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24.

Am andern Tage herrschte viel Rumor in der Bel-Etage. Tapezierer, Tüncher und Ofenputzer kamen und gingen, und Margarete war von früh an viel in Anspruch genommen. Und das war gut; es blieb ihr nicht viel Zeit zum Nachgrübeln, das ihr ohnehin die Nachtruhe geraubt – sie hatte fast die ganze Nacht mit offenen Augen gelegen und heftige Stürme waren ihr durch Kopf und Herz gegangen.

In dem roten Salon sollten die Bilder an ihren alten Platz gehangen werden … Zum erstenmal wieder, seitdem die Totenkerzen im Flursaal gebrannt hatten, schloß Tante Sophie den Gang hinter Frau Dorotheens Sterbezimmer auf, und Margarete folgte ihr mit Wischtuch und Federstäuber; sie wollte das Reinigen der Bilder selbst besorgen.

Ein Grauen überlief sie beim Betreten des düsteren Ganges – es war ihr umheimlich, ja fürchterlich geworden. Das geheimnisvolle Gebaren ihres Vaters an jenem Nachmittage, da er sich in das Zimmer der schönen Dore eingeschlossen, seine rätselhaften Andeutungen in der Sturmnacht – von welcher er gesagt, daß auch sie, nicht die Sonne allein, Verborgenes an den Tag bringe – und der grauenhafte Weg, der sie selbst über diese alten, ächzenden Dielen und den Bodenraum des Packhauses hinweg an die Leiche des so jäh Hingerafften geführt hatte, dies alles beklemmte und erschütterte sie von neuem. Sie trat so scheu und zaghaft auf, als müsse das Geräusch ihrer Schritte die an den Wänden hingereihten Gestalten erwecken und beleben, und alle Geheimnisse des alten Hauses, die sie ins Grab mitgenommen, würden plötzlich mit ihnen laut werden.

Noch lehnte das Bild der schönen Dore abgewendet in der Schrankecke, wie der Verstorbene es damals hingeschleudert, der Sturm hatte nicht daran gerührt … Doppelt erschütternd und herzbezwingend trat ihr beim Umwenden das schöne Weib aus dem Rahmen entgegen, nachdem sie von so manchem ausdruckslosen, alltäglichen Frauengesicht den Staub weggewischt hatte. Sie kniete vor dem Bilde noch einige Augenblicke und sann, was wohl diese mächtigen Augen, der lieblich lächelnde rote Mund verschuldet haben mochten, um noch nach hundert Jahren eine solche Erbitterung hervorzurufen, wie sie der Verstorbene in jenem unheimlichen Moment an den Tag gelegt hatte …

Drunten aber sagte Friedrich, der Hausknecht, der aus dem roten Salon gekommen war und einen scheuen Blick in den offenen Gang geworfen hatte: »Unser Fräulein kniet jetzt gar vor ›der mit den Karfunkelsteinen‹! Wenn sie nur wüßte, was ich weiß! Die Frau muß bei Lebzeiten ein wahrer Satan gewesen sein, daß sie nicht einmal in ihrem Rahmen Ruhe hat. Das gottheillose Bild gehört von Rechts wegen auf den Boden, hinter den Schlot, sag' ich – da kann sie meinetwegen ohne Rahmen 'rumspazieren!«

Aber das Bild kam nicht auf den Hausboden. Margarete hing es selbst mit Hilfe des Tapeziers an seinen alten Platz. Dann ging sie hinunter in ihre stille Hofstube, um sich ein wenig zu erwärmen.

Sie setzte sich an das Fenster und sah in den beschneiten Hof hinaus. Die Temperatur war etwas milder geworden, hier und da sank ein gelöstes Schneebällchen von den Lindenästen; Finken, Meisen und Spatzen tummelten sich auf den für sie hergerichteten Futterplätzen, und auch die Haustauben kamen herab und halfen die reichlich gestreuten Körner aufpicken.

Aber plötzlich flog die ganze Vogelgesellschaft lärmend auf – es mußte jemand in dem Hof vom Packhause herkommen. Margarete bog sich über die Brüstung, und da sah sie den kleinen Max, wie er, die ängstlich suchenden Augen auf die Küchenfenster geheftet, direkt auf das Vorderhaus zu, durch den Schnee stampfte.

Die junge Dame erschrak. Wenn Reinhold den Knaben bemerkte, dann gab es einen Sturm … Sie öffnete das Fenster und rief das Kind mit halb unterdrückter Stimme zu sich. Es kam sofort herüber und zog sein Mützchen, und da sah sie Thränen in den trotzigen Augen.

»Die Großmama will umgebettet sein, und der Großpapa kann sie nicht allein heben,« sagte er hastig. »Die Aufwärterin ist fortgegangen; ich habe sie überall gesucht und bin in der Stadt herumgelaufen, aber ich kann sie nicht finden. Nun haben wir niemand! Ach, das ist zu schlimm! Und da wollte ich zu der guten Bärbe –« »Gehe nur und sage dem Großpapa, es würde sofort Hilfe kommen!« raunte Margarete hinab und schloß eilig das Fenster.

Der Kleine lief spornstreichs heim, und Margarete griff nach ihrem weißen Burnus und ging nach der Wohnstube.

Tante Sophie war eben im Begriff, auszugehen.

Das junge Mädchen teilte ihr im Fluge mit, daß augenblickliche Hilfe im Packhause nötig sei, und schließlich sagte sie: »Ich weiß jetzt, wie ich unbemerkt hinüber kommen kann – durch den Gang und über den Bodenraum des Packhauses! Hast du den Schlüssel zu der Dachkammer in Verwahrung?«

Die Tante reichte ihr einen neuen Schlüssel vom Haken. »Da, Gretel, gehe du in Gottes Namen!«

Margarete flog die Treppe hinauf, nicht ohne einen ängstlichen Seitenblick nach dem Kontorfenster zu werfen; aber der Vorhang hing unbeweglich hinter den Scheiben; es war still und menschenleer in der Hausflur, wie sich vorhin auch kein Gesicht an den Fenstern nach dem Hofe gezeigt hatte, und droben im roten Salon waren nur noch die Tapeziere beschäftigt, den Teppich zu legen. Sie huschte durch den Flursaal und die noch zurückgeschlagene Thüre des Ganges; das neue Schloß der Dachkammerthüre war schnell geöffnet, und auf dem ganzen Bodenraum trat ihr kein Hindernis in den Weg, alle Thüren standen offen, auch die nach der Treppe führende war unverschlossen.

Tief aufatmend trat Margarete in die Wohnstube der alten Leute. Es war niemand drin; aber aus der nur angelehnten Küchenthüre kam leises Geräusch. Die junge Dame öffnete die Thürspalte weiter und sah in den mit Kochdunst erfüllten Raum hinein.

Der alte Maler stand am Herd und bemühte sich eben, Brühe aus dem dampfenden Fleischtopf in eine Tasse zu gießen. Er hatte die Brille auf die Stirn hinaufgeschoben und machte ein ängstliches Gesicht – die ungewohnte Beschäftigung des Kochens schien ihm viel Mühe und Kopfzerbrechen zu verursachen.

»Ich will Ihnen helfen!« sagte Margarete, indem sie die Küchenthüre hinter sich zuzog.

Er sah auf. »Mein Gott, Sie kommen selbst, Fräulein?« rief er freudig erschrocken. »Der Max hat mir den Streich gespielt, ohne mein Vorwissen in Ihrem Hause Hilfe zu suchen – er ist eben ein resoluter kleiner Bursche, der nie unverrichteter Sache heimkommen will.«

»Er hat recht gethan, der brave Junge!« sprach die junge Dame. Dabei nahm sie dem alten Mann den Fleischtopf aus der Hand und goß die Brühe durch den Seiher, den der ungeschickte Koch vergessen hatte, in die Tasse.

»Das ist die erste kräftige Nahrung, die meine arme Patientin genießen darf,« sagte er mit glücklichem Lächeln. »Gott sei Dank, es geht ihr um vieles besser! Sie hat die Sprache wieder und der Doktor hofft das beste.«

»Wird es ihr aber nicht schaden, wenn ein ungewohntes Gesicht, wie das meine, ihr plötzlich nahe kommt?« fragte Margarete besorgt.

»Ich werde sie vorbereiten.« Er nahm die Tasse und trug sie durch die Wohnstube in die anstoßende Kammer.

Margarete blieb zurück – sie brauchte nicht lange zu warten. »Wo ist sie, die Gute, die Hilfreiche?« hörte sie die Kranke fragen. »Sie soll hereinkommen! – Ach, wie mich das freut und tröstet!«

Die junge Dame trat auf die Schwelle und Frau Lenz streckte ihr den gesunden Arm entgegen. Ihr Gesicht war so weiß wie das Leinen, auf welchem sie lag, aber die Augen blickten bewußt.

»Weiß und licht wie eine Friedenstaube kommt sie!« sprach sie bewegt. »Ach ja, Weiß trug sie auch so gern, die von uns gegangen ist, um nie wieder zu kommen –«

»Sprich jetzt nicht davon, Hannchen!« mahnte ihr Mann ängstlich. »Du sehntest dich ja, in eine bequemere Lage gebracht zu werden, und deshalb ist Fräulein Lamprecht gekommen, wie ich dir schon sagte; sie will mir helfen, dich umzubetten,«

»O, ich danke! Ich liege gut, und wenn ich bis jetzt auf Nesseln gelegen hätte, ich glaube, ich würde es nicht mehr fühlen … Mir ist jetzt so wohl! Der Anblick des lieben, jungen Gesichts erquickt mich  … Ja, ich hatte auch eine Tochter, jung und schön und ein Engel an Herzensgüte. Aber ich war wohl zu stolz auf dies Gottesgeschenk, und dafür –«

»Aber Hannchen,« unterbrach sie der alte Mann in sichtlicher Angst, »Du darfst nicht so viel sprechen! Und Fräulein Lamprecht wird sich nicht so lange bei uns aufhalten können –«

»Ich bitte dich, lasse mich reden!« rief sie heftig erregt. »Mir liegt ein Stein auf der Brust, und der muß heruntergesprochen werden …« Sie schöpfte tief und schwer Atem. »Kannst du dir nicht selbst sagen, daß eine unglückliche Mutter auch einmal die traurige Wonne genießen will, vor anderen von ihrem toten Liebling zu sprechen? … Sei unbesorgt, Ernst, du Guter, Getreuer!« setzte sie beherrschter hinzu. »Hat mich nicht schon der Besuch des Herrn Landrats gestern halb gesund gemacht? … Ich konnte ihn freilich nicht sehen und sprechen; aber gehört habe ich alles, was er dir drüben sagte. Er glaubt an uns, der edle Mann, und da war jedes gute Wort Heilung für mich.«

Sie zeigte auf ein Porzellanbildchen in Ovalform, das über ihrem Bette hing. »Kennen Sie diese?« fragte sie, und ihr Blick richtete sich fast verzehrend auf das Gesicht der jungen Dame.

Margarete trat näher. Ja, diesen Kopf mit den taufrischen Lippen, den cyanenblauen Augen und der goldenen Glorie einer mächtigen Haarfülle über der Stirn, diesen hinreißend schönen Kopf kannte sie! –

»Die schöne Blanka!« sagte sie bewegt, »Ich habe sie nie vergessen! – An jenem Abend, wo mich Herr Lenz auf seinem Arme hier heraufgetragen hat, da hing das Haar, das auf dem Bilde als Flechte über die Brust fällt, gelöst und glitzernd wie ein Feenschleier über ihren Rücken hinab.«

»An jenem Abend,« wiederholte die Kranke aufseufzend, »ja, an jenem Abend, wo sie sich mit ihrem stürmisch bewegten Herzen ins Dunkel geflüchtet hatte! O, über die ahnungslosen Eltern!« brach es von ihren Lippen. »O, über die blinde Mutter, die ihr Lamm nicht zu hüten verstanden hat!«

»Hannchen!«

Die alte Frau beachtete den Einwurf und die flehentlich bittende Miene ihres Mannes nicht.

»Geh, mein liebes Kind,« wandte sie sich an den kleinen Max, der am Fußende des Bettes saß. »Geh in die Küche zu Philine! Hörst du sie winseln? Sie will herein, und der Arzt hat's doch verboten.«

Der Knabe stand gehorsam auf und ging hinaus.

»Ist er nicht ein gutes, schönes Kind?« fragte die Kranke aufgeregt, und in ihren Augen funkelten Thränen. »Müßte nicht jeder Vater stolz sein, ein solches Himmelsgeschenk zu besitzen? … O, und er –! Ob er wohl der himmlischen Seligkeit teilhaftig wird, der seines Sohnes Ehre und Lebensglück ins Grab mitgenommen hat?«

»Ich bitte dich, liebe Frau, sprich nicht mehr! Nur heute nicht!« bat der alte Mann inständigst – er zitterte sichtlich an allen Gliedern, »Ich werde Fräulein Lamprecht bitten, uns morgen noch einmal zu besuchen, dann wirst du kräftiger und ruhiger sein.«

Die Kranke schüttelte schweigend, aber energisch verneinend den Kopf und ergriff mit der Rechten Margaretens Hand. »Wissen Sie noch, was ich Ihnen sagte, als Sie mir versicherten, daß Sie unseren Max lieb hätten und seinen Lebensgang im Auge behalten würden?«

Margarete drückte die Hand sanft und beruhigend. »Sie sagten, die veränderten Verhältnisse wandelten oft eine Ansicht ganz plötzlich, und wer könne wissen, ob ich nach vier Wochen noch so dächte, wie in jenem Augenblicke … Nun denn, die Beziehungen zwischen uns haben sich bereits geändert, wie man mir sagt – inwiefern dies geschehen ist, weiß ich freilich noch nicht; indes, mag sie doch sein, welcher Art sie will, was hat denn diese Wandlung mit meiner Vorliebe für das Kind zu schaffen? Wird es dadurch weniger liebenswert? … Aber nun möchte auch ich herzlich bitten, sprechen Sie heute nicht mehr! – Ich will jeden Tag zu Ihnen kommen, und Sie sollen mir alles sagen, was Ihnen das Herz erleichtern kann.«

Die alte Frau lächelte bitter. »Man wird Ihnen die Besuche bei der verhaßten Familie vielleicht heute schon nach Ihrer Rückkehr verbieten.«

»Ich gehe einen Weg, der für die anderen nicht existiert. Ich bin auch heute über Ihren Hausboden gekommen.«

Die Augen der Kranken öffneten sich weit in schmerzlicher Aufregung. »Den Unglücksweg, auf den mein armes Lamm gelockt worden ist?« rief sie leidenschaftlich. »Ach ja, da ist sie mir zu Häupten hingegangen, und die Mutter, die ihr Herzblut hingegeben hätte, um die Seelenreinheit ihres Kindes zu bewahren, sie ist blind und taub gewesen, sie hat geschlafen wie die thörichten Jungfrauen in der Bibel … Ich habe ihn nie betreten, den unheilvollen Gang, durch den die weiße Frau Ihres Hauses wandeln soll; aber ich weiß, es ruht ein Fluch auf ihm, und sie, mein Abgott, ist daran zu Grunde gegangen. Gehen Sie ihn nicht wieder!«

»Das soll mich nicht abhalten – ich gehe ihn ja in Ausübung der Nächstenpflicht!« sagte Margarete mit unsicherer Stimme und stockendem Atem. Ihr war, als sehe sie plötzlich in eine geheimnisvolle, dunkle Tiefe hinein, aus welcher bekannte Umrisse aufdämmerten.

»Ja, Sie sind gut und barmherzig wie ein Engel; aber Sie können bei allem guten Willen über menschliches Ermessen auch nicht hinaus!« rief die Kranke, indem sie sich mit gewaltsamer Anstrengung in den Kissen aufrichtete. »Auch Sie werden uns schließlich verurteilen, wenn Sie hören, daß wir Ansprüche erhoben haben, ohne die Beweise dafür erbringen zu können … O, guter Gott, nur einen einzigen Lichtstrahl in dieser qualvollen Finsternis! … Man wird uns hinausjagen, und Blankas Sohn wird nicht wissen, wohin er sein Haupt legen soll, das Kind, dem sie ihr junges Leben hat hinopfern müssen!«

Mit völlig entfärbten Lippen ergriff Margarete die Hand der alten Frau. »Nicht diese halben Andeutungen!« bat sie, mühsam die eigene furchtbare Aufregung bemeisternd, die ihr Herz stürmisch klopfen machte und ihr fast den Atem raubte. »Sagen Sie mir unumwunden, was Ihnen das Herz belastet. Sie sollen mich ruhig finden, mögen diese Enthüllungen sein, welcher Art sie wollen!«

Der alte Maler bog sich hastig über die Kranke und flüsterte ihr einige Worte ins Ohr. »Sie soll es noch nicht erfahren?« fragte sie und wandte unwillig den Kopf weg. »Und weshalb nicht? Will man warten, bis du von London zurückgekehrt bist, und wenn mit leerer Hand, dann bleibt es für alle Zeit ein ungelichtetes Dunkel? … Nein, dann soll sie wenigstens wissen, daß es ein rechtmäßiger Erbe ist, der ausgestoßen wird aus dem Hause seines Vaters, weil er nichts Schriftliches aufweisen kann … Max ist so gut Ihr Bruder, wie der böse Gestrenge in der Schreibstube!« sagte sie mit unerbittlicher Entschlossenheit zu der jungen Dame. »Blanka war für ein kurzes Jahr Ihre Mutter, sie war die zweite Frau Ihres verstorbenen Vaters.«

Erschöpft sank ihr Kopf in die Kissen zurück; Margarete aber stand einen Augenblick wie versteinert. Es war weniger die plötzliche rückhaltslose Entschleierung der Thatsache, vor welcher sie erstarrte, als das grelle Licht der Erkenntnis, das in einem einzigen Moment eine ganze Kette dunkler Vorgänge beleuchtete.

Ja, diese heimliche Ehe war es gewesen, welche die letzten Lebensjahre ihres Vaters so furchtbar verdüstert hatte! Sie wußte jetzt, daß er den Sohn dieser zweiten Ehe zärtlich geliebt und doch den Mut nicht gefunden hatte, ihn öffentlich anzuerkennen. Aber sie wußte auch, daß mit jenem entsetzlichen Moment, wo er fürchten mußte, dieses geliebte Kind läge erschlagen unter den herabgestürzten Dachtrümmern, der feste Entschluß in ihm gereift war, es nunmehr in alle seine Rechte einzusetzen. »Morgen wird es einen Sturm da oben geben, einen Sturm, so wild wie der, unter welchem eben unser altes Haus in seinen Fugen bebt,« hatte er unter Hinweis auf die obere Etage in jener Sturmnacht gesagt. Ja, heftigen Auftritten hatte er in der That entgegensehen müssen. Nun, der Tod hatte ihm diesen Zusammenstoß mit den Vorurteilen der von ihm so sehr gefürchteten vornehmen Welt erspart, aber um welchen Preis! –

»Sie haben keine schriftlichen Beweise in den Händen, sagten Sie nicht so?« fragte sie mit halb erstickter Stimme.

»Keine,« erwiderte der alte Maler tonlos, und eine bittere Enttäuschung sprach aus dem Blicke, den er auf die plötzliche Frage hin der jungen Dame hinwarf. »Wenigstens keine solchen, die vor dem Gesetz gelten. Diese hat der Verstorbene beim Tode meiner Tochter an sich genommen; aber sie sind in seinem Nachlaß nicht zu finden gewesen, sie sind spurlos verschwunden.«

»Sie müssen und werden sich finden,« sagte sie fest. Damit ging sie nach der Küche und kam gleich darauf, den kleinen Max an der Hand, wieder herein. »Er soll mir zeitlebens ein lieber Bruder sein,« sagte sie bewegt, indem sie den rechten Arm um den Knaben schlang und ihre Linke wie zum Schutz auf seinen Lockenkopf legte. »Das Kind ist ein Vermächtnis meines Vaters für mich – ein heiliges! … Niemand hat einen Einblick in das Geheimnis seiner letzten Lebensjahre gehabt; nur seiner Aeltesten hat er zuletzt Andeutungen gemacht. Sie waren freilich rätselhaft für mich; aber jetzt weiß ich die Lösung. Hätte mein Vater nur noch zwei Tage gelebt, dann trüge diese arme Waise hier längst unseren Namen  … Aber ich werde nicht ruhen noch rasten, bis sein entschiedener letzter Wille, der ihm vor seinem Tode ausschließlich Kopf und Herz erfüllt hat, zur Geltung kommt … Nein, sprechen Sie nicht mehr!« rief sie, die Hand abwehrend gegen die kranke Frau ausstreckend, die mit dem Ausdruck des Glückes in den Zügen die Lippen öffnen wollte. »Sie müssen jetzt ruhen! Gelt, Max, die Großmama muß schlafen, damit sie bald wieder gesund wird?«

Der Knabe nickte und streichelte die Hand der Großmama, Er nahm seinen Platz am Fußende des Bettes wieder ein, während die junge Dame, gefolgt von Herrn Lenz, in die Wohnstube ging. Hier in dem tiefen Fensterbogen teilte er ihr zur Orientierung noch Näheres leise, in flüchtigen Umrissen mit, und sie weinte still dabei in ihr Taschentuch hinein. Die Nervenerschütterung war zu heftig gewesen, und um der Kranken willen hatte Margarete standhaft die innere Bewegung beherrscht; nun aber kam die Reaktion, und die erleichternden Thränen ließen sich nicht mehr zurückdrängen.

Ehe sie ging, sah sie noch einmal in die Schlafstube. Der kleine Max deutete auf die Kranke und legte den Finger auf den Mund – sie schlief augenscheinlich süß und fest; sie hatte die Last von der Seele gewälzt, und eine Jüngere, Starke hatte sie auf ihre Schultern genommen. – – – – –

Wenige Minuten später stieg Margarete die Bodentreppe im Packhause wieder hinauf. Sie ging wie im Traume, aber in einem sturmvollen. Es war nicht viel mehr als eine halbe Stunde vergangen, seit sie ahnungslos diese Stufen hinabgehuscht war, aber welchen Umschwung aller Verhältnisse schloß diese eine halbe Stunde in sich! … Nun war es ja klar geworden, weshalb der Papa an ihre Kraft und Treue appelliert hatte! Einer unseligen Schwäche hatte er sich angeklagt – ja, diese Schwäche, die Furcht, daß ihn die vornehme Gesellschaft um seiner zweiten Heirat willen in Bann und Acht thun werde, sie war es gewesen, die ihm das Leben vergiftet hatte! –

Sie blieb unwillkürlich stehen und sah nach dem Vorderhause hinüber. Ein schneidender Wind pfiff durch die offene Dachluke, und glitzernde Eiszapfen umstarrten wie Drachenzähne den schmalen Rundbogen. Margarete schauerte in sich zusammen, aber nicht vor der Winterkälte, die kühlte ihr wohlthuend das glühende Gesicht – ihr traten die Kämpfe vor die Seele, die sich in dem alten Hause dort abspielen mußten, bis das Recht triumphieren und der Jüngstgeborene in das väterliche Haus einziehen durfte … Und hatte die kranke Frau nicht recht? War dieser schöne, kräftige Knabe nicht ein wahres Himmelsgeschenk für das Haus Lamprecht, das nur noch auf zwei Augen stand? – Aber was kümmerte die kaltherzige, hochmütige alte Dame im oberen Stock der gesicherte Fortbestand der stolzen geliebten Firma? Das Kind war der Enkel der mißachteten »Malersleute«, und das genügte, um ihr jeden Blutstropfen zu empören und sie anzuspornen, die Anerkennung der Waise so lange wie möglich zu hintertreiben. Und Reinhold, der sparsame Kaufmann, der beide Hände fest auf den ererbten Geldkasten gelegt hatte, er gab sicher keinen Groschen heraus, ohne die heftigste Gegenwehr! –

Sie schritt weiter auf den Bodendielen, die unter ihren Füßen ächzten … Ach ja, es waren nicht bloß die groben Sohlen der Packer darüber hingegangen, auch feine, beflügelte Mädchenfüße hatten huschend die ungehobelten Bretter berührt – »eine weiße Taube« war einst hier aus und ein geflogen. Bei diesem plötzlichen Gedanken stieg in ihr eine heiße Röte nach dem Gesicht, das sie einen Augenblick in den Händen vergrub; dann schritt sie rascher der Thüre zu, die nach dem unheilvollen Gange führte – sie ahnte nicht, daß in der That das Unheil hinter dieser Thüre lauere.


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