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Margarete stand am andern Morgen im offenen Fenster der Hofstube. Sie fegte das dicke Schneepolster vom Steinsims draußen und streute Brotkrumen und Körner für die hungernden Vögel. Droben über dem weiten Viereck des Hofes stand ein klarblauer, frostflimmernder Himmel; nicht das kleinste Flöckchen hatte er zurückbehalten, und wenn es noch da und dort silbern herniederstäubte, so kam es von einem der müde gewordenen Lindenzweige, die einen Teil der schweren Schneelast zu Boden sinken ließen … Es war sehr kalt. Keine Taube wagte sich heraus auf die Flugstange, und die Vögel, für welche der Futterplatz zurechtgemacht wurde, hungerten auch lieber in ihren Verstecken – nicht das leiseste Fluggeräusch unterbrach die tiefe Morgenstille des Hofes.
Margarete wollte eben frostdurchschauert das Fenster schließen, als die Thüre des Stallraumes im Weberhause geöffnet wurde, und der Landrat auf seinem schönen Braunen über die Schwelle ritt. Er grüßte herüber und kam direkt unter das Fenster.
»Du reitest nach Dambach zum Großpapa?« fragte sie wie mit zurückgehaltenem Atem.
»Zunächst nach dem Prinzenhofe,« antwortete er, und zog glättend an seinem neuen, eleganten Handschuh. Vielleicht gelingt es mir besser als dir, in den Zügen der jungen Dame zu lesen, was ich wissen will – was meinst du dazu, Margarete?«
»Ich meine, daß du das bereits weißt und durchaus nicht nötig hast, ein Orakel zu befragen,« sagte sie schroff. »Ob dir aber die Dame so in aller Frühe Rede stehen wird, das ist eine andere Frage. Sie sieht zu wohlgepflegt aus, als daß man an ein Frühaufstehen glauben möchte.«
»Da bist du wieder sehr im Irrtum. Ich wette, sie ist in diesem Augenblick bereits bei ihrer Lady Milford im Stalle und sieht nach dem Rechten. Das Reiten ist ihre Passion – du hast sie noch nicht zu Pferde gesehen?«
Sie schüttelte den Kopf und warf ihn zurück.
»Nun, sie reitet süperb und wird viel bewundert. Sie sieht in der That aus wie eine Walküre, wenn sie auf ihrem stattlichen Pferd daherkommt. Diese Lady Milford ist übrigens kein englisches Vollblut, ist vielmehr eine ehrliche Mecklenburgin, schön gebaut und fromm – du kennst vielleicht die Rasse –«
»Jawohl, Onkel. Herr von Billingen hat zwei prächtige Mecklenburger Wagenpferde.« Mit diesem Namen warf sie selbst trotzig den Fehdehandschuh hin. Mochte er nun auf dem Terrain vorgehen, wie die Großmama; das war ihr doch lieber, als die unerschöpflichen Lobpreisungen einer Verhaßten anhören zu müssen. Gerüstet war sie ja, sie fühlte eine wahre Kampfbegierde in sich aufglühen.
Er bog sich vor und klopfte seinem Braunen, der unruhig wurde, den Hals. »Zu diesen prächtigen Pferden gehört selbstverständlich ein eleganter Wagen?« fragte er gelassen.
»Gewiß – ein sehr schöner, selbst in Berlin bewunderter Wagen. Es sitzt sich ganz hübsch im Fond, auf den silbergrauen Atlaspolstern. Herr von Billingen hat Tante Elise und mich öfter ausgefahren –«
»Ein vornehmer, stattlicher Kutscher –«
»O ja, stattlich wohl, wie ich dir schon einmal gesagt habe! Groß und breit, und weiß und rot wie eine Apfelblüte! Ganz der norddeutsche Typus, wie zum Beispiel die junge Dame im Prinzenhofe.«
Er warf einen schnellen Blick auf ihren trotzig geschwellten Mund, ihre dunkel geröteten Wangen und lächelte. »Geh, schließe das Fenster, Margarete! Du wirst dich erkälten,« sagte er. »Solche Dinge erzählt man sich am besten am gemütlichen Theetisch.« Er neigte sich grüßend und ritt fort, und sie schloß hastig das Fenster.
