Eugenie Marlitt
Im Schillingshof
Eugenie Marlitt

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14.

Währenddessen hatte Baron Schilling die Angekommenen durch den Korridor geführt. Die Flügeltüre am äußersten Ende stand zum Empfang weit offen; man konnte das ehemalige Familienzimmer mit seinen mächtigen Deckenbalken und holzgeschnitzten Wänden vollkommen übersehen. Es zeigte noch genau die Ausstattung wie vor acht Jahren; nur das reiche Silbergeschirr auf den Kredenztischen fehlte; es war durch altes chinesisches Porzellan ersetzt worden ... Hannchen schien eben noch einmal Musterung zu halten – sie stand mit dem Staubtuch neben einem der Tische. Mit einem Blick überflog Lucile das Zimmer und fuhr zurück. »Aber ich bitte Sie, Baron,« rief sie ganz entsetzt, »Sie werden uns doch nicht in den gräßlichen Salon stecken, wo es nachts »trab, trab« hinter den Wänden geht? ... Wissen Sie noch, wie Ihre Frau damals aufschrie? ... Puh, was für ein finsteres Gesicht Sie machen – man könnte erschrecken! – Kann ich's denn ändern, daß mein dummer Kindskopf solche entsetzliche Dinge niemals vergißt? ... Da, da ist die Stelle –« sie zeigte nach der Wand, wo die Ruhebank mit den grünseidenen Polstern stand – »da hat es gestanden und Ihrer Frau eiskalt in das Genick gehaucht!«

»Lucile, sei kein Kind – denke an José!« unterbrach die schwarzgekleidete Dame die Schilderung. Ihr volles Organ, das den deutschen Lauten einen fremdartigen Zauber verlieh, hatte in diesem Augenblick eine hörbare Beimischung lebhaften Verdrusses. Sie ergriff die Hand der kleinen Frau sehr energisch und führte sie über die Schwelle.

Das wurde aber sehr übel vermerkt. Lucile lief wohl in das Zimmer hinein; aber sie riß in der Tat wie ein recht unartiges, verzogenes kleines Mädchen ihre Hand los. »Ach was, ich will doch tausendmal lieber kindisch sein, als mich auf die weise Großmutter spielen!« rief sie anzüglich mit hoch hinaufgeschraubter Kinderstimme. »Bah, warum soll denn José nicht wissen, daß es hier spukt? Lächerlich! – Frage doch deine Deborah,« – sie zeigte kichernd nach der Negerin – »sie weiß fabelhaft viel Gespenstergeschichten, eine gruseliger als die andere; und während du Felix in der Krankenstube die Zeitungen vorlasest, habe ich gar oft neben José draußen in der Veranda gekauert und Deborah zugehört. Wir haben uns stets um die Wette gefürchtet, gelt, José?«

Die Schwarze sah erschrocken nach ihrer Herrin und stellte schleunigst Paula auf einen Stuhl, um ihr Hut und Reisemantel abzunehmen. Lucile aber streifte die Handschuhe ab, riß mit übermütig graziöser Gebärde den Hut vom Kopf und das Jackett von den Schultern und warf Stück um Stück der Kammerjungfer hin, die es auffing – dann ließ sie sich in die Kissen der nächsten Ruhebank sinken. »Na meinetwegen! Ich bin sterbensmüde und habe vorläufig nur das eine brennende Verlangen, zu ruhen!« – Sie drückte sich gliedergeschmeidig wie eine kleine Katze in die Seidenpolster. – »Ihr Poltergeist wird ja wohl so viel Takt haben, uns wenigstens am hellen, lichten Tage ungeschoren zu lassen, lieber Baron?« ironisierte sie selbst ihre Furcht mit einem Schelmenblick von unten herauf. »Puh – ein Selbstmörder ist er gewesen! – Ach ja – wie vom denn das eigentlich? – Hatte der Mann nicht gestohlen, oder den lieben, alten, prächtigen Freiherr« betrogen –«

»Er hat weder gestohlen, noch betrogen, der ehrliche, brave Adam,« schnitt Baron Schilling rauh und unverbindlich das Geplauder ab und blickte besorgt nach dem jungen Mädchen am Kredenztische, unter deren Händen das aufgestellte Porzellan plötzlich stark aneinander klirrte. Aus ihrem erblaßten Gesicht glühten die Augen in verhaltenem Grimm die kleine Frau in der Polsterecke unverwandt an.

Baron Schilling winkte ihr, die bepackte Kammerjungfer in das anstoßende Zimmer zu führen, und als sie mit gesenkten Lidern an ihm vorüberging, da strich seine Hand lind und tröstend über ihren dunklen Scheitel. »Gelt, Hannchen, wir wissen das besser?« sagte er mit seiner schönen, mitleiderfüllten Stimme.

Lucile fuhr empor. »Wie – Hannchen sagen Sie? – Die große, hübsche Person da wäre das barfüßige, kleine Ding, sein Kind, das damals so –«

Er trat ihr rasch näher. »Gnädige Frau, ich muß Sie dringend bitten, mit dergleichen Anspielungen zurückzuhalten,« fiel er ihr ins Wort, ohne die Empörung, die Ungeduld zu verbergen, die ihm in jedem Nerv zu prickeln schien. – »Sie wissen, zu welchem Zweck Sie hierher gekommen sind, Sie wissen auch, daß die Leute im Schillingshof vorläufig nicht ahnen sollen, wer Sie sind –« »Ach ja, ich weiß meine Lektion schon,« – unterbrach sie ihn mit einer lässigen Handbewegung. – »Ich habe Sie und Ihre Frau in Paris kennen gelernt, bin einfach hier, um mich zu erholen und in der kräftigen, urdeutschen Luft starke Nerven zu bekommen, und so weiter – eine haarsträubend langweilige Rolle, wie Sie mir zugeben werden.«

Zuerst hatte sie ihn mit großen Augen angesehen – diese energische Zurechtweisung von seiten eines Mannes mochte »das vergötterte Elfenkind« ein wenig verblüffen. Nun aber warf sie sich zurück und legte die hochgehobenen Arme verschränkt unter den Kopf: »Ich will Ihnen etwas sagen, Baron Schilling!... Hätte mich nicht seit Jahren die Sehnsucht nach Europa, nach den alten Verhältnissen, die ich dummer Backfisch damals wahnwitzigerweise aufgegeben hatte, insgeheim gepeinigt und verzehrt, ich wäre nicht um die Welt hierher gegangen – darauf können Sie sich verlassen ... Die Idee an sich ist mir immer unfaßbar gewesen – der arme Felix hatte sich eben mit der ganzen Fieberhitze seiner Krankheit hinein verrannt. Ich frage – was gewinnen wir denn damit? – wir sind reich –«

Baron Schilling sah überrascht empor; seine Augen begegneten denen der schwarzgekleideten Dame, die in einer der Fensternischen getreten war, wie um einen Blick in den Vorgarten zu werfen, nun aber rasch über die Schulter in das Zimmer zurücksah. Ihre großen, stolzen Augen sahen ihn ausdrucksvoll an, sie legte flüchtig den Zeigefinger auf die Lippen.

»Ungeheuer reich, sag' ich Ihnen,« fuhr Lucile fort, die diesen Austausch der Blicke nicht bemerkt hatte. »Felix war stets in der Lage, alle meine Wünsche zu erfüllen, und wenn mein toller Kindskopf auf den Einfall gekommen wäre, unseren Wagenpferden massiv goldene Hufeisen zu geben und das Riemenzeug mit Brillanten besetzen zu lassen, er hätte es gedurft ... Augenblicklich werde ich freilich knapper gehalten; die dumme Vormundschaft, von der ich rein gar nichts verstehe, und die mich deshalb behandeln und an der Nase führen kann, wie sie gerade Lust hat, und auch andere widerwärtige Schulmeister –« sie verstummte und streifte mit einem feindseligen Blick die Fensternische – »bah, das wird sich ja schließlich auch abschütteln lassen – mir ist nicht bange!« setzte sie gleich darauf hinzu, übermütig die Locken zurückwerfend und mit dem kleinen Absatz auf den Fuß der Ruhebank hämmernd. »Kurzum, wir brauchen die zusammengescharrten Milch- und Buttergroschen, von denen mir Felix einmal erzählt hat, durchaus nicht!«

