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8.

DDas lautlose Huschen wurde ihr nicht schwer. Ein neuer, breiter Läufer von dickflaumigem Teppichstoff verschlang jeden Fußtritt auf der Treppe. Vor Margarete her eilte der Livreebediente mit einer Platte voll Selterswasserflaschen hinauf; er bemerkte die junge Dame nicht, und droben ließ er achtlos die Thüre offen, weit genug für einen Flederwisch wie sie, meinte sie und huschte durch den Spalt.

Der Flursaal war spärlich beleuchtet; nur aus der weit offenen Salonthüre strömte der Kerzenglanz und teilte als breiter Streifen den mächtigen Raum in zwei Hälften, und in dem Moment, wo der Bediente mit seinen Flaschen in die offene Salonthüre trat, schlüpfte Margarete hinter ihm weg in den dunkelnden Hintergrund und trat in eine der Fensternischen.

Sie konnte einen großen Teil des Salons überblicken; und es war wirklich, als säße sie in der Theaterloge und sähe ein interessantes Lustspiel … Der ersten Liebhaberin – das war die junge Fremde dort an der Tafel zweifellos – konnte sie gerade in das Gesicht sehen; es war ein hübsches, volles, ruhig lächelndes Gesicht auf schneeweißem, rundem Halse und breiten, üppigschönen Schultern. Die junge Dame saß so, daß für die Beschauerin draußen der alte berühmte Lamprechtsche Tafelaufsatz, ein mächtiges, mit Früchten und frischen Blumen beladenes Kauffahrteischiff von gediegenem Silber, dicht neben ihr zu stehen schien – das gab ein farbenprächtiges Bild; frischer waren die Blumen auch nicht als der blonde Mädchenkopf mit seinem strahlenden Teint … Also, das war sie, diese Heloise von Taubeneck, die gegenwärtig eine so dominierende Rolle bei »Amtsrats« spielte! … Nun, verwunderlich war es gerade nicht, daß die Großmama über diese neue Beziehung so »ganz und gar aus dem Häuschen« sein sollte, wie Tante Sophie sich in Berlin ausgedrückt hatte. Eine Nichte des Herzogs – sei es auch nur die Tochter des verstorbenen apanagierten Prinzen Ludwig aus einer unebenbürtigen Ehe – dereinst Schwiegertochter nennen zu dürfen, das übertraf ja weit, weit Großmamas kühnste Wünsche! Wie sie wohl dies unmenschliche Glück trug? –

Nun, die ehrgeizige alte Dame lehnte denn auch dort an der Schmalseite der Tafel, mit stolzseligem Gesichtsausdruck und die Hände fast andächtig gefaltet, in ihrem Stuhl und verwandte kein Auge von der blonden Schönheit neben dem Sohn, dem einzigen, vergötterten, der in rapider Geschwindigkeit Staffel um Staffel im Staatsdienst erstieg und mit neunundzwanzig Jahren schon »ein Herr Landrat« war. Wie oft hatte ihn Margarete als Kind aus Papas Munde spottweise »unser zukünftiger Minister« nennen gehört! Nun war er in der That dem hochgesteckten Ziel nahe, wie Tante Sophie in Berlin erzählt. Sie hatte gesagt, man munkele bereits im Lande, daß ein Wechsel in Sicht sei – der bisherige Chef des Ministeriums kränkele und habe den Wunsch, nach dem Süden zu gehen. Schlechte Leute aber behaupteten, Seiner Exzellenz thue keine Ader weh; die Diagnose rühre nicht vom Arzt, sondern von einer hohen Persönlichkeit her, und der Herr Landrat Marschall würde, trotz seiner wirklich ausgezeichneten Fähigkeiten, keinesfalls den Harrassprung in die hohe Stellung machen, wenn nicht eben – jenes Fräulein Heloise von Taubeneck wäre. »Ja, die Welt ist gar schlecht mit ihrer losen Zunge!« Damit waren diese neuesten Nachrichten aus der Heimat unter bedauerlichem Achselzucken geschlossen worden; aber der Schalk hatte der Tante aus jedem Augenwinkel gelacht. Uebrigens sei Herbert wirklich ein vornehmer Mann geworden – hatte sie sich beeilt hinzuzusetzen –, wie geboren zu einer hohen Beamtenstellung, wo man sich gegen Krethi und Plethi abschließen müsse …