Auf den nächsten Stuhl niedersinkend, vergrub sie das Gesicht in den verschränkten Armen, die sie auf den Fenstersims legte. Sie hätte weinen mögen vor Erbitterung und Aerger über sich selbst – sie zog seiner lächelnden Ruhe gegenüber stets den kürzern – – –
Gegen Mittag kehrte Herbert wieder zurück und bald darauf kam die Großmama herunter, um mit großer Feierlichkeit anzuzeigen, daß die Herrschaften im Prinzenhofe sie und die Enkelin heute nachmittag bei sich zu sehen wünschten.
Nun flog der Schlitten in der dritten Nachmittagsstunde wieder über die weite Schneefläche draußen. Diesmal saß die Großmama neben dem jungen Mädchen, erwartungsvoll und hoch aufgereckt; sie strotzte von Samt und Seide.
Herbert fuhr selbst. Er saß hinter den Damen, und wenn er sich vorbog, da konnte Margarete seinen Atem an ihrer Wange spüren. Heute brauchte sie seinen Pelz nicht; sie hatte sich schleunigst einen warmen Pelzumhang gekauft, und es war ihr vorgekommen, als habe er diese neue Acquisition beim Einsteigen mit sarkastischem Blick gemustert.
Das Rokokoschlößchen rückte wie im Fluge immer näher. Mit seinen mächtigen, sonnenglitzernden Spiegelscheiben lag es in der weiten Schneelandschaft wie ein Schmuckstück auf weißem Sammetpolster … Drüben in Dambach qualmten die Fabrikschlöte, und diese Zeugen der Arbeit stiegen als riesige schwarze Säulen in den Himmel hinein und verschleierten auf weite Strecken hin sieghaft seine klare Bläue; aber die durchsichtige Luftschicht über dem Prinzenhofe berührten sie nicht. Die Frau Amtsrätin bemerkte das mit hörbarer Befriedigung dem Sohn gegenüber.
»Wir haben augenblicklich Westluft,« sagte er. »Der Nordwind verfährt nicht so glimpflich; er trägt oft die Rauchspuren bis in die Fenster hinein, wie die Damen klagen.«
»Aber mein Gott, ließen sich denn da nicht Vorkehrungen treffen?« rief die alte Dame ganz empört.
»Ich wüßte keine anderen, als daß man bei solcher Windrichtung einfach das Feuer ausbliese – «
»Und dann ginge ein Teil der Arbeiter spazieren und hätte nichts zu essen,« warf Margarete bitter ein.
Die Großmama fuhr herum und sah ihr ins Gesicht. »Ist das ein Ton! … Du bist ja hübsch vorbereitet auf deine Vorstellung in einem hochadligen Hause! Ich muß dich sehr bitten, dich und uns nicht etwa zu blamieren mit liberalen Gemeinplätzen, wie ich sie leider an dir kenne! Der Liberalismus ist nicht mehr Mode – Gott sei Dank! – In den Kreisen, in denen ich zu leben das Glück habe, hat er nie Boden gefunden, und wenn hier und da einer der Unseren mit dem früheren Humanitäts- und Freiheitsschwindel kokettiert hat, so ist er jetzt desto gründlicher kuriert und – will es nicht gewesen sein.«
Herbert ließ in diesem Augenblick die Peitsche auf dem Rücken der Pferde spielen und mit doppelter Schnelligkeit sauste der Schlitten über die glatte Bahn, um nach kaum einer Minute vor der Hauptthüre des Prinzenhofes zu halten. – –
*
»Ach ja, wir wohnen schauerlich einsam hier!« bestätigte die Dame des Hauses eine dahin zielende Bemerkung der Frau Amtsrätin, und sah mit einem tiefen Seufzer in die totenstille Schneelandschaft hinaus. Die Vorstellung war vorüber, und man hatte sich im Salon niedergelassen.
In den Kaminen der ineinandergehenden Zimmer knisterten und knackten die brennenden Holzscheite; man saß behaglich und warm inmitten alter Pracht und Herrlichkeit. Das Inventar des Prinzenhofes war seit alters her dasselbe verblieben, gleichviel, ob ein apanagierter Prinz oder eine fürstliche Witwe die jeweiligen Bewohner gewesen waren. Herrliche Möbel aus den Zeiten Ludwig des Vierzehnten füllten die Zimmer, und das eingelegte Schmuckwerk ihrer Holzflächen in Silber, Bronze und Schildpatt schimmerte und blitzte heute noch wie vor länger als hundert Jahren. Nur die Polsterbezüge und die Gardinen schien man für die jetzigen Bewohnerinnen erneuert zu haben; sie waren frisch und geschmackvoll, aber sehr einfach.
