronin zurecht!« befahl die letztere, sich nach der Kammerjungfer umwendend, die währenddessen, mit Reisesachen beladen, auch in die Flurhalle getreten war. – »Die Birkner soll sogleich die Zimmer droben aufschließen – wo ist sie?«

»Hier, gnädiges Fräulein!« rief die Wirtschaftsmamsell, um die Ecke des Ganges biegend, mit einem tiefen Knicks. »Ich komme eben von oben – es ist alles in Ordnung. – Ach, was für ein Glück! – Gerade heute habe ich die Zimmer der gnädigen Frau Baronin reinigen und tüchtig lüften lassen!«

»Wie – so« werden meine Befehle befolgt?« fuhr die Baronin auf – ein entschiedener Abscheu sprach aus ihren Augen beim Erscheinen der guten, dicken Person, die unter diesem Blick sichtlich die Fassung verlor. – »Habe ich nicht ausdrücklich befohlen, daß während meiner Abwesenheit niemand, ich sage niemand, meine Gemächer betrete? ... Nun wird man sich breit gemacht haben in meinem Eigentum – ich konnte mir das denken!«

»Aber, wer sollte denn so dreist sein, gnädige Frau?« stotterte die Wirtschaftsmamsell. »Keine Menschenseele hat hinauf gedurft – ich hab' die Schlüssel gehütet wie meinen Augapfel. Aber der Sturm hatte neulich die Terrassentür aufgerissen – sie muß in der Eile bei der Abreise nicht ordentlich eingeklinkt worden sein – und da mußte ich nachsehen, denn das Auf- und Zuschlagen hörte gar nicht auf, und der Glaser hat auch neue Scheiben einsetzen müssen ... Der Staub lag fingerhoch, und die Luft war dick zum Ersticken, und das war mir schrecklich!«

Sie war bei dieser von lebhaften Gesten begleiteten Auseinandersetzung näher herzugetreten. Die Baronin wich zurück. »Kommen Sie mir nicht zu nahe, Birkner!« wehrte sie mit ausgestrecktem Arm in kindisch weinerlicher Heftigkeit ab. »Sie haben überhaupt von nun an in meinen Zimmern nichts mehr zu suchen – durchaus nichts! Ich werde meinen Willen in ganz anderer Weise geltend machen als bisher – meine Langmut ist erschöpft! Mein Haus soll und muß rein werden von diesen verpestenden Elementen –«

»Rege dich nicht auf, Klementine!« schnitt die schwarze Dame ohne weiteres die Rede ab, die sich bei den letzten Sätzen in das Maßlose zu steigern drohte, und der Baronin den Arm bietend, befahl sie dem Bedienten, sogleich für das Ordnen des Teetisches zu sorgen. Damit führte sie die Herrin des Schillingshofes wie eine Pflegebefohlene durch den Gang und die Treppe hinauf.

Die Druntenstehenden stoben auseinander, Mamsell Birkner verbarg ihr verstörtes Gesicht und die in Tränen schwimmenden Augen im Taschentuch, während der Bediente Robert mit einem hämischen Lächeln an ihr vorüber in die Küche hinabrannte, um seiner Pflicht nachzukommen... Der Gärtner und der Stallbursche traten heraus auf die Freitreppe, um nach dem Stallgebäude zu gehen, wo sie ihre Wohnung hatten. Sie gingen an Donna Mercedes vorüber, ohne die an die Wand geschmiegte Dame zu bemerken.

»Die muß springen!« sagte halblaut der Gärtner, mit dem Daumen über die Schulter zurück nach der Wirtschaftsmamsell zeigend, die auf die Kinderstube zuging, jedenfalls, um Hannchen ihr Herz auszuschütten. – »Die muß springen, da hilft kein Gott! ... Sie ist die einzige Protestantische im Schillingshofe – sie und das Hannchen ... Die beiden sind der Gnädigen immer ein Dorn im Auge gewesen; aber sie hat sich doch nicht getraut, die Leute, die der Herr beschützt, so mir nichts dir nichts aus dem Hause zu jagen ... Nun ist sie aber wieder in Rom und gar im Kloster gewesen – Herrgott, das sieht ihr ein jeder auf hundert Schritt an! Sie müssen die Frau dort ganz rebellisch gemacht haben, und Fräulein von Riedt sieht auch aus wie ein Bild ohne Gnade – da gibt's keine Rettung mehr für die arme Birkner!«

Sie gingen die Stufen hinab, und Donna Mercedes trat in das Haus ... Ein starker Moschusduft hauchte sie an – er mochte das Lieblingsparfüm einer der heimgekehrten Damen sein. Es kam ihr vor, als sei plötzlich ein grauer Schleier über alles Licht, über den ganzen Schillingshof gesunken, als müßten die heidnischen Karyatiden von der Decke und die Statuen eiligst aus ihren Nischen herabsteigen, um sich zu verstecken. Wie war es überhaupt möglich, daß sie bis heute ihren Platz behaupten konnten, daß die bigotte Frau sie nicht längst im fanatischen Eifer herabgestürzt hatte? – In dieser Nacht schloß Donna Mercedes die Augen nicht – sie suchte ihr Bett nicht einmal auf. Es bedurfte ihrer ganzen Geistesschärfe, ihrer vollen inneren Kraft, um sich über alles das, was auf sie einstürmte, emporzuarbeiten und den klaren Überblick zu gewinnen. Gerade jetzt galt es, auszuharren und fest auf dem Posten zu bleiben – gerade jetzt, wo vom Klostergut eine Hand – wenn auch noch scheu und widerstrebend – herübergriff und Fühlung suchte mit den Kindern des Verstoßenen.

So hatte sich die junge Dame, bald lautlos im Salon auf und ab wandelnd, bald in die Fensternische geschmiegt und den Blick auf das Bild des toten Bruders geheftet, gestählt und gefestet; vor allem gegen das Heer von Anfechtungen, das sie unausbleiblich erwartete, seit sie in das Gesicht der heimgekehrten Frau vom Hause gesehen ... Und als die Hängelampe am Deckengebälk des Salons knisternd erlosch, und ein blaßrosiger Schein den dämmernden Morgenhimmel überflog, da lag auf dem schönen Frauenantlitz der erkämpfte frühere Ausdruck rücksichtsloser Entschlossenheit.


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