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10.

DDie »Hofstube« hatte von jeher etwas Verlockendes für Margarete gehabt. Sie lag im Erdgeschoß des spukhaften Flügels und stieß dicht an die ehemalige Schlafstube der Kinder. Ein gleicher halbdunkler Gang, wie der unheimliche droben, lief hinter den Zimmern weg und trennte, auch um die Ecke laufend, die Küche von der Wohnstube. – Die beiden Etagen standen in keiner Verbindung – es war »zum Glück« keine Treppe da; man brauchte deshalb keine Angst zu haben, daß es der weißen Frau oder dem Spinnwebenrock auch einmal einfallen könnte, herunter zu huschen, wie Bärbe immer sagte. – Die Zimmerreihe der unteren Etage wurde in ihrer Mitte durch eine Thüre unterbrochen, die nach dem Hofe ging, eine mächtige, schwere Thüre mit massivem Klopfer, und zu beiden Seiten flankiert von Steinfiguren im Hochrelief. Breite Stufen führten von ihr nieder auf den Kiesweg, der den Rasen durchschnitt und direkt nach dem Brunnen lief.

In der Hofstube standen lauter Möbel aus der Rokokozeit, die Tante Sophie gehörten. Sie waren spiegelblank poliert, die Metallbeschläge blitzten, und altes ererbtes, vielfach gekittetes Meißener Porzellan stand auf den geschweiften Platten der Kommoden und auf dem Schreibtisch mit seinem hohen Aufsatz voll zahlloser kleiner Schiebekasten. Die Stube war sozusagen Tante Sophiens Schmuckkästchen, ihre »gute« Stube, urgemütlich und peinlich sauber, wie es nur immer bei einer lustigen, lebensfrohen alten Jungfer sein kann. Nun waren auch noch alle die umherstehenden, feingemalten Schalen und Vasen, selbst die Potpourris mit mächtigen Blumensträußen aus dem kleinen Garten vor dem Thore gefüllt – die bunten Rabatten mußten der Heimkehrenden zu Ehren völlig abrasiert worden sein – und auf den weißen Dielen, die nie ein Firnisanstrich »verunreinigt«, lag ein neuer, warmer Teppich, den Tante Sophie aus eigenen Mitteln beschafft hatte …

Und da war ihr der endlich heimgekehrte Liebling gleich beim Eintreten, als der Lampenschein sich über alle die geliebten, wohlbekannten Familienreliquien der alten Jungfer ergossen, um den Hals gefallen und hatte sie fast erdrückt … Das Bett hatte auch richtig auf dem alten Platze gestanden, und Tante Sophie hatte noch lange daneben gesessen und erzählt – lauter Liebes und Lustiges, nicht ein Mißton durfte in das neue Zusammensein fallen. Und jede der Pausen, welche die heitere, humordurchdrängte Stimme gemacht, hatte das alte, eintönige Brunnenlied der strömenden, plätschernden Wasser vom Hofe her ausgefüllt; dazwischen hinein war auch ein paarmal das scharfe Kreischen der Packhausthorflügel gefahren, und dann hatte die ehemalige wilde Hummel, die nun weit, weit die Welt durchflogen und Kopf und Herz beutebeladen heimgebracht, mit einem so süß und lieblich schlafenden Kindergesicht in den Kissen gelegen, als habe sie sich nur bis nach Dambach und wieder heim müde gelaufen …

Ja, das geliebte Dambach! Nun ging das Hin- und Herwandern wieder an. Der Großpapa war ja nicht beim Diner gewesen – er hatte sich, »wie immer, aus guten Gründen um den auserlesenen Kreis herumgedrückt«, wie die Frau Amtsrätin sehr pikiert bemerkte. – Da hieß es am anderen Morgen sich flink auf die Füße machen und durch die tautriefenden Stoppelfelder hinauswandern, obgleich der Papa versicherte, daß der alte Herr nachmittags hereinkommen und mit ihm auf die Hühnerjagd gehen wolle.