»Ich habe seit meinem sechzehnten Jahre in der großen Welt gelebt,« fuhr die dicke Dame fort, »und qualifiziere mich absolut nicht zum Eremitendasein. Ich würde thatsächlich hier verkümmern, wüßte ich nicht, daß nunmehr eine Erlösung kommen muß.« Sie warf dem Landrat einen lächelnden, verständnisinnigen Blick zu, und er neigte zustimmend den Kopf. Die kleine Frau Amtsrätin aber wuchs förmlich unter jenem Blicke. Sie sah entzückt zur Seite, wo die schöne Heloise saß.
Die junge Dame lehnte in ihrem Armstuhl, reich gekleidet und stolz nachlässig wie eine Fürstin. Sie hatte ein paar freundliche Worte zu Margarete gesprochen und verhielt sich seitdem schweigsam. Aber es sprach in der That heute mehr Seele aus ihren Zügen, und das erhöhte ihre Schönheit wahrhaft überraschend. Ziemlich entfernt, aber in gerader Linie hinter ihr an der Schmalseite des Salons hing das Oelbild einer Dame, ein Kniestück. Sie war in schwarzem Samtkleide; herrliches blondes Haar quoll unter einem Hütchen mit langer weißer Feder hervor, und ihre linke Hand ruhte auf dem Kopfe eines neben ihr stehenden Windspieles.
Die Aehnlichkeit zwischen ihr und der schönen Heloise war eine frappante, und das sprach die Frau Amtsrätin mit bewundernden Blicken aus.
»Ja, die Aehnlichkeit ist groß und leicht begreiflich – es ist das Bild meiner Schwester Adele,« sagte die Baronin Taubeneck. »Sie war an den Grafen Sorma verheiratet und starb zu meinem großen Schmerz vor zwei Jahren. Und denken Sie sich, mein Schwager, der sechzigjährige Mann, spielt uns jetzt den Streich und heiratet die Tochter seines Gutsverwalters! Ich bin außer mir!«
»Das begreife ich,« sprach die Frau Amtsrätin ganz empört. »Es ist hart, solche Elemente in der Familie dulden zu müssen, wirklich deprimierend. Aber meines Erachtens sind die modernen Heiraten von der Bühne weg, wie sie die hohen Herren jetzt belieben, doch noch viel schrecklicher. Wenn ich mir denke, daß eine Theaterprinzessin, vielleicht gar eine Ballerina, die noch wenige Tage zuvor in schamlos kurzen Röckchen von der Herrenwelt beklatscht worden ist, plötzlich als Herrin in solch ein altes Grafenhaus einzieht, da schaudert mir die Haut, da empört sich jeder Blutstropfen in mir!«
Der Landrat räusperte sich, und die Dame des Hauses ergriff ein Flacon und atmete den Duft so eifrig ein, als sei ihr übel geworden.
In diesem Augenblicke trat ein Bedienter ein und überreichte Fräulein von Taubeneck auf silbernem Teller einen Brief. Sie ergriff das Schreiben mit ganz ungewohnter Hast und zog sich in das Nebenzimmer zurück, und nach wenigen Augenblicken berief sie den Landrat zu sich.
Margarete saß dem Eckkamin des Salons gerade gegenüber. Der mächtige, etwas nach vorn geneigte Spiegel über demselben warf einen Teil des Salons mit all seinen blinkenden Gerätschaften zurück, aber er fing auch eine Fensterecke des Nebenzimmers auf, einen lauschigen Winkel voll Blumen hinter Tüllgardinen.
In dieser Fensterecke stand Heloise und reichte dem eintretenden Landrat den geöffneten Brief hin. Er überflog den Inhalt und trat noch näher an die junge Dame heran. Sie sprachen leise und eingehend miteinander, und mitten im Gespräch bog sich die schöne Heloise plötzlich seitwärts, brach eine vollaufgeblühte rote Kamelie vom Stock und befestigte sie eigenhändig mit einem vielsagenden Lächeln in Herberts Knopfloch.
»Mein Gott, wie blaß Sie sind, Fräulein!« rief die Baronin in diesem Moment und griff nach Margaretens Hand. »Sind Sie unwohl?«
Das junge Mädchen schüttelte heftig, in sich zusammenfahrend, den Kopf, und alles Blut schoß ihr in die Wangen. Sie sei gesund wie immer, versicherte sie, und das Blaßwerden sei wohl eine Nachwirkung der kalten Fahrt.
Und jetzt kam auch Fräulein von Taubeneck in Herberts Begleitung wieder herüber.
Die Baronin hob mit einem Lächeln den Zeigefinger drohend gegen den Landrat. »Was, mein schönstes Kamelienbäumchen haben Sie geplündert? Wissen Sie nicht, daß ich's eigenhändig pflege, daß jede Blüte gezählt ist?«
Heloise lachte. »Die Schuldige bin ich, Mama! Ich habe ihn dekoriert! … Und habe ich nicht alle Ursache dazu?«
Die Mama nickte lebhaft zustimmend mit dem Kopfe und nahm eine Tasse Kaffee von dem Präsentierbrett, das ein Bedienter eben herumreichte. Und nun blieben die Kamelien das Gesprächsthema. Die Baronin war eine eifrige Blumenzüchterin, und der Herzog hatte ihr deshalb einen kleinen Wintergarten einrichten lassen.
»Den müssen Sie sich nachher ansehen, Fräulein,« sagte sie zu Margarete. »Die Großmama kennt ihn bereits, sie bleibt bei mir und wir plaudern derweil ein wenig, während der Landrat Sie hinüberführt.«
Herbert kam dieser Aufforderung ziemlich eilig nach. Er ließ Margarete kaum Zeit, eine Tasse Kaffee zu trinken, weil er meinte, es würde sehr bald dämmerig werden. Das junge Mädchen erhob sich, und während Heloise ihre seidenrauschende Gestalt auf den Sessel vor dem geöffneten Flügel sinken ließ und ziemlich ungeschickt zu präludieren begann, verließen die beiden den Salon.
Sie durchschritten eine ziemlich lange Zimmerflucht, und von allen Wänden sahen Angehörige des Herrscherhauses auf sie herab, im gestickten Hofkleide, oder mit harnischgeschützter Brust – ein helläugiges Geschlecht mit weißer Haut und blühenden Wangen und einem intensiven Rotgold auf den mächtigen Schnauzbärten oder dem zierlichen Henriquatre.
»In deiner langen Wollschleppe schwebst du geräuschlos wie die Ahnenfrau der Rotbärte da oben durch das alte interessante Prinzenschlößchen,« sagte Herbert zu seiner schweigenden Begleiterin.
»Die würden mich nicht anerkennen,« versetzte sie mit einem über die Bilder streifenden Blick; »ich bin zu dunkel.«
»Allerdings, ein deutsches Gretchen bist du nicht!« meinte er lächelnd. »Du könntest leicht das Modell zu Gustav Richters italienischem Knaben gewesen sein.«
»Wir haben ja auch welsches Blut in den Adern – zwei Lamprechts haben sich ihre Frauen aus Rom und Neapel mitgebracht. Weißt du das nicht, Onkel?«
»Nein, liebe Nichte, das weiß ich nicht; ich bin in eurer Hauschronik nicht so bewandert. Aber so wie ich gewisse Charakterzüge an der Nachkommenschaft beurteile, müssen diese Frauen zum mindesten Dogentöchter oder sonstige Prinzessinnen aus italienischen Palästen gewesen sein.
»Schade, daß ich dir diese Illusion zerstören muß, Onkel! Sie paßt so hübsch zu deinen und Großmamas Wünschen, und gerade unter diesen stolzen Augen allen« – sie zeigte nach den Bildern – »wird dir die Berichtigung nicht angenehm sein; aber daran läßt sich nichts ändern, daß die eine der Frauen ein Fischerkind, und die andere eine Steinmetztochter gewesen ist.«
»Sieh da, wie interessant! Da haben ja die alten, gestrengen Handelsherren doch auch ihre romantischen Anwandlungen gehabt! … Aber im Grunde genommen, was geht denn mich die Vergangenheit des Lamprechtschen Hauses an?«
Eine Art schmerzhaften Erschreckens ging durch die Züge des jungen Mädchens. »Nichts, gar nichts hast du damit zu schaffen!« antwortete sie hastig. »Es steht dir ja frei, die Verwandtschaft zu ignorieren. Mir kann das nur lieb sein; dann habe ich von deiner Seite keine Einmischung und Quälerei zu befürchten, wie ich sie täglich von der Großmama erleiden muß.«
»Sie quält dich?«
Sie schwieg einen Moment. Anklagen hinter dem Rücken anderer war nie ihre Sache gewesen, und hier sprach sie zum Sohn über seine Mutter. Aber die bösen Worte waren ihr nun einmal entschlüpft und nicht rückgängig zu machen.
