E. Marlitt
Goldelse
E. Marlitt

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19.

Als der Diener aus Lindhof am Mauerpförtchen läutete, saß Elisabeth in der großen Halle. Sie wand aus Immergrün und Epheu eine lange Guirlande, während Miß Mertens, ihr zur Seite sitzend, einen halbfertigen bunten Asternkranz in den Händen hielt. Das Grab auf dem Lindhofer Gottesacker war vollendet. Heute nachmittag, zwischen fünf und sechs Uhr, sollte der Zinnsarg mit den sterblichen Ueberresten der schönen Lila der Erde feierlich übergeben werden. Hätten Josts gefürchtete Augen neben den Kranzwinderinnen auftauchen können, sie würden gewiß mild und versöhnt geruht haben auf seinem lieblichen Urenkelkinde, welches die frisch vom Waldboden abgeschnittenen grünen Ranken als letzten Schmuck auf den Totenschrein legen wollte.

Nach Rücksprache mit der Mutter nahm Elisabeth die Einladung an, um so mehr, da sie nur »auf ein Plauderstündchen« lautete. Bald nachdem der Diener sich entfernt hatte, kam auch Reinhard. Er sah sehr ernst aus und erzählte auf Miß Mertens' Befragen, daß sein Herr in einer nicht zu beschreibenden Gemütsstimmung aus Thalleben zurückgekehrt sei.

»Die Eindrücke im Trauerhause müssen schrecklicher Art gewesen sein,« bemerkte er, »denn ich erkenne Herrn von Walde nicht wieder. Ich hatte ihm notwendig verschiedene Meldungen zu machen, allein im Laufe meines Vortrags merkte ich wohl, daß ich umsonst sprach . . . Er saß vor mir wie gebrochen, wie völlig verloren in qualvolle Gedanken. Merkwürdigerweise fuhr er heftig auf, als ich ihm zum Schlusse die Entdeckung hier oben in den Ruinen mitteilen wollte; ›ich habe die Sache bereits zur Genüge gehört,‹ unterbrach er mich zornig und ungeduldig, ›bitte, lassen Sie mich allein!‹«

Es entging Miß Mertens nicht, daß Reinhard sich verletzt fühlte durch die Art und Weise, wie sein Gebieter ihn angelassen hatte.

»Lieber Freund,« sagte sie beschwichtigend, »in einem Augenblicke, wo ein großer Seelenschmerz uns beherrscht, berührt uns die Außenwelt entweder gar nicht oder sie wird uns peinlich; wir fühlen uns abgestoßen dadurch, daß in ihr sich alles nach wie vor unbeirrt abwickelt, während unsere innere Welt schwankt und aus dem Geleise getrieben ist. Herr von Walde mag den Verunglückten wohl sehr geliebt haben . . . Aber mein Gott, Elisabeth, was thun Sie denn?« unterbrach sie sich selbst. »Meinen Sie wirklich, daß das hübsch aussieht?«

Sie deutete auf die Guirlande. Elisabeth hatte nämlich, während Reinhard sprach, mit zitternden Händen einige dickköpfige Dahlien ergriffen und dieselben dem schlanken, bis dahin einförmig grünen Gewinde einverleibt. Es war in der That ein arger Mißgriff, auf den sie selbst mit erstaunten Augen und hochgeröteten Wangen niedersah. Die armen Dinger wurden sofort wieder von dem weichen, grünen Pfühle entfernt, an den sie sich behaglich geschmiegt hatten, und mit einer Strenge behandelt, als hätten sie sich eigenmächtig vorgedrängt.

Es hatte schon längst aus dem Lindhofer Kirchturme drei geschlagen, als Elisabeth den Berg hinabeilte. Der Onkel hatte sie im Gespräche festgehalten; er war unwirsch darüber daß sie der Einladung folgen wollte. »Denn,« meinte er, und zwar nicht mit Unrecht, »das arme Wesen, welches heute eingesenkt werden soll, verdiene es schon, daß man wenigstens einen Tag seinem Andenken allein weihe.« Er hatte freilich keine Ahnung von dem, was in dem Herzen des jungen Mädchens vorging. Er wußte nicht, daß sein kleiner Liebling in den letzten Tagen sehnsüchtig Stunde auf Stunde gezählt hatte, deren jede den Augenblick ja näher rücken mußte, da es heißen würde. »Er ist wieder da!« und mußte es erleben, daß sein sonst so gehorsames Herzblatt unter seinen Händen wegschlüpfte und wie ein Sturmwind durch das Mauerpförtchen flog.

Ihre Füße berührten kaum die Erde. Sie hoffte, durch rasches Laufen den Zeitverlust einigermaßen zu ersetzen, aber beinahe hätte sie Thränen der Ungeduld vergossen, als zum Ueberflusse auch noch ihr leichtes Kleid an einer wilden Rosenhecke hängen blieb und mit sehr vorsichtiger Hand und vieler Langmut losgemacht werden mußte. Fast atemlos erreichte sie den Pavillon. Beide Flügel der Thür standen offen, der Salon war noch leer. Auf dem Tische war eine Auswahl von Erfrischungen, und die eine Ecke im Sofa für Helene bequem hergerichtet.

Mit erleichtertem Herzen trat Elisabeth ein und lehnte sich an eines der hinteren Fenster, vor welchem sich die dichte Buschwand hinzog, als sie ein leises Geräusch hinter sich hörte . . . Hollfeld hatte hinter einem der vorstehenden Thürflügel gestanden und näherte sich ihr. Sie wollte sofort den Salon wieder verlassen, ohne den Verhaßten eines Blickes zu würdigen; er trat ihr jedoch in den Weg, wenn auch durchaus nicht in unbescheidener Weise, es lag vielmehr etwas Unterwürfiges und Ehrerbietiges in seiner Haltung, und versicherte, die Damen würden gleich erscheinen. Elisabeth sah erstaunt auf, da war auch nicht der leiseste Rest jenes frechen Tons in seiner Stimme zu bemerken, der ihr neulich jeden Blutstropfen empört hatte.

»Ich gebe Ihnen mein Wort, daß Fräulein von Walde jeden Augenblick kommen muß!« beteuerte er, als sie abermals den Versuch machte, in die Thür zu treten. »Ist Ihnen denn meine Gegenwart hier gar so schrecklich?« fügte er leiser mit einem Anfluge von Trauer hinzu.

»Allerdings,« entgegnete Elisabeth kalt und rückhaltlos, »wenn Sie sich Ihres neulichen Benehmens gegen mich erinnern, so werden Sie wissen, daß es mir unerträglich sein muß, auch nur einen Augenblick mit Ihnen allein zu sein.«

»Wie hart und unversöhnlich klingt das! . . . Soll ich den kleinen, unbedachten Scherz wirklich so grausam büßen?«

»Ich rate Ihnen, künftig vorsichtiger zu sein in der Wahl der Leute, mit denen Sie scherzen wollen.«

»Mein Gott, ich sehe ja ein, daß es ein Mißgriff war, ich schäme mich dieser Uebereilung . . . wie hätte ich aber auch ahnen können –«

»Daß man mir Achtung schuldig sei!?« unterbrach ihn Elisabeth mit flammenden Augen.

»Nein, nein . . . das habe ich gar nicht bezweifelt. Gott, wie Sie heftig werden können! Aber ich konnte doch wahrhaftig nicht wissen, daß Ihnen das Recht zusteht, weit, weit mehr zu beanspruchen.«

Elisabeth sah ihn fragend an; sie verstand ihn offenbar nicht.

»Kann ich mehr thun, als Sie kniefällig um Verzeihung zu bitten?« fuhr er fort.

»Die soll Ihnen werden unter der Bedingung, daß Sie mich sofort allein lassen.«

»Hartnäckiger Trotzkopf, der Sie sind! . . . Ich wäre ein Thor, wenn ich den kostbaren Augenblick vorübergehen lassen wollte . . . Elisabeth, ich habe Ihnen bereits gesagt, daß ich Sie glühend liebe, liebe bis zum Sterben!«

»Und ich bin mir bewußt, Ihnen sehr deutlich erklärt zu haben, daß mir dies sehr gleichgültig ist.« Sie fing an zu zittern; nichtsdestoweniger blieb ihr Blick fest und ruhig.

»Elisabeth, treiben Sie mich nicht zum äußersten!« rief er aufgeregt.

»Vor allem muß ich Sie ersuchen, die einfachste Höflichkeitsform festzuhalten, die uns gebietet, Fremde nicht mit dem Eigennamen anzureden.«

»Sie sind ein Satan von Kälte und Bosheit!« rief er bebend vor Zorn. »Nun, ich gebe zu, daß Sie einen Schein von Berechtigung haben, mich zu quälen,« fügte er, sich mühsam bezwingend hinzu, »ich habe mich gegen Sie vergangen, aber ich will ja alles wieder gutmachen . . . Hören Sie mich nur einen Augenblick ruhig an, und Sie werden mir Ihre Härte sicher abbitten . . . Ich biete Ihnen hiermit meine Hand. Sie werden wissen, daß ich im stande bin, meiner künftigen Frau, was Rang und Vermögen betrifft, eine glänzende Existenz zu bereiten.«

Mit einem triumphierenden Lächeln sah er auf sie nieder. Es war ja so natürlich, daß seine schöne Widersacherin diese beglückende Wendung nicht vermutet hatte, sie mußte wohl starr sein vor freudiger Ueberraschung, aber das geschah unerhörterweise nicht, Elisabeth richtete sich vielmehr stolz auf und trat einen Schritt zurück.

»Ich bedauere, Herr von Hollfeld,« sagte sie mit ruhiger Würde, »Sie hätten sich selbst einen unangenehmen Moment ersparen können. Nach allem, was ich Ihnen bis jetzt gesagt habe, fasse ich kaum, daß Sie noch ein solches Wort aussprechen mögen . . . Da Sie mich denn durchaus zwingen, so erkläre ich Ihnen hiermit, daß unsere Wege weit auseinandergehen –«

»Wie!«

»Und daß ich mich nie entschließen könnte, an Ihrer Seite zu leben.«

Er starrte sie einen Moment an, wie geistesabwesend, oder wie gänzlich unfähig, ihre Worte aufzufassen. Seine Gesichtsfarbe wurde grünlich, und seine weißen Zähne gruben sich in die Unterlippe.

»Und Sie treiben wirklich die Komödie so weit, mir eine solche Antwort zu geben?« frug er endlich mit ungewisser, fast heiserer Stimme.

Elisabeth lächelte verächtlich und wandte sich ab. Diese Bewegung brachte ihn fast zur Wut.

»Die Gründe, die Gründe will ich wissen!« stammelte er und trat abermals zwischen Elisabeth und die Thür, nach der sie zustrebte. Er haschte mit der Hand nach ihrem Kleide, um sie festzuhalten. Sie erschrak vor dieser Bewegung und wich einige Schritt tiefer ins Zimmer zurück.

»Lassen Sie mich!« rief sie mit fliegendem Atem; die Angst erstickte ihr fast die Stimme, trotzdem raffte sie ihren ganzen Mut noch einmal zusammen und hob den Kopf stolz und gebieterisch. »Wenn denn nicht ein Funken von Ehre in Ihnen ist, an den ich appellieren kann, so sehe ich mich gezwungen, auch meine Waffen zu gebrauchen, indem ich Ihnen sage, daß ich Sie tief, tief verachte, daß ich Ihren Anblick hasse; nicht das Zischen einer Schlange könnte mir mehr Abscheu und Schrecken einflößen, als Ihre Worte, mit denen Sie meine Zuneigung zu erringen hoffen . . . Niemals hat auch nur die leiseste Regung in mir zu Ihren Gunsten gesprochen; aber selbst, wenn es der Fall gewesen wäre, sie hätte sofort erstickt werden müssen durch Ihr verachtungswürdiges Betragen gegen mich . . . Lassen Sie mich jetzt ruhig gehen und –«

Er ließ sie den Satz nicht vollenden. »Das werde ich wohl bleiben lassen,« knirschte er wütend. Sein vorher so bleiches Gesicht glühte, die Augen rollten, er war außer sich vor Leidenschaft und stürzte auf sie zu wie ein Raubtier. Sie floh zu dem Fenster, weil sie die Thür nicht zu erreichen vermochte, und versuchte, den Flügel aufzureißen, um über die sehr niedrige Brüstung hinauszuspringen, aber wie angefesselt vor Schrecken haftete plötzlich ihr Fuß am Boden. Draußen aus dem Buschwerke, dicht an den Scheiben, starrte ein schreckliches Gesicht. Die todbleichen Züge verzerrten sich in einem höhnischen Grinsen, und aus dem Auge, das sich stier in das Gesicht des jungen Mädchens bohrte, glühte der Wahnsinn . . . Elisabeth erkannte mit Mühe die stumme Bertha; sie schüttelte sich vor Entsetzen und wich zurück. Hollfelds Arme fingen sie auf und umklammerten sie mit eiserner Gewalt; blind vor Aufregung, bemerkte er die Erscheinung vor dem Fenster nicht. Elisabeth drückte die eiskalten Hände auf ihre Augen, um das entsetzliche Gesicht draußen nicht zu sehen; sie fühlte den heißen Atem ihres Peinigers über ihre Finger hinstreifen, sein Haar berührte ihre Wange, sie schauderte, aber alle physischen Kräfte versagten ihr buchstäblich; das zwiefache Entsetzen hatte sie momentan gelähmt, nicht einmal ein Laut entrang sich ihrer Kehle . . . Bei Hollfelds Anblick erhob Bertha drohend die festgeballten Hände und richtete sie gegen die Scheiben, um das Glas zu zerschmettern; doch plötzlich wandte sie den Kopf seitwärts, als lausche sie auf ein Geräusch; sie ließ die Hände sinken, stieß ein grelles Lachen aus und entfloh in das Gebüsch.

Das alles war das Werk weniger Augenblicke gewesen. Infolge des häßlichen Geschreies sah Hollfeld erschreckt auf. Einen Moment versuchte sein Auge, in das Gebüsch zu dringen, wo Bertha verschwunden war, aber gleich darauf kehrte es wieder zurück auf die Gestalt, die er in seinen Armen hielt, und die er nur um so fester an seine Brust drückte. Seine ängstliche Vorsicht, sein heuchlerisches Bestreben, seine niedrigen Neigungen vor dem Auge der Welt zu verbergen, waren in diesem Augenblicke völlig von ihm gewichen. Er dachte nicht daran, daß die Zeit da war, wo Helene kommen sollte; durch die weit offene Thür konnten jeden Moment der Gärtner oder einer von der Dienerschaft hereinsehen, er lag völlig im Banne seiner Leidenschaft und bemerkte deshalb nicht, daß Fräulein von Walde in der That am Arme ihres Bruders auf der Thürschwelle stand; hinter ihnen erschien die Baronin mit langem Halse und einem nicht zu verkennenden Ausdrucke heftigen Unwillens.

»Emil!« rief sie mit zornbebender Stimme. Er fuhr empor und sah mit wirren Blicken um sich; unwillkürlich öffneten sich seine Arme, Elisabeth ließ die Hände von den Augen fallen und faßte taumelnd nach der nächsten Stuhllehne. Diesmal klang ihr die harte, abscheuliche Stimme der Baronin süß wie Musik, denn von ihr kam ja die Hilfe . . . Und dort stand die hohe, männliche Gestalt, deren Anblick sofort ihre stockenden Pulse lebendig klopfen machte. Sie hätte sich ihm zu Füßen werfen und bitten mögen. »Schütze mich vor jenem dort, den ich fliehe und verabscheue wie die Sünde!« Aber welch ein Blick fiel auf sie! . . . Kam dieser niederschmetternde Strahl in der That aus jenem Auge, das erst vor wenig Tagen mit so wunderbar süßinnigem Ausdrucke das ihre gesucht hatte? War jene Erscheinung mit dem streng zurückgeworfenen Kopfe und der todbleichen eisernen Stirn jener Mann, der sich damals über sie geneigt und in unsäglich weichem Klange die Worte gesprochen hatte. »Ihnen möge unterdes mein guter Engel den Namen jenes Wunderreiches zuflüstern!« . . . Er selbst stand dort wie ein böser Engel, der gekommen ist, zu rächen, zu vernichten und ein armes, zuckendes Menschenherz zu zertreten.

Helene, die wie angemauert oder leblos auf die Szene in der Tiefe der Zimmers geblickt hatte, zog plötzlich hastig ihren Arm aus dem ihres Bruders und wankte auf Elisabeth zu; sie war keinen Augenblick im Zweifel, daß Hollfelds Werbung geglückt und der Bund geschlossen sei.

»Seien Sie mir tausendmal willkommen, liebe Elisabeth!« rief sie in heftiger Bewegung, während Thränenströme aus ihren Augen stürzten; sie nahm die zitternden Hände des jungen Mädchens zwischen die ihren. »Emil führt mir in Ihnen eine liebe Schwester zu; haben Sie mich lieb als eine solche, ich werde Ihnen lebenslänglich dafür dankbar sein . . . Sei nicht so finster, Amalie,« wandte sie sich bittend zurück nach der Baronin, die noch immer wie eine Bildsäule außerhalb des Pavillons stand, »es gilt ja Emils ganzes Lebensglück . . . Sieh dir Elisabeth an. Kann sie nicht alle Ansprüche erfüllen, die du mit Recht an diejenige stellst, welche dir in Zukunft so nahe stehen soll? Jung, von der Natur reich ausgestattet, aus alter Familie mit berühmtem Namen –«

Sie hielt erschrocken inne. Es war, als kehre erst jetzt das Leben in Elisabeths erstarrte Glieder zurück, als sei sie erst in diesem Momente fähig, das, was gesprochen wurde, aufzufassen. Mittels einer raschen Bewegung hatte sie Helene beide Hände entzogen und stand plötzlich hoch aufgerichtet neben ihr.

»Sie irren, gnädiges Fräulein,« sagte sie in eigentümlich vibrierendem Tone, »ich bin eine Bürgerliche.«

»Wie, haben Sie nicht das festbegründete Recht, den Namen von Gnadewitz zu führen?«

»Ja, unzweifelhaft, aber wir lassen dieses Recht fallen.«

»Sie würden in Wirklichkeit ein solches Glück mit dem Fuße fortstoßen?«

»Ich kann nicht einsehen, wie das wahre Glück sich an einen Klang, einen Schall knüpfen soll.« Man hörte deutlich, wie sie rang, um ihrer tonlosen Stimme Festigkeit zu geben.

Die Baronin war indessen näher getreten. Sie fing an, zu begreifen, was hier vorging. Innerlich war sie wütend, daß ihr Sohn eine Wahl getroffen hatte, ohne auch nur im entferntesten um ihren mütterlichen Rat, ihre Einwilligung zu fragen; ferner war und blieb der Gegenstand dieser Wahl für sie ein verhaßtes Wesen. Allein sie wußte recht gut, daß ihr Einspruch höchstens ein mitleidiges Achselzucken, eine spöttische Miene ihres Sohnes hervorrufen und ihn erst recht in seinem Vorhaben bestärken würde; auch fiel es für sie und ihre eigenen Interessen schwer ins Gewicht, daß Helene die Sache in die Hand genommen hatte und dieselbe mit einer Art von enthusiastischem Opfermute durchführen zu wollen schien. Wenn auch völlig im unklaren über die Motive dieser höchst merkwürdigen Thatsache, fühlte sie doch instinktmäßig, daß hier kein Nachteil zu befürchten sei, und deshalb entschloß sie sich rasch, obschon mit grollendem Hetzen, gute Miene zum bösen Spiele zu machen und die Rolle der verzeihenden und segnenden Mutter zu spielen. Elisabeths Antworten verschlossen ihr jedoch plötzlich wieder den Mund. Die Hoffnung tauchte in ihr auf, daß das Mädchen durch seinen Eigensinn die Sache selbst verderben würde, und dann galt es, Oel ins Feuer zu gießen.

»Da stoßen wir auf einen spießbürgerlichen Begriff, meine Liebe«, sagte sie zu Helene, die Elisabeths Erwiderung ganz bestürzt gemacht hatte. »Sie mögen indes jedenfalls Ihre triftigen Gründe haben, das Licht der höheren Regionen zu scheuen,« fuhr die Dame in beißendem Tone zu Elisabeth gewendet fort.

»Ich habe durchaus keine Ursache, das Licht zu fliehen,« entgegnete diese, bei weitem ruhiger und beherrschter sprechend, als zuvor, »es müßte mir denn plötzlich unvermutete häßliche Fehler meines Charakters zeigen, wie es die Flecken auf jenem Wappenschild grell beleuchtet . . . Aber wir lieben unseren Namen, weil er rein und ehrlich ist, und wollen dies fleckenlose Erbteil nicht vertauschen gegen ein Gut, das sich aus den Thränen und dem Schweiße anderer groß genährt hat!«

»Gott, wie erhaben!« rief die Baronin höhnisch lachend.

»Das kann Ihr Ernst nicht sein, Elisabeth,« sagte Helene. »Vergessen Sie nicht, daß an diesem Ausspruche das Lebensglück zweier Menschen hängt.« Sie warf dem jungen Mädchen einen vielsagenden Blick zu, der aber begreiflicherweise nicht verstanden wurde. »Sie müssen nun einmal in die Sphäre, der Sie von nun an angehören sollen, einen adligen Namen mitbringen; das wissen Sie so gut wie ich und werden um einer Grille willen nicht Ihre eigenen Hoffnungen und die anderer zerstören wollen.«

»Aber ich bin völlig unfähig, Sie zu verstehen!« rief Elisabeth aufgeregt. »Es fällt mir gar nicht ein, irgend eine Hoffnung mit jenem Namen in Verbindung zu bringen; am allerwenigsten aber begreife ich, wie die Wünsche oder das Geschick anderer abhängen sollten von dem Entschlusse eines so unbedeutenden armen Mädchens wie ich bin.«

»Sie sind nicht arm, liebes Kind,« erwiderte Helene. »Kommen Sie,« fuhr sie tief bewegt fort, »wir sind von heute an treue Schwestern! . . . Nicht wahr, lieber Rudolf,« wandte sie sich nicht ohne Verlegenheit an ihren Bruder, »auch du heißest Emils Braut willkommen in unserer Familie und erlaubst, daß ich schwesterlich mit ihr teile?«

»Ja,« klang es dumpf, aber fest herüber.

Elisabeth fuhr mit der Hand nach der Stirn, es klang so unglaublich, was sie eben gehört hatte . . . »Emils Braut« hatte Fräulein von Walde gesagt, und das sollte sie, sie sein – es war unmöglich. Hatten diese Menschen sich verschworen ihr einen fürchterlichen Schrecken einzujagen? . . . Und er, der wußte, daß sie Hollfeld verabscheue, er hielt zu jenen; er stand dort drüben mit untergeschlagenen Armen, ein Bild unerbittlicher Strenge und Zurückweisung. Er hatte die ganze Zeit unbeweglich gestanden und jetzt nur die Lippen geöffnet, um das Ja auszusprechen, das von beinahe zermalmender Wirkung für das junge Mädchen war. Hatte er nicht früher selbst in der rauhesten Weise ein Entgegenkommen seines Retters ihr gegenüber zu verhindern gesucht? . . . Wie ein leuchtender Blitz fuhr es plötzlich bei diesem Gedanken durch ihre Seele. Sie war jetzt von Adel, das erklärte alles. Hollfelds Stammbaum wurde nicht mehr verunehrt durch die bürgerlich Geborene; daher die Bereitwilligkeit der Verwandten ihn in seiner Werbung zu unterstützen; daher Helenes Besessenheit bei ihrer Erklärung, daß sie den ihr zugefallenen Namen verschmähe . . . Wie es aber zusammenhing, daß alle bereits ein völliges Einvernehmen zwischen ihr und dem Verhaßten voraussetzten, das zu ergründen war ihr im Augenblicke unmöglich; denn ihre Gedanken wirbelten in einem unaussprechlichen Aufruhre durcheinander. Nur eines war ihr klar: daß sie augenblicklich ohne Rückhalt jenes Ansinnen zurückweisen müsse.

»Ich sehe mich einem Mißverständnisse gegenüber, dessen Entstehen ich mir nicht enträtseln kann,« nahm sie das Wort in fliegender Hast. »Es wäre wohl Herrn von Hollfelds Pflicht, hier Ausklärung zu geben; da er es jedoch vorzieht, zu schweigen, so sehe ich mich genötigt, auszusprechen, daß er nie und nimmer irgend welches Versprechen von mir erhalten hat!«

»Aber, liebes Kind,« sagte Helene zögernd und verlegen, »haben wir nicht vorhin bei unserem Eintritte mit eigenen Augen gesehen, daß –« sie brach ab.

Wie ein Donnerschlag trafen Elisabeth diese Worte. In ihrer reinen, unschuldigen Seele war auch nicht einen Moment die Furcht aufgetaucht, daß jener Augenblick des Schreckens und der Hilflosigkeit mißverstanden werden könne, und nun mußte sie zu ihrem höchsten Schmerze erfahren, daß er ein abscheuliches Licht auf sie geworfen hatte . . . Sie wandte sich noch einmal rasch um nach Hollfeld; doch schon der eine Blick auf ihn belehrte sie, daß sie von diesem Seite keine Genugtuung, keine Ehrenrettung zu hoffen habe. Er lehnte, den anderen Anwesenden den Rücken halb zuwendend, wie ein ertappter Schulknabe am Fenster. Wären die Damen allein gewesen, so hätte er sich ohne Zweifel durch ein freches Lügengewebe zu helfen gesucht; allein Herrn von Waldes Anwesenheit lähmte ihn vollständig. Er begnügte sich, in einem zweifelhaften Schweigen zu verharren, welches die verschiedenartigsten Deutungen zuließ.

»Gott im Himmel, wie schrecklich!« rief das junge Mädchen außer sich und rang die Hände. »Sie haben gesehen,« fuhr sie, das Gesicht schamhaft senkend, nach einem tiefen Atemholen fort, »wie ein wehrloses Mädchen vergebens gestrebt hat, die Zudringlichkeiten eines Ehrlosen zurückzuweisen . . . Die Versicherung meiner tiefsten Verachtung, meiner völligen Abneigung vermochten nicht, ihn zu verscheuchen. Ich habe Herrn von Hollfeld diese Gesinnungen stets unverhohlen gezeigt, trotzdem –«

Ein starkes Geräusch hinter ihr ließ sie plötzlich verstummen. Helene war in das Sofa zurückgesunken, ihre Rechte klammerte sich krampfhaft an die Tischecke und zitterte so heftig, daß das auf der Platte stehende Porzellangeschirr aneinanderklirrte. Das Gesicht der jungen Dame war aschfarben; ihr erlöschender Blick irrte hinüber zu Hollfeld . . . Vergebens bemühte sie sich, ihrer tödlichen Bestürzung Herr zu werden, das Licht, das plötzlich auf ein Netz häßlicher Intriguen fiel, war zu grell; sein Strahl hatte etwas von der vernichtenden Gewalt des Blitzes für das bis dahin arglos vertrauende Gemüt Helenes.

Obgleich selbst in höchster Aufregung und im Begriffe, ihrer Entrüstung noch weiteren Ausdruck zu geben, fühlte Elisabeth doch sofort ihr Herz in innigem Mitleiden schmelzen bei dem Anblicke der jungen Dame. Sie hatte, indem sie ihre Ehre vertrat, der Unglücklichen die Binde von den Augen gerissen; das that ihr schmerzlich leid um Helenes willen, wenn sie auch wußte, daß diese Enttäuschung doch früher oder später hätte erfolgen müssen. Rasch trat sie zu ihr und nahm die eiskalten Hände, die langsam vom Tische niederglitten, zwischen die ihrigen.

»Vergeben Sie mir, wenn ich Sie durch meine heftigen Worte erschreckt habe,« sagte sie bittend, aber fest. »Es wird Ihnen nicht schwer werden, sich in meine Lage zu versetzen . . . Einige erklärende Worte des Herrn von Hollfeld würden genügt haben, den unwürdigen Verdacht von mir zu nehmen. Ich würde dann nicht gezwungen gewesen sein, meine Ansicht über seinen Charakter und seine Handlungsweise so unumwunden auszusprechen . . . Ich bedauere, daß es geschehen mußte, aber ich kann kein Jota davon zurücknehmen.«

Sie küßte Helenes Hände und verließ schweigend den Pavillon. Es war ihr, als strecke Herr von Walde hastig die Hand nach ihr aus, als sie an ihm vorüberschritt, aber sie sah nicht auf.

Draußen verfolgte sie den schmalen, gewundenen Pfad, der durch ein kleines Gehölz nach dem Teiche mündete; sie schritt über den großen Kiesplatz am Schlosse vorüber und betrat den engen Waldweg, der nach dem Nonnenturme führte, ohne zu wissen, wo sie sich befand, ohne daran zu denken, daß sie sich immer weiter vom Heimwege entferne.

Sie war in einer unaussprechlichen Gemütsaufregung. Wie ein Sturm brauste es durch ihr Gehirn . . . Hollfelds Heiratsantrag, seine maßlose Leidenschaft, Berthas plötzliche Erscheinung am Pavillonfenster, die unbegreifliche Thatsache, daß Helene sie freudig als die Braut dessen begrüßt hatte, den sie selbst leidenschaftlich liebte, dies alles flog immer und immer wieder an ihr vorüber, und dazwischen klang schneidend das »Ja« des Herrn von Walde . . . Er hätte sie also willkommen geheißen als Hollfelds Braut . . . es würde ihn nicht die geringste Ueberwindung gekostet haben, sie an der Seite seines Retters zu sehen! . . . Diese Heirat war ohne Zweifel im Familienrate beschlossen worden. Herr von Walde hatte mit kalt prüfendem Verstande das Für und Wider erwogen und war schließlich mit seiner Schwester darin übereingekommen, daß Emils Auserwählte jetzt die Geschlechtstafel derer von Hollfeld nicht mehr verunehre; man wolle sie in Gnaden annehmen und einem Mangel der Braut, ihrer Armut, großmütig aus eigenen Mitteln abhelfen.

Bei diesem Gedanken biß Elisabeth die Zähne heftig aufeinander, wie bei einem starken körperlichen Schmerze. Eine unaussprechliche Bitterkeit erfüllte ihr Gemüt, dessen tiefsinnige Neigung unverstanden zertreten worden war von jenem kalt berechnenden, eingefleischten Aristokraten . . . Wie hatte sie nur hoffen können, daß er je Sympathie fühlen könne für ein warmpulsierendes weibliches Herz, für eine junge Seele, die, nach Freiheit ringend, keinen Raum gab jenen engherzigen, oft so lächerlichen Satzungen der Menschen? . . . er, der nur in Moder und Schutt alter Geschlechter den Nimbus und die Vorzüge der Frau suchte?

Sie blieb manchmal in Gedanken versunken stehen; dann schritt sie wieder hastig, wie von ihrem Gedankenstrome getrieben, weiter, ohne zu bemerken, daß sie denselben Weg verfolgte, den sie vor wenigen Tagen an seiner Seite voll Scheu und Angst betreten hatte. Die vorstehenden Zweige der Büsche schlugen an ihre Stirn; sie dachte nicht daran, daß er sie neulich vorsorglich weggebogen hatte, wenn sie ihr Gesicht bedrohten . . . Noch war das Buschwerk eingeknickt, und abgestreifte Blätter lagen welkend am Boden, da, wo Fräulein von Quittelsdorf und Hollfeld sich Bahn gebrochen hatten zu den zwei einsam Wandelnden. Das war auch die Stelle, wo der halbvollendete Glückwunsch souffliert worden war; Elisabeth glitt achtlos vorüber, und das war gut, denn ihr heißes Auge hatte keine Thränen, und hier war der Ort, wo sie sicher ihr ganzes Herz hätte ausweinen mögen.

Endlich sah sie sich erstaunt um. Sie stand vor dem Nonnenturme. Sie war vielleicht das erste menschliche Wesen, das den Festplatz wieder betrat, seit ihn die letzten Gäste oder die müde Schloßdienerschaft neulich nachts verlassen hatte.

Es sah wüst und unordentlich aus auf dem kleinen Plane, der auch nicht ein aufrechtstehendes Grashälmchen mehr zeigte; alles war niedergetreten worden beim Tanze, der sonach kein Elfenreigen gewesen sein mochte. Die zwei Tannen, die das Marketenderzelt getragen hatten, lagen hingestreckt am Boden, auf einem Gemische von Flaschenscherben und den Ueberresten eines in der Nähe abgebrannten Feuerwerkes, und droben hingen noch die zusammengeschrumpften Guirlanden zwischen Turm und Eichen, ein leiser Luftzug strich flüsternd über die dürren Blumenhäupter, die, fest aneinander gepreßt und hoch in der Luft schwebend, über einem Zusammenflusse von Genüssen hatten verschmachten müssen.

Eine leichte Dämmerung webte bereits unter den Eichen, wenn auch noch ein goldiger Schein auf ihren Wipfeln und über der grauen Zinne des Turmes gaukelte.

Elisabeth fühlte plötzlich, leicht zusammenschauernd, ihr Alleinsein mitten im Herzen des todstillen, dunkelnden Waldes; trotzdem zog es sie noch einmal unwiderstehlich nach jener Stelle, wo Herr von Walde von ihr Abschied genommen hatte. Sie schritt über den zerstampften Rasenplatz, blieb aber einen Augenblick wie festgewurzelt stehen; denn der Abendwind trug einzelne, abgebrochene Töne einer menschlichen Stimme zu ihr herüber. Anfänglich klang es wie ein ferner, vereinzelter Hilferuf, aber allmählich reihten sich die Töne aneinander, sie kamen rasch näher. Es war eine schneidend scharfe, gellende, weibliche Stimme, die ein geistliches Lied mehr schrie als sang. Elisabeth hörte deutlich, daß das Wesen während des Singens schnell vorwärts lief.

Plötzlich zerriß die Melodie und an ihre Stelle trat ein entsetzliches Gelächter, oder vielmehr ein Geschrei, das eine Skala von Hohn, Triumph und bitteren Qualen bildete.

Eine schlimme Ahnung stieg in Elisabeth auf. Ihr Blick tauchte erschreckt in das Baumdunkel nach der Richtung hin, wo der Lärm sich näherte. Er verstummte in diesem Augenblicke jedoch wieder, und die Stimme begann das Lied von neuem . . . jetzt aber kam sie wie im Sturmschritte heran.

Elisabeth trat in die offene Thür des Turmes, denn sie mochte der wandernden Sängerin, die offenbar ein unheimliches Wesen sein mußte, nicht in den Weg kommen; allein kaum hatte sie die Schwelle überschritten, als das Gelächter abermals und zwar sehr nahe erscholl.

Jenseits des Rasenplatzes stürzte Bertha aus dem Walddickicht hervor, ihr zur Seite lief Wolf, der grimmige Hofhund des Oberförsters.

»Wolf, faß an!« kreischte sie, beide Hände nach Elisabeth ausstreckend. Das Tier jagte heulend über den Platz.

Elisabeth warf die Thür ins Schloß und lief die Treppe hinauf. Sie gewann einen Vorsprung, aber noch ehe sie die Zinne des Turmes erreicht hatte, wurde drunten die Thür aufgestoßen. Der keuchende Hund stürzte herauf, ihm nach die Wahnsinnige, indem sie unausgesetzt ihren hetzenden Zuruf wiederholte.

Atemlos erreichte die Verfolgte die letzte Stufe, sie hörte das Schnauben des ungebärdigen Tieres hinter sich – es war ihren Fersen nahe –, warf mit der letzten Kraftaufwendung die eichene Thür zu, die auf das Plateau führte, und stemmte sich dagegen.

Einen Augenblick darauf rüttelte Bertha drinnen am Thürschlosse, es wich nicht. Sie tobte und warf sich wütend mit der ganzen Schwere ihres Körpers gegen die eichenen Bohlen, während Wolf abwechselnd heulend und knurrend an der Schwelle kratzte.

»Bernsteinhexe da draußen!« schrie sie. »Ich drehe dir den Hals um . . . Ich werde dich bei deinen gelben Haaren nehmen und dich durch den Wald schleifen! . . . Du hast mir sein Herz gestohlen, du Mondscheingesicht, du Tugendspiegel, Scheinheilige! Wolf, faß an, faß an!«

Der Hund winselte und schlug mit den Tatzen gegen die Thür.

»Zerreiße sie in Stücke, Wolf, schlage deine Zähne in ihre weißen Finger, die ihn behext haben mit der Musik, die vom Teufel kommt! . . . Wehe, wehe! Verdammt seist du da draußen, verdammt seien die Töne, die deine Finger hervorbringen; sie sollen zu giftigen Mordspitzen werden, die sich gegen dein eigenes Herz wenden und es zerfleischen!«

Abermals warf sie sich gegen die Thür. Das alte Brettergefüge erzitterte und ächzte, aber es wich nicht unter den Stößen des kleinen ohnmächtigen Fußes.

Elisabeth lehnte währenddem mit festgeschlossenen Lippen und bleichem Gesichte draußen. Sie hatte ein Stück Holz, das zu ihren Füßen lag, ergriffen, um sich nötigenfalls gegen den Hund zu verteidigen. Bei den Flüchen und Verwünschungen, die Bertha ausstieß, erbebte ihr ganzer Körper, doch sie richtete sich um so entschlossener und trotziger auf.

Hätte sie einen prüfenden Blick auf das Thürschloß geworfen, so würde sie gemerkt haben, daß das Anstemmen ihrer zarten Gestalt ganz unnötig sei, denn ein mächtiger Riegel war vorgesprungen, gegen den die schwache Kraft der Wahnsinnigen nichts auszurichten vermochte.

»Wirst du wohl aufmachen?« tobte sie wieder drinnen. »Du durchsichtiges, zerbrechliches Ding! . . . Ha, ha, ha! Goldelse nennt sie der alte Brummbär den ich hasse, wie das Gift; der Alte will durchaus nicht fromm werden, er mag zur Hölle fahren, aber ich werde selig sein, selig! . . . Goldelse nennt er sie, weil sie bernsteingelbes Haar hat! Pfui, wie bist du häßlich, du Füchsin . . . Mein Haar ist schwarz, wie ein Rabenflügel. Ich bin schön, tausendmal schöner, als du! Hörst du das, du Affengesicht da draußen?«

Sie schwieg erschöpft, auch Wolf unterbrach sein Zerstörungswerk an der Schwelle.

In demselben Augenblick zog fernes Glockengeläute durch die abendstillen Wipfel des Waldes. Elisabeth wußte, was es bedeutete. Aus den Ruinen der alten Burg Gnadeck bewegte sich eben ein Leichenzug den Berg herab. Lilas sterbliche Ueberreste verließen das Haus, gegen dessen Mauern einst das schöne Zigeunerkind verzweifelnd die Stirn geschlagen hatte. Sie wurde durch den grünen Wald getragen, um deswillen vor zwei Jahrhunderten ihr Herz gebrochen war.

Auch Bertha schien den Glockentönen zu lauschen. Sie regte sich nicht.

»Sie läuten!« schrie sie plötzlich. »Komm, Wolf, wir wollen in die Kirche gehen . . . Sie muß droben bleiben bei den Wolken, die werden des Nachts über sie herstürzen, der Sturm reißt an ihren Haaren, und die Raben werden kommen und nach ihren Augen hacken, denn sie ist verflucht, verflucht.«

Gleich darauf begann sie das Lied wieder. Ihre schreckliche Stimme schlug grauenhaft gegen die engen Wände des Treppenhauses. Polternd lief sie hinab und trat unten aus der Thür. Sie sprang singend über den Plan, nach derselben Richtung, woher sie gekommen war, der Hund trabte nebenher. Nicht ein einziges Mal drehte sie sich um nach dem Turme; nun sie ihn im Rücken hatte, schien sie bereits nicht mehr zu wissen, daß da droben hinter dem grauen Steingeländer der Gegenstand ihres Hasses stehe. Noch einmal tauchte ihr hochroter Rock aus dem dunkelnden Gebüsch auf, dann verschwand die Gestalt samt ihrem schrecklichen Begleiter. Allmählich verhallte auch ihr Gesang und bald trug die weiche Luft nur noch das Geläute zu der Einsamen auf der Turmzinne.

Sie verließ aufatmend ihren Verteidigungsposten, den sie mechanisch noch inne behalten hatte, und griff nach dem Thürschlosse, aber der alte, eingerostete Knauf blieb so unbeweglich, wie unter Berthas Händen. Mit Schrecken entdeckte sie den vorgesprungenen Riegel, er hatte sie freilich wacker geschützt und verteidigt, indes hielt er sie auch gefangen. Er rührte sich nicht von der Stelle bei allen Versuchen und Anstrengungen; ermattet und mutlos ließ das junge Mädchen endlich die Hände sinken.

Was nun anfangen? Angstvoll dachte sie an ihre Eltern, die gewiß schon in diesem Augenblicke sich um ihr Ausbleiben beunruhigten, denn sie hatte ja selbstverständlich der Beisetzung beiwohnen wollen.

Um sie her scharten sich die gewaltigen Häuser des Waldes, hier und da noch rosig betupft von einem verblassenden, letzten Sonnenstrahle. Weit, weit da drüben schloß sich erst ein lichter Streifen an die dunkeln Massen, dort lag L. mit seinem stolzen, hochgelegenen Schlosse, dessen lange Fensterreihe eben noch einmal feurig aufblitzte und dann erlosch . . . Und dort türmte sich der Berg mit den Gnadecker Ruinen, aber der Wald verbarg die traute Heimat; nicht einmal die weithin sichtbare Fahnenstange war von hier aus zu entdecken.

Die Hoffnung, gesehen zu werden, gab Elisabeth sofort auf, und ihr schwacher Hilferuf, das sagte sie sich ebenfalls, mußte ungehört verhallen, denn der Turm lag ja so tief versteckt im Forste, keine belebte Fahrstraße führte in der Nähe vorüber, und wer betrat wohl bei hereinbrechendem Abende noch die stillen Wege, die kein anderes Ziel hatten, als den Nonnenturm?

Trotzdem machte sie einen Versuch und schickte einen Ruf hinaus in die Lüfte. Wie schwach klang er! Es kam ihr vor, als hätten ihn die nächsten Baumkronen eingesogen; er hatte nur einige Raben in der Nähe aufgeschreckt, die nun krächzend über dem Haupte des jungen Mädchens wegflogen, dann war es wieder still, schaurig still. Die Lindhofer Kirchenglocken waren verstummt. Im Westen glimmte ein schwaches Rot, einige kleine Wölkchen zart besäumend, der Wald aber lag bereits im tiefen Abendschatten.

Ratlos schritt Elisabeth aus dem Plateau des Nonnenturmes hin und her. Manchmal blieb sie an einer Ecke stehen, in deren Richtung das Lindhofer Schloß liegen mußte – denn das war dem Nonnenturm noch am nächsten – und erhob ihre Stimme zu erfolglosen Hilferufen. Endlich gab sie die Bemühung auf und setzte sich auf die Bank, welche, in die äußere Mauer des Treppenhauses eingefügt, von dem überstehenden Schieferdache desselben so ziemlich gegen Wind und Wetter geschützt wurde.

Sie fürchtete nicht, die Nacht hier oben zubringen zu müssen, denn es lag wohl auf der Hand, daß man sie im Walde suchen würde. Bis man sie in ihrer Haft entdeckte, welche Stunden qualvoller Ungewißheit und Befürchtungen mußten die Ihrigen durchleben!

Dieser Gedanke ängstigte sie unbeschreiblich und steigerte ihre nervöse Aufregung. Alle heute empfangenen Eindrücke waren ja so schrecklicher Art gewesen, und sie mußte alles allein, ohne jedwede Stütze, als die ihrer eigenen moralischen Kraft, durchkämpfen . . . Noch zitterten ihre Kniee infolge des letzten Angstmomentes . . . Was mochte Berthas plötzlichen Wahnsinn zum Ausbruche gebracht haben? Sie hatte von einem Herzen gesprochen, das Elisabeth ihr geraubt habe; war wirklich, wie die Mutter in der letzten Zeit öfters die Vermutung ausgesprochen hatte, Hollfeld in die dunkle Geschichte verwebt?

Bei dem Gedanken an ihn tauchten alle die schmerzlichen Empfindungen wieder auf, die ihr Inneres heute durchstürmt hatten. Jetzt aber, wo sie still und unbeweglich an die Mauer gedrückt dasaß, dem dunkelnden Himmel näher gerückt, kein Zeichen des Lebens um sich fühlend, als das Wehen der feuchten Nachtluft, die schmeichelnd über ihr heißes Gesicht strich, jetzt brach der finstere Trotz, mit welchem ihr zertretenes Herz sich zu waffnen gesucht hatte, und ihre Augen wurden feucht . . . Es war nun alles, alles vorüber; sie hatte heute mit den Bewohnern von Lindhof gebrochen für alle Zeiten! Helene hatte sie ihr Ideal geraubt, und Herrn von Walde, der gewähnt hatte, sie mit seiner in Gnaden gewährten Einwilligung zu beglücken, ihm hatte sie diese Gabe vor die Füße geworfen . . . sie hatte ohne Zweifel seinen Stolz tief verwundet. Wahrscheinlicherweise sah sie ihn nie wieder; er reiste fort und war froh, draußen den unangenehmen Eindruck los zu werden, welchen ihm das undankbare Benehmen der armen Klavierspielerin gemacht hatte.

Sie bedeckte das Gesicht mit beiden Händen, und die Thränen drangen zwischen den schmalen, weißen Fingern hervor.

Inzwischen dämmerte die Nacht herein; es wurde jedoch nicht völlig dunkel. Die schmale Mondsichel stand am Himmel, und die anderen leuchtenden Wanderer traten hervor und wandelten ihre Bahn, nicht ahnend, daß der mit ihnen im All kreisende Planet, die Erde, Millionen kleiner Welten in sich schließt, deren jede ihre Höhen und Tiefen, ihre brausenden Meereswogen mit Ebbe und Flut, ihre gewaltigen Stürme, selten aber die heilige Stille des Friedens hat.

Im Turme wurde es lebendig. Aengstliches Stöhnen und leise Klagelaute drangen herauf. Es polterte schwerfällig auf der Treppe, schlug klatschend gegen die inneren Wände und klopfte an die Thür: die Eulen und Fledermäuse wollten ihre Abendbesuche machen und suchten vergebens den gewohnten Ausweg. Auch drunten im Walde knisterte und rauschte es; das Wild brach aus dem Dickicht und schritt in vollkommener Sicherheit über die Lichtung . . . Aus weiter Ferne, von Osten her, da, wo der Wald fast noch in unberührter Urwüchsigkeit und Wildheit in tiefe Thäler hinabstieg und an den jenseitigen Bergen ungebändigt wieder hinaufkletterte, klang bisweilen ein schwacher Knall herüber. Elisabeth schmiegte sich dann jedesmal leise erbebend fester an die Mauer, unter das schützende Vordach, als könne irgend ein unheimliches Augenpaar von dort herüber bis zu ihr dringen; die dort jagten, hatten gebrochen mit dem Gesetze.

Noch kam keine Hilfe. Ihre Sorge, daß sich die Eltern ängstigen könnten, war sonