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4.

DDrunten in der Familienwohnung war man inzwischen mit den Strapazen des berühmten Bleichtages glücklich zu Ende gekommen. Bärbe hantierte bereits wieder in ihrer blitzblanken, geräumigen Küche und bereitete das Abendessen. Der Kalbsbraten wurde pünktlich besorgt und Salat und Kompotte hergerichtet; aber es ging dabei nicht besonders friedfertig zu. Das Küchengeschirr klapperte verdächtig laut gegeneinander, Kartoffeln rollten und hüpften vom Küchentisch auf den Boden, und die Thüre der Bratmaschine rasselte auf und zu, als sollte sie aus den Angeln fliegen … Jungfer Bärbe war in der grimmigsten Laune. Tante Sophie hatte ihr nochmals in ganz exemplarischer Weise den Text gelesen, weil sie die Waschfrauen mit ihrer drastischen Beschreibung des wackelnden Vorhanges so kopfscheu gemacht hatte, daß sie es ablehnten, die Scheuerei in dem spukhaften Flügel zu besorgen … Also außer dem Schreck auch noch eine Strafpredigt für die alte Bärbe, die sich noch nötigenfalls totschlagen ließ für die Familie Lamprecht – Notabene, für Fräulein Sophie noch ganz extra! … War man denn wirklich so stockblind, so verrannt in Leichtsinn und Unglauben, daß man nicht sah, wie das Unheil schon über dem Hause stand, dick und kohlrabenschwarz wie das schönste Hagelwetter? Hatte es nicht jedesmal Tod und Verderbnis zu bedeuten, wenn die Geister in dem dunklen Gange hin und her liefen? Da brauchte man nur durch die Stadt zu gehen – jawohl, von Haus zu Haus konnte man gehen, und in den Damengesellschaften, wie bei den Weibern am Waschtrog, überall konnte man Dinge über das Unwesen in Lamprechts Hause zu hören kriegen, daß einem die Haare zu Berge standen. Aber da saß »man« nun urgemütlich drüben am Wohnstubenfenster und flickte dem Speisemeister in der Hochzeit zu Kana das zerrissene Gesicht wieder zusammen, als ob alles Heil der Welt von dem alten Tafeltuch abhänge und sonst nichts als eitel Sonnenschein im Hause wäre! Na, immer zu! Einmal kam's, das stand fest! … Und die Küchenkassandra griff bei diesem Monolog ab und zu nach einem großen irdenen Topf auf der Bratmaschine, um mit einem Schluck verspäteten Nachmittagskaffees den Aerger hinunterzuwürgen.

»Man« saß übrigens nicht so urgemütlich am Wohnstubenfenster; denn es war eine böse Aufgabe für Tante Sophiens kunstfertige Hand, die Züge des Speisemeisters wieder in die ursprünglichen Linien zu bringen, ohne daß die Stopferei sichtbar wurde. Und so überaus behaglich fühlte sich Margarete am anderen Fenster auch nicht. Die Heidelbeerflecken waren mittels einer sauberen Schürze dem beleidigten Auge entzogen worden; dann hatte Tante Sophie die Kleine bei den Schultern gefaßt und sehr energischer Weise an den großen Tisch im Fensterbogen dirigiert. »So – nun werden die Schularbeiten gemacht! Und Klexe gibt's nicht – nimm dich zusammen, Gretel!« hatte sie gesagt.

Da hieß es nun stillsitzen, inmitten der vier dicken Wände und den Federhalter fest umklammern, auf daß er nicht seine Extraspaziergänge auf dem weißen Papier mache! … Droben am Abendhimmel färbten sich die Schäferwölkchen rosenrot; das Fenster stand offen und aus der gegenüberliegenden, bergansteigenden Gasse quollen ganze Ströme süßen Lindenblütenduftes herüber; sie kamen durch das Turmthor der Stadtmauer, in welchem die Gasse droben mündete, und über die uralten, geschwärzten Mauern selbst her, hinter welchen die prachtvolle Lindenallee hinlief.

