Eugenie Marlitt
Im Schillingshof
Eugenie Marlitt

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23.

Donna Mercedes hatte gehofft, Luciles mehrtägige Abwesenheit werde nicht auffallen; zu ihrer Bestürzung aber liefen schon am zweiten Tage verschiedene Rechnungen an sie selbst ein, deren Ausgleichung, wie eine Randbemerkung bei einigen spitz besagte, die abgereiste amerikanische Dame vergessen zu haben scheine ... Jedenfalls hatte die Dienerschaft des Schillingshofes den Geschäftsleuten gegenüber geplaudert und den Verdacht hervorgerufen, daß die kleine Frau heimlich durchgebrannt sei.

Der Bediente Robert, der viel an der offenen Haustür oder im Säulengang herumlungerte, war stets der Überbringer dieser Mahnungen. Er klopfte mit schüchternem Finger an die Salontür, überreichte, pflichtschuldigst auf silbernem Teller, mit niedergeschlagenen Augen das ominöse Papier, und verschwand dann auf Donna Mercedes' kurzes »Es ist gut« mit krummem Rücken und einem halbverbissenen maliziösen Lächeln wieder jenseits der Tür ... Draußen streckte er regelmäßig den Wartenden die leeren Hände hin und sagte achselzuckend: »Geld gibt's nicht – seht, wie ihr zu eurem Guthaben kommt! Warum habt ihr der ersten besten Schwindelmadame leichtsinnig eure Ware verborgt! Wir können doch nicht für die Leute einstehen, die sich zudringlich im Schillingshofe einnisten!« – Darauf spuckte er verächtlich aus.

Lucile hatte von dem Kredit, den man ihr, als dem vornehmen Gast des Schillingshofes, gewährte, ausgiebigen Gebrauch gemacht – sie hatte nichts von alledem bezahlt, was sie in den letzten Tagen nach Hause geschleppt; ihre Schwägerin aber brauchte nicht mehr darüber zu sinnen, wie wohl die bedeutenden Summen verwendet worden seien, die ihr Lucile nach und nach abverlangt – es war alles für den Berliner Aufenthalt eingeheimst worden. – Selbstverständlich mußte Jack stets noch in derselben Stunde gehen und die Forderungen der Geschäftsleute ausgleichen. Die beiden Schwarzen sahen in diesen Tagen ihre Dame oft bedenklich von der Seite an. Sie kannten ja dieses Gesicht seit dem Augenblick, wo es zum erstenmal die mächtigen Augen aufgeschlagen; sie hatten es während des unglückseligen Krieges in allen Stadien entflammter Leidenschaften gesehen, gespenstisch fahl vor Grimm und Erbitterung, unbewegt und hoheitsvoll dem Feind gegenüber, der ihr Haus nach den von ihr versteckten Sezessionisten durchsuchte; sie hatten es mit blassen Lippen kalt lächeln sehen, als man ihr den bluttriefenden Arm verbunden, als die vom Feind geschürten Flammen aus dem Dach ihres Vaterhauses schlugen, um es mit seiner ganzen kostbaren Einrichtung bis auf den Grund zu verzehren ... Donna Mercedes war unter allen Wandlungen die Gebietende geblieben, die Unerschütterliche, von der sie, die treuen Schwarzen, die gebotene Freiheit nicht angenommen, weil sie sich unter dieser festen Führung wohl und für das ganze Leben geborgen fühlten ... Hier im fremden Lande nun war es, als entbehre die Herrin der gewohnten Sicherheit, als verliere sie für Augenblicke den starken Willen, der so zwingend auf ihre Umgebung wirkte und ihr selbst meist das Gepräge äußerster Kaltblütigkeit verlieh ... Sie schritt oft stundenlang, mit zusammengezogener Stirn und den harten, bösen Zug aufbäumenden Stolzes um die Lippen, im Salon ruhelos von Wand zu Wand, an Gestalt ein schlank dahingleitendes mädchenhaftes Weib, im Ausdruck aber ein eingefangener wilder Edelfalke, der mit seinen Flügeln die Käfigstäbe zerschlagen möchte ... Sie fühlte sich von einem Schemen umstrickt, der schlangenhaft aus dunklen Ecken nach ihr griff, und für dessen Wesen oder gar Beziehung zu ihr selber sie daheim in ihrer durch Vornehmheit und Reichtum geschützten Stellung nicht das mindeste Verständnis gehabt haben würde. Erst hier, in diesem deutschen Hause, nahte sich ihr die gemeine Lastersucht; sie fühlte den spitzen Dorn der üblen Nachrede bohrend in ihrer Seele, und sie, die als Rebellin den feindlichen Truppen mutig ins Auge gesehen, die sich vor den mörderischen Waffen nicht gefürchtet hatte, sie wand sich unter diesem Dorn in ohnmächtigem Grimm und echt weiblicher Verzagtheit.