Und das Wiedersehen draußen war noch viel schöner gewesen, als sich das junge Mädchen in Berlin ausgemalt hatte. Ja, sie war sein Liebling geblieben! Der prächtige Greis, knorrig von Gestalt und rauh von Wesen, er war ganz mild und weich geworden; er hätte sie am liebsten wie ein Püppchen auf seinen breiten Handteller gesetzt, um sie den herzulaufenden Fabrikleuten zu zeigen. – Sie war über Mittag geblieben, und die Frau Faktorin hatte ihre allerschönsten Eierkuchen backen müssen; aber auf ihren noch berühmteren Kaffee wurde nicht gewartet – pünktlich auf die Minute warf der passionierte alte Jäger Flinte und Büchsenranzen über, dann ging es auf der Chaussee im scharfen Marsch vorwärts.

Drüben zur Seite lag der Prinzenhof. Luft und Beleuchtung waren so klar und scharf, daß man die Blumengruppen auf dem Rasenparterre bunt herüberleuchten sah. Allerdings hübsch genug war das Schlößchen geworden! Früher hatte es wie ein verschlafenes Dornröschen zu Füßen des Berges gelegen – halb unter dem schützenden Betthimmel des bergaufkletternden Waldes, den heute schon die gelben und roten Flammen des Herbstes betupften – ohne Glanz und Farben und wenig beachtet. Jetzt hatte es sich gereckt und gestreckt und die Augen aufgeschlagen; zwischen den dunklen Nußbäumen glitzerte und flimmerte es, als sei eine Handvoll Diamanten dort verstreut worden – die alten vermorschten und nie geöffneten Jalousieen waren verschwunden, und neue, ungebrochene Spiegelscheiben füllten die mächtigen steinernen Fensterrahmen.

»Ja gelt, Gretel, wir sind vornehm geworden hier draußen?« fragte der Großpapa. Er zeigte mit ausgestrecktem Arm hinüber. Wie ein Recke schritt er dahin, der Siebziger! Unter seinen Tritten krachte das Chausseegeröll, und sein mächtiger weißer Schnauzbart leuchtete wie Silber in dem braunen, kühnen Gesicht, das die breite, einst auf der Mensur geholte Schmarre quer über der Wange von der einen Seite fast furchtgebietend machte. »Ja, vornehm und fremdländisch!« bekräftigte er weiterstapfend; »wenngleich die Frau Mama eine urdeutsche Pommersche ist, und die Tochter auch von väterlicher Seite her nichts von John Bull, oder den › Parlez-vous Français‹ in den Adern hat – macht nichts! – es wird doch auf englische Art gekocht und gegessen und französisch parliert nach Noten … Ja, die alten Nußbäume werden wohl gucken und sich in ihr Herz hinein schämen, daß sie in ihren alten Tagen wie dumme Bauernjungen dastehen und in ihrer Jugend nicht lieber Platanen oder sonst was Vornehmes geworden sind.«

Margarete lachte.

»Ja, da lachst du, und dein Großvater lacht auch! – Ich lache über den Staub, den zwei Weiberröcke da herum« – er beschrieb mit ausgestrecktem Arm einen weiten Bogen über die Gegend hin – »aufwirbeln – die reine Affenkomödie, sag ich dir! … ›Warst du schon im Prinzenhof?‹ heißt's da, und ›bist du schon vorgestellt?‹ dort! Und der eine grüßt kaum, wenn man nicht, wie er, beim großen Diner gewesen ist, und ein anderer stiert einem ganz perplex, wie einem notorisch Verrückten, ins Gesicht, wenn man sagt, daß man sich bedankt hat und lieber in seinen vier Pfählen geblieben ist … Ja, guck, Gretel, der Mensch lernt nicht aus! Hab da gemeint, ich lebe mitten unter lauter Hauptkerlen vom thüringischen Schlag, von echtem Schrot und Korn, und da quetschen sich jetzt die alten Knasterbärte in den Frack, schütten sich Eau de lavande, oder anderes Riechzeug« – er unterdrückte nur halb ein energisches ›Pfui Teufel!‹ – »auf ihre Schnupftücher und schlucken zimperlich eine Tasse Thee mit Butterbemmchen da drüben – sie mögen schön dran würgen, die ausgepichten Burgunderschläuche die!«

Margarete sah ihn von der Seite an; von der betonten Lachlust vermochte sie keine Spur zu finden; wohl aber sprühte ihm der helle, ehrliche Manneszorn unter den weißbuschigen, gerunzelten Brauen hervor. Sie hing sich schleunigst an seinen Arm, hob den rechten Fuß und versuchte in seine weiten, militärisch strammen Schritte einzulenken.

