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16.

IIm Flursaal, zwischen der Thüre des großen Salons und dem gegenüberliegenden mittleren Fenster, war der traditionelle Platz, wo alle, die im Leben den Namen Lamprecht getragen, noch einmal in glanzvoller, wenn auch stummer Abschiedsrolle erschienen, ehe sie das feuchte Mauergewölbe draußen auf dem stillen Platz vor dem Thore bezogen. Hier hatte auch die böse Frau Judith gelegen, einen lächelnden Glanz auf dem zornmütigen Gesicht – hatte sie doch ihren verzweifelten Kampf mit dem Tode, nach dem bindenden, ihrem Eheherrn mühsam abgerungenen Eid, sofort willig aufgegeben und ihren hageren, unschönen Leib zur ewigen Ruhe ausgestreckt.

Und hier, unter den fremdländischen, blühenden Gewächsen, die den silberbeschlagenen Sarg der reichen Frau umstanden, sollte Herr Justus Lamprecht die schöne Dore zum erstenmal gesehen haben. Sie war die verwaiste Tochter eines fernen Geschäftsfreundes gewesen, welcher Herrn Justus testamentarisch zu ihrem Vormund ernannt hatte. Und da sollte eines Abends eine Reisekutsche vor dem Lamprechtschen Hause gehalten haben, und weil keine Menschenseele sich um das Fuhrwerk gekümmert hatte, wohl aber erschrecklich viel Leute in das Haus und die glänzend helle Treppe hinaufgeströmt waren, da sollte das angekommene fremde Mädchen aus dem Wagen geschlüpft und mit den Leuten gegangen sein, bis sie oben mit erschreckten Augen vor der toten Frau gestanden. Das war ihr erster Einzug im Hause ihres zukünftigen Ehemannes gewesen, »ein ganz schlechtes Zeichen«, und auch schon um deswillen hatte es dann später so kommen müssen, daß sie schon nach wenigen Jahren auf derselben Stelle eingebahrt gelegen, wie ein schönes Wachsbild, mit ihrem toten Engelchen im Arm, und im strengen, blumenlosen Winter doch mit kostbaren, weither geholten Blumen förmlich überschüttet; und die weiße Seide ihres Sterbekleides war über den Sarg hinausgeflossen und hatte wie Schnee ellenlang die Dielen des Flursaales bedeckt. Das erzählten sich die Leute heute noch …

Seitdem hatte noch manches stille Antlitz an dieser Stelle die letzten geflüsterten Richtersprüche über sich ergehen lassen müssen; Väter und Söhne, Mütter und Töchter, alle hatten auf dieser Station gerastet, und in Abwechselung mit den greisenhaften, lebensmüden Auswanderern des Hauses hatte auch manche vorzeitig in der Jugendblüte hingestreckte schöne Mannesgestalt da gelegen. Aber einen Toten, wie den letztverstorbenen Lamprecht, hatte der Flursaal noch nicht beherbergt. Alte Mütterchen, die unter dem Strom von Schaulustigen auch mühsam die Treppe hinaufgeklettert waren, wußten das ganz genau zu sagen; sie hatten ihr ganzes langes Leben hindurch nicht ein einziges Mal gefehlt, wenn in Lamprechts Hause der Trauersaal hergerichtet war. Und sie hatten recht mit ihrer Behauptung – lag doch dieser herrliche, reckenhafte Mann da, als werde und müsse er jeden Augenblick, verwundert über sein seltsames Bett, aufspringen, die Blumen abschütteln, den Schlaf aus den Gliedern recken und die Neugierigen mit seinen feurigen Augen spöttisch anstrahlen! … Und andere, die Männer, die zusammen zischelten, hatten auch recht, wenn sie meinten, die letzte mächtige Säule des alten Hauses sei mit ihm gebrochen – was nun werden solle? – Die Schattengestalt, die da lang und schlotterig, den dünnen Hals in einen steifen Halskragen gezwängt, und die dürren Finger in stetem Frösteln aneinander reibend, hin und her glitt, sie war so jämmerlich anzusehen neben dem gewaltigen Toten, daß man mit diesem Erben unmöglich rechnen konnte.