Und vom Marktplatz schallte allerhand Thun und Treiben herein. Lehrjungen gingen pfeifend mit der weitbauchigen Steinflasche vorbei, um das Abendbier zu holen; aus allen Gassen kamen Mädchen und Frauen mit Holzbutten an den Marktbrunnen, und die Mägde hielten Blechsiebe unter das Brunnenrohr und ließen das frische, glitzernde Wasser über den grünen Beetsalat hinrauschen – das war so hübsch, man mußte immer wieder Hinsehen. Und unter, dem Fenster neckten sich im Vorübergehen zwei kleine Bettelmädchen. Margarete bog sich hinaus, griff in die Tasche und warf ihnen die vom Papa erhaltenen Bonbons in die aufgenommenen Schürzchen, »Recht, Gretel!« meinte Tante Sophie. »Ihr nascht mir in der letzten Zeit ohnehin viel zu viel, und die Kinder freut's.«

»Ich verschenke meine Bonbons nicht,« sagte Reinhold, der auf dem Eßtisch einen Turm von seinen Bausteinen aufstellte. »Ich hebe sie mir auf. Bärbe sagt auch immer bei allem, ›wer weiß, wie man's wieder brauchen kann!‹«

»Potztausend, unserem Jungen guckt ja der Kaufmann aus allen Hautfältchen!« lachte Tante Sophie und stopfte emsig weiter.

Ja, die Tante hatte Recht – sie naschten in der letzten Zeit viel zu viel, die beiden Kinder! Das süße Zeug wollte gar nicht mehr munden … Wie anders doch der Papa geworden war! Früher waren sie stundenlang oben bei ihm gewesen; er hatte sie auf seinem Rücken reiten lassen, hatte ihnen Bilder gezeigt und erklärt, Geschichten erzählt und Papierschiffchen gemacht, und jetzt? – Jetzt lief er immer im Zimmer auf und ab, wenn sie kamen; er machte auch öfter böse Augen und sagte barsch, sie störten ihn, er könne sie nicht brauchen. An die hübschen Papierschiffchen war nicht mehr zu denken, ebensowenig an das Erzählen von Märchen und anderen schönen Geschichtchen – der Papa sprach lieber mit sich selber, man konnte es nur nicht verstehen, es war bloß gemurmelt. Er fuhr sich auch manchmal mit beiden Händen durch die Haare und stampfte mit dem Fuße auf, und wußte wohl gar nicht mehr, daß die Kinder da waren; und wenn er sich dann besann, da stopfte er ihnen schnell die Taschen und Hände voll süßer Sachen und schob sie zur Thüre hinaus, weil er schreiben, viel schreiben müsse … Ja, das dumme Schreiben – man konnte es schon deswegen nicht ausstehen! – Und nach all diesen deprimierenden Reflexionen mit ihrem haßerfüllten Schlußgedanken wurde die Feder zornig tief ins Tintenfaß getaucht, und da lag der allerschönste Klecks auf dem Papiere.

»Du Unglückskind!« schalt Tante Sophie und kam schleunigst herüber. Das Löschblatt war zur Hand, aber beim Suchen nach dem Radiermesser mußte Gretel kleinlaut eingestehen, daß der Herr Direktor ihr das Messer weggenommen, weil sie in der langweiligen Rechenstunde am Schultisch geschnitzelt habe. Und ehe noch Tante Sophie ihrer sehr begründeten Entrüstung Luft machen konnte, war die Kleine schon zur Thüre hinaus, um »beim Papa ein Federmesser zu borgen«.

Wenige Sekunden nachher stand sie mit sehr verdutztem Gesicht droben vor dem Zimmer. Die Thüre war verschlossen; es steckte kein Schlüssel, und durch das Schlüsselloch konnte sie sehen, daß der Stuhl vor dem Schreibtisch leer stand … Ja, was sollte denn das heißen? – Es war ja gar nicht wahr, das, was der Papa vom vielen Schreiben gesagt hatte – er schrieb nicht, er war gar nicht zu Hause!

Die Kleine sah sich um in dem weiten, mächtig großen Flursaal. Er war ihr ja so vertraut, und doch in diesem Augenblick so wunderlich neu und anders … Wie oft tollte und jagte sie mit Reinhold hier herum; aber sie konnte sich nicht erinnern, je allein hier oben gewesen zu sein.

