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3.

A»Auf ein Wort, Balduin!« hatte die Frau Amtsrätin gebeten, und seit Herr Lamprecht die Ehre hatte, ihr Schwiegersohn zu sein, waren ihre Bitten stets wie Befehle seinerseits respektiert worden. So auch heute. Er hatte zwar eine tiefe Falte des Mißmutes auf der Stirn, und am liebsten hätte er wohl dem verzogenen Papagei, der fortgesetzt kreischend gegen seinen mißliebigen Träger protestierte, den bunten Hals umgedreht; allein davon wurde der Frau Amtsrätin nicht das geringste bemerklich, um so weniger, als, sehr zur rechten Zeit, das aus der oberen Etage kommende Stubenmädchen das Tier in Empfang nahm und hinauftrug.

So ging das zarte, schmächtige Frauchen ahnungslos und graziös neben dem Schwiegersohn her; die Spitzenbarben ihres Häubchens wehten in der Zugluft des Treppenhauses, und die kurze, dunkelseidene Schleppe raschelte vornehm über die Stufen. – Sie waren ziemlich ausgetreten, diese breiten, mächtigen Sandsteinstufen. Weit über zwei Jahrhunderte hindurch war alles, was das Haus an Lust und Leid gesehen, da hinauf und hinab geglitten. Hochzeiten und Tauffeierlichkeiten, Tanz- und Tafelfreuden, wie der letzte Prunkzug der Hingeschiedenen – das alles, was den verschiedenen Generationen Kopf und Herz bewegt und erfüllt, es war verbraust und verschmerzt, und nur die Fußspur war verblieben. – Und jetzt stieg die zierliche alte Dame mit ihren kleinen Goldkäferschuhen auch Stufe um Stufe hinauf, um droben eine Herzensbeklemmung loszuwerden – Unmut und Besorgnis sprachen deutlich genug aus ihren Zügen.

Herrn Lamprechts Privatwohnung bildete, hart an der Treppe gelegen, den Schluß der langen Zimmerreihe in der mittleren Etage. Hinter diesen Räumen, nach dem Hofe zu, lag der Korridor oder Flursaal, wie er im Hause genannt wurde, in seiner Länge und gewaltigen Breite so recht der Raumverschwendung der alten Zeiten entsprechend. Er endete erst hinter dem letzten Zimmer, dem sogenannten roten Salon; dort bog er um die Ecke des angebauten östlichen Seitenflügels und verengte sich zu dem dämmernden Gang hinter Frau Dorotheens Sterbezimmer, in welchen nur an dem entgegengesetzten äußersten Winkel, da, wo ein paar kleine Stufen seitwärts in das Packhaus hinunterführten, das karge Tageslicht durch ein hochgelegenes Fensterchen hereinfiel.

In dem Flursaal standen altertümliche Kredenzen von wundervoller Schnitzarbeit, und an der Rückwand, zwischen den herausführenden dunkelgebeizten Flügelthüren der Zimmer, reihten sich Stühle hin, über deren Sitze und Polsterlehnen sich noch derselbe gepreßte gelbe Samt spannte, den einer der alten Kaufherren einst aus den Niederlanden mitgebracht … Hier war manches Menuett aufgeführt, mancher Festschmaus abgehalten worden, und es ließen sich auch heute noch die häßliche Frau Judith in der Spitzendormeuse und das verführerische junge Weib mit den Karfunkelsteinen im Haar als Herrinnen in die altfränkische Ausstattung unschwer hineindenken. – Aber mochte auch vieles von dem Prachtgerät der Urväter seinen Platz hier und in den Zimmern und Sälen drinnen behauptet haben, vor der Wohnung des Hausherrn machte die Pietät Halt, und der moderne Luxus übernahm die Herrschaft.

Es war mehr das Boudoir einer Dame, als ein Herrenzimmer, in welches Herr Lamprecht seine Schwiegermutter eintreten ließ. Rosenholz und Seide, Aquarellbilder und ein sanftes Rosalicht, das von den Vorhängen und Polsterbezügen ausging – dies zarte Gemisch bildete zusammen eines jener süßen Nestchen, in welchem man sich eine schöne junge Frau behaglich zusammengeschmiegt denkt – und hier hatte in der That Herrn Lamprechts verstorbene Frau gewohnt.

Die Frau Amtsrätin ging auf einen der kleinen Lehnstühle zu, die, halb in die Spitzen und Seidenfalten der Vorhänge vergraben, die tiefen Fensterwinkel füllten. Ihr kam in diesem Raum nur selten noch der Gedanke an die Tochter, die einst hier gewaltet; sie war es gewohnt, ihren Schwiegersohn an dem kleinen Schreibtisch sitzen und all das zierliche Gerät benutzen zu sehen. Ein Mann von starken Leidenschaften, hatte er sich nach dem Tode der jungen Frau in seinem ersten Schmerz hier eingeschlossen, und seitdem war das Zimmerchen sein Tuskulum verblieben.

»Ach, wie reizend!« rief die alte Dame und blieb wie angefesselt vor dem Schreibtisch stehen, neben welchem sie sich eben niedersetzen wollte. Sie war auch reizend, die Malerei in Wasserfarben da auf dem Medaillon einer Briefmappe – ein durchsichtiges Gegitter von zartem Farnkraut, und dahinter wie eingefangen ein Stückchen des geheimnisvollen Sprießens, Lebens und Webens nahe dem Waldboden. »Eine originelle Idee, und wie sauber ausgeführt!« setzte die Frau Amtsrätin hinzu und nahm die Lorgnette zu Hilfe. »Hier das Blumengeistchen, wie es sich begehrlich aus seinem Glockenblumenhäuschen nach der Erdbeere hinüberreckt – wirklich ganz allerliebst! … Eine Arbeit von schöner Damenhand, Balduin?– Hab' ich recht?«

»Möglich!« meinte er achselzuckend mit einem flüchtigen Seitenblick nach der Mappe, während er sich bemühte, ein schiefhängendes Bild an der Wand gerade zu rücken. »Die Industrie rekrutiert ja heutzutage eine ganze Armee helfender Kräfte auch aus der Frauenwelt –«

»Also nicht speziell für dich ausgedacht?«

»Für mich?!« – Der kleine Nagel, der das Bild seitwärts in gerader Linie festhalten sollte, war herausgefallen – der große, stattliche Mann bog sich tief nieder, um den Flüchtling auf dem Teppich zu suchen, und als er sich wieder aufrichtete, da hatte ihm das Bücken das ganze Blut nach dem Kopfe getrieben … »Liebe Mama, sollten Sie wirklich von dem allermächtigsten Faktor in unserem modernen Leben, dem Egoismus, nichts wissen, und könnten Sie in der That glauben, daß man heutzutage irgend etwas ganz umsonst, ohne die geringste Hoffnung auf Erfolg thue?«

Er sagte das noch abgewendet, wobei er den Nagel wieder in die Wand zu drücken suchte. Nun erst wandte er der alten Dame sein Gesicht voll zu – um seinen Mund zuckte es bitter und spöttisch. »Nehmen wir doch einmal alle die schönen Damenhände unserer Kreise durch, und sagen Sie mir, welche von ihnen wohl im stande sein würde, eine solch künstlerische, die größte Geduld erfordernde Aufgabe auszuführen für einen Mann, der – nicht mehr zu haben ist!«

Er trat auf das andere Fenster zu, während sich die alte Dame in ihrem kleinen, weichen Lehnstuhl zusammenschmiegte. »Nun ja, darin magst du wohl recht haben!« sagte sie lächelnd und in dem gleichmütigen Tone, wie man längst Feststehendes, Unanfechtbares und sattsam Bekanntes zugibt. »Es ist allerdings stadtkundig, daß unsere arme, teure Fanny dein Gelöbnis der Treue für Zeit und Ewigkeit mit in das Grab genommen hat. Erst vorgestern abend wieder war bei Hofe die Rede davon. Die Herzogin sprach von der Zeit, wo meine arme Tochter noch gelebt und eine vielbeneidete Frau gewesen sei, und der Herzog meinte, man solle doch ja die sogenannte gute alte Zeit mit ihrem Biedersinn im Gegensatz zu der heutigen nicht immer herausstreichen; der hochangesehene, wegen seiner Strenge fast gefürchtete alte Justus Lamprecht zum Beispiel habe in seiner Jugendzeit einen Treuschwur in eklatantester Weise gebrochen, während ihn sein Urenkel durch edle Festigkeit beschäme.«