Er schmunzelte und schielte seitwärts auf sie herunter. Die winzige Spitze ihres eleganten Stiefelchens sah gar zu lächerlich aus neben dem ungeheuren Jagdstiefel. »Was für ein armes Spazierstöckchen! Und das will sich auch noch mausig machen!« höhnte er. »Geh, gib's auf, Gretel! Da lebt die Junge dort« – er zeigte nach dem Prinzenhofe zurück – »auf einem andern Fuße; Sapperlot, da muß man Respekt haben! Freilich, ihr beide könntet in der Wiege umgetauscht sein – solch ein polizeiwidrig kleines Pedal kommt dir nicht zu, und bei einer Blaublütigen ist ein großer Fuß allemal nur ein unbegreifliches, boshaftes Naturspiel … Aber schön ist sie sonst, die junge ›Gnädige‹ – alles, was wahr ist! Weiß und rot wie Milch und Blut, blond – du braunes Maikäferchen mußt dich daneben verkriechen –, groß,« – er hob die Hand fast bis zu seiner Kopfeshöhe – »schwer und feist, echt pommersche Rasse, und gesetzt und pomadig! Solch ein Windspiel, wie eben eines neben mir hertrippelt, kommt da nicht auf.«

»Ach, Großpapa, das Windspiel freut sich seines Lebens, so wie es ist – darüber lasse du dir ja kein graues Haar wachsen!« lachte das junge Mädchen. »Uebrigens haben die armen Spazierstöckchen schon ganz Respektables geleistet, und es fragt sich noch sehr, ob dein großer Siebenmeilenstiefel da mit mir Leichtfuß auf den Schweizerbergen konkurrieren könnte. Frage nur den Onkel Theobald in Berlin!«

Damit lenkte sie glücklich auf ein anderes Thema über. Der alte Mann war tief ergrimmt und gereizt; er übergoß die zukünftige Schwiegertochter mit der ganzen scharfen Lauge seines Spottes. Seine Beziehungen zu der Großmama mochten deshalb augenblicklich noch weit weniger friedfertig sein als gewöhnlich. Und er hatte sicher wieder einmal recht, sein scharfer Blick trog selten; aber die Enkelin konnte und durfte doch nicht Oel ins Feuer gießen, und so erzählte sie in anschaulicher Weise von dem Hospiz auf dem Sankt Bernhard, wo sie mit Onkel und Tante während eines furchtbaren Schneesturmes übernachtet, von allerhand Erlebnissen in Italien und so weiter; und der alte Herr hörte ganz hingenommen zu, bis der Packhausthorflügel hinter ihnen zufiel, und das abgefallene Lindenlaub im Hofe unter ihren Füßen knisternd umherstob.

Sie betraten eben die Flur des Vorderhauses, als ein winzig kleiner Hund, ein Affenpinscher, durch einen schmalen Spalt des Hausthores vom Markt hereinschlüpfte. Er kläffte die Eintretenden mit hoher scharfer Stimme an.

Margarete kannte das kleine Tier. Vor Jahren war Herr Lenz einmal von einer Reise zurückgekommen und hatte es mitgebracht. Und es hatte ausgesehen, als sei es das Schoßhündchen einer Prinzessin gewesen. Blauseidene Bandschleifen hatten aus seinem zottigen Fell geleuchtet, und an kalten Tagen war es in einer schöngestickten Purpurschabracke auf dem Gange herumgelaufen. Trotz aller Lockungen war es aber nie in den Hof zu den Kindern herabgekommen, die Malersleute hüteten es wie ein Kind.

Nun kam es da hereingelaufen, und gleich darauf wurde der Thorflügel weiter aufgestoßen, und ein Knabe sprang ihm nach. Fast in demselben Moment klirrte aber auch das in die Hausflur mündende Fenster des Kontors, und Reinholds Kopf fuhr heraus.