Nun war es zwar etwas dämmerig, aber so feierlich, so schön still in dem Flursaal! Durch seine hohen Fenster sah man über den Hof und das sehr tiefgelegene, niedere Packhaus hinweg, weit in die grüne, blühende Welt hinaus. Auf den Kredenztischen stand allerlei funkelndes Trinkgerät, und die Stühle mit den gelben Samtbezügen hatten auf dem dunkelholzigen Rücklehnengestell geschnitztes fremdartiges Gevögel zwischen Tulpen und langstieligem Blattwerk … Tintenklecks und Federmesser waren total vergessen; der übermütige Wildfang mit dem rückhaltslosen, derb aufrichtigen Wesen wandelte verschleierten Blickes von Stuhl zu Stuhl, strich mit der Hand über den verblichenen Samt und träumte sich in eine wunderliche Gedankenwelt, die kein Laut von außen störte.

Der letzte Stuhl stand in der Ecke, ziemlich nahe der Thüre, die in den roten Salon führte, und von da aus sah man schräg, in den dunklen Gang hinter Frau Dorotheens Sterbezimmer hinein. Auch er, an dessen entgegengesetztem Ende in diesem Augenblick ein letztes rosiges Abendwölkchen durch das hochgelegene kleine Fenster hereinstrahlte, war ihr vertraut, er hatte nie Schrecken für sie gehabt. Reinhold blieb freilich konsequent am Eingang stehen und traute sich nie weiter; aber sie durchmaß ihn immer wieder bis zu dem Treppchen, welches seitwärts zur Bodenthüre des Packhauses führte. Auf der einen Seite unterbrachen schöngetäfelte Zimmerthüren die einförmige Wandfläche, und an der Rückwand standen zweithürige Kleiderschränke mit Metallbeschlägen.

Tante Sophie hatte diese Schränke auch einmal aufgeschlossen und gelüftet, und Margarete hatte hineinsehen dürfen. Da hing eine kostbare Brokatschleppe neben der anderen, farbenbunt, und zum Teil auch schwer mit Gold und Silber durchwirkt – lauter Staatskleider Lamprecht'scher Hausfrauen. Auch Frau Judiths Brautkleid, ihre Brautschuhe, wahre Ungetüme von Stöckelschuhen, waren pietätvoll hier aufbewahrt; sie war ja die einzige Tochter und Erbin eines vornehmen, sehr begüterten Hauses gewesen, ein bedeutender Teil des Lamprecht'schen Reichtumes stammte von ihrer Mitgift her. Das wußte die kleine Margarete nicht; sie würde wohl auch kein Verständnis dafür gehabt haben – sie suchte nur manchmal mit ihren kleinen Händen an den Schrankthüren zu rütteln, um den geheimnisvollen Laut, das Aneinanderreiben der steifen Seide, herauszuhören.

Nun war sie auch einmal mutterseelenallein hier. Der kleine Bruder war nicht da, um sie am Rock zurückzuzerren, und sein ängstlicher Zuruf störte sie nicht. Sie huschte tiefer in den Gang hinein und wollte eben vor einem der Schränke stehen bleiben, als sie ganz deutlich ein Geräusch hörte, wie wenn jemand in ihrer Nähe wiederholt auf ein Thürschloß griffe. Die Kleine horchte auf, zog in vergnüglicher Ueberraschung den Kopf zwischen die Schultern, kicherte in sich hinein und schlüpfte in das dunkelnde Versteck neben dem Schrank, von wo sie die schräg gegenüberliegende Thüre sehen konnte … Na, aber die Augen wollte sie sehen, die Tante Sophie machen würde, wenn sie hörte, daß es die Sonne doch nicht gewesen war! Und »die Gretel« behielt recht, Emma war es gewesen, und wenn sie zehnmal that, als fürchte sie sich – sie steckte ja noch drin im Zimmer! Der konnte ein tüchtiger Schrecken nicht schaden, ganz und gar nicht!