Herr Lamprecht war hinter der roten Gardine verschwunden. Er hatte die Hände auf den Fenstersims gestützt und sah über den Marktbrunnen hinweg in die gegenüberliegende, vom Markt bergauf steigende Gasse hinein. – Der schöne Mann hatte ein merkwürdiges Gesicht. Stolz, oder vielmehr Hochmut, in so scharfer Linie ausgeprägt, würde jedem anderen Antlitz etwas gleichsam Versteinertes gegeben haben; hier aber wirkte ein feuriges Blut unverkennbar überwältigend. Es machte die Augen in unbezähmbarer Wildheit auffunkeln und ließ ein sanftverlangendes Lächeln unwiderstehlich um seine Lippen spielen, es jagte den Glutstrom des Jähzornes in die Stirnadern und hauchte die Blässe des Seelenschmerzes in die Wangen. Jetzt aber, bei den letzten Worten der alten Dame, schlug Herr Lamprecht die Augen nieder. Er sah aus, als habe er die Stützen seiner Seele, die stolze Zuversicht, den Mannestrotz, das Vollbewußtsein reichen Besitzes nach innen und außen für einen Moment vollständig verloren – nahezu wie ein gescholtener und beschämter Schulknabe stand er da, den dunkelbärtigen Kopf tief gesenkt und sich die Lippen fast wund beißend.

»Nun, Balduin!« rief die Frau Amtsrätin und bog sich spähend vor, weil es so still blieb in der Fensterecke. »Freut es dich nicht, daß man bei Hofe eine so schmeichelhafte Meinung von dir hat?«

Das Rascheln der Seidengardinen verschlang den tiefen Seufzer, der ihm über die Lippen zitterte, während er in das Zimmer zurücktrat. »Der Herzog scheint diese edle Eigenschaft lieber an anderen zu bewundern, als an sich selbst – er hat eine zweite Frau!« sagte er bitter.

»Ich bitte dich ums Himmelswillen, was führst du für eine Sprache!« fuhr die alte Dame ganz alteriert empor. »Danken wir Gott, daß wir allein sind! Hoffentlich haben diese Wände keine Ohren! – Nein, nein, Balduin, ich fasse es wirklich nicht, wie du dir eine solche Kritik erlauben magst!« setzte sie kopfschüttelnd hinzu. »Das ist ja doch ein ganz anderer Fall! Die erste Gemahlin war sehr kränklich –«

»Bitte, Mama, ereifern Sie sich nicht! Lassen wir doch das!«

»Nun ja, lassen wir das!« ahmte sie ihm nach. »Du hast gut reden! An dich wird der Versucher freilich nie herantreten. Nach Fanny muß es dir selbstverständlich ganz unmöglich sein, auch nur ein vorübergehendes Interesse für eine andere zu fassen. Die Herzogin Friederike dagegen –«

»War boshaft und häßlich.« Herr Lamprecht warf diese Worte nur offenbar ein, um das Thema auf fremdem Terrain festzuhalten. Sie schüttelte abermals mißbilligend den Kopf. »Diese Ausdrücke würde ich mir selbst nie gestatten – der Glanz und die Auszeichnung hoher Geburt versöhnen und verschönen. Uebrigens ist ja dabei wie gesagt ein himmelweiter Unterschied; den Herzog band kein Versprechen; er war frei und vollkommen berechtigt, eine neue Ehe zu schließen.«

Damit lehnte sie sich wieder in ihren Stuhl zurück, schob die Spitzenbarben ihrer Haube mit einer sanft gelassenen Bewegung aus dem Gesicht und faltete im Schoß die Hände, auf die sie gedankenvoll niedersah. »Du kannst derartige Dilemmas überhaupt nicht beurteilen, lieber Balduin. Fanny war deine erste und einzige Liebe, und wir gaben dir mit Freuden unsere Tochter. Und als du dich mit ihr verlobtest, da weinten deine Eltern Freudenthränen und nannten dich ihren Stolz, weil sich die Neigung deines Herzens nach oben und nie und nimmer in unglückseliger Jugendverirrung abwärts gerichtet habe« – mit einem tiefen Seufzer unterbrach sie sich und blickte bekümmert vor sich hin. »Gott weiß am besten, welch sorgsam behütende, pflichtgetreue Mutter ich zu allen Zeiten gewesen bin, gewiß nicht weniger, als deine Eltern: und doch muß es mir passieren, daß mein Sohn auf Abwege gerät – Herbert macht mir in der letzten Zeit unbeschreiblichen Aerger!«

»Wie, der Mustersohn, Mama?« rief Herr Lamprecht. Er war während der langen Rede seiner Schwiegermutter auf und ab geschritten, den Kopf vorgeneigt und in mechanischem Tempo auf die regelmäßig verstreuten Rosenbouketts im Teppichmuster tretend. Jetzt blieb er an der entgegengesetzten Wand des Zimmers stehen und sah spöttisch fragend über die Schulter zurück.