»Du infamer Bengel, habe ich dir nicht verboten, hier durchzugehen?« schrie er den Knaben an. »Ist etwa der Thorweg im Packhause nicht breit genug für dich? … Das ist das Herrschaftshaus, und da hast du absolut nichts zu suchen, so wenig wie deine Leute! Habe ich dir das nicht schon gesagt? Verstehst du denn nicht deutsch, einfältiger Junge?«

»Was kann ich denn dafür, wenn Philine mir ausreißt und hier hereinläuft? Ich wollte sie fangen, aber es ging nicht gut, weil ich den Korb am Arme habe!« entschuldigte sich der Kleine mit einem etwas fremdartigen Accent. »Und deutsch kann ich sehr gut; ich verstehe alles, was Sie sagen,« setzte er gekränkt, aber auch trotzig hinzu. Er war ein bildschönes Kind; ein wahrer kleiner Apollokopf, umringelt von kurzgeschnittenen braunen Locken und strahlend in Frische und Gesundheit, saß fest und hochgetragen auf dem kräftigen Nacken. Aber all diese Lieblichkeit schien nicht vorhanden für den bleichsüchtigen jungen Menschen mit dem tödlich kalten Blick und der keifenden Stimme, der am Kontorfenster stand.

Und nun ließ sich die entwischte Philine auch noch einfallen, die nach der Wohnstube führenden Stufen hinaufzuspringen, als sei sie da zu Hause.

Reinhold stampfte mit dem Fuße auf, während der Knabe ängstlich der kläffenden Missethäterin um einige Schritte nachlief.

»Nun mache dich nur schleunigst aus dem Staube, Junge,« scholl es erbittert aus dem Fenster, »oder ich komme hinaus und schlage dich und deinen Köter windelweich!«

»Na, na, das wollen mir erst 'mal sehen, Verehrtester! Da sind auch noch andere Leute da, die das zu verhindern wissen!« sagte der alte Amtsrat und stand mit zwei Schritten vor dem Fenster.

Reinhold duckte sich unwillkürlich vor der plötzlichen gewaltigen Erscheinung des Großvaters.

»Bist mir ja ein schöner Kerl!« höhnte der alte Herr – Aerger und Sarkasmus stritten in seiner Stimme. »Keifst wie ein Waschweib und machst dich mausig in deines Vaters Hause, als hättest du den Hauptsitz in der Schreibstube. Geh, laß dir erst die Federn wachsen und den Schnabel putzen! … Warum soll denn das Bürschchen da nicht durchgehen, he? Meinst vielleicht, er tritt euch von dem kostbaren Steinpflaster da 'was herunter?«

»Ich – ich kann das Kläffen nicht vertragen, es greift mir die Nerven an –«

»Hör' mir auf mit deinen Nerven, Junge! Mir wird ganz übel bei dem Gewinsel! Schämst du dich denn nicht, zu thun, als hätten sie dich im Altweiberspittel erzogen? ›Meine Nerven!‹« ahmte er ihm zornig nach. »I, da soll doch – « er verschluckte den Rest des Donnerwetters, zerrte an seinem Flintenriemen und drückte sich den Hut mit der Spielhahnfeder fester in die Stirn.

Inzwischen war auch Margarete nähergetreten. »Aber Reinhold,« sagte sie vorwurfsvoll, »was hat dir denn der Kleine gethan?«

»Der? Mir?« unterbrach er sie höhnisch – die Courage war ihm zurückgekehrt. »Na, wirklich, das hätte noch gefehlt, daß uns die Leute aus dem Hinterhause auch noch direkt zu Leibe gingen! … Sei du nur erst ein paar Wochen hier, Grete, da wird es dir gerade so gehen wie mir, da wirst du dich umgucken, Jungfer Weisheit! Wenn wir die Augen nicht offen halten, da wird bald kein Fleckchen mehr im Hause sein, wo der Bursche dort« – er zeigte nach dem Knaben, der eben seinen Handkorb auf den Boden setzte, um den widerspenstigen Hund besser greifen zu können – »nicht Fuß faßt! … Der Papa ist ganz unbegreiflich indolent und nachsichtig geworden. Er leidet's, daß der Junge in unserem Hofe herumtollt und sich mit seinen Schreibeheften unter den Linden breitmacht – auf unserem Lieblingsplatz, Grete, wo wir, seine eigenen Kinder, unsere Schularbeiten gemacht haben! Und vor ein paar Tagen habe ich mit eigenen Augen gesehen, wie er ihm im Vorübergehen ein neues Buch auf den Tisch gelegt hat –«

»Neidhammel!« brummte der Amtsrat unwillig.