Nun ja, er war ein hübscher Mann geworden, eine rechte Diplomatenfigur mit seiner vornehmen Sicherheit in Thun und Wesen. Wenn sie ihm in der Fremde plötzlich begegnet wäre, da hätte sie vielleicht gestutzt, aber auf den ersten Blick ihn sicher nicht erkannt … Sie hatte ihn lange nicht gesehen, es mochten wohl sieben Jahre darüber vergangen sein. Als Student hatte er seine Ferienzeit meist auf Reisen verlebt, und wenn er ja einmal nach Hause gekommen, da war sie dem »eingebildeten Studiosus«, der immer noch keinen Bart und deshalb auch kein Anrecht auf den diktatorisch geforderten Onkeltitel gehabt, klüglich aus dem Wege gegangen, und er hatte nie gefragt, wo sie stecke – selbstverständlich! –

Nun war ihm aber der Bart gewachsen, ein schöner, dunkler, am Kinn leicht geteilter Vollbart, und aus dem mißachteten Studenten war ein Herr »Landrat« geworden, der noch dazu mit vollen Segeln auf seine Verheiratung lossteuerte und binnen kurzem eine Tante an seiner Seite haben würde; da konnte man mit gutem Gewissen »Onkel« sagen – ja wohl, unbedenklich! Das junge Mädchen in der dunklen Fensterecke lächelte schelmisch und ließ die Augen weiter schweifen.

Bei Betreten des Flursaales war ihr ein lautes Stimmendurcheinander entgegengekommen; man hatte sehr lebhaft gesprochen, und sie meinte auch, Großpapas geliebte, rauhe Stimme herausgehört zu haben. Mit dem Eintritt des Bedienten jedoch war es stiller geworden, und jetzt sprach nur eine einzige, ganz angenehme, wenn auch etwas fette Frauenstimme; sie schien gewissermaßen zu dominieren, und in der Modulation lag, besonders wenn es galt, eine eingeworfene Frage zu beantworten, eine merkliche Herablassung. Margarete konnte die Sprecherin nicht sehen; sie mochte dem Papa zur Rechten sitzen, während Fräulein von Taubeneck links seine Nachbarin war.

Die unsichtbare Dame erzählte einen Vorfall bei Hofe, hübsch und anschaulich, und unterbrach sich nur manchmal mit einem »nicht wahr, mein Kind?« – was die schöne Heloise stets mit der Antwort »gewiß, Mama!« prompt und gleichmütig bestätigte. So war es also Frau Baronin von Taubeneck, die Witwe des Prinzen Ludwig, welche neben dem Papa saß … Wie stolz er aussah! Die finstere Melancholie, welche die Tochter bei jedem Wiedersehen aufs neue erschreckt hatte, schien heute wie weggewischt von den schönen, wenn auch stark alternden Zügen. Die Großmama war somit nicht die einzige, die sich in den Strahlen des über der Familie aufgehenden Glücksgestirnes sonnte  …

Frau von Taubeneck beschrieb eben mit gesteigerter Lebendigkeit, wie das Pferd des Herzogs alle Anstrengungen gemacht, seinen Reiter abzuwerfen, als sie plötzlich aufhorchend verstummte. Ueber ihre ziemlich laute Stimme hinweg schwebte ein Klang in das Zimmer herein, ein langausgehaltener Ton – er schwoll und schwoll und blieb doch geisterhaft zart und unirdisch, bis er plötzlich abriß, um eine Terz tiefer einzusetzen.

»Magnifique! Was für eine Stimme!« rief Frau von Taubeneck halblaut.