»Hm!« räusperte sich die Frau Amtsrätin und reckte ihr Figürchen ziemlich gereizt empor. »Das ist er ja wohl in vieler Beziehung auch noch. Er hat ein großes Ziel –«

»Ei ja, wie ich schon vorhin unten im Hofe sagte. Er wird einmal steigen und steigen, bis er mit seinen Fußtritten alle anderen Streber unter sich hat und nichts mehr über sich weiß, als den Allerhöchsten im Staate.«

»Tadelst du das?«

»Ei bewahre, gewiß nicht, sofern er wirklich das Zeug dazu hat. Aber wie viele werfen jetzt ihre wahren Ueberzeugungen von sich, heucheln und schmeicheln und hängen sich der Macht an den Rockschoß, um aus bedientenhaften Speichelleckern mit mittelmäßigen Köpfen einflußreiche Männer zu werden!«

»Du brandmarkst ja förmlich die treueste Hingebung und Selbstverleugnung!« zürnte die alte Dame. »Aber ich frage dich, würdest denn du den Frevelmut, die Dreistigkeit haben, einer höheren Orts gegebenen Richtung entgegenzutreten? – Ich weiß doch recht gut, daß niemand lieber einer Einladung in die ersten Kreise folgt, als du, und kann mich nicht erinnern, je einen Widerspruch gegen dort herrschende Meinungen aus deinem Munde gehört zu haben.«

Auf diese scharfe und jedenfalls wohlbegründete Bemerkung schwieg Herr Lamprecht. Er sah angelegentlich in die gemalte Landschaft hinein, vor welcher er eben stand, und fragte nach einer kurzen Pause: »Und welchen Vorwurf machen Sie Herbert?«

»Den einer entwürdigenden Liebelei!« platzte die alte Dame erbittert heraus. »Wäre es nicht allzu deutsch und vulgär ausgedrückt, so würde ich sagen, ich wünsche diese Blanka Lenz ins Pfefferland … Steht der Mensch doch aller Augenblicke oben an den Flurfenstern und starrt nach dem Packhaus hinüber! Und gestern weht mir der Zugwind im Treppenhause ein Rosapapier vor die Füße, das dem verliebten Jungen wohl aus einem Schreibheft gefallen sein mag – selbstverständlich enthielt es ein glühendes Sonett an ›Blanka!‹ – Ich bin außer mir!«

Herr Lamprecht stand noch an seinem Platze, mit dem Rücken nach seiner Schwiegermama; aber es war eine seltsame Bewegung über ihn gekommen – er schwang, genau wie vorhin im Hofe, die geballte Faust auf und ab, als fuchtele er mit der Reitpeitsche durch die Luft.

»Bah, dieses Milchgesicht!« sagte er, als sie wie erschöpft schwieg, und ließ die Hand sinken. Er reckte seine herrliche Gestalt hoch empor, und mit einer militärisch strammen und doch eleganten Schwenkung drehte er sich auf dem Absatz und stand so gerade dem deckenhohen Spiegel der Fensterwand gegenüber, der ihm ein tiefgerötetes, verächtlich lächelndes Gesicht zeigte.

»Dieses Milchgesicht ist der Sohn eines vornehmen Hauses – das vergiß nicht!« entgegnete seine Schwiegermutter und hob den Finger.

Herr Lamprecht lachte hart auf. »Verzeihen Sie, Mama, aber ich kann mit dem besten Willen den Herrn Amtsratssohn ohne Bart, trotz des Glorienscheines seiner Geburt, nicht für gefährlich und verführerisch halten!«

»Darüber magst du die Frauen entscheiden lassen,« sagte die Frau Amtsrätin hörbar empfindlich. »Ich habe alle Ursache, zu glauben, daß Herbert bei seinen nächtlichen Promenaden unter der Holzgalerie, dem Balkon dieser Julia –«

»Wie – er wagt es?« brauste Herr Lamprecht auf – in diesem Augenblick war sein Gesicht nicht wieder zu erkennen, so furchtbar entstellte der Jähzorn die schönen Züge.

»Du sprichst von ›wagen‹ dieser Malertochter gegenüber? Bist du von Sinnen, Balduin?« rief die alte Dame tief empört und stellte sich plötzlich mit fast jugendlicher Elastizität auf die kleinen Füße. Aber der Schwiegersohn hielt dem erbitterten Redestrom, der unausbleiblich erfolgen mußte, nicht stand; er entwich in die Fensterecke – dort trommelte er mit den Fingern so heftig, auf den Scheiben, daß sie dröhnten.

»Sag mir nur ums Himmelswillen, was ficht dich an, Balduin?« rief die Frau Amtsrätin in etwas herabgemildertem, aber immer noch entsetztem Ton und folgte ihm in die Fensternische.

Der Blick hinaus schien ihn wieder zu sich selbst gebracht zu haben. Er hörte auf zu trommeln und sah seitwärts auf die kleine Frau nieder. »Das ist Ihnen ein Rätsel, Mama?« fragte er höhnisch zurück. »Soll ich nicht empört sein, wenn auf meinem Gebiet – ich will sagen, in meinem Hause – solche Stelldicheins provoziert werden von dem – Bankrutscher, der er noch ist! – Unverschämt! da wäre wirklich eine eklatante Züchtigung mit der Haselgerte noch ganz am Platze!« Wieder schlugen die Flammen des Zornes gesteigert empor; aber er zwang sie nieder. »Bah, alterieren wir uns nicht, Mama!« sagte er ruhiger und zuckte verächtlich die Achseln. »Die Geschichte ist zu jungenhaft dumm! Mit dem unreifen Bürschchen, das gerade jetzt ausschließlich womöglich bis über beide Ohren im Griechisch und Latein stecken müßte, wird man doch wohl noch fertig werden – meinen Sie nicht?«

»Nun sieh, da stehen wir ja auf ganz gleichem Boden, wenn du auch allzuhart in deinen Ausdrücken bist!« rief sie sichtlich erleichtert. »Das ist's ja gerade, weshalb ich dich um eine Besprechung bat … Denke aber ja nicht, daß ich bei dieser Liebelei etwa gar eine Befürchtung für Herberts Zukunft hege – so weit würde er sich nie vergessen –«

»Eine Porzellanmalerstochter zu heiraten? – Guter Gott! Seine Exzellenz, unser zukünftiger Staatsminister!« lachte Herr Lamprecht auf.

»Herberts Karriere reizt dich ja heute ganz besonders zum Spott – immerhin! Was geschehen soll, geschieht trotz alledem,« sagte sie spitz. »Aber das ganz beiseite: Ich habe jetzt nur sein bevorstehendes Examen im Auge. Es ist unsere heilige Pflicht, alles zu beseitigen, was ihn irgendwie abzieht, und das wäre denn in erster Linie diese unglückselige Flamme drüben im Packhause.«

Er war, während sie sprach, von ihr weggetreten und ging wieder auf und ab. Und jetzt langte er nach einem der auf einem Bücherbrett stehenden Miniaturbändchen, schlug es auf und schien den Inhalt zu mustern.

Die alte Dame zitterte vor Aerger. Eben noch ohne einen eigentlichen Grund bis zur Tollheit aufbrausend, zeigte er jetzt ein unverhehltes Gelangweiltsein, eine geradezu impertinente Passivität! Aber sie kannte ihn ja – er konnte zuweilen auch recht launenhaft und bizarr sein … Nun, diesmal mußte er stillhalten, bis ihr Zweck erreicht war.

»Ich verstehe übrigens nicht, was das Mädchen so lange in Thüringen zu suchen hat,« fuhr sie fort. »Es hieß anfänglich, sie gehe nach England zurück und sei nur auf vier Wochen zu ihrer Erholung bei den Eltern. Nun sind bereits sechs Wochen ins Land gegangen, und so sehr ich mich auch bemühe und aufpasse, ich sehe nicht, daß irgendwie zur Abreise gerüstet wird … Solche Eltern sind – fast hätte ich gesagt ›Prügel wert!‹ Das Mädchen liegt buchstäblich auf der faulen Bärenhaut. Sie singt und liest, tänzelt hin und her und steckt sich Blumen in die roten Haare, und die Mutter sieht ihr verzückt zu und plättet auf dem Gange im Schweiß ihres Angesichts Tag für Tag die hellen Sommerfähnchen, damit das Prinzeßchen ja immer recht kokett und verführerisch aussieht … Und um dieses Irrlicht flattern alle Gedanken meines armen Jungen! – Das Mädchen muß fort, Balduin!«

Die Blätter des Buches raschelten unter seinen immer hastiger umwendenden Fingern. »Soll sie ins Kloster?«

»Ich bitte dich inständigst, nur jetzt keinen Scherz! Die Sache ist bitterernst. Das ›Wohin‹ ist mir sehr gleichgültig; ich sage nur das Eine: Sie muß fort aus unserem Hause!«

»Aus wessen Hause, Mama? Meines Wissens sind wir hier im Hause Lamprecht, und nicht auf dem Gute meines Schwiegervaters. Zudem wohnt der Maler Lenz weit drüben über dem Hofe –« »Ja, das ist eben das Unbegreifliche!« fiel sie ein, klug über seine scharfe Zurechtweisung hinwegschlüpfend. »Ich kann mich nicht erinnern, daß das Packhaus je bewohnt gewesen wäre.«

»Nun ist es aber bewohnt, liebe Mama,« sagte er mit fingiertem Phlegma und warf das Buch lässig auf ein Tischchen.