Inzwischen hatte die Dame im Fensterbogen Hut und Reisemantel abgelegt ... Der alte Miniaturmaler, den der reiche Plantagenbesitzer in Südkarolina so hoch geschätzt hatte, war in der Tat ein Meister gewesen. – Das dreizehnjährige Mädchengesicht auf der Elfenbeinplatte und der junge Frauenkopf dort unter der grünen Seidengardine zeigten heute noch ein und dieselben fast unirdisch zarten Linien, die seltsame Färbung, die an die leuchtende hellste Tönung des Bernsteins erinnerte ... Nun erschien sie, deren Augen einst fast aus märchenhafter Ferne her voraus geleuchtet hatten, leibhaftig unter dem nordischen Himmel; das überreiche, nachtdunkle Haar voll aufgestreuter blauflimmernder Reflexe, schlank und biegsam, mit herrlich stolzer Nackenwölbung, stand sie in demselben Zimmer, wo damals ein übermütiger Mädchenmund von ihr als der »kleinen Buckligen« gesprochen hatte.

Langsam zog sie die Handschuhe von den Händen und rückte den verschobenen Trauring sorglich wieder an Ort und Stelle und dabei sagte sie mit seltsam frostiger Zurückhaltung nach ihrer Schwägerin hinüber: »Es handelt sich in erster Linie um die Zuneigung der Großmutter.«

Lucile schnellte empor und preßte beide Hände auf die Ohren. »Wenn ich nur diese Phrase nicht mehr hören müßte!« rief sie wie rasend vor Ärger und Ungeduld. »Ach, lieber Baron, was hat man in diesem Amerika aus der kleinen, mutwilligen Lucile gemacht! – Es ist zum Erbarmen! – Monatelang vor Felix' Tode war diese widerwärtige Großmutterversöhnung das stehende Thema in der Krankenstube, und ich armer Wurm mußte zu allem pflichtschuldigst mit dem Kopf nicken, wenn ich nicht haarsträubende Grobheiten von den Ärzten und Vorwürfe von Dame Mercedes schlucken wollte ... Aber nun bin ich wieder da, nun bin ich wieder ich, nun spiele ich nicht mehr mit, »und damit Punktum!« hieß es allemal beim alten, guten Freiherrn der nun auch tot ist! ... Ich möchte wohl wissen, was er sagen würde, daß meine Kinder hierher geschleppt werden, damit sie um »Zuneigung« betteln bei dem gemeinen Weibe, das er nicht ausstehen konnte, das er genau so grimmig haßte wie ich! ... Aber sie soll mir nur kommen! Sie soll sich nur unterstehen, mein süßes Engelchen, meine Paula, mit ihren groben Küchenhänden anzufassen!«

Sie unterbrach sich und streckte die Hand triumphierend gegen ihre Schwägerin aus. »Drüben hattest du immer nur ein stolzes Aufwerfen der Lippen, oder eine messerscharfe Bemerkung als Antwort, wenn ich mich gegen den unsinnigen Plan sträubte – du wußtest es ja besser, natürlicherweise! Als ich im aber vorhin im Vorverfahren das kostbare, alte Mönchsnest zeigte, da war es aus und vorbei mit dem Heldenmut, den Illusionen, da wurdest du leichenblaß – du sahst aus wie der Schrecken selbst.«