Man hatte gefürchtet, der Schreck über die plötzlich hereinbrechende Katastrophe werde auch für ihn verhängnisvoll werden; aber er war eigentlich gar nicht sehr erschrocken gewesen; er hatte weit mehr erstaunt und konsterniert ausgesehen, und war am ersten Tage wie im Traume umhergegangen. Nachher hatte die Kühlheit seines Wesens die Leute im Kontor noch eisiger angeweht, als bisher, und bei dieser Fassung und Objektivität war es auch niemand verwunderlich gewesen, daß er schon am zweiten Tag probiert hatte, wie es sich auf dem verwaisten Schreibstuhl des Heimgegangenen sitze.

Die Trauerfeierlichkeiten waren vorüber. Der größte Teil der Versammelten hatte sich entfernt; nur da und dort zögerten noch einzelne, die sich nicht satt sehen konnten an diesem »letzten Mal« in seiner Pracht und Herrlichkeit. Die hervorragenden Teilnehmer an dem Einsegnungsakt, die Geistlichkeit, die Damen vom Prinzenhofe, der stellvertretende Adjutant des Herzogs und die nächsten Freunde des Hauses, verweilten noch im großen Salon, wo sich auch die Angehörigen des Verstorbenen versammelt hatten. Nur die Tochter des Hauses fehlte. Sie hatte sich hinter die schwarztuchene, das mittlere Fenster mit ihrem reichen Faltenwurf verhüllende Draperie zurückgezogen. Wie verwundet war sie in diese dunkle Ecke geflüchtet. Mußte es sein, dieses Zeremoniell, diese grausame Schaustellung des Toten und der schmerzvollen Trauer der Ueberlebenden? Hier oben, wo ihr war, als töne der plötzlich abgerissene Akkord eines Menschenlebens in seinen letzten Schwingungen fort, wo sie meinte, der Flügelschlag der geschiedenen Seele müsse mit rückwirkender Kraft nachzittern in dem ehemaligen irdischen Heim, hier hatten die Tapeziere tagsüber gepocht und gehämmert, und unermüdlich waren Tragbahren voll Orangerie treppauf geschleppt worden. – Und mußte es sein, daß sich eine Schar fremder Gesichter um den Sarg drängte, während der Geistliche innige, ergreifende Abschiedsworte sprach? Aber je mehr, desto größer die Ehre für die Familie! Mit jedem neuen Wagen, der donnernd drunten vorgefahren, war die zierliche Gestalt der die Honneurs machenden Großmama förmlich gewachsen … Und was für gedankenlose Redensarten gingen von Mund zu Mund! Ein plötzlich dazwischentretender Fremder hätte meinen müssen, der Verstorbene sei zeitlebens ein elender Krüppel, ein in jeder Hinsicht darbender, verkümmerter Mensch gewesen, weil ihm ja »die ewige Ruhe, die Heimberufung aus dieser Welt so zu gönnen war«.

»Ihm ist wohl!« In allen Varianten wurde es gesagt; aber keiner dieser Schönredner wußte, daß gerade in seinen letzten Lebensstunden eine geheimnisvolle Mission sein ganzes Denken und Wollen durchdrungen und ihn zur Ausführung unwiderstehlich gedrängt hatte.

Er hatte keine Ahnung davon gehabt, daß der Tod mit ihm reite, als er sein Haus verlassen. Draußen in der Fabrik war er der Ruhigste unter den durch die Verwüstungen beunruhigten Leuten gewesen. Er hatte überall die Schäden besichtigt und seine Befehle gegeben; dann war er heimwärts geritten – und da hatte es ihn gepackt. Vom Schwindel überfallen, war er vom Pferde gestiegen und hatte noch Kraft genug gefunden, das feurige Tier festzubinden und sich auf den weichen, laubbestreuten Moosboden hinzustrecken. Wer aber konnte wissen, welche Schrecken das plötzlich hereinbrechende Todesgefühl hinter der jetzt so glatten, kalten Stirn kreisen gemacht? Fortgerissen, ohne erfüllt zu haben, »was ein Ende nehmen sollte und mußte« – kam wirklich ein so völliges Vergessen über die entführte Seele, daß »ihr wohl« war, wie alle diese Leute wissen wollten?