Sie zuckte die Achseln. »Leider – und ist noch dazu neu tapeziert worden für die Leute. Du fängst an, deine Arbeiter zu verwöhnen –«

»Der Mann ist kein gewöhnlicher Arbeiter.«

»Mein Gott, er bemalt Tassen und Pfeifenköpfe! Deshalb wirst du ihn doch wahrhaftig nicht so auszeichnen, daß er im Hause des Prinzipals wohnen darf? – In Dambach ist doch wirklich Platz genug!«

»Als ich Lenz vor einem Jahre engagierte, da stellte er die Bedingung, in der Stadt wohnen zu dürfen, weil seine Frau an einem körperlichen Uebel leidet, das oft plötzlich die rascheste ärztliche Hilfe nötig macht.«

»Ach so!« – Sie schwieg einen Moment, dann sagte sie kurz entschlossen: »Nun gut, dagegen läßt sich ja nichts einwenden, und es soll mir auch schon genügen, wenn die Stimme nicht mehr über den Hof schallt, und das Hin- und Herschweben der kleinen Kokette auf dem Gange ein Ende hat. Es gibt ja genug Mietwohnungen für kleine Leute in der Stadt.«

»Sie meinen, ich soll den Mann Knall und Fall aus seinem stillen Asyl vertreiben, weil – nun weil er so unglücklich ist, eine schöne Tochter zu haben?« – Seine Augen blitzten die alte Dame an – ein düsteres Feuer glomm in ihnen auf. – »Würden nicht alle meine Leute glauben, Lenz habe sich etwas zu schulden kommen lassen? Wie dürfte ich ihm das anthun? – Das schlagen Sie sich nur aus dem Sinn, Mama, das kann ich nicht!«

»Aber, mein Gott, etwas muß doch geschehen! Das kann und darf nicht so fortgehen!« rief sie in halber Verzweiflung. »Da bleibt mir nichts anderes übrig, als selbst zu den Leuten zu gehen und dahin zu wirken, daß das Mädchen abreist. Auf ein Geldopfer, und sei es noch so bedeutend, soll es mir dabei nicht ankommen.«

»Das wollten Sie in der That?« – Etwas wie ein geheimes Erschrecken klang in seiner tonlosen Stimme mit. »Wollen Sie sich lächerlich machen? Und vor allem, wollen Sie mit diesem auffallenden Schritt auch mein Ansehen als Prinzipal in den Augen aller schädigen? Soll man denken, von Ihrem Privatinteresse hänge das Wohl und Wehe meiner Leute ab? Das kann ich nicht dulden« – er hielt inne; er mochte wohl fühlen, daß er zu heftig für empfindliche Damenohren wurde. – »Es ist mir stets eine Freude und Genugthuung gewesen, meine Schwiegereltern im Hause zu haben,« setzte er beherrschter hinzu, »und das Gefühl der unumschränkten Herrschaft in Ihrem Heim ist Ihnen gewiß niemals beeinträchtigt worden; ich habe wenigstens zu allen Zeiten streng darauf gehalten, daß keines der Ihnen zugestandenen Rechte auch nur um ein Jota verkümmert werde. Dafür verlange ich aber auch, daß kein Uebergriff in mein Departement stattfindet. Verzeihen Sie, liebe Mama, aber darin verstehe ich keinen Spaß; ich könnte da vielleicht sehr unangenehm werden, und das wäre für beide Teile nicht wünschenswert!« –

»Bitte, lieber Sohn, du steigerst dich in ganz unmotivierter Weise!« fiel die Frau Amtsrätin kühl, mit einer vornehm abwehrenden Handbewegung ein. »Und im Grunde ist es ja doch nichts als eine Laune, die du so hartnäckig verfichtst – ein andermal wird es dir vollkommen gleichgültig sein, ob der Herr Maler Lenz samt Familie ein Dach über dem Hause hat oder nicht – dafür kenne ich dich! – Nun immerhin! Selbstverständlich bin ich die Nachgebende. Vorläufig werde ich freilich gezwungen sein, fortwährend auf Wachtposten zu stehen, und keine ruhige Stunde mehr haben –«

»Da seien Sie ganz ruhig, Mama! Sie haben an mir den besten Verbündeten!« sagte er unter einem sardonischen Auflachen. »Mit den nächtlichen Promenaden und schwülstigen Sonetten hat es ein Ende – mein Wort darauf! Wie ein Büttel werde ich dem verliebten Jungen auf den Fersen sein; darauf können Sie sich verlassen!«

Draußen wurde die Flurthüre geräuschvoll geöffnet und trippelnde Schritte kamen über den Saal.