Voll brennender Ungeduld zählte sie die Stunden bis zu Luciles Rückkehr. Nicht nur der heiße Wunsch, daß die möglicherweise aus Rom heimkommende Baronin sie nicht allein hier finden möchte, erregte sie – auch die Sorge stürmte auf sie ein, daß die unvernünftige kleine Frau durch Ungebundenheit und schrankenlose Vergnügungssucht der heimlich an ihr zehrenden Krankheit Vorschub leisten werde.

So waren vier Tage seit Luciles Abreise verstrichen, und noch stand die südliche Zimmerflucht der Erdgeschoßwohnung leer und verschlossen. Donna Mercedes' Unruhe und Erwartung steigerten sich allmählich zur fieberischen Aufregung – sie horchte angestrengt auf jedes ferne Räderrollen und schrak zusammen, wenn die Salontür geöffnet wurde ... Da endlich, am fünften Tage, kam ein Lebenszeichen, aber es war nur ein dünner Brief... Donna Mercedes riß das Kuvert auf und sank, nachdem sie die ersten Zeilen überflogen, wie vernichtet in sich zusammen.

»Ich bin im Himmel, und ganz Berlin befindet sich in einem wahren Rausch, in Verzückung!« lauteten die flüchtig hingeworfenen Eingangszeilen. »Was waren Mamas Triumphe gegen den Sieg, den ich gefeiert! Ich ersticke fast unter den Blumen, die man über mich schüttet, und habe eben aus meinem von Enthusiasten überfüllten Salon förmlich flüchten müssen, um diese paar Worte auf das Papier zu werfen. Ja, jetzt lebe ich wieder! Ich lebe! – Es ist ein himmlisches Dasein, ein Wonnerausch ohnegleichen! Was ich, solange ich nun wieder auf deutschem Boden stehe, im stillen vorbereitete, es hat sich erfüllt. Und nun, da die Gefahr einer unbefugten Einmischung deinerseits vorüber ist, sollst Du auch die Wahrheit erfahren – ich bin gestern abend als Gisella in den ›Willis‹ aufgetreten.«

Großer Gott, die Schwindsüchtige tanzte auf der Bühne! Man jauchzte ihr zu, die mit jedem Schritt dem sicheren Tod entgegengaukelte ... Dazu also die geheimen Tanzübungen, die Anschaffung neuer Kostüme! Daher die fieberhafte Eile bei ihrem neulichen Weggang – Lucile hatte zu ihrem Auftreten pünktlich in Berlin eintreffen müssen!... Ja, sie hatte recht gehabt, ihre Schwägerin war unverzeihlich »naiv und harmlos« gewesen, sie hatte sich als schlechte Hüterin für das ihr anvertraute ränkevolle junge Weib erwiesen, von dem der sterbende Mann jedenfalls einen derartigen Streich insgeheim befürchtet, und dabei doch nicht den Mut gefunden hatte, eine Warnung seiner Schwester offen auszusprechen... Nun war es doch geschehen, all seinen Anordnungen entgegen – der Vogel war ausgeflogen und schwebte und wiegte sich in Regionen, die ihm bei jedem Flügelschlag das tödliche Gift zuhauchten!