Die letzten der noch im Flursaal anwesenden Leute waren gegangen, und es war so feierlich still geworden, daß man über das gedämpfte Stimmengemurmel im Salon hinweg das vereinzelte Knistern der herabbrennenden Wachskerzen hören konnte … Da kam der Maler Lenz aus dem tiefen, dunkelnden Hintergrunde des Flursaales, er mochte wohl während der ganzen Zeremonie unbeachtet dort gestanden haben. Der alte Mann war nicht allein, sein kleiner Enkel ging mit ihm und schritt auf das Geheiß des Großvaters unverweilt nach dem schwarzbeschlagenen, um einige Stufen erhöhten Podium, auf welchem der Sarg stand. Der Kleine war eben im Begriff, den Fuß auf die erste Stufe zu setzen, als Reinhold wie toll aus dem Salon geschossen kam.

»Da hinauf kannst du nicht, Kind!« stieß er kurzatmig, mit unterdrückter Stimme, aber sichtlich empört hervor und zog den Knaben am Arme zurück.

»Erlauben Sie, daß mein Enkel die Hand küßt, die –« Der alte Maler kam nicht weiter, so bescheiden er auch seine Bitte vorbrachte.

»Das geht nicht, Lenz – so verständig sollten Sie doch selbst sein!« unterbrach ihn der junge Mann kurz abweisend. »Was hätte denn werden sollen, wenn alle unsere Arbeiter mit diesem Ansinnen an uns herangetreten wären? Und Sie werden mir doch zugeben, daß Ihr Enkel nicht um ein Titelchen mehr Recht hat, als die Kinder unserer anderen Leute –«

»Nein, Herr Lamprecht, das kann ich Ihnen nicht zugeben.« versetzte der alte Mann rasch. Das Blut stieg ihm dunkel ins Gesicht. »Der Herr Kommerzienrat war –«

»Mein Gott, ja,« – gab Reinhold mit einem ungeduldigen Achselzucken zu – »der Papa war allerdings oft unbegreiflich nachsichtig; aber so wie er im Grunde dachte, läßt sich durchaus nicht annehmen, daß er dem Jungen eine solche intime Annäherung im Beisein vornehmer Freunde« – er zeigte nach dem Salon zurück – »gestattet haben würde. Ich muß ihn deshalb auch zurückweisen … Geh du nur hin!« – er schob das Kind an den Schultern weiter und zeigte nach dem Ausgang – »dein Handkuß ist nicht vonnöten!«

Margarete schlug empört die schwarze Gardine auseinander und trat aus der Fensternische. In demselben Augenblick kam aber auch Herbert eiligen Schrittes aus dem Salon – er hatte in der Nähe der Thüre gestanden. Ohne ein Wort zu sagen, nahm er den Knaben an der Hand und führte ihn an Reinhold vorüber die Stufen hinauf.

»Lieber auf den Mund!« sagte der Knabe, das erblaßte Gesichtchen von der wachsbleichen, in Blumen gebetteten Hand wegwendend, in seiner kurzen, knappen Ausdrucksweise halblaut zu seinem Führer. »Er hat mich auch manchmal geküßt – wissen Sie, im Thorweg, wo wir ganz allein waren.«

Der Landrat stutzte einen Moment; dann aber nahm er den Knaben auf seinen Arm und hob ihn über den Sarg. Und da bog sich der schöne Kinderkopf tief auf den »stillen Mann« nieder, so daß seine braunen Locken die kalte Stirn überfluteten, und küßte ihn auf die bärtigen Lippen.

Dem jungen Mädchen, das noch, wie im energischen Hervortreten begriffen, mit beiden Händen den schwarzen Tuchbehang auseinander hielt, ging es wie ein Aufleuchten über das verhärmte Gesicht, und ein dankbarer Blick flog hinüber zu dem, der mit ernstem, entschiedenem Protest die Lieblosigkeit von der geheiligten Stätte wies.

Indessen waren die im Fortgehen begriffenen Anwesenden geräuschlos aus dem Salon gekommen.