»Dürfen wir hereinkommen, Papa?« rief Margaretens Stimmchen, während ihre kleinen Finger kräftig anklopften.

Herr Lamprecht öffnete selbst die Thüre und ließ die beiden Kleinen eintreten. »Na, was gibt's? – Das Dietendörfer Gebäck habt ihr gestern aufgegessen, ihr Leckermäuler, und das Naschkästchen ist leer –«

»Ach bewahre, Papa, das wollen wir gar nicht! Heute gibt's Napfkuchen unten!« sagte das kleine Mädchen. »Tante Sophie will nur den Schlüssel haben – den Schlüssel zu der Stube hinten in dem dunklen Gange, die immer zugeschlossen ist –«

»Und wo die Frau aus dem roten Salon vorhin in den Hof heruntergesehen hat,« vervollständigte Reinhold.

»Was ist das für ein Kauderwelsch? Und was soll das unsinnige Gewäsch von der Frau aus dem roten Salon?« schalt Herr Lamprecht mit barscher Stimme, ohne jedoch ein gewisses beklommenes Aufhorchen verbergen zu können.

»Ach, das sagt ja die dumme Bärbe nur so, Papa! Die ist ja doch so schrecklich abergläubisch,« entgegnete Margarete … Und nun erzählte sie von dem, was sie am Fenster gesehen haben wollte, von dem großen rotblumigen Boukett in dem verschossenen Vorhang, das sich plötzlich zu einem breiten, dunklen Spalt auseinander gethan, von den schneeweißen Fingern und der Stirn mit den hellen Haaren, und wie Tante Sophie dabei bleibe, die Sonne sei es gewesen, was doch gar nicht wahr sei – und Herr Lamprecht wandte sich seitwärts und griff nach dem hingeworfenen Miniaturbändchen, um es wieder auf das Bücherbrett zu stellen.

»Ohne allen Zweifel ist es die Sonne gewesen, du Närrchen! Tante Sophie hat ganz recht,« sagte er, und erst nachdem das Buch mit peinlicher Genauigkeit wieder eingereiht war, drehte er sich um. »Ueberlege dir's doch selber, Kind!« gab er ihr zu bedenken und tippte lächelnd mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. »Du kömmst herauf, um den Schlüssel zu der festverschlossenen Stube zu holen, und ich habe ihn auch – er hängt dort im Schlüsselschränkchen. – Kann nun ein Wesen von Fleisch und Bein durch Thürfugen kriechen?«

Die Kleine stand da und blickte nachdenklich vor sich hin. Ueberzeugt war sie nicht, das sah man; auf der breiten, trotzigen Kinderstirn war deutlich zu lesen: »Was meine Augen gesehen, das lasse ich mir nicht ausreden!« – ein Gesichtsausdruck, den besonders die Großmama »nicht vertragen« konnte. Und so hatten auch Papas Argumente weiter keinen Erfolg, als daß das Kind ernsthaft sagte: »Du kannst mir's glauben, Papa, es war ganz gewiß Großmamas Stubenmädchen!«

Herr Lamprecht lachte laut auf, und die Frau Amtsrätin konnte trotz ihres Aergers nicht umhin, leise einzustimmen. »Die Emma, Kind? Nun, Gott bewahre mich, was für tolles Zeug spult in deinem Kopfe, Grete! – Weißt du auch,« wandte sie sich mit bedeutungsvollem Augenzwinkern an ihren Schwiegersohn, »daß uns die Leute im Hause wieder einmal das Leben recht schwer machen von wegen der bewußten, neuaufgewärmten Sage? Reinholds Erwähnung der Frau im roten Salon mag dir beweisen, daß die dummen Menschen selbst vor den Kindern den Mund nicht halten können. Ein jedes will etwas gesehen haben, und diesmal nicht etwa bloße Schatten und Wolken von Spinnweben – die Emma zum Beispiel schwur unter Zittern und Zähneklappern, das gewisse Huschende sei nichts weniger als durchsichtig gewesen, und aus den fliegenden Schleiern habe sich für einen Moment ein Arm gehoben, so weiß und rund!« … Sie nickte sprechenden Blickes ausdrucksvoll mit dem Kopfe und preßte die verschlungenen Hände gegen die Brust. – »Wenn nur nicht bereits eine direkte Beziehung zwischen Herbert und gewissen Leuten dahinter steckt! – Der Gedanke macht mir das Blut sieden.«