»Bah – 's ist ein Junge, gnädige Frau, ein aufdringlicher Bengel, der einem seine Kehltöne an den Kopf wirft, wo man geht und steht!« sagte Reinhold, der an der Tischecke neben der Frau Amtsrätin saß – seine schwache, knabenhafte Stimme bebte im verhaltenen Aerger.

»Ei nun ja, du hast recht – die Singerei im Packhause wird auch mir nachgerade zu viel!« bestätigte die Großmama und sah ihn besorgt von der Seite an. »Aber es fällt mir doch im ganzen Leben nicht ein, mich darüber zu ärgern! Hübsch ruhig, Reinhold! Die Familie im Packhause ist für uns ein notwendiges Uebel, an welches man sich mit der Zeit gewöhnt – du wirst es auch lernen.«

»Nein, Großmama, grundsätzlich nicht!« versetzte der junge Mann, während er mit nervöser Hast seine Serviette zusammenfaltete und sie auf den Tisch warf.

»Puh, wie heftig!« lachte Fräulein von Taubeneck – was für herrliche Zähne sie hatte! – »Viel Lärm um nichts! – Es ist mir nicht erfindlich, wie sich Mama durch die paar Töne unterbrechen lassen konnte, noch weniger aber begreife ich Ihren Zorn, Herr Lamprecht – so etwas höre ich gar nicht.« Sie hob den weißen, bis an die Schulter entblößten Arm, nahm eine schöne Orange von dem Tafelaufsatz und fing an, sie zu schälen.

Reinholds bleiches Gesicht rötete sich ein wenig – er schämte sich seiner Heftigkeit. »Ich ärgere mich nur,« entschuldigte er sich, »daß man den Singsang so widerspruchslos hinnehmen muß. Der eitle Bursch sieht jedenfalls, daß wir Gesellschaft haben, und meint, er gehöre auch dazu – unverschämt! – Er will um jeden Preis bewundert sein.«

»Wenn du das denkst, da bist du aber stark auf dem Holzwege, Reinhold!« sagte Tante Sophie eben hinter ihm weggehend. Sie hatte bisher an der Kaffeemaschine ihres Amtes gewaltet und einen starkduftenden Trank gebraut, dessen erste Tasse sie auf einem Silbertellerchen der Frau von Taubeneck persönlich präsentierte. Sie war in ihrem schweren, schwarzseidenen Ripskleide; das volle, graue Haar saß wie immer in zwei glänzenden Scheitelpuffen zu beiden Seiten der hellen Stirn, und darüber her fiel eine schöne schwarze Spitze. Sie sah ganz vornehm aus, die mittelgroße, gut konservierte Gestalt mit ihrem sicheren Auftreten. Und die Zuckerschale von der Tafel nehmend, setzte sie hinzu: »Der Kleine fragt viel nach unsereinem; der singt für sich selber wie der Vogel auf dem Zweig. Das quillt ihm nur so aus der Brust, und ich hab' zu jeder Stund' meine Freude dran – 's ist die reine Pracht und Herrlichkeit, eine wahre Gottesstimme: Hören Sie's?« Sie sah sprechend über die Tafelrunde hin und neigte den Kopf nach der Richtung des Hofes.

»Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre!« sang der Knabe drüben im Packhause – eine lieblichere Stimme hatte wohl noch nie zur Ehre Gottes gesungen. Reinhold warf der Tante einen Blick zu, der die Lauscherin im Fensterwinkel empörte. »Wie kannst du dich unterstehen, in diesem auserwählten Kreise mitzureden?« Diese Frage lag deutlich genug in den hochmütigen, fast farblosen Augen, und daneben sprühte die tiefste Erbitterung. Margarete kannte ja das schmale, fleischlose Gesicht, auf welchem das Muskelspiel so harte, scharfe Linien zog, in jeder Regung; sie hatte es als Kind ängstlich studieren gelernt, aus schwesterlicher Liebe und auch, weil man gewohnt war, sie für jeden Heftigkeitsausbruch des schwächlichen Knaben verantwortlich zu machen. Geändert hatte er sich nicht; er war immer gewohnt gewesen, um seines Leidens willen in allem seinen Kopf durchsetzen zu dürfen; auch jetzt trieb ihm sein bodenloser Eigensinn das Blut dunkel nach dem Gesicht; nervös unruhig griff seine Hand nach verschiedenem Gerät auf der Tafel und stieß es durcheinander, bis ein scharfes Klirren die unwillkürlich Lauschenden aufschreckte.