In diesem Augenblick ging die Thüre lautlos auf, und hinter ihr trat ein kleiner Fuß von der erhöhten Schwelle auf die Gangdielen herab; dann huschte es ganz weiß aus dem schmalen Spalt, zu welchem sich die Thüre geöffnet hatte … Von dem weißen Latzschürzchen und dem kokettgerafften Falbelkleid des Stubenmädchens war nun freilich nichts zu sehen; ein dichter Schleier fiel vermummend vom Scheitel über die ganze Gestalt her, und seine Spitzenkante schleifte auf den Dielen nach. Aber es war doch Emma, die sich da einen Spaß machte – sie hatte solch ein Füßchen und trug stets nette Schuhe mit hohen Absätzen und Bandrosetten. Vorwärts, drauf! Das gab einen famosen Spaß!

Gewandt wie ein Kätzchen schlüpfte das Kind aus seinem Versteck, flog der Dahinhuschenden nach, warf sich mit der ganzen Schwere des kleinen Körpers von rückwärts über die Gestalt her und umklammerte sie mit beiden Armen; dabei geriet ihre kleine Rechte durch eine Schleieröffnung in das weiche, über die Hüfte herabhängende Gewoge einer gelösten Haarflechte – sie griff fest zu und zog zur Strafe für »den dummen Witz« so derb an den Haarenden, daß sich der vermummte Kopf tief nach dem Nacken zurückbog …

Ein Schreckensschrei, dem ein klagender Wehlaut folgte, scholl durch den Gang – was dann geschah, kam so blitzschnell, so unerwartet, daß die Kleine sich nie, auch später nicht eine klare Vorstellung machen konnte. Sie fühlte sich gepackt und geschüttelt, daß ihr Hören und Sehen verging, ihr kleiner Körper flog wie ein Ball um eine ganze Strecke, fast bis zum Eingang des Korridors, zurück und stürzte zu Boden.

Sie blieb, wie betäubt, mit geschlossenen Augen liegen, und als sie endlich die Lider hob, da stand ihr Vater bei ihr und sah auf sie nieder. Aber sie erkannte ihn kaum – sie entsetzte sich vor ihm und schloß unwillkürlich die Augen wieder, instinktmäßig fühlend, daß etwas Schreckliches kommen müsse; denn er sah aus, als wisse er nicht, solle er sie erwürgen oder zertreten.

»Steh auf! Was thust du hier?« fuhr er sie mit kaum erkennbarer Stimme an, packte sie mit rauhem Griff und stellte sie auf die Füße. Sie schwieg; der Schrecken, aber auch das Unerhörte der grausamen Behandlung, verschloß ihr die Lippen.

»Hast du mich nicht verstanden, Grete?« fragte er in etwas beherrschterem Ton. »Ich will wissen, was du hier treibst!«

»Ich wollte zuerst zu dir, Papa; aber die Thüre war verschlossen, und du warst nicht zu Hause –«

»Nicht zu Hause? Unsinn!« schalt er und trieb sie vor sich her. »Die Thüre war nicht verschlossen, sag' ich dir – du wirst ungeschickt beim Oeffnen gewesen sein! Ich war hier im roten Salon« – er zeigte nach der Thüre, auf welche er die Kleine zuschob – »als ich dein Geschrei hörte.«

Margarete stemmte die Füße fest auf den Boden, so daß Herr Lamprecht auch stehen bleiben mußte, und wandte ihm das Gesicht zu. »Ich habe doch nicht geschrieen, Papa?« sagte sie mit weit geöffneten, erstaunten Augen.

»Du nicht? Wer denn sonst? Du wirst mir doch nicht weismachen wollen, daß noch jemand außer dir hier oben gewesen ist?« – Er war ganz rot im Gesicht, wie immer, wenn er zornig und ungeduldig wurde, und seine Augen blitzten sie drohend an.

Sie sollte gelogen haben! In dem Kind, welches die Aufrichtigkeit selbst war, empörte sich jeder Blutstropfen. »Ich mache dir nichts weis, Papa! Ich sage die Wahrheit!« beteuerte sie, mutig und ehrlich zu den flammenden Augen aufblickend. »Du kannst dich darauf verlassen, es war jemand hier oben! Ein Mädchen war's. – Sie kam aus dem Zimmer, weißt du, wo ich die Stirn mit den hellen Haaren am Fenster gesehen habe. – Ja, da kam sie heraus und hatte Schuhe mit Bandrosetten an, und wie sie weiterlief, da hörte ich, wie die Absätze auf den Dielen klapperten –«

»Bist du toll?« Er drehte sich mit einem Ruck nach dem Gange zurück. Das rote Abendwölkchen war inzwischen weiter gesegelt, und durch das hochgelegene, kleine Fenster sah nur noch der abgeblaßte Himmel herein – ein graues Dämmerdunkel fing an, den langen Korridor zu füllen.