»Sapristi – das wäre!« meinte Herr Lamprecht mit einem dämonischen Lächeln, wobei er sich den Bart strich. »Da würden sich freilich Argusaugen und nie schlafende Ohren nötig machen  … Ich habe es übrigens satt bis zum Ueberdruß, dieses ewige Geklatsch unter unseren Leuten – das Haus kommt förmlich in Verruf! Es ist von jeher ein Fehler gewesen, daß man den Flügel so gar nicht benutzt hat; dadurch hat das verrückte Traumgespenst einer alten Amme von Jahr zu Jahr an Boden gewonnen. Dem will ich ein Ende machen! Am liebsten nähme ich gleich ein paar Porzellandreher samt Familien aus Dambach herein; aber die Leute müßten dann stets durch den Flursaal, an meinen Thüren vorbei, und der Lärm paßt mir nicht! – Da werde ich den kurzen Prozeß machen und selbst einmal eine Zeitlang ab und zu in Frau Dorotheens Zimmern hausen –«

»Das wäre allerdings ein Radikalmittel!« warf die Frau Amtsrätin lächelnd ein.

»Und eine verschließbare Thüre, die den Gang nach dem Flursaal hin abschlösse, wäre wohl auch am Platze – da hätten die Hasenfüße, die hier oben zu thun haben, keinen Grund mehr, um die Ecke zu schielen und sich so lange mit Wonne zu gruseln, bis sie ihr eigenes Hirngespinst gesehen … Ich will mir die Sache einmal überlegen!«

Er griff nach einer Bonbonniere auf dem Schreibtisch. – »Na seht, da haben sich ja doch noch so ein paar Leckerle verkrochen!« sagte er und füllte den Kindern die Händchen mit Bonbons. »So – nun geht wieder hinunter! Der Papa hat viel zu schreiben,«

»Und der Schlüssel, Papa? Hast du den ganz vergessen?« fragte die kleine Margarete. »Tante Sophie will jetzt gleich hinauf und die Fenster aufmachen. Sie sagt, es käme kein Regen, und die Nachtluft müßte einmal so recht durchfegen; und morgen sollen die Stuben und der Gang gescheuert werden.«

Herr Lamprecht wurde rot vor Aerger. »Zum Henker mit dieser ewigen Scheuerei!« brach er los und fuhr ungeduldig mit der Hand durch sein reiches Haar. »Vor einigen Tagen hat der Flursaal förmlich geschwommen, und das Scharren und Kratzen der Scheuerwische brummt mir heut noch in den Ohren … Daraus wird nichts! Gehe du nur hinunter, Gretchen, und sage der Tante, das habe Zeit, ich würde selbst mit ihr sprechen!«

Die Kinder trollten sich, und auch die Frau Amtsrätin zog die Pelerine fester über die Schultern, um zu gehen. Sie verabschiedete sich in ziemlich gemessener Weise. Ihre Herzensbeklemmung war sie nicht losgeworden; der Herr Porzellanmaler saß fester als je im Packhause, und der sonst so ritterlich galante Schwiegersohn fing an, recht unangenehm bockbeinig zu werden. Und auch jetzt, trotz seiner respektvollen Verbeugung, zeigten seine Augen nichts weniger als Reue und Abbitte – weit eher die heimliche, brennende Ungeduld, allein zu sein. – Sichtlich geärgert rauschte sie hinaus.

Er blieb bewegungslos mitten im Zimmer stehen. Draußen fiel die Flurthüre ins Schloß, dann trippelten die Goldkäferschuhchen Stufe um Stufe aufwärts; er horchte, bis auch der letzte Laut im hallenden Treppenhause erstarb – dann sprang er mit einem Satze an den Schreibtisch, riß die Briefmappe an sein Herz, an seinen Mund, strich mit der Hand wiederholt über das kleine Aquarellbild, als wolle er den Blick der alten Dame, der darauf geruht, fortwischen, und verschloß die Mappe in den Schreibtischkasten. Das war das Werk einiger Sekunden gewesen. Gleich darauf war das Zimmer leer … Dafür kamen bald leichte Abendschatten herein; der Rosaschein erblaßte, und im Zwielicht wurde das von der Wand herniedersehende Bildnis der verstorbenen Frau Fanny unheimlich lebendig, so sprechend lebendig, als werde die lebensgroße Gestalt im nächsten Augenblick die graue Atlasschleppe aufnehmen und auf den Teppich herniedersteigen, um, grau und hager und die großen Augen voll leidenschaftlichen Feuers, dahinzuhuschen, wie – die selige Frau Judith  …


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