»Gott, wie erschütternd!« hauchte die Baronin Taubeneck, während der Landrat die Stufen herabstieg und den Knaben sanft aus seinen Armen entließ. »Aber wie ist mir denn?« – wandte sich die Dame leise an die Frau Amtsrätin – »ich kann mich mit dem besten Willen nicht erinnern, daß noch so junge Angehörige der Familie existieren.«

»Sie haben ganz recht, gnädige Frau; meine Schwester und ich sind die einzigen Ueberlebenden,« fiel ihr Reinhold fast heftig, tief erbittert und verbissen in das Wort. »Der zärtliche Kuß sollte nur ein Dank für genossene Wohlthaten sein; sonst hat der Junge in unserer Familie absolut nichts zu suchen – er gehört dem Manne da!« Bei diesen Worten zeigte er auf den alten Maler, der schweigend die Hand des Kindes ergriff und mit einer dankenden Verbeugung gegen den Landrat den Flursaal verließ.

Es war, als gehe jeder Laut menschlicher Stimmen mit ihm, ein so tiefes, verlegenes Schweigen trat ein. Der Widerspruch, so unschicklich laut am Sarge eines Geschiedenen erhoben, mochte das Gefühl aller peinlich berührt haben. Es fiel kein Wort mehr. Mit stummer Begrüßung ging man auseinander, und gleich darauf fuhren drunten die Wagen nach allen Richtungen weg.

»Daß du auch so frühe fort mußtest, Balduin!« murmelte der alte Amtsrat in schmerzlicher Klage. »Gnade Gott den armen Leuten, über die der herzlose Bursche nun Macht hat, die unter seine Fuchtel müssen!«

Der alte Herr war mit seiner Enkelin allein im Flursaal zurückgeblieben, während die anderen den Fortgehenden das Geleit gaben. »Geh, mach ein Ende, Gretel! Sei tapfer!« mahnte er bittend, indem er über das lockige Haar der Weinenden strich, die im bitteren Abschiedsweh auf der obersten Stufe kniete. Sie küßte die kalte Hand – war ihr doch, als dürfe sie den Hauch des Kindermundes auf den Lippen des Toten nicht weglöschen – dann erhob sie sich und ging an der Hand des Großvaters nach den anstoßenden Zimmern.

»So, meine liebe Gretel, das Allerschwerste wäre überstanden!« sagte er drinnen. »Und nun gehe du in Gottes Namen auf ein paar Wochen nach Berlin zurück. Dort besinnst du dich am ersten wieder auf dich selber, und der arme, gequälte Kopf da lernt wieder fest und aufrecht sitzen … Dann aber denke auch an deinen alten Großvater. Es wird gar einsam werden draußen in unserem lieben Dambach, denn – er kommt nicht mehr!« – um den weißen Schnurrbart zuckte und bebte es. – »Mir war er ein guter Sohn, mein Kind; wenn mir auch sein eigentliches inneres Wesen zeitlebens ein Buch mit sieben Siegeln geblieben ist.«

Darauf ging er hinaus und schloß die Thüre hinter sich, und Margarete flüchtete in das abgelegenste Zimmer, den roten Salon – sie wußte, daß jetzt draußen mit dem Kerzenlicht der letzte Glanz eines in den Augen der Welt weit bevorzugten, reichen Erdendaseins erlosch, daß die letzten Vorbereitungen zu der morgen in aller Frühe stattfindenden Uebersiedelung nach dem stillen kleinen Haus vor dem Thore getroffen wurden … Ja, morgen um diese Zeit war alles vorüber, und auch sie war weit, weit weg vom verwaisten Vaterhause! Heute noch, mit dem letzten Zug kam der Onkel Theobald aus Berlin zu der Beerdigung, und morgen mittag reiste er wieder ab und sie mit ihm.

Sie ging auf und ab in dem schwach erleuchteten Zimmer, von dessen weiten, hohen Wänden jeder ihrer Schritte widerhallte. Man hatte die ausgeräumte Bel-Etage einstweilen nur notdürftig wieder hergerichtet – die Teppiche fehlten, und der gesamte Bilderschmuck stand noch im Gange des Seitenflügels. Ein mächtiges Viereck dunkelte auf der verblichenen Tapete – da hatte das Bild der Frau mit den Karfunkelsteinen gehangen, der Schönen, Heißgeliebten, deren arme Seele der grausame Aberglaube hundert lange Jahre im alten Kaufmannshause hatte umherirren lassen, bis der Sturm hereingebraust war und sie auf seine Flügel genommen haben sollte … O, jene Sturmnacht! Da hatte die Verwaiste zum letztenmal in das Vaterauge geblickt! »Auf morgen denn, mein Kind!« hatte er gesagt – das war der letzte Hauch seines Mundes für sie gewesen; dieses »morgen« kam nie, niemals! – Sie preßte die Stirn zwischen die Hände und lief von Wand zu Wand.