»Nun, ich war ja auch ungehorsam und habe einen ihrer Lieblingswünsche nicht erfüllt,« sagte sie, während Heloise drüben aus ihrem Präludium in ein rauschendes modernes Musikstück überging. »Diese bittere Enttäuschung nagt an ihr – das thut mir leid, und ich entschuldige ihre Mißstimmung gegen mich, soviel ich kann. Aber das ist mir unfaßlich, wie sie trotz alledem noch hoffen mag, mich umzustimmen, meine Entscheidung null und nichtig zu machen. Ich kann das leidenschaftliche Verlangen, jenem exklusiven Kreise verwandtschaftlich nahe zu kommen, überhaupt nicht verstehen; und ist es nicht auch dir verwunderlich, daß die Großmama so selbstverständlich auf das Anathema eingehen mochte, das die Baronin gegen den Eindringling, die Zukünftige ihres Schwagers, schleuderte? Was bin ich denn anderes als diese Gutsverwalterstochter?«
Er lächelte und zuckte die Achseln. »Herr von Billingen ist ein Graf, und die Lamprechts genießen das Ansehen eines alten Patrizierhauses, so mag meine Mutter denken, und deshalb ist mir ihr Verhalten nicht so ›verwunderlich‹. Weniger verständlich bist du mir … Woher die leidenschaftliche Erregung gegen jene Geburtsbevorrechteten, die oft in so erbitterter Weise zu Tage tritt?«
Sie hatten bei diesen letzten Worten den Wintergarten betreten; aber weder die Farbenpracht der blühenden Pflanzen, noch der ihr entgegenströmende Blumenduft schienen für Margarete vorhanden. Sichtlich erregt blieb sie dem Eingang nahe stehen.
»Du beurteilst mich ganz falsch, Onkel,« sagte sie. »Nicht jene Exklusiven sind es, mit denen ich zürne – dazu kenne ich sie zu wenig. Ich weiß nur, daß sich von alters her große Vorrechte und Privilegien an ihre Namen knüpfen, und daß vor ihrer Hochburg ein Engel mit feurigem Schwerte steht. Wie sollte mich das feindselig stimmen? Die Welt ist weit, und man kann seinen Weg gehen, ohne daß Anmaßung und Geburtsdünkel verletzend an einen herantreten dürfen. Also darin trifft mich der Vorwurf der Verbitterung nicht; wohl aber grolle ich mit jenen, die meinesgleichen sind, und von denen Unzählige so glücklich sind wie ich, auf eine große Summe bürgerlicher Tugenden in ihrer Familie zurückblicken zu können. Sie sind so gut ›Geborene‹ wie jene, sie haben auch Ahnen, von denen verschiedene in tapferer Verteidigung ihres Eigentums so manchen hochgeborenen Strauchritter in den Sand gestreckt haben.«
Er lachte. »Und trotzdem weist eure gemalte Ahnensammlung keinen Mann in Wehr und Waffen auf?«
»Wozu auch?« fragte sie bitterernst zurück. »Im Leben und Streben ist jeder ein ganzer Mann gewesen, wie der blühende Wohlstand seines Hauses, sein Ansehen bei den Zeitgenossen bewiesen – braucht es da noch äußerer Abzeichen? – Wäre es immer so geblieben, das Bürgertum hätte auch seine respektierte Hochburg. Aber die Nachkommen ziehen es vor, zu katzbuckeln, ja sogar in serviler Weise Steine hinzuzutragen, welche jene anderen zum Wiederaufbau alter, gestürzter Schranken und Postamente brauchen … Das Genie, der Reichtum, die großen Talente, sobald sie dem bürgerlichen Boden in aufsehenerregender Weise entsteigen, werden wie von einem Magnet in jene Sphäre gezogen und gehen drin auf, Macht und Ansehen derselben immer aufs neue stärkend, während die ›Erhobenen‹ dem geachteten Namen ihrer Vorfahren undankbar ins Gesicht schlagen, um in dem neuen Stand mit Widerwillen und Geringschätzung von den Erbeingesessenen geduldet zu werden.«
Er war sehr ernst geworden. »Seltsames Mädchen! Wie tief geht dir die Erbitterung über Dinge, die für andere junge Mädchen deines Alters kaum existieren!« sagte er kopfschüttelnd. »Und wie hart klingt die Verurteilung in deinem Munde! Noch vor kurzem wußtest du wenigstens diese herbe, strenge Auffassung unter lächelnder Satire und Grazie zu verstecken.«