»Pardon, ich war sehr ungeschickt!« stammelte er kurzatmig. »Aber die Stimme macht mich ganz nervös – sie klingt mir im Ohr, wie wenn ein Trinkglas mit nassem Finger bestrichen wird.«

»Nun, dem ist ja abzuhelfen. Reinhold,« sagte Herbert beruhigend. Er stand auf und kam heraus in den Flursaal, um die der Salonthüre gegenüberliegenden offenen Fensterflügel zu schließen …

Also auch darin hatte sich nichts geändert. Reinhold war stets Herberts Portégé und Liebling gewesen, und wie einst der Primaner und Student beeifert gewesen war, dem kränklichen Neffen alles Aergerliche und Verstimmende aus dem Wege zu räumen, so that es auch zu dieser Stunde noch der Herr Landrat …

Den Flursaal entlang gehend, inspizierte er auch die anderen Fenster und kam an Margaretens Versteck heran. Sie drückte sich tiefer in die finstere Ecke, und dabei rieb sich ihr Seidenkleid knisternd an der Wand.

»Ist jemand hier?« fragte er aufhorchend.

Sie lachte in sich hinein. »Ja,« sagte sie halblaut, »aber kein Dieb oder Mörder, auch nicht die Ahne Dorothee aus der Spukstube – du brauchst dich nicht zu fürchten, Onkel Herbert – es ist nur die Grete aus Berlin!«

Damit trat sie aus dem Fensterwinkel – ein schlankes Mädchen, das sich lächelnd mit lässiger Grazie ein wenig vorbog, um sich zur Bestätigung von dem letzten Schrägstreifen des Kerzenlichtes bescheinen zu lassen. Er war unwillkürlich zurückgewichen und sah sie an, als traute er seinen eigenen Augen nicht. »Margarete?« wiederholte er ungewiß, fragend und reichte ihr etwas zögernd die Hand hin; sie legte die ihre kühl hinein, und er ließ sie ohne Druck wieder fallen – eine recht steife Begrüßung, aber ganz in der Ordnung. »So bei Nacht und Nebel kommst du heim?« fragte er wieder. »Und niemand im Hause weiß um dein Kommen?«

Ihre dunklen Augen blitzten ihn mutwillig an. »Ja, weißt du, einen Kurier wollte ich nicht vorausschicken – das kommt ein bißchen zu teuer für meine Einkünfte; und da dachte ich mir, unterbringen werden sie dich schon zu Hause, auch wenn du unverhofft kommst.«

»Nun, wenn ich einen Augenblick im Zweifel war, ob die junge Dame da wirklich die übermütige Grete sei, so weiß ich's jetzt – du kommst zurück, wie du gegangen bist!«

»Ich will's hoffen, Onkel!«

Er wandte das Gesicht halb zur Seite, und da war's, als gehe ein leises Lächeln durch seine Züge. »Was soll aber nun werden?« fragte er. »Willst du nicht hereinkommen?«

»O, beileibe nicht! Die Herbstkühle in den Kleidern, Staub und Ruß auf dem Gesicht; dazu eine heruntergetretene Falbel am Rock und ein Paar zerplatzter Handschuhe in der Tasche – ein schönes Debüt vor dem Staatsfrack und brillanten Hofschleppen!« – Sie deutete nach dem Salon, wo bereits wieder eine laute, lebhafte Konversation im Gange war. »Auf keinen Fall, Onkel! du wirst dich doch nicht so mit mir blamieren wollen?!«