Die junge Dame biß sich auf die Lippen und bog ihr Gesicht einen Augenblick über José, der in sichtlicher Scheu vor der neuen Umgebung zu ihr geflüchtet war und die kleinen Arme um ihre Hüfte gelegt hatte. »Um dieses Erbleichen weiß ich – ich fühle, wie mir immer das Blut nach dem Herzen zurückströmt, seit die deutsche Luft mich anweht,« sagte sie nach einem augenblicklichen Schweigen gepreßt, und ihr finsterer Blick sah über den ihr ziemlich nahestehenden Herrn des Schillingshofes hinweg, wie in eine schrankenlose Weite hinein. – »Ich dachte nicht, daß sich meine ganze Natur gegen sie empören würde, weil ich ja vom Vater her deutsch bin – jetzt weiß ich, daß er mir weder Sympathie, noch Heimgefühl vererbt hat für dieses Land, in dem er so unglücklich gewesen ist.« – Sie hatte nicht zu versichern gebraucht, daß ihr das heiße Blut überwältigend durch das Herz stürme, man hörte es aus diesen tiefen, leidenschaftlich gefärbten Tönen. »Ich bin mir genau bewußt, was ich Felix versprochen habe, aber – mir graut vor dem verfallenen Hause; es sieht aus, als wohne der Hunger drin und die Armseligkeit, die Gemeinheit – und dort soll ich die Großmutter unserer Kinder suchen?« – Beide Hände um den Blondkopf des Knaben verschlingend, drückte sie ihn an sich in tiefer Zärtlichkeit, aber auch voll des ausgesprochensten beleidigten Hochmutes. – »Ich kenne die Vergangenheit meines Vaters,« fuhr sie nach einem tiefen Atemzug mit tonlos fallender Stimme fort; »und doch ist mir jetzt, als sähe ich in eine verleugnete dunkle Stelle seines Lebens, weil er sich aus dem obskuren Winkel die Vorgängerin meiner stolzen Mutter geholt hat.«

Lucile hatte sich anfänglich mit lächelndem Behagen wieder zurückgelehnt und ließ die Silberquaste des Kissens, auf das sie den Arm stützte, durch die Finger laufen. Ihr pikantes Gesichtchen mit den boshaften Augen strahlte förmlich – »Dame Mercedes« blamierte sich ja gleich in der ersten Stunde gründlich mit ihrem spanischen Dünkel vor dem deutschen Edelmann, dessen schlichtes Auftreten in Berlin sprichwörtlich gewesen war. Schon jetzt mußte es ihm klar werden, was man unter diesem Zuchtmeister zu leiden hatte. Aber sie fand plötzlich, daß er gar nicht danach aussähe, daß er überhaupt gar nicht mehr der nette Baron Schilling sei, dem man einst gut sein mußte, wie einem wackeren, verträglichen Kameraden ... Sie fand ihn voll Anmaßung in seiner Haltung, anmaßend in seinem Wesen – was brauchte er denn so andächtig auf die erbitterte Philippika der gelben Spanierin gegen Deutschland zu lauschen, als sei sie ein Evangelium. Und sie, die Hauptperson, Lucile Fournier, Lucians Witwe, die er beschützen sollte als das hinterlassene Kleinod des Freundes, sie ließ er unbeachtet in ihrem Sofawinkel sitzen, wie die hölzerne Ankleidepuppe in seinem Atelier – der Unmensch!

Die Silberquaste in ihrer Hand schwirrte an der langen Schnur wie ein toller Kreisel in der Luft, und der kleine Fuß trommelte in beschleunigtem Tempo gegen das Ruhebett. »Armseligkeit, Gemeinheit, obskurer Winkel!« wiederholte sie mit Pathos – dann lachte sie laut auf. »Das Klostergut hat sich ja ganz nett präsentiert – ich bin gerächt, furchtbar gerächt! – Ach, wie muß ich an den Abend denken, wo wir – der arme Felix und ich – aus der schauderhaften, dunklen Höhle flüchteten! Dann kamen wir hierher, wie ein Paar verirrter Kinder, und da war lauter Licht und Glanz. Ihre Frau, lieber Baron, saß dort auf dem Lehnstuhl und stickte – sie stickt wohl immer noch? – und – ach, da fällt mir ein: existiert denn die kleine Bestie, die Minka, noch, die eine so besondere Liebhaberei für Miniaturporträts hatte?«

Jetzt wandte er ihr mit einem jähen Aufzucken das Gesicht zu.

»Aber ich bitte Sie, wollen Sie mich denn mit Ihrem Blick aufspießen?« fuhr sie mit einer drolligen Entsetzensgebärde zurück. »Mein Gott, was hab' ich denn nun wieder verbrochen? – Es scheint, man wird hier stumm sein müssen, wie ein Kartäuser, wenn es schon Sünde ist, nach dem Affen Ihrer Frau zu fragen!... Sagen Sie mir, weshalb regen Sie sich denn eigentlich auf, Baron? – Mercedes wegen? – Da können Sie ganz ruhig sein–ich habe ihr die amüsante Geschichte längst erzählt. Sie nimmt zwar stets eine gelangweilte Miene an, wenn man ihr vorplaudert – wissen Sie, so eine Art Grandenmiene, die furchtbar imponiert – aber die Geschichte mit der Elfenbeinplatte hat sie doch ohne Gnade zweimal hören müssen ... Ah bah – Sie werden doch nicht dafür büßen wollen, daß Ihre Frau damals Minkas Amüsement in der Fensterecke stillschweigend begünstigt hat, weil sie das Bild in Ihrem Besitz nicht dulden wollte?«

Sie hatte recht, wenn sie sagte, er rege sich auf. »Ihr lebhaftes Naturell schafft sich einen weiten Spielraum bezüglich der Auffassung, Frau Lucian,« sagte er hörbar ergrimmt.

»Wie, Sie wollen doch nicht sagen, das alles sei nicht wahr?« fuhr sie empor und stand mit einem Ruck auf ihren beiden kleinen Füßen. »Gehen Sie doch!« setzte sie erbittert hinzu. »Haben Sie nicht selbst die Splitter aufgelesen? Und wollten Sie nicht das Elfenbein wieder zusammenleimen für den alten Freiherrn, oder für –« sie zuckte die Achseln – »na meinetwegen – was weiß ich! –«

»Für mich selbst!« fiel er ruhig ein.

Sie lachte gezwungen auf. »Ach ja, ich erinnere mich – und es ist wirklich noch vorhanden?« ..Ja.« Bei dieser lakonisch gegebenen Antwort trat Donna Mercedes rasch naher. Die boshafte Schilderungsweise der kleinen Frau hatte ihr im stürmischen Wechsel Glut und Blässe über das Gesicht gejagt. Mit einem kalten Lächeln, aber in tiefverletztem, grimmem Stolz flimmernden Augen trat sie auf den Herrn dieses Hauses zu, in dem sie schon vor Jahren, selbst im Bilde von der Hausfrau angefeindet worden war.

»Ich darf mir wohl gelegentlich das Bild zurückerbitten,« sagte sie mit verhaltener Stimme.

Er griff in die Brusttasche und überreichte ihr schweigend ein kleines, schmuckloses Etui.

Fast sah es aus, als weiche sie zurück vor dieser raschen, kühlen Art und Weise der Erfüllung. Sie schlug die Augen bestürzt, aber auch gereizt zu ihm auf, und ein feiner, launischer Zug flog um ihren kleinen blaßroten Mund, während sie das Etui nachlässig in die Tasche gleiten ließ.

In diesem Augenblick trat der Bediente mit einem vollbesetzten Kaffeebrett in den Salon. Mamsell Birkner kam auch nach – sie trug ein Körbchen, das mit Beerenobst gefüllt war. Zugleich dröhnte die mächtige Stimme eines Hundes draußen von den Wänden der Flurhalle zurück.

»Pirat ist endlich da, Tante!« schrie der kleine José jubelnd auf und rannte hinaus in den Korridor. Gleich darauf kam er wieder herein – die Arme um die breite Brust der riesenhaften Dogge geschlungen, ließ er sich von dem Tier in das Zimmer förmlich schleifen. Hinter dieser Gruppe trat ein großer, breitschultriger Neger auf die Schwelle; er verbeugte sich tief vor Donna Mercedes und entschuldigte sein verspätetes Nachkommen vom Bahnhof mit der Umständlichkeit der Bahnbeamten, des Hundes und einiger großer zurückgebliebener Gepäckstücke wegen.

José war plötzlich wie umgewandelt. Nun Pirats Stimme in dem fremden Hause laut geworden war, und seine Riesengestalt in plumper Wiedersehensfreude genau so zuversichtlich durch den Salon trabte, wie im Familienzimmer weit drüben über dem großen Wasser, nun fühlte er sich auch heimisch.

»Ach, ich hatte schreckliche Angst um Pirat!« sagte er sichtlich erleichterten Herzens zu Baron Schilling, der mit der Rechten schmeichelnd über den Kopf des schönen Tieres strich. »Er heulte so furchtbar im Hundewagen, und da bellten alle anderen auch wie wütend – ich dachte, die Hunde würden sich alle totbeißen. Pirat ist sehr wild, mußt du wissen; Jack sagt« – er Zeigte nach dem Farbigen, der Mercedes eben einen mitgebrachten kleinen Handkoffer übergab – »er bekäme zu viel Fleisch, immer eine ganze große Schüssel voll. Wird er das hier auch bekommen, Onkel? Und wo ist denn sein Haus? Bei Tante Mercedes war sein Haus so groß, daß ich mich auch mit hineinsetzen konnte.«

Baron Schilling lachte. »Sorgen Sie dafür, daß drüben aufgeschlossen und frisches Stroh eingestreut wird,« befahl er dem Bedienten, der bei Erwähnung der vollen Fleischschüssel höhnisch unter den gesenkten Lidern hervor nach dem Hunde geschielt und schon einigemal mit offensichtlicher Entrüstung seine Beine in Sicherheit zu bringen gesucht hatte, wenn das Tier ihm zu nahe gekommen war.

»Zu Befehl,« sagte er unterwürfig. »Aber verzeihen der gnädige Herr – es ist nur von wegen der gnädigen Frau Baronin – der kleine Stall ist zu nahe beim Zause; die Leda, die der gnädige Herr vom Herrn Grafen Rainer bekommen hatten, bellte nicht halb so laut wie der Hund da, und sie mußte doch fort, weil die gnädige Frau den Lärm nicht vertragen konnte.«

»Oh – muß Pirat auch fort, Onkel?« rief José im atemlosen Schrecken.

»Ei, was denkst du, mein Junge? Dein Spielkamerad bleibt im Schillingshof so gut wie du selbst. Komm, wir wollen ihm drüben bei mir ein behagliches Absteigequartier zurecht machen!«

Er nahm das Kind bei der Hand, winkte dem Neger, ihm zu folgen, und verabschiedete sich mit einer Verbeugung von den Damen, während der Kund mit einem betäubenden Freudengebell voraussprang.

»Gott sei Dank, daß das lärmende Ungetüm hinaus ist!« rief Lucile und sank auf das Ruhebett zurück. »Das ist vielleicht der einzige Punkt, in dem ich mit der widerwärtigen, aschgrauen Frau Baronin harmoniere,« sagte sie, um der anwesenden Dienstboten willen in sehr mangelhaftem Englisch, zu ihrer Schwägerin. »Ich war von vornherein entschieden dagegen, daß Pirat mitgenommen werde, aber da war ja jeder vernünftige Einwurf in die Luft gesprochen – Mosje José darf eben immer seinen Kopf durchsetzen.« – Sie hob den Kopf ein wenig von den verschränkt unterlegten Armen und musterte mit kritischem Blick das Tablett, das Mamsell Birkner ihr darbot. »Kaffee bei dieser Hitze? – Nein, meine Liebe, ich danke recht schön! Bitte, verschaffen Sie mir ein wenig Vanille- oder Erdbeereis – ich verschmachte!«

Die gemütliche, dicke Wirtschaftsmamsell, deren Verstand nicht weiter reichen sollte als ihr kleiner Finger, wie die Frau Baronin behauptete, sah sehr verblüfft und verlegen drein und besann sich vergeblich auf eine Antwort.

»Ach, es ist kein Eis zu haben – wie?« rief Lucile belustigt; sie weidete sich übermütig an der hilflosen Miene der völlig Verwirrten. »So, so – na, dann bitte ich um ein Glas Champagner.«

Es erfolgte ein abermaliges momentanes Schweigen. Mamsell Birkner wandte sich langsam nach dem Bedienten um, der sich eben aus dem Staube machen wollte. »Wollen Sie so freundlich sein, Robert –«

»Ich bedaure,« versetzte er achselzuckend und offenbar sehr empört darüber, daß er in diesem Falle so offen seine Machtlosigkeit bekennen mußte. »Die gnädige Frau Baronin –«

Lucile winkte unterbrechend und silberhell auflachend mit der Hand. »Ein Glas frisches Wasser, wenn ich bitten darf!«

Der Bediente ging hinaus. Mamsell Birkner stellte das Kaffeebrett auf den Tisch und verneigte sich respektvoll vor Donna Mercedes, die kurz, aber höflich für jede Erfrischung vorläufig dankte. Dann schloß sich die Türe auch hinter ihr.

Lucile wälzte sich wie toll vor Lachen in den Polstern. »Ha, ha, ha! Der Witz ist unbezahlbar! Die gnädige Frau Baronin hat die Kellerschlüssel mitgenommen!« – Gleich darauf aber richtete sie sich plötzlich empor, schüttelte mit einer Art von wildem Triumph die Locken aus der Stirne, legte die Arme um die emporgezogenen Knie und beobachtete einen Augenblick schweigend, mit boshaft funkelnden Augen ihre Schwägerin, die lautlos, aber raschen Schrittes im Salon auf und ab ging.

So wie diese junge Frau, deren fremdartige Erscheinung in keiner Linie, keinem Farbenton an germanischen Ursprung denken ließ, auf schlanken, schmalen, weichbeschuhten Füßen von Wand zu Wand und unruhig über das Parkettgetäfel hinglitt, war sie das Bild einer Libelle, die der Sturm in verworrenes, dunkles Geäst verschlagen hat, das Bild des verzweifelten Mühens, zu entrinnen.

»Was habe ich immer gesagt, Donna de Valmaseda?« fragte Lucile spöttisch, in hörbar rachegesättigtem Tone.«War es etwa übertrieben, wenn ich diese steifleinene Baronin Schilling als das widerwärtigste Weib auf Gottes Erdboden schilderte, als eine wahre Ausgeburt von Neid und heimtückischer Eifersucht? ... Puh, sie ist häßlich wie die Nacht und kann unsereinen nicht ausstehen! – Ich wußte, daß man ihr ein Dorn im Auge sein würde ... aber schlau ist sie, die gute Frau, das muß ihr der Neid lassen. Sie ist jedenfalls mit ihrer Wen, tückischen Nonnenmiene gegangen und hat dem zurückgelassenen Haushalt einen Zuschnitt gegeben, wie ihn sich anständige Leute nicht gefallen lassen können – die beste Art, uns schnell wieder los zu werden!... Ich frage, was nun, Donna de Valmaseda? – Baron Schilling –«

»Ein fischblütiger Germane, wie er in den Büchern steht,« scholl es halblaut und wie im unwilligen Selbstgespräch aus der Fensterecke, in der Mercedes für einen Augenblick stehen geblieben war.

»Ah, endlich!« jubelte Lucile. Sie sprang wie elektrisiert auf ihre Füße und riß die Türe nach den anstoßenden Zimmern auf, wo Deborah eben die kleine Paula wusch und umkleidete, und die Kammerjungfer einen Koffer aufschloß.

»Nur das Nachtzeug wird ausgepackt, Minna; sonst kein Stück weiter!« befahl die kleine Frau; dann flog sie nach der Fensterecke. »Wüßte Felix, wie armselig wir hier untergebracht sind,« rief sie in dringlicher Hast, wie jemand, der nach dem alten Sprichwort das Eisen schmiedet, solange es warm ist – »er würde uns um keinen Preis in dieser Spukherberge lassen, die von der Gnädigen offenbar selbst nicht mehr benutzt wird, weil sie sich fürchtet ... Und wie gründlich sie erst noch aufgeräumt hat mit allem Komfort, ehe sie gegangen ist, die brave Frau! Siehst du dort die scheußlichen Kannen und Sahnentöpfe mit den angekitteten Henkeln und Schnäbeln?« – sie zeigte nach den Kredenztischen. »Das Zeug ist für uns aus der Rumpelkammer geholt worden ... Vor acht Jahren brachen die Platten und Aufsätze fast unter dem Silber- und Kristallgeschirr – ich habe den Eindruck behalten, denn ich weiß noch, daß ich mich damals wahnsinnig ärgerte, weil Mamas prächtiges Büfett gar nicht dagegen aufkommen konnte – ob die Gute gefürchtet hat, ihre Kostbarkeiten möchten uns an den Fingern hängen bleiben?«

Wie eine flinke Bachstelze duschte das seidenraschelnde, boshaft hetzende Geschöpfchen dicht an die schweigende Dame im Fensterbogen heran und suchte einen Blick zu erhaschen. »Wir gehen doch nun selbstverständlich nach Berlin – ja, Mercedes?« fragte sie mit süß und kindlich bittender, schmeichelnder Stimme. »Es bleibt uns ja gar nichts anderes übrig ... Felix wollte eine deutsche Erziehung für die Kinder – nun, die können sie ja nirgends besser haben – urdeutsch sage ich dir! ... Und für mich wäre das ein Glück, ein Glück?« – sie preßte die Hände auf die Stirne, als befürchte sie, vor Seligkeit den Verstand zu verlieren. – »Die Großmama ist zwar tot, und Mama hat den Streich gemacht, sich von einem Einrosten ins Blaue hinein entführen zu lassen – aber ich habe so viele Freunde dort, so viele, die damals für mich geschwärmt haben – ach mein Gott, ich glaube, ich könnte mich sogar freuen, den unausstehlichen, alten Gecken, den Fürsten Konsky, wiederzusehen! ... Wir reisen natürlicherweise gleich mit dem ersten Zug morgen? ... Weißt du, ich persönlich mache mir nicht so viel draus« – sie schnippte mit den Fingern in der Luft – »ob diese entlaufene Nonne mich zu beleidigen sucht oder nicht, ich schüttle die heimtückischen Nadelstiche ab und amüsiere mich dabei; aber du, du?« –

Es schien, als dränge sich bei diesen letzten Worten ein leidenschaftlicher Ausruf auf die Lippen der jungen Frau, die bisher mit starren Augen unbeweglich in den Vorgarten hinausgesehen hatte. Sie war sehr bleich, und an ihrer unruhig atmenden Brust sah man, daß die widerstreitendsten Empfindungen nach einem Ausbruch rangen – aber nichts schien dieser Frau ferner zu liegen, als intime Erörterungen, oder ein Meinungsaustausch mit dem quecksilbernen Wesen, dessen überstürzte Plauderei wie aufdringliches Vogelgezwitscher ihr den eigenen marternden Gedankengang störte.

»Nun, Mercedes?« drängte die kleine Frau wie atemlos, und ein grelles Feuer in den schönen, intensiv grünschillernden Augen. »Wir bleiben. Ich bin über das Meer gekommen, um den letzten Wunsch meines Bruders zu erfüllen, und das will und werde ich!«

Lucile wandte sich um, lief wie ein erbostes Kind an dem verblüfften Bedienten, der eben mit dem verlangten Glas Wasser eintrat, vorüber in das anstoßende Zimmer und warf die Türe schmetternd zu, um hinter ihr, nach alter Gewohnheit, gegen ihre Kammerjungfer und Vertraute das tieferbitterte Herz auszuschütten.


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