»Ich habe seit dem Tode meines Vaters Lachen und Scherz verlernt,« fiel sie mit zuckenden Lippen ein, und Thränen verdunkelten ihren Blick. »Weiß ich doch, daß gerade ihn Vorurteil und falscher Wahn verblendet und sein Leben unheilvoll verdüstert haben, wenn ich auch den eigentlichen Grund seiner Seelenqual nicht kenne. Doch genug davon! Ich bitte dich nur um eins, Onkel! Nun du weißt, wie ernst ich's meine, wirst du auch nicht anstehen, die Großmama zu bestimmen, daß sie mich nicht länger bestürmt – sie erreicht doch nichts!«
»Wenn du den Mann liebtest, dann würden deine strengen Prinzipien unterliegen, er bliebe der Sieger!«
»Nein! Und tausendmal nein!«
»Margarete!« – Er trat plötzlich auf sie zu und ergriff ihre beiden Hände. »Ich sage ›wenn du ihn liebtest‹. Kannst du dir wirklich nicht denken, daß man, um das Glück eines anderen Menschenlebens zu werden, seine Antipathien, seine liebsten Neigungen, ja, ganz und gar sich selbst überwindet und hingibt?«
Sie preßte die Lippen aufeinander und schüttelte heftig den Kopf.
»Du willst sagen, daß du kein Verständnis für das Wesen der Liebe hast?« Er drückte ihre Hände fester, die sie ihm zu entziehen strebte.
Ihre Augen hafteten am Boden, sie sah nicht auf. »Muß das sein?« murmelte sie mit tieferblaßten Lippen. »Ist ein solches Verständnis nötig für jedes Menschenkind, und kann man nicht auch durchs Leben gehen, ohne jener dämonischen Macht Raum zu geben?« Sie richtete sich plötzlich auf und entzog ihm mit einem gewaltsamen Ruck ihre Hände. »Ich will nichts mit ihr zu schaffen haben,« rief sie und in ihren Augen brannte ein wildes Feuer. »Seelenfrieden will ich und nicht jenen mörderischen Kampf –« Einen Moment hielt sie wie erschrocken inne, als ertappe sie sich selbst auf einer Unvorsichtigkeit. – »Ich würde übrigens nicht unterliegen,« setzte sie beherrschter hinzu. »Mein bester Helfer wäre der Kopf – ich hoffe, er ist hell und stark genug dazu.«
»Glaubst du? Nun, so versuche es und leide, bis –« Er brach ab, und sie sah scheu zu ihm auf – so tief erregt hatte sie seine Züge noch nicht gesehen. Aber er hatte eine wunderbare Gewalt über sich selbst. Nachdem er den Wintergarten einmal durchschritten, trat er wieder auf sie zu.
»Wir müssen wieder in den Salon zurückkehren,« sagte er ganz ruhig. »Du würdest in Verlegenheit kommen, wenn man dich drüben um dein Urteil befragte, denn du hast nichts gesehen. Drum betrachte dir hier das prächtige Palmenexemplar, dort die kanarische Dracaena. Und sieh, hier über das Tulpen- und Hyazinthenbeet hängt der spanische Flieder seine Trauben; sie sind am Aufbrechen – ein wahres Frühlingsbild! Hast du dich nun ein wenig orientiert?«
»Ja, Onkel!«
»Ja, Onkel,« wiederholte er spöttisch. »Der Titel kommt dir ja heute wieder einmal recht flott von den Lippen; du siehst hier wohl ganz besonders die altehrwürdige Respektfigur in mir?«
»Hier nicht anders als daheim auch.«
»Also immer! Der Onkeltitel geht und steht mit mir, wie mit jenem der Zopf, ›der ihm hinten hing‹. Nun, ich will ihn ertragen, bis du dich vielleicht einmal auf meinen Namen besinnst.«
Bald nachher saßen die drei wieder im Schlitten; aber sie fuhren nicht nach der Stadt zurück. Der Landrat lenkte in den Feldweg ein, der das Ackerland seitwärts durchschnitt und direkt nach Dambach führte. Sein Vater habe heute morgen über Rheumatismus in der Schulter geklagt, und da wolle er doch sehen, wie es um den Patienten stünde, sagte Herbert und trieb die Pferde an.