»Siehst du noch etwas, Grete?« fragte er, hinter ihr stehend und mit seinen beiden Händen schwer auf die Schultern des Kindes drückend. »Nein? – Dann nimm auch Vernunft an, Kind! Durch den Flursaal hätte das vermeintliche Mädchen nicht entwischen können, denn wir selbst würden ihr den Weg versperrt haben; die Thüren, wie wir sie da sehen, sind verschlossen, das weiß ich am besten, denn ich habe die Schlüssel – glaubst du aber, es könne ein Mensch auf dem einzigen Weg, der übrig bliebe, durch das Fensterchen dort oben, hinausfliegen?«

Scheinbar ruhiger nahm er sie bei der Hand und führte sie an eines der Flursaalfenster. Er zog sein Taschentuch heraus und wischte ihr die Thränen vom Gesicht, die ihr Schreck und Entsetzen vorhin erpreßt hatten; sein Blick schmolz plötzlich in schmerzlichem Mitleid. »Weißt du nun, daß du ein rechtes Närrchen gewesen bist?« fragte er lächelnd, wobei er sich tief bückte, um in ihre Augen zu sehen.

Sie schlang stürmisch ihre kleinen Arme um seinen Hals. »Ich habe dich so lieb, so lieb, Papa!« beteuerte sie mit der ganzen Inbrunst eines heißen, zärtlichen Kinderherzens und drückte ihr schmales, sonnengebräuntes Gesichtchen an seine Wange. »Aber du darfst auch nicht denken, daß ich gelogen habe … Ich habe vorhin nicht geschrieen – sie war's! Ich dachte, es sei Emma und wollte sie für ihren dummen Spaß erschrecken. Aber Emma hat ja gar nicht so langes Haar, das fällt mir eben ein, und meine Hand riecht noch nach Rosenöl, weil ich den Zopf festgehalten habe, und das ganze Mädchen roch wie die schönsten Rosen – Emma ist's doch wohl nicht gewesen, Papa! … Durch das kleine Fenster kann freilich niemand fliegen; aber vielleicht war die Thüre an der kleinen Treppe offen, weißt du, die Bodenthüre vom Packhaus –«

Er hatte schon vorhin, ungestüm emporfahrend, ihre Arme von seinem Nacken gelöst, und jetzt unterbrach er sie mit einem lauten Auflachen; aber trotz dieses Lachens sah er plötzlich so blaß und so furchtbar böse aus, daß sich das Kind scheu in die Fensterecke drückte.

»Du bist ein obstinates, dickköpfiges Geschöpf!« zürnte er und seine Stirn zog sich immer finsterer zusammen. »Die Großmama hat recht, wenn sie sagt, die richtige Zucht fehle. Um deinen Kopf zu behaupten, fabelst du das ungereimteste Zeug zusammen … Wer möchte sich wohl in eine Rumpelkammer voll Ratten und Mäusen verkriechen, bloß um ein kleines Mädchen, wie du eines bist, zu necken? … Aber ich weiß schon, du bist zu viel in der Gesindestube, und da wird dir der Kopf mit Fraubasen- und Spinnstubengeschichten vollgestopft, und nachher träumst du am hellen Tage unmögliche Dinge. Dabei bist du wild wie ein Junge, und Tante Sophie ist viel zu schwach und nachgiebig. Die Großmama hat mich längst gebeten, der Sache ein Ende zu machen, und das soll nun geschehen, und zwar sofort! Ein paar Jahre in fremder Zucht werden dich zahm und anständig machen!«

»Ich soll fort?«schrie das Kind auf.

»Für ein paar Jahre, Grete,« sagte er milder. »Sei vernünftig! Ich kann dich nicht erziehen; Großmamas Nerven aber sind zu angegriffen, um dein ungestümes Wesen in stetem Umgang zu ertragen, und Tante Sophie – nun, die ganze Wirtschaft liegt auf ihr, und sie kann sich nicht so um dich kümmern, wie es sein müßte –«.