Donna Mercedes sprang auf – die Entflohene mußte sofort zurück... Es blieb ihr keine Wahl, sie muhte selbst nach Berlin gehen und der verhängnisvollen Laufbahn noch vor dem zweiten Auftreten ein Ende machen ... Wieder im vollen Besitz ihrer Energie und Kaltblütigkeit traf sie die Anstalten zur schleunigen Abreise. Aber diesen Entschluß mußte sie dem Herrn des Hauses anzeigen; sie war gezwungen, ihn zu bitten, die Kinder während ihrer Abwesenheit in seine Obhut zu nehmen.

Das Blut schoß ihr in das Gesicht – sie stand vor einem peinlichen Zwiespalt. Wie sollte sie ihm, den sie seit jenem Abend nicht wiedergesehen, diese Mitteilungen machen? Zu einer langen schriftlichen Auseinandersetzung blieb ihr keine Zeit; ebensowenig konnte sie ihm zumuten, behufs einer Besprechung mit ihr die Gemächer zu betreten, die sie ihm selbst in so schroffer Weise unzugänglich gemacht – sie fürchtete mit Recht eine empfindliche Zurückweisung ... Er hatte sich ja vollständig zurückgezogen. Wohl wußte sie, daß er täglich mit den behandelnden Ärzten Josés wegen verkehrte; Hannchen mußte ihm früh und abends Bericht erstatten, die kleine Paula war in seinem Atelier mehr daheim als im Säulenhause, er blieb nach wie vor der fürsorgende und liebevolle Beschützer für Lucians Kinder – aber die Schwester seines Freundes schien nicht mehr für ihn zu existieren. Selbst Luciles Flucht aus seinem Zause hatte nicht vermocht, ihm auch nur das geringste Anzeichen wiedererwachter Teilnahme abzuringen.

Es kostete einen bitteren Kampf; aber sie steckte schließlich Luciles Brief in die Tasche, um – in das Atelier zu gehen.

Es war um die vierte Nachmittagstunde. Die Scheiben des Glashauses sprühten glühende Sonnenfunken der immer langsamer Wandelnden entgegen, als sie aus der Platanenallee trat, und die von dorther wehende duftbeschwerte und beklemmend heiße Luft nahm ihr fast den Atem. Sie hatte inbrünstig gewünscht, Baron Schilling möchte sie bemerken und ihr auf dem schweren Wege ritterlich zu Hilfe kommen; aber keine der Türen öffnete sich, obgleich Pirat, in seiner Klause die Nähe der Herrin spürend, wie toll vor Freude lärmte.

Leise schob sie die Tür des Glashauses zurück und trat, von einem wilden Herzpochen fast erstickt, auf den kühlen Asphaltboden, den das üppig quellende Grün da und dort frei ließ. – Das erste, was sie erblickte, jagte ihr ein heftiges Erröten über das Gesicht – eine Gloxiniengruppe schimmerte in sanfter Farbenglut zu ihr herüber. Da waren die Blüten – vielleicht die ersten, kaum aufgebrochenen – gepflückt worden, die sie neulich mit verletzender Kälte zurückgewiesen hatte. Auch diese kleinen Blumenglocken sagten der stolzen Frau mit demütigender Bestimmtheit, daß ihr Erscheinen hier ein Schritt nach Canossa sei.

Sie wandte den Kopf weg, reckte sich empor und ging dem Eingang zu, der in das Atelier führte. Sie trat geflissentlich fest auf, und ihr schwarzes Reisekleid rauschte in allen Falten – man sollte ihr Kommen hören; allein die plätschernden Springbrunnen verschlangen das Geräusch.

Die Glastür stand offen; drüben aber hing der dunkle Samtvorhang und verwehrte nahezu den Eintritt. Durch die Spalte, die der Faltenwurf frei ließ, sah Donna Mercedes den Herrn des Schillingshofes unweit der Staffelei stehen; er hatte den Malstock in der Hand und war, den prüfenden Blick auf das Bild geheftet, um einige Schritte zurückgetreten. Das von oben kommende, alle Ecken und Schatten des Gesichts verschärfende Licht verschönte ihn nicht, trotzdem war und blieb er bei aller Unregelmäßigkeit der Linien und dem entschieden unschönen, derbdeutschen Typus ein höchst bedeutender Kopf, und hier, auf der Stätte seines Schaffens, machte er besonderen Eindruck.