Die Frau Amtsrätin kauerte mißgelaunt in ihrer Ecke. Der Abstecher war durchaus nicht nach ihrem Geschmack, aber sie wagte nicht, offen zu protestieren. Statt dessen sprach sie sich mißbilligend und sehr scharf über Margaretens Schweigsamkeit aus – sie habe zwischen den Damen gesessen wie eine Landpomeranze, der man jedes Wort abkaufen müsse, und die nicht »drei« zählen könne.
»Das Schweigen hat auch sein Gutes, Persönlichkeiten gegenüber, deren Antezedenzien man nicht ganz genau kennt, liebe Mama,« raunte der Landrat dicht an ihrem Ohr. »Mir wäre es heute auch lieber gewesen, du hättest dich nicht so rückhaltslos über die Ballerinen ausgesprochen – die Baronin Taubeneck ist auch eine gewesen!«
»Großer Gott!« Die Frau Amtsrätin sank mit diesem Ausruf wie vernichtet in sich zusammen. »Nein, nein, das ist ein Irrtum, Herbert, eine bodenlose Verleumdung böser Zungen!« raffte sie sich nach kurzem Besinnen wieder auf. »Die ganze Welt weiß, daß die Gemahlin des Prinzen Ludwig von altem Adel gewesen ist –«
»Gewiß. Aber die Familie war seit langem total verarmt. Die letzten Träger des alten Namens waren Subalternbeamte, und die zwei schönen Schwestern, die Baronin Taubeneck sowohl, als auch die verstorbene Gräfin Sorma haben unter angenommenem Namen als Tänzerinnen ihr Brot verdient!«
»Und das sagst du mir heute erst?«
»Ich weiß es selbst erst seit kurzem.«
Die Frau Amtsrätin sprach kein Wort mehr. Wenige Minuten später hielt der Schlitten im Dambacher Fabrikhofe. Das Abenddunkel war längst hereingebrochen, und aus den langen Fensterreihen der Arbeitssäle fiel heller Lichtschein auf die breite Schneefläche des Hofes.
Die alte Dame zog tief aufseufzend, unter hörbarem Frostschütteln den Pelz über der Brust zusammen und trippelte am Arm ihres Sohnes über den schneebedeckten Kiesweg des Gartens. Bei der Biegung der Weglinie um den festgefrorenen Teich sahen sie den Amtsrat am offenen Fenster seines Zimmers stehen. Die Lampe brannte auf dem Tische hinter ihm; er war im Schlafrock und klopfte seine Pfeife am Fensterbrett aus.
»Nun sehe mir einer den Mann!« schalt die Frau Amtsrätin geärgert mit unterdrückter Stimme. »Er behauptet, rheumatisch zu sein und stellt sich bei der entsetzlichen Kälte ans offene Fenster!«
»Ja, das sind so Reckengewohnheiten, Mama – die ändern wir nicht,« lachte der Landrat und führte sie nach der Thüre des Pavillons.
»O je, was für ein rarer Besuch!« rief der alte Herr, sich vom offenen Fenster zurückwendend, während seine Frau über die Schwelle schritt. »Potztausend, Franziska, bist du's denn wirklich? Und so bei Nacht und Nebel, bei Schnee und Eis? Das hat seinen Haken!« Er schloß schleunigst das Fenster, durch welches allerdings ein eisiger Zugwind fauchte. »Soll ich Kaffee kochen lassen?«
Die alte, kleine Dame schüttelte sich förmlich. »Kaffee? Um diese Zeit? Nimm mir's nicht übel, Heinrich, aber du verbauerst entsetzlich in deinem Dambach! es ist ja nahezu Theezeit! … Wir kommen vom Prinzenhofe –«
»Dacht' ich's doch! Da sitzt der Haken –«
»Und wollten nicht in die Stadt zurückkehren, ohne uns zu erkundigen, wie es dir geht.«
»Danke für gütige Nachfrage. Je nun, es reißt und zwickt mich in der linken Schulter, und der Rumor wird mir manchmal ein bißchen zu bunt – das ist richtig. Ich habe heute schon ein paarmal dazu gepfiffen, um wenigstens Takt in die Geschichte zu bringen.«
»Sollen wir dir nicht doch den Arzt herausschicken, Vater?« fragte Herbert besorgt.