»Nun, wie du willst,« sagte er kühl und zuckte die Schultern. »Wünschest du, daß ich dir den Papa oder Tante Sophie herausschicke?«

»Gott behüte!« Sie trat unwillkürlich weiter vor und streckte die Hand aus, um ihn zurückzuhalten; dabei tauchte ihr Kopf für einen Moment tief in das herüberströmende Licht – ein feiner, anziehender Kopf, den dunkle Locken umwogten – »Gott behüte – was denkst du? Zu einer Begrüßung im Dunkeln sind mir die beiden viel zu lieb! – Ich muß ihre Gesichter klar vor mir haben, muß sehen, ob sie sich auch freuen … Und müssen denn die da drüben durchaus wissen, daß du mich als Horcherin an der Wand ertappt hast? – Ich schäme mich ohnehin genug. Aber das Licht hier oben lockte zu verführerisch, und da taumelte die dumme Motte hinein! … Nun gehe ich wieder – ich habe genug gesehen!«

»So? Und was hast du denn gesehen?« –

»O, sehr viel Schönheit, wirkliche, bewunderungswürdige Schönheit, Onkel! Aber auch viel Vornehmheit, viel – Herablassung – zu viel für unser Haus!«

»Die Deinen finden das nicht!« sagte er scharf.

»Es scheint so,« gab sie achselzuckend zu. »Die sind aber auch viel gescheiter als ich. Mir hat von jeher der Dünkel meiner Ahnen, der alten Leinenhändler, im Blute gesteckt – ich lasse mir nicht gern etwas schenken.«

Er trat von ihr weg. »Ich werde dich wohl nun deinem Schicksal überlassen müssen,« sagte er trocken, mit einer leichten steifen Neigung des Kopfes.

»O, bitte – nur noch einen Augenblick! Wäre ich die Frau mit den Karfunkelsteinen, dann könnte ich ungefährdet verschwinden und brauchte dich nicht zu inkommodieren; so aber muß ich dich bitten, für einen Moment die Salonthüre zu schließen, damit ich vorüber kann.«

Er schritt rasch nach der Thüre, ergriff beide Flügel und zog sie hinter sich zu. Margarete flog durch den Flursaal; sie hörte, wie drinnen einstimmig gegen das Schließen der Thüre protestiert wurde, und ehe sie die äußere Thüre hinter sich zudrückte, sah sie noch, wie die beiden Flügel langsam wieder aufgingen, wie sich der bärtige Männerkopf noch einmal verstohlen herausbog, jedenfalls um zu sehen, ob der Eindringling den Ausweg gefunden habe – lustig! Der steifnackige Herr Landrat und die übermütige Grete im Komplott! Das hätte er sich wohl zehn Minuten zuvor auch nicht träumen lassen!  …

Ein Aufschrei empfing sie, als sie wieder in die dämmerdunkle Wohnstube trat. Die nach der Küche führende Thüre wurde aufgerissen, und Bärbe rannte hinaus, daß ihr die Röcke flogen.

»Sei gescheit, Bärbe!« rief Margarete lachend und ging ihr nach bis auf die Schwelle der hellerleuchteten Küche. »Ich sehe ihr ja gar nicht ähnlich, der im roten Salon, und so durchsichtig wie die spinnwebige Frau Judith bin ich doch wahrhaftig auch nicht! … Komm her und gib mir eine Hand, alte, treue Seele – hab' mich gar manchmal nach dir gesehnt! Da« – sie streckte ihre schöne, schmale Hand hin – »sie ist warm und von Fleisch und Bein! Du kannst sie getrost anfassen!«

Und »die alte, treue Seele« war plötzlich wie närrisch vor Freude. Sie faßte nicht nur die Hand, sie schüttelte sie auch, daß dem jungen Mädchen Hören und Sehen verging, und die Thränen stürzten ihr aus den Augen … Ja, da waren nun fünf Jahre nur so verflogen, der Mensch wußte nicht wie! Und aus dem Gretel war eine Dame geworden, fix und fertig, wie ein Döckchen! Aus dem Ausbund! – »Wie eine kleine, wilde Katze ist sie mir gar manches Mal von hinterrücks auf meinen breiten Buckel 'naufgesprungen, wenn ich kein Arg hatte und in meinen Aufwasch vertieft war,« – sagte sie zu der Küchenmagd und wischte sich lachend die Augen – »ja, zum Umstürzen war der Schreck allemal! – Aber« – ihre laute, grelle Stimme sank zum Flüstern herab – »das sollten Sie doch nicht, Fräulein – ich mein', mit solchen, wie die oben im Gange, soll sich der Mensch nicht vergleichen! 's ist ein ›Aber‹ dabei, und Sie sind ohnehin so blaß, gar so blaß!«

Margarete verbiß mit Mühe das Lachen. »Also auch da alles beim alten! Nun ja,« – ihre Mundwinkel zuckten in leiser Ironie – ›an uns ist kein Tadel, gut konservativ sind wir‹, sagte Tante Sophie immer, wenn Reinhold die abgerissenen Arme und Beine meiner Puppen sorgfältig sammelte und als alten Besitz respektierte … Hast recht, Bärbe, blaß bin ich, aber doch frisch genug, um mich meines Leibes und Lebens gegen deine Gespenster zu wehren. Und du sollst sehen, in unserer starken Thüringer Luft werden meine Backen bald rund und rot wie Borsdorfer Aepfel sein … Aber horch!« – durch das offene Küchenfenster klang wieder die Knabenstimme herein – »jetzt sage mir, wer singt denn drüben im Packhause?«

»'s ist der kleine Max, ein Enkelchen von den alten Lenzens. Seine Eltern sollen gestorben sein, und da haben ihn die Großeltern zu sich genommen. Er geht hier auf die Schule und muß wohl das Kind von einem Sohn sein – er heißt auch Lenz. Sonst kann ich nichts sagen. Sie wissen's ja, es sind so stille Leute; ob sie Freud' oder Leid erleben, ein anderer Christenmensch erfährt's nicht. Und unser Herr Kommerzienrat und die Frau Amtsrätin können's partout nicht leiden, wenn unsereiner auch nur thut, als wohnten Leute im Packhause. 's ist von wegen der Klatscherei, wissen Sie, Fräulein; und richtig ist's ja, so gemein darf sich ein Haus wie unseres nicht machen … Der Kleine freilich fragt viel danach, was bei uns Brauch ist – 's ist ein schönes Kind, Fräulein Gretchen, ein Staatsjunge! – Aber der ist vom ersten Tage an mir nichts dir nichts in den Hof 'runtergestiegen, und da spielt er wie von Rechts wegen, akkurat wie Sie und der junge Herr Reinhold klein da 'rumgetollt haben.«

»Brav, mein Junge! Ein tapferer kleiner Kerl! Da ist Kraft und Selbstbewußtsein drin!« – nickte Margarete vor sich hin. »Was sagt denn aber die Großmama?«

»Ja, die Frau Amtsrätin, die ist freilich toll und böse, und der junge Herr erst – ach, ach!« sie fuhr mit der Hand durch die Luft – »da gibt's viel böses Blut! Aber es hilft alles nichts, und wenn's noch so deutlich durch die Blume gegeben wird, der Herr Kommerzienrat hat keine Ohren … Ich glaube, im Anfang hat er's gar nicht gesehen, daß das fremde Kind da 'rumgelaufen ist, wo's nicht hingehört – er ist ja immer so in tiefen Gedanken – das kömmt vom schwarzen Geblüt, Fräulein, nur davon! Nun ja, und solche Leute sehen manchmal nicht rechts und nicht links, und andere Menschen sind für sie nicht auf der Welt. Wie's ihm aber doch endlich beigebracht worden ist, da hat er gesagt, sie sollten das Kind nur spielen lassen, wo es wollte, der Hof wär' groß genug – und dabei ist's geblieben, und der Aerger muß 'nuntergewürgt werden.«

Sie nahm eine Stecknadel aus ihrem Halstuch und steckte eine halbgelöste Schleife am Kleid der jungen Dame fest; dann zupfte sie die Spitze am Halsausschnitt zurecht und strich mit beiden Händen glättend über den etwas zerknitterten Seidenrock. »So, nun kann's losgehen!« sagte sie zurücktretend. »Die werden gucken da oben! So unverhofft und so mitten hinein in die große Gesellschaft –«

Margarete schüttelte den Kopf, daß die Locken flogen.

Das war nun freilich nicht nach dem Sinn der alten Köchin. Es sei heute »extra schön« oben, meinte sie, und beim Champagner würde es wohl richtig gemacht worden sein zwischen der vom Hofe und dem Herrn Landrat … »Ein paar schöne Menschen, Fräulein, und eine große Ehre für die Familie!« schloß sie ihre Mitteilungen. »Gesehen hab' ich freilich von der ganzen Herrlichkeit noch nichts, ich in meiner Küche hier unten; aber die Leute sagen's, und die Neidhammel in der Stadt sagen auch, die Frau Amtsrätin würde ja wohl noch zerplatzen vor lauter Hochmut … Ja, die losen Mäuler! Der Mensch kann sich nicht genug in acht nehmen!« …

Mit diesen Worten nahm sie eine Tischlampe vom Sims, um sie für Margarete anzubrennen; aber die junge Dame verbat sich alle Beleuchtung. Sie wollte im Dunkeln warten, bis droben alles vorüber sei und stieg wieder auf den Fenstertritt in der Wohnstube.

Da saß sie nun und sann; und zu allem, was durch den jungen Kopf flog, sagte die alte Uhr ihr ruhiges, gleichmäßiges Ticktack und ebnete gleichsam die hochgehenden Wogen in der Seele. Reinholds Gehässigkeit und sein und der Großmama Hochmut machten ihr das Blut wallen; aber es wurde niedergekämpft – nein, die Heimkehr in das väterliche Haus ließ sie sich absolut nicht verbittern! Fort mit der unerquicklichen Wahrnehmung! … Da war das Gesicht der schönen Dame vom Hofe, das hatte nichts Aufregendes! Sie mußte sehr überlegenen Verstandes oder eine phlegmatische Natur sein, diese herzogliche Nichte mit der unbeschreiblichen Ruhe und Gelassenheit in Zügen und Gebärden … Früher hatte man kaum um die Existenz der schönen Heloise von Taubeneck gewußt. Prinz Ludwig hatte einen hohen preußischen Militärposten bekleidet und seinen Wohnsitz in Koblenz gehabt. Nur selten war er an den heimischen Hof gekommen, und das den apanagierten Prinzen des herzoglichen Hauses zur Verfügung gestellte Landschlößchen, der Prinzenhof, hatte lange Jahre unbewohnt gestanden. Es lag außerhalb der Stadt am Fuße eines ehemaligen Burgberges, den noch einzelne Mauertrümmer krönten, und war ein einstöckiger Rokokobau mit Mansarde und den nötigen Remisen und Stallungen, die unter dem Laubdach herrlicher alter Nußbäume völlig verschwanden, während sich vor der geschnörkelten Vorderfront ein hübsches, mit Blumengruppen und Statuen geschmücktes Rosenparterre hinzog. Vom Dambacher Pavillon aus konnte man ja den Prinzenhof fast greifbar nahe liegen sehen.

Nun war er wieder bewohnt, und Tante Sophie hatte in Berlin viel von dieser Veränderung gesprochen. Die Witwe des Prinzen Ludwig war froh gewesen, nach seinem Tode hier »unterkriechen« zu können, wie sich der Kleinstädter insgeheim drastisch genug ausdrückte; denn an Barem hatte der Verstorbene so gut wie nichts hinterlassen, und die Witwenpension war keine allzugroße. Wie man aber wußte, hatte das herzogliche Paar eine warme Zuneigung zu der jungen verwaisten Nichte gefaßt, und vorzugsweise aus dem Grunde mochte es wohl geschehen, daß den beiden Damen Subsistenzmittel zuflossen und Vorrechte zugestanden wurden, auf die sonst nur Ebenbürtige Anspruch hatten.

Nun, die Equipage, die eben über den Markt heranbrauste, und draußen vor der Thüre hielt, war elegant genug, um ein fürstliches Geschenk zu sein. Der offene Wagen funkelte und glitzerte im Gaslicht, und das feurige Gespann schnaubte und stampfte vor Ungeduld.

Es währte geraume Zeit, bis man sich droben entschloß, aufzubrechen, bis das Stimmengeräusch der Gesellschaft die Treppe herabkam, und der große Flügel des Hausthores zurückgeschlagen wurde, um den starken Lichtschein der Flurlampen auf das Trottoir draußen strömen zu lassen.

In diese grelle Beleuchtung trat zuerst die Baronin Taubeneck und watschelte an Herberts Arm nach dem Wagen. Sie war von einer übermäßigen Korpulenz, und die Tochter, die ihr folgte, mochte ihr später darin ähnlich werden. Jetzt freilich hatte ihre hohe, volle Gestalt noch schöne, ebenmäßige Linien. Sie zog die schwarze Spitzenhülle fester über das tief in die Stirn fallende Blondhaar, setzte sich vornehm ruhig neben die keuchende Mama und sah sehr teilnahmlos auf die übrigen Gäste herab, welche, noch einmal sich verabschiedend, den Wagen umringten, um sich dann nach allen Richtungen hin zu zerstreuen.

Herbert war sofort mit einer tiefen Verbeugung zurückgetreten – das sah nicht aus, als habe die Verlobung in der That stattgefunden – die Frau Amtsrätin dagegen hatte die Hand der jungen Dame zwischen die ihren genommen, sie preßte sie unter fortwährendem, nahezu aufdringlichem Sprechen und bog plötzlich, wie von Zärtlichkeit überwältigt, ihr Gesicht auf die hell behandschuhte Rechte, um, Margarete vermochte nicht zu unterscheiden, ob den Mund oder die Wange darauf zu drücken.

Sie fuhr unwillkürlich vom Fenster zurück. Das Blut stürmte ihr heiß nach den Schläfen – sie schämte sich in tiefster Seele für die alte, weißhaarige Dame, die ihre sonstige stolze Gemessenheit und Würde einem so jungen Geschöpf gegenüber völlig verlor.

Ganz erbittert sprang sie vom Fenstertritt. In was für ein armseliges, beschränktes Thun und Treiben war sie zurückgekommen! Hatte sie deshalb den weiten Flug in ferne Lande und alte Zeiten gemacht, und sich an dem berauscht, was der Menschengeist im edlen Schönheitsgefühl, im Freiheitsdrange an Idealen ersonnen und erstürmt, um hier an der widerlichsten Kriecherei zu sehen, wie geistig arm der Mensch werden kann? … Nein, der Käfig war zu eng! Auch nicht die äußersten Spitzen der freiheitgewohnten Flügel ihres Geistes opferte sie, um sich ihm anzubequemen! … Das, was augenblicklich dominierend und entnervend durch das gesammte moderne Leben ging, der Servilismus, die Machtanbetung, das ungenierte Buhlen um die Gnade einflußreicher Persönlichkeiten, das waren jetzt die Gespenster im Lamprechtshause, gegen die sie sich ihres Leibes und Lebens zu wehren hatte! – Wahrlich, »die schöne Frau mit den Karfunkelsteinen«, die einzig aus rücksichtsloser, heißer Liebe die Grabesruhe verwirkt, sie stand groß neben den kleinen Seelen! …


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