Da ging drüben die Salonthüre. Herbert kam herein und durchschritt mit suchendem Blick die Zimmerreihe. Er war im Ueberzieher und hatte den Hut in der Hand.

Margarete blieb stehen, als er auf die Schwelle trat, und ihre Hände sanken langsam von den Schläfen nieder.

»Haben sie dich so allein gelassen, Margarete?« fragte er innig mitleidsvoll, wie sie ihn vor Jahren meist zu dem kranken Kinde Reinhold hatte sprechen hören. Er kam herein, warf den Hut hin und ergriff die Hände des jungen Mädchens. »Wie kalt und erstarrt du bist! Das öde, düstere Zimmer ist kein Aufenthaltsort für dich. Komm, gehe mit mir hinüber!« bat er sanft und hob den Arm, um ihn stützend um ihre Gestalt zu legen; aber sie fuhr zurück und trat um einige Schritte von ihm weg. »Meine Augen schmerzen,« sagte sie hastig, erschrocken aus ihrer dämmernden Ecke herüber. »Das gedämpfte Licht thut ihnen gut nach der grausamen Helle im Flursaal … Ja, hier ist's öde; aber still, mitleidig still – eine wahre Wohlthat für eine wunde Seele nach so viel weisen Trostphrasen!«

»Es war auch manch gutgemeintes Wort darunter,« begütigte er. »Ich begreife, daß das heutige Zusammenströmen von Menschen und die Prunkentfaltung dein Gefühl verletzt haben. Aber du darfst nicht vergessen, daß unser Verstorbener allezeit Gewicht auf derartige öffentliche Kundgebungen gelegt hat – die glänzende Totenfeier ist ganz in seinem Sinne verlaufen. Das mag dir ein Trost sein, Margarete!«

Er zögerte einen Moment, als warte er auf ein Wort von ihren Lippen; aber sie schwieg, und da griff er wieder nach seinem Hut. »Ich fahre nach der Bahn, den Onkel Theobald abzuholen. Er wird es besser verstehen, als wir alle, erlösend zu deinem verschlossenen Schmerz zu sprechen; und deshalb bin ich froh, daß er kommt … Aber muß es sein, daß du mit ihm nach Berlin zurückkehrst, wie mir mein Vater eben sagte?«

»Ja, ich muß fort!« antwortete sie gepreßt. »Ich habe selbst nicht gewußt, wie gut mir's bisher in der Welt ergangen ist – man nimmt das schöne glatt und ungeprüft verlaufende Leben hin, wie das leichte Atemholen, um welches wir kaum wissen. Nun kommt zum erstenmal ein großes Unglück über mich, und ich bin ihm nicht gewachsen, ich stehe ihm fassungslos gegenüber – es hat eine furchtbare Macht über mich!« – Sie war ihm unwillkürlich wieder näher getreten und er sah, wie der mühsam verbissene Schmerz ihre Stirn furchte. »Es ist schrecklich, immer wieder ein und denselben Gedankengang durchlaufen zu müssen! Und doch habe ich nicht die Kraft, ihn abzuschütteln; ja, ich bin zornig auf die, welche von außen her den Kreis unterbrechen … Und das wird hier nicht anders – drum muß ich fort. Der Onkel hat Arbeit für mich, strenge Arbeit, an der ich mir emporhelfen werde – er stellt einen neuen Katalog zusammen.«

»Und die Menschen dort sind dir auch sympathischer –«

»Sympathischer als der Großpapa und die Tante Sophie? Nein!« unterbrach sie ihn kopfschüttelnd. »Ich bin viel zu sehr ihresgleichen an Temperament und Charakter, als daß andere Bresche zwischen uns legen könnten.«

»Die beiden sind nicht deine einzigen Angehörigen hier, Margarete.«

Sie schwieg.