Er war vertieft in seine Aufgabe, und Donna Mercedes scheute sich, die Stille, die ihn umgab, durch ein lautes Wort zu unterbrechen. In diesem Augenblick aber trat der Bediente Robert droben hinter dem Vorhang hervor auf die Galerie; er kam die Wendeltreppe herab und hatte Reisegepäck auf dem Arme. Beim Niedersteigen fuhren seine Augen über die halbverhüllte Glaswand des Wintergartens – er bemerkte die Dame; man sah es an dem pfiffigen Ausdruck, mit dem er den Blick wegwendete, als habe er sie nicht gesehen.

Donna Mercedes trat sofort unter die Tür. Sie schob den schweren Samtvorhang mit der Rechten zurück – so blieb sie stehen und sagte mit einer Stimme, vor deren hartem, sprödem Klang sie selbst erschrak: »Darf ich für einige Augenblicke um Gehör bitten, Herr von Schilling?«

Er fuhr empor. Sie sah deutlich, daß Unwille die Empfindung war, die ihr Erscheinen zunächst in ihm hervorrief; dann funkelte es wie grimmer Spott aus den tiefen, blauglänzenden Augen, und die Art und Weise, wie er, seinen Malstock weglegend, mit kühler Höflichkeit eine einladende Handbewegung nach dem nächsten Stuhle machte, sagte deutlicher als jedes Wort: »Ah, ein Besuch aus Laune!« Sie biß sich auf die Lippen, und die mächtigen Augen loderten zornig und gereizt; aber sie trat näher, und den angebotenen Stuhl zurückweisend, stützte sie die Hand auf den nächsten Tisch. Ein langsamer, stolzmessender Seitenblick glitt über den Bedienten hin, der sich anscheinend mit einem bereits gepackten Reisesack zu schaffen machte und den Lederriemen an der zusammengerollten Reisedecke wiederholt prüfte, in Wirklichkeit aber beide Ohren offen hielt, um etwas zu erlauschen. Baron Schilling bemerkte ihn erst jetzt und schickte ihn sofort hinaus.

Donna Mercedes zog den Brief aus der Tasche. »Bitte, lesen Sie!« sagte sie so kurz, als wolle sie all und jeden Zeitaufwand vermeiden, der sie in diesem Raum zurückhielt.

»Ist der Brief von Frau Lucian?«

»Ja – aus Berlin.«

»Dann kenne ich den Inhalt.« – Er hob leicht und zurückweisend die Hand nach dem Brief. – »Frau Lucian hat auch an mich geschrieben – sie ist mit großem Erfolg aufgetreten.«

Sie lächelte sarkastisch. »Ja, unser Name kommt zu hohen Ehren! Und ich bin schuld, daß er über die Bühne geschleift wird.«

»Wenn ihm sonst kein Schaden geschieht – durch die Kunst wird er nicht entwürdigt,« sagte er gelassen. »Ich bin für viele meiner Standesgenossen auch so ein Verfemter, der seinem Namen keine Ehre macht, weil ich hier« – er umschrieb mit ausgestrecktem Arm den Raum des Ateliers – »›Allotria‹ treibe und mein eigenes Brot esse, statt in Wasserstiefeln auf die Jagd zu gehen und den Güterverwalter meiner Frau zu spielen.«

Sie empfand den Hieb, als habe er sie direkt ins Gesicht getroffen – ihr gehässiges »Ja, mit dem Gelde seiner Frau!« war für immer gebührend zurückgewiesen.

»Übrigens kann ich nicht einsehen,« fügte er hinzu, »inwiefern Sie die Schuld an dem überraschenden Schritt Ihrer Schwägerin tragen sollen –« »Ich bin lächerlich vertrauensselig gewesen.«

»Das wäre die letzte Bezeichnung, die ich Ihnen geben möchte, gnädige Frau.«

Es lag so viel Ironie in diesen anscheinend verbindlich gesprochenen Worten, daß sie mit einem raschen, flammenden Blick aufsah.

»Ein vertrauensseliges Frauengemüt spricht nicht aus solchen Augen,« setzte er zur Bekräftigung seines Ausspruches flüchtig lächelnd hinzu. – Diesen Mann hatte sie schwer beleidigt, er vergab ihr nicht, das hörte sie aus der verletzenden Schärfe, die seinen ganzen Stimmklang veränderte. Ihr leidenschaftliches Blut wallte heiß auf.

»Ach ja,« – sagte sie rasch einfallend – »meine Augen haben das Unglück, nicht mit dem sanftmütigen deutschen Grau oder Blau in die Welt zu blicken. Aber – das läßt mich ruhig! Ich bin fern von dem Ehrgeiz, mich mit diesen Holbeinschen Madonnen messen zu wollen. Ich kenne ja den deutschen Patriotismus – was sich jenem Frauentypus nicht anpaßt, das läßt der deutsche Maler einfach – verschwinden, wie Figura zeigt.« – Sie deutete unter einem bösen Lächeln nach dem Madonnenbild mit dem entstellenden dunklen Querstreifen über den Augen.

Das Bild lehnte an einer Schrankecke und war jedenfalls, vielleicht beim Reinigen des Ateliers, von unberufener Hand aus seinem Versteck gezogen worden, denn Baron Schilling sah überrascht hinüber und seine Stirn verfinsterte sich.

Donna Mercedes aber lachte ganz leise auf. Er erschrak fast darüber – er hatte diesen ernsten Mund noch nie lachen sehen; jetzt entschleierte sich ihm für einen flüchtigen Moment der wundervolle, feuchte Perlenglanz der Zähne, die Mundwinkel vertieften sich in hinreißender Anmut, aber auch in dämonisch ausdrucksvollen Linien, und die feinen Lachtöne klangen verletzend spöttisch – eine tiefe, unbezwingliche Gereiztheit gipfelte in ihnen.

»Möglich, daß dem Maler die Augen dort gegen seinen Willen aus dem Pinsel geschlüpft sind.« – sagte sie mit leichtem Achselzucken – »indes ein solcher Irrtum läßt sich ja verbessern – den vandalischen Strich da drüben aber hat der Jähzorn gemacht, oder vielleicht auch – die Laune.«

Er wandte sich schweigend ab, nahm ein auf dem Tische liegendes Messer und ging hinüber. Rasch, mit wenigen scharfen Strichen schnitt er die Leinwand aus dem Rahmen, rollte sie zusammen und verschloß sie in dem Schranke – das hieß jedem weiteren Kommentar den Weg verlegen.

Das schwarze Seidenkleid rauschte – er vermutete, die Dame wolle das Atelier verlassen, und sah nach ihr zurück. Sie war in der Tat nach der Glastür gegangen und vor dem Vorhang stehen geblieben. Sie lachte nicht mehr; das blaßgelb angehauchte Profil hob sich wie aus Stein geschnitten von den dunklen Samtfalten, die ihre Hand eben ergriffen um sie zurückzuschlagen.

»Ich bin im Begriff, abzureisen,« – sprach sie kühl und beherrscht wie immer, als er auf sie zuschritt – »und sehe mich gezwungen, um Ihren Schutz für die Kinder während meiner Abwesenheit zu bitten.«

»Sie wollen nach Berlin gehen?«

»Ja – Lucile muß sofort mit mir zurückkehren.«

»Der Meinung bin ich auch. Aber fangen Sie eine Lerche ein, die bereits hoch in den Lüften jubiliert!«

»Das Jubilieren wird ihr vergehen, wenn sie die Überzeugung gewinnt, daß sie sich aus diesen Lüften herab zu Tode stürzen muß – ich werde die ersten ärztlichen Autoritäten zu Hilfe nehmen.«

»Sie hoffen, mit der Todesfurcht zu wirken? – Das sagen Sie, die diese Regung verachtet wie ein Mann? Und wenn nun die kleine Frau auch –«

»O bitte – keinen Vergleich!« unterbrach sie ihn – sie zog die Stirn finster zusammen. »Ich möchte nie mit Lucile verglichen sein ... Ich war ein dreizehnjähriges Kind, als ich sie zum erstenmal sah, und weinte damals in einem Gefühl von widerfahrener Schmach und Erniedrigung – ich sah, daß der Leichtsinn, die niedere Denkweise in unser Haus eingezogen, dem mein stolzer Großvater, meine Mutter den Nimbus eines Fürstenhofes zu geben verstanden hatten.«

Sie preßte die Hände auf der Brust zusammen, als wolle sie das, was sie vielleicht noch nie ausgesprochen, auch jetzt zurückdrängen, und doch sagte sie mit erbitterten Augen und tonlos verschleierter Stimme: »Mein Gott, wie tief geht mir das Haßgefühl für dieses frivole Wesen, das so schnell vergessen kann! Felix hätte sein Blut für sie hingegeben, und sie – tanzt aus dem Trauerjahr hinaus!«

Sein Blick hatte am Boden gehangen; jetzt hob er langsam die Lider und sah die junge Dame voll an. »Und diese unselige Bürde wollen Sie sich zurückholen, um Ihr ganzes junges Dasein in Verbitterung hinzuschleppen?«

»Muß ich nicht?« fragte sie wie erstaunt zurück. »Ich kann doch mein Wort nicht brechen? Felix ist tot, und was ich ihm versprochen habe, hat für mich die bindende Kraft, wie man zum Beispiel ein festes Verlöbnis zwischen Mann und Weib nicht einseitig lösen darf, auch wenn es als schwere Kette drückt, selbst wenn es uns mit geistigem Tod drohen sollte –«

Sie unterbrach sich hastig, als sei ihr ein Geheimnis tief aus der Seele geschlüpft, und griff verwirrt nach dem Vorhang, der vorhin ihrer Hand entglitten war, während Baron Schilling an den Tisch trat, um das gebrauchte Messer au seinen Platz zu legen.

»Das hört sich an wie spartanische Charakterkraft, wie die strenge Moral selbst, und wäre in seinen Folgerungen doch ebenso unmoralisch, als wenn man Leib und Seele um Hab und Gut ›verkauft‹,« sagte er von dorther scharf. »Man hat sich sehr zu hüten, daß man mit allzu starr durchgeführten Prinzipien nicht in das geschmähte feindliche Lager gerät, wie das meist mit dem Extrem geschieht.«

Sie klemmte die Unterlippe hart zwischen die Zähne, und ihr stolzes Haupt neigte sich gegen die Brust, und er trat ihr wieder näher mit dem edlen Gang, der ihm eigen war und seine hoch gewachsene Gestalt schon von weitem auffallen machte. »Sie werden in Berlin nichts ausrichten,« kam er mit gewaltsamer Wendung auf den Zweck ihres Kommens zurück. »Was wollen Sie tun, wenn Ihre Schwägerin Ihnen einfach den Zutritt verweigert?«

»Ich werde mich an ihre Fersen heften, ich werde ihr auf Tritt und Schritt folgen –«

»Auch bis hinter die Kulissen? –«

Donna Mercedes wich unwillkürlich zurück.

»Das können Sie nicht – ich weiß es. Sie werden bei all Ihrem Mut, Ihrer Energie auf dem fremden Gebiet umherflattern wie sturmverschlagen und vor neugierigen und dreisten Blicken fliehen, ohne Ihren Zweck erreicht zu haben ... Lassen Sie mich gehen! – Ich hatte bereits den Entschluß gefaßt, nachdem ich Frau Lucians Brief gelesen, und bin reisefertig.« – Er zeigte auf das am Boden liegende Gepäck. »Ich weiß zwar genau, daß auch ich unverrichteter Dinge heimkommen werde – Lucile Fournier stirbt eher auf der Bühne, angesichts des Publikums, als daß sie zu Ihnen zurückkehrt – so ungefähr hat sie mir geschrieben. José will sie Ihnen lassen; aber die kleine Paula verlangt sie mit Ungestüm, kraft ihrer Mutterrechte –«

»Nie! Niemals!«

»So lassen Sie mich gehen! Es bedarf nicht allein der ärztlichen Überredung, auch juristische Gründe müssen wirken, um die kleine Frau nachgiebiger zu machen.«

»Nun wohl, ich bin damit einverstanden, und – ich danke Ihnen!« Wie weich und innig klangen diese drei letzten Worte, wie so ganz anders als die, mit welchen sie neulich in ihrer furchtbaren Aufregung die gebotene kleine Blumenspende zurückgewiesen hatte!

Er aber schien diesen Gegensatz nicht zu fühlen; er überhörte den Dank vollständig; er sah auch nicht, daß sie ihm die zarten Fingerspitzen hinstreckte – mit einem Blick nach der Uhr zog er kräftig an der Klingel, daß sie widerwärtig von allen Wänden schrillte.

Er befahl dem eintretenden Bedienten, mit dem Gepäck nach der Bahn vorauszugehen; dabei hing er sich eine kleine Ledertasche um und griff nach seinem Hut. – Es war in der Tat alles zu seiner sofortigen Abreise vorbereitet gewesen; aber er hatte gehen wollen, ohne Donna Mercedes zu benachrichtigen, ohne ein Wort des Einverständnisses mit ihr gewechselt zu haben – der Schritt wäre einzig und allein in Ausübung seiner Pflichten dem verstorbenen Freund gegenüber geschehen. Dieser Überzeugung konnte sie sich nicht verschließen, und deshalb war auch ihr Dank übel angebracht gewesen.

Mit tiefverfinstertem Gesicht trat sie in das Glashaus, während er die in das Atelier führende Tür verschloß. Er warf noch einen letzten Blick durch die Vorhanglücke über den Raum drinnen, dann drückte er sich im Fortgehen den Filzhut auf das krause Haar und zog die Handschuhe aus der Tasche.

Donna Mercedes schritt ihm voraus und streifte dabei achtlos und hart an einer Pflanzengruppe hin – ein rosenfarbener Gloxinienkelch knickte ab und fiel auf den Asphaltboden. Die junge Dame wurde so rot wie die Blume zu ihren Füßen, und mit einem Ausruf des Bedauerns bückte sie sich, um sie aufzuheben – aber Baron Schilling kam ihr zuvor.

»Lassen Sie doch!« – sagte er frostig. »Solch eine kleine Blumenseele ist nicht so empfindlich wie der Mensch – sie freut sich ihres Lebens weiter, auch wenn man sie plötzlich in das kalte Element versetzt.«

Damit legte er die Blume auf den Rand des Beckens, so daß ihr Stengel die Wasserfläche erreichte.

»Bis wann dürfen wir Sie zurückerwarten?« fragte Donna Mercedes draußen vor der Tür des Glashauses in bebendem Tone.

»Je nachdem Frau Lucian Schwierigkeiten erhebt – möglicherweise in drei Tagen.« – Er zog den Handschuh über die Rechte.

Ihre Wimpern lagen tief auf den Wangen – sie blickte auf ihre Fußspitze nieder, die schmal unter dem Kleidersaum herumkam, und sich spielend in den Kiessand grub. »Das wird José unerträglich lange erscheinen!« sagte sie stockend; »er fragt und verlangt unaufhörlich nach Ihnen.« – Sie hob langsam die Lider und sah ihn doch nicht an – es war unverkennbar, sie rang und kämpfte mit sich selber. – »Wollen Sie den kleinen Rekonvaleszenten nicht erst noch einmal sehen?«

»Nein, nein!« – Jetzt sah sie ihm bestürzt in das Gesicht, welches die innere Kraft der Empfindungen ehrlich widerspiegelte – ein zornig funkelnder Blick begegnete dem ihren. – »Ich habe die schmerzvolle Sehnsucht überwunden und werde das Wiedersehen mit meinem kleinen Liebling nur unter den grünen Bäumen hier feiern.«

Er zog grüßend den Hut, und sie reckte sich mit hartgeschlossenem Mund empor; sie schüttelte ungestüm die vornüberwogenden, lockigen Haarmassen aus der Stirn, nahm ihre Schleppe auf und ging mit einem stolzen Neigen des Hauptes rasch an ihm vorüber in die Platanenallee, während er quer durch das Fichtenwäldchen hinter dem Atelier schritt. Dort führte eine Tür in der Mauer nach der öden, menschenverlassenen Straße, die das Grundstück des Schillingshofes begrenzte – sie lief nach dem Stadtteil, in welchem der Bahnhof lag.


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