»Thue es nicht, Papa!« fiel sie mit einer für ein Kind fast unnatürlichen festen Entschlossenheit ein. »Es hilft dir nichts – ich komme doch wieder!«

»Das wollen wir sehen –«

»Ach, du hast ja keinen Begriff, wie ich laufen kann! … Weißt du noch, wie du dem Herrn in Leipzig unseren Wolf geschenkt hattest und wie der gute alte Hund nachher einmal frühmorgens draußen vor unserer Hausthüre lag, todmüde und schrecklich hungrig? Er hatte sich gesehnt, der arme Kerl, und da hatte er den Strick zerrissen und war fortgelaufen, und so mache ich's auch!« – Ein herzzerreißendes Lächeln flog um den bebenden Mund.

»Glaub's schon, unbändig genug bist du ja! Allein es wird dir wohl nichts übrigbleiben, als dich zu fügen – mit solchen kleinen Trotzköpfen macht man kurzen Prozeß!« sagte er streng. Er wandte sich dabei weg und sah anscheinend durchs Fenster in den Hof hinab; in Wahrheit jedoch glitt sein scheuer Seitenblick über das Gesichtchen, das jetzt einen furchtbaren inneren Aufruhr widerspiegelte, und wie von einem unwiderstehlichen Impuls getrieben, bog er sich rasch wieder nieder und strich mit der Hand sanft über die weiche, plötzlich von einer wahren Fieberhitze überglühte Wange des Kindes.

»Geh, sei mein gutes Mädchen!« redete er ihr zu. »Ich bringe dich selbst fort – wir reisen zusammen. Und schöne Kleider sollst du haben, ganz wie unsere kleinen Prinzessinnen.«

»Ach, schenke sie lieber einem anderen Kind, Papa!« versetzte die Kleine tonlos. »Bei mir gibt's immer schon am ersten Tage Risse und Flecken. Bärbe sagt immer: ›Es ist schade um jede Elle Zeug, die der kleine Reißteufel auf den Leib kriegt, und da will aber auch gar nicht so sein, wie die kleinen Mädchen im Schlosse‹ – sie hob trotzig den Kopf und hörte auf, an ihren Fingern nervös zu pflücken –; »ich kann sie nicht leiden, weil die Großmama immer so vor ihnen knickst.«

Ein sarkastisches Lächeln huschte über Herrn Lamprechts Gesicht; gleichwohl sagte er in strengem Ton: »Siehst du, Grete, das ist's eben, was die Großmama so oft in Verzweiflung bringt! Du bist ein unhöfliches, kleines Ding und hast die allerschlechtesten Manieren – man muß sich deiner schämen. Es ist die höchste Zeit, daß du fortkommst!«

Die Kleine schlug ihre feuchtflimmernden Augen sprechend zu ihm auf. »Hat denn meine Mama auch fortgemußt, als sie noch ein kleines Mädchen war?« fragte sie, das hervorbrechende Weinen mühsam niederkämpfend.

Eine dunkle Blutwelle schoß ihm in das Gesicht. »Deine Mama ist immer ein sehr artiges, folgsames Kind gewesen, da war es nicht nötig.« – Er sprach mit so gedämpfter Stimme, als sei außer ihm und dem Kinde noch irgend ein horchendes Wesen im Flursaal, vor welchem sich der laute Ton scheue.

»Ich wollte, sie wäre wieder da, die arme Mama! – Sie hat freilich Holdchen lieber auf den Schoß genommen, als mich, aber da hat es doch nie geheißen, daß ich fort sollte … Eine Mama ist doch besser als eine Großmama! Wenn die ins Bad reist, da freut sie sich und sagt kaum Adieu. Sie weiß nicht, wie ein Kind alle lieb hat, alles, Papa, auch unser Haus, ach, und Dambach« – sie hielt inne, als breche ihr kleines Herz schon bei dem Gedanken an eine Trennung. Das Köpfchen nahezu an die Fensterscheibe gedrückt, suchte sie mit flehentlichem Aufblick die Augen des stattlichen Mannes, der die Finger leise auf der Brüstung spielen ließ und sichtlich mit einer inneren Bewegung rang.