»Ach, die armen Totgeschwiegenen! Mit denen haben es die in Berlin freilich leicht!« sagte er bitter lächelnd. »Die Edlen aus Pommern oder Mecklenburg, oder irgendwoher können ruhig ihr Ritterschwert stecken lassen –« Er unterbrach sich und wurde rot unter ihrem unwilligen Blick. – »Verzeihe!« setzte er rasch hinzu. »Das durfte ich nicht – in diesen dunklen Stunden nicht!«

»Ja, in diesen Unglücksstunden ist es grausam, mich an ein ewig lächelndes Gesicht zu erinnern!« bestätigte sie fast heftig. »Ich fühle zum erstenmal, wie gram man solchen wohlgenährten, rosigen, gleichmütigen Menschen sein kann, wenn man tieftraurig ist … Man fühlt sich als gebeugte Jammergestalt, und da ragen sie neben einem empor, blühend und seelenruhig, und in jedem Zuge steht zu lesen: ›Was ficht mich das an?‹ Die Junge vom Prinzenhofe stand heute auch so neben mir draußen am Sarge, stolz und frisch und kühl bis ins Herz hinein; ihr aufdringliches Parfüm erstickte mich fast, und das unaufhörliche Knistern ihrer langen Schleppe reizte meine Nerven bis zur Unerträglichkeit – ich hätte mit den Händen nach ihr stoßen mögen.«

»Margarete!« unterbrach er sie. Er ergriff mit sonderbaren Blicken ihre Hand; aber sie wand sich los.

»Besorge nichts, Onkel!« sprach sie herb. »So viel gute Manieren sind mir doch noch verblieben. Und wenn ich zurückkomme –«

»Nach abermals fünf Jahren, Margarete?« fiel er ihr ins Wort und sah ihr gespannt in das Gesicht.

»Nein. Der Großpapa wünscht meine baldige Rückkehr. – Anfang Dezember komme ich wieder.«

»Dein Wort darauf, Margarete!« Er sprach das hastig und streckte ihr abermals die Rechte hin.

»Was kann dir daran liegen?« fragte sie achselzuckend mit einem scheuen, halben Aufblick ihrer verweinten Augen; aber sie legte doch für einen Moment ihre kalten Fingerspitzen in seine Hand.

Drunten war der Wagen, der den Landrat nach der Bahn bringen sollte, längst vorgefahren; und jetzt erschien die Frau Amtsrätin im großen Salon und kam die Zimmerreihe daher. Sie sah klein aus wie ein Kind in dem schlichten, wollenen Trauerkleide, und das harte Schwarz ihrer Krepphaube machte das feine, verwelkte Gesichtchen förmlich mumienhaft. Neben der offiziellen feierlichen Trauer in ihren Zügen machte sich in diesem Augenblick aber auch eine Art von unwilligem Befremden geltend.

»Wie, hier finde ich dich, Herbert?« fragte sie, auf der Schwelle verweilend. »Du hast dich so eilig von unsern teilnehmenden Freunden verabschiedet, daß ich die Entschuldigung dafür nur in deiner beabsichtigten Fahrt nach dem Bahnhof finden konnte. Nun wartet der Wagen längst vor dem Hause, und du stehst hier bei unserer Kleinen, die schwerlich auf deine Tröstungen hören wird – dafür kenne ich die Grete … Du wirst zu spät kommen, lieber Sohn!«

Ein undefinierbares, schwaches Lächeln flog um die Lippen des »lieben Sohnes«; aber er nahm pflichtschuldigst seinen Hut und ging schweigend hinaus, während die Frau Amtsrätin den Arm der Enkelin in den ihren zog, um sie fortzuführen. Droben in »Großmütterchens« Salon sei es wohlig warm und die Theemaschine summe, wie die alte Dame in trauervoll gedämpftem Tone sagte; Onkel Theobald werde wohl sehr erkältet ankommen, und da thue eine Tasse heißen Thees not … Und es sei doch sehr zu beklagen, daß der Onkel dem Einsegnungsakt nicht habe beiwohnen können; eine solche illustre Trauerversammlung habe das Lamprechtsche Haus noch nie gesehen; geachtete Namen allerdings immer genug; nie aber hohen Adel – noch nie! Ob das nicht der herrlichste Abschluß eines stolzen Menschenlebens sei? Ein Abschluß, über den sich die Engel im Himmel freuen müßten.


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