»Nichts da, mein Sohn! In die alte Maschine da« – er zeigte auf seine breite Brust – »ist zeitlebens kein Tropfen Quacksalbergift gekommen, da werde ich mir doch nicht in meinen alten Tagen noch das Blut verderben! Die Faktorin ist mir mit Senfspiritus fürchterlich zu Leibe gegangen und hat mir ein Wergbündel übergebunden; sie behauptet, das würde helfen –«
»Ja, besonders, wenn du bei der Kälte ans offene Fenster trittst, wie vorhin!« sagte die Frau Amtsrätin anzüglich und fuhr mit dem Muff zerteilend durch den Tabaksdampf, der sich nun bei geschlossenem Fenster sehr bemerklich machte. »Ich weiß schon, mit dem Arzt darf man dir nicht kommen; aber du solltest es wenigstens mit einem Hausmittel versuchen.«
»Vielleicht einem Täßchen Kamillenthee, Fränzchen?«
»Nein, Lindenblüte mit Zitronensaft würde praktischer sein; das hilft mir immer – du mußt schwitzen, Heinrich!«
»Brr!« schüttelte er sich. »Dann lieber gleich ins Fegfeuer! Siehst du, Maikäferchen,«– er schlang seinen Arm um Margaretens Schultern, die längst Hut und Mantel abgeworfen hatte, und an seiner Seite stand – »so soll dein alter Großvater malträtiert werden! In den Spittel mit ihm, wenn er wirklich Lindenblüte trinkt – meinst du nicht!«
Sie lächelte und schmiegte sich an ihn. »In solchen Dingen bin ich unerfahren wie ein Kind, Großpapa, da darfst du nicht an mein Urteil appellieren. Aber erlauben mußt du mir schon, daß ich bei dir bleibe. Du darfst nachts mit deinen Schmerzen nicht allein sein. Ich stopfe dir immer frische Pfeifen, lese vor und erzähle, bis dir der Schlaf kommt.«
»Das wolltest du, kleine Maus?« rief er erfreut. »Ach ja, mir wär's schon recht! Aber morgen ist ja Testamentseröffnung, da darfst du nicht fehlen.«
»Ich werde den Onkel bitten, mir den Schlitten herauszuschicken –«
»Und der fürsorgliche Onkel wird pünktlich Sorge tragen,« sagte der Landrat mit einer ironisch tiefen Verbeugung.
»Abgemacht!« rief der Amtsrat. »Aber, Franziska, du retirierst ja in halbem Sturmschritt nach der Thüre! – Na ja, du wirst für die da drüben« – er hob die Hand in der Richtung des Prinzenhofes – »deinen besten Staat angezogen haben, und der wird hier eingeräuchert. Ich hab's freilich ein bißchen schlimm gemacht mit dem Qualmen und Dampfen.«
»Und mit was für einer Sorte!« warf sie malitiös und naserümpfend ein und schüttelte an ihrer Seidenschleppe.
»Nun, nun, ich bitte mir's aus! Es ist ein feines Kraut, ein kräftiges Kraut! Davon verstehst du aber so wenig, wie ich von deinem Pekkothee, Fränzchen … Aber geniere dich nur nicht! Es prickelt dir in deinen kleinen Pedalen, so schnell wie möglich in die frische Luft zu kommen. Du hast mehr als deine Schuldigkeit gethan, hast dich in meine ›verräucherte Spelunke‹ gewagt – wer mir das vor einer halben Stunde gesagt hätte! … Drum gib deiner kleinen Mama den Arm, Herbert, und bringe sie schleunigst und fein säuberlich in den Schlitten zurück.«
Er öffnete galant die Thüre, und die alte Dame schlüpfte an ihm vorüber, beide Hände im Muff vergraben, und war gleich darauf im Dunkel jenseits der Hausthüre verschwunden.
In diesem Augenblick bückte sich Margarete und nahm die Kamelie vom Boden auf, die Herbert beim Lüften seines Pelzes unbewußt abgestreift hatte. Stumm reichte sie ihm die Blume hin.
»Ah, beinahe wäre sie zertreten worden!« sagte er bedauerlich und hielt die Kamelie prüfend in den Lampenschein. »Das hätte mir sehr leid gethan! Sie ist so schön, so frisch und strahlend wie die Geberin selbst – findest du das nicht auch, Margarete?«
Sie wandte sich schweigend weg, nach dem Fenster, an welches die Großmama draußen ungeduldig klopfte, und er schob die rote Blume, wie einst die weiße Rose, in seine Brusttasche und schüttelte seinem Vater zum Abschied die Hand – dann ging auch er.