»Denke, was du willst, Großpapa!« platzte der sichtlich Erbitterte heraus. »Aber ich bin sparsam wie alle früheren Vertreter unserer Firma, und über hinausgeworfenes Geld kann ich mich wütend ärgern. Man schenkt nicht auch noch Leuten, die einem ohnehin auf der Tasche liegen. Jetzt, wo mir die Bücher vorliegen, jetzt weiß ich, daß der alte Lenz nie auch nur einen Pfennig Mietzins für das Packhaus gezahlt hat. Dabei ist er ein so langsamer Arbeiter, daß er kaum das Salz verdient. Er müßte notwendig per Stück bezahlt werden; aber da gibt ihm der Papa jahraus jahrein seine dreihundert Thaler, ganz einerlei, ob er auch nur einen Teller einliefert oder nicht, und das Geschäft hat den bittersten Schaden … Ich sollte nur einen einzigen Tag die Macht haben, da sollte aber Ordnung werden, da würde aufgeräumt mit dem alten Schlendrian –«

»Na, dann ist's ja ein wahres Glück, daß solche Grünschnäbel kuschen müssen, bis –«

»Ja, bis der Hauptsitz in der Schreibstube leer geworden ist,« ergänzte der Kommerzienrat, der plötzlich dazwischen trat. Wahrscheinlicherweise hatte er Schwiegervater und Tochter über den Hof her kommen sehen und sich schleunigst fertig gemacht, um den pünktlichen alten Herrn drunten nicht warten zu lassen. Er war im Jagdanzug und mochte wohl im Herabkommen den größten Teil des Wortwechsels am Kontorfenster mit angehört haben – es lag etwas Ungestümes in seinem plötzlichen Hervortreten, und Margarete sah, wie ihm beim Sprechen die Unterlippe nervös bebte. Er streifte übrigens das Fenster mit keinem Blick; er zuckte nur die Achseln und sagte ganz obenhin, in fast jovialem Tone: »Leider hat diesen Hauptsitz der Papa noch inne, und da wird sich das sehr weise Söhnlein das Aufräumen für vielleicht noch recht lange Zeit vergehen lassen müssen.«

Damit reichte er begrüßend seinem Schwiegervater die Hand hin.

Das Fenster wurde geräuschlos zugedrückt, und gleich darauf hing der dunkle Wollvorhang so bewegungslos dahinter, als sei auch nicht der Schatten eines Menschen daran hingestrichen. Der junge Heißsporn mochte sich in Nummer Sicher hinter seinen Schreibtisch zurückgezogen haben.

Unterdessen war es dem Knaben gelungen, die eigenwillige Philine einzufangen; Tante Sophie, die eben mit einem Porzellankörbchen voll Gebäck aus der Wohnstube kam, hatte ihm geholfen, indem sie sich breit über den Weg gestellt. Nun klapperten seine kleinen Absätze die Stufen herab; auf einem Arme hatte er den Hund, und an den anderen hängte er wieder seinen Korb – sein Gesichtchcn sah ganz alteriert aus.

»Hast du geweint, mein Kleiner?« fragte der Kommerzienrat und bog sich zu ihm nieder. Margarete meinte, sie habe noch nie diese Stimme so weich und innig gehört, wie bei der teilnehmenden Frage, die dem sonst so kalt seinen Weg gehenden, vornehm zurückhaltenden Mann gleichsam entschlüpfte.

»Ich? – was denken Sie denn?« entgegnete der Kleine ganz beleidigt. »Ein richtiger Junge heult doch nicht!«

»Bravo! Recht so, mein Junge!« lachte der Amtsrat überrascht auf. »Du bist ja ein Prachtkerl!«

Der Kommerzienrat ergriff den Hund, der alle Anstrengungen machte, sich zu befreien, und stellte ihn auf die Beine. »Er wird dir schon nachlaufen, wenn du über den Hof gehst,« sagte er beruhigend zu dem Kinde. »Aber an deiner Stelle würde ich mich doch schämen, mit dem Korbe über die Straße zu gehen« – er sah finster auf das Anhängsel an dem kleinen Arme, als ärgere er sich, die ideale Gestalt dadurch entstellt zu sehen –; »für einen Gymnasiasten paßt das nicht – deine Kameraden werden dich auslachen.«

»O – das sollen sie nur probieren!« Er wurde ganz rot im Gesicht und hob den schönen Kopf keck und energisch wie ein Kampfhähnchen. »Ich werde doch für meine Großmama Semmeln holen dürfen? Unsere Aufwartfrau ist krank und die Großmama hat einen schlimmen Fuß, und wenn ich nicht gehe, da hat sie nichts zu ihrem Kaffee, und da frage ich nicht viel nach den dummen Jungen.«

»Das ist hübsch von dir, Max,« sagte Tante Sophie. Sie nahm eine Handvoll Mandelgebäck aus ihrem Körbchen und reichte es ihm hin.

Er sah freundlich zu ihr auf, aber er griff nicht zu. »Ich danke, ich danke sehr, Fräulein!« sagte er und fuhr sich, selbst verlegen über seine Abweisung, mit der Hand in die Locken. »Aber wissen Sie, Süßes esse ich niemals – das ist nur für Mädchen!«

Der Amtsrat brach in ein lautes Gelächter aus; sein ganzes Gesicht strahlte, und plötzlich hob er das Kind samt seinem Korb hoch vom Boden auf und küßte es herzhaft auf die blühende Wange. »Ja, der ist freilich aus einem anderen Holze! Sapperlot, das wär' einer nach meinem Sinn!« rief er, indem er den Knaben wieder aus seinen gewaltigen, kraftvollen Händen entließ. »Wie kommt denn das kleine Weltwunder in die Rumpelkammer, in das alte Packhaus?«

»'s ist ein kleiner Franzose,« sagte Tante Sophie. »Gelt, in Paris bist du eigentlich zu Hause?« fragte sie den Kleinen.

»Ja. Aber die Mama ist gestorben und –«

»Sieh doch – deine Philine ist schon wieder echappiert!« rief der Kommerzienrat. »Lauf ihr nach! Sie ist imstande und rennt bis hinauf zu der alten Dame, die oben wohnt!«

Der Kleine sprang die Stufen hinauf.

»Ja, seine Eltern sollen beide gestorben sein,« sagte Tante Sophie halblaut zu dem alten Herrn.

»Das ist ja aber gar nicht wahr!« protestierte der Knabe von der Treppe herab. »Mein Papa ist nicht tot, nur weit fort, sagte die Mama immer – ich glaube, weit über dem Meer drüben.«

»Und sehnst du dich denn nicht nach ihm?« fragte Margarete.

»Ich habe ihn ja noch niemals gesehen, den Papa,« antwortete er halb trocken, halb im Ton naiver Verwunderung darüber, daß er sich nach etwas sehnen sollte, wovon er keine Vorstellung hatte.

»Das ist ja eine närrische Geschichte? Den Teufel auch! – Hm!« brummte der Amtsrat fast betreten und schlenkerte die Finger der rechten Hand, als habe er sich an etwas verbrannt. »Da ist er ja wohl gar von einer Lenzschen Tochter?«

»Kann ich nicht sagen – soviel ich weiß, ist nur eine da,« versetzte Tante Sophie. »Wie hat denn deine Mutter geheißen, Jüngelchen?«

»Mama und Apolline hat sie geheißen,« antwortete der Knabe kurz. Er war des Ausfragens sichtlich müde und strebte an den Umstehenden vorüberzukommen. Philine hatte sich endlich bequemt, den richtigen Ausgang zu suchen und war bellend in den Hof hinausgelaufen.

»Nun springe aber, Kleiner!« sagte der Kommerzienrat, der währenddem schweigend, aber mit einer Ungeduld zwischen Haus- und Hofthür hin und her gegangen war, als brenne ihm der Boden unter den Sohlen, und er fürchte, etwas von seinem Jagdvergnügen einzubüßen. »Paß auf, deine Semmeln kommen zu spät – der Kaffee wird längst getrunken sein!«

»Ach, der ist ja noch gar nicht gekocht!« lachte der Kleine. »Ich muß doch erst Späne vom Boden herunterholen und kleinmachen.«

»Mir scheint, sie machen dich zum Aschenbuttel da drüben,« sagte der Kommerzienrat, indem seine dunklen Augen aufblitzend das Packhaus suchten.

»Meinst du, das schade dem Bürschchen?« fragte sein Schwiegervater. »Ich habe auch als neunjährige kleine Krabbe Holz für die Küche kleingemacht und bin in Feld und Stall zur Hand gewesen, wie ein Hirtenjunge – bleibt das etwa an dem Manne kleben? … Was hat denn solch ein armer kleiner Schlucker für eine Zukunft? – Da ist etwas faul und nicht in der Ordnung, so viel merk' ich; und ob ›man‹ je über das Meer wieder kommen und seine verfluchte Pflicht und Schuldigkeit thun wird, das fragt sich – mit dem Worthalten in solchen Dingen ist heutzutage nicht viel los. Na, und der Alte dort,« – er zeigte nach dem Packhause – »der wird gerade auch nicht schwer an seinem Geldkasten zu schleppen haben; da heißt's einmal für den Mosje da, sich durchschlagen und alle Kraft aufwenden, daß im großen Weltgetriebe der Kopf oben bleibt –«

»Ich will ihn später ins Kontor nehmen,« fiel der Kommerzienrat mit seltsamer Hast ein; er legte dabei seine Hand wie unwillkürlich schützend auf den braunen Lockenkopf, als gehe ihm der Gedanke, daß dieses prächtige Kind im Kampf ums Dasein untergehen könne, ans Herz.

»Na, das ist ein Wort, Balduin, das freut mich! – Dann zieh' dir aber auch den da drin« – er neigte den Kopf nach dem Kontorfenster, hinter welchem sich eben wieder die Vorhangsfalten verräterisch bewegten – »erst besser, sonst gibt's Mord und Totschlag.«

Er klopfte seiner Enkelin zärtlich die Wange und reichte Tante Sophie abschiednehmend die Hand. »Auf Wiedersehen, Base Sophie!« – er nannte sie stets so – »ich werde diese Nacht wieder einmal in meiner Stadtkoje logieren – möchte gern einen Abend mit Herbert und der Gretel zusammen sein. Bitte, es droben bei der Gestrengen allerunterthänigst zu vermelden!« setzte er mit einer ironisch feierlichen Verbeugung hinzu und trat hinaus auf den Marktplatz.

Der Kommerzienrat blieb noch einen Moment wie angefesselt stehen. Er sah, zurückgewendet, wie seine Tochter dem fortstürmenden Knaben bis weit in den Hof hinein nachflog, ihm mit beiden Händen in das reiche Lockenhaar fuhr, und den lachenden kleinen Bengel küßte. Das war ein liebliches Bild, anziehend genug, um wohl einen jeden das Fortgehen vergessen zu machen …

»Na, da hat sie ihn ja schon beim Schlafittchen!« sagte Bärbe, die am Küchenfenster hantierte und schräg hinaus die Gruppe im Hofe auch sehen konnte, schmunzelnd zu der Hausmagd. »Dachte mir's doch gleich, daß unser braves Gretel mit dem Reinhold und der im oberen Stocke nicht in ein Horn blasen würde. Der kleine Schlingel mit seinem schönen Krauskopfe thut's ja einem jeden an, der ein Herz und keinen Stein in der Brust hat … Da läuft er hin und will sich ausschütten vor Lachen über den Spaß, daß ihn das schöne Mädchen bei den Haaren erwischt hat! 's ist doch 'was Schönes um die liebe Jugend! Das mußt du doch selbst sagen, Jette – 's ist gleich ein ganz anderes Leben, wenn so ein junges Blut unter uns alte Husaren kommt! Das frischt auf!«

Und sie that ein paar kräftige Züge aus dem geliebten Kaffeetopfe und mischte sich den Schweiß von der Stirn. Es war heiß in der Küche. Die mächtige Brat- und Backmaschine glühte und liebliche Kuchendüfte schwebten in die sonnendurchfunkelte Herbstluft hinaus – es wurde gebacken, als solle eine ganze Compagnie heißhungriger Soldaten vom Manöver einrücken; war aber alles nur der einzigen heimgekehrten Tochter des Hauses zu Ehren …


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