Er schwieg bei der beredten Klage des Kindes. Sein Blick schweifte lange ziellos über die weite Landschaft draußen, und als er sich endlich senkte, da ging ein jäher Ruck durch die hohe Gestalt, und die Finger hörten auf zu spielen … Der Papa war erschrocken – über was denn? Es war weit und breit nichts zu sehen. Die Sonne war längst fort; auf den Feldern drüben rührte und regte sich nichts; von den ein- und ausfliegenden Schwalben ließ sich keine mehr blicken; auch die Möwchentauben, die tagsüber das Dach des Packhauses umflatterten, hatten den Schlag aufgesucht, und auf dem stillen Gange unter den Blätterrundbogen des Pfeifenstrauches stand ja nur Blanka Lenz, wie an jedem Abend, seit sie aus England gekommen war … Diesmal aber hatte das Kind keine Augen für das schöne weiße Gesicht, das wie Mondlicht sanft aus dem dunklen Blattwerk drüben dämmerte – es sah nur, wie der Papa tief aufseufzte, wie er stöhnend mit beiden Händen nach den Schläfen fuhr und sie preßte, als drohe ihm der Kopf zu zerspringen.

Die Kleine schmiegte sich an seine Seite und blickte noch dringlicher zu ihm empor. »Hast du mich noch lieb, Papa?«

»Ja, Grete.« – Er sah sie aber nicht an, er starrte immer auf denselben Punkt.

»Gerade so lieb, wie du Reinhold lieb hast? Ja, Papa?«

»Nun ja doch, Kind!«

»Ach, da bin ich froh! Da wirst du mich doch auch hier lassen! – Wer sollte denn auch mit Holdchen spielen? Wer sollte denn sein Pferdchen sein, wenn ich nicht mehr da bin? Andere Kinder thun's nicht, weil er so schlimm mit der Gerte haut. Gelt, Papa, es war nicht dein Ernst mit dem Fortreisen? Du hast mir nur gedroht, weil ich so wild wie ein Junge bin? Aber ich will nun besser werden, ich will auch höflich gegen die kleinen Prinzessinnen sein! … Gelt, ich darf dableiben, bei dir und allen? Papa, hörst du denn nicht?«

Herr Lamprecht zuckte bei der Berührung der kleinen, seinen Arm schüttelnden Hand wie aus einem marternden Traum empor. »Gott im Himmel, Kind, quäle mich nicht auch mit deinen entsetzlichen Fragetönen! Es ist zum Verrücktwerden!« fuhr er das zurückschreckende Kind an. Er wühlte mit beiden Händen in seinem Haar, preßte sich wiederholt die Stirn und schritt ein paarmal in wilder Hast auf und ab.

Es mochten eben nur die monotonen »Fragetöne« gewesen sein, die ihn in ihrer dringlichen Wiederholung irritiert hatten – den Sinn derselben erfaßte er wohl erst nachträglich, als er ruhiger wurde. »Du machst dir einen ganz falschen Begriff, Gretchen!« sagte er endlich stehen bleibend in milderem Ton, »Dort, wohin ich dich bringen will, hast du eine Menge lustiger Spielkameraden, lauter kleine Mädchen, die sich untereinander lieb haben wie Schwestern. Ich kenne manches Kind, das bitterlich geweint hat, als es wieder nach Hause geholt wurde … Uebrigens ist deine Erziehung in einem Institut eine längst beschlossene Sache zwischen mir und der Großmama – es handelte sich nur noch um den Termin, um das ›Wann‹ der Aufnahme. Ich habe nunmehr den Beschluß gefaßt und dabei bleibt's … Es ist am besten, ich gehe gleich zu Tante Sophie, um das Nötige mit ihr zu besprechen.«

Bei den letzten Worten schritt er nach der Flurthüre. »Geh mit, Grete! Hier oben kannst du nicht bleiben!« rief er ihr zu, als sie unbeweglich in der Fensterecke stehen blieb. Sie kam langsam mit gesenktem Kopf über den Saal her – er ließ sie an sich vorbei über die Schwelle gehen, dann drehte er den Thürschlüssel um, zog ihn ab und ging die Treppe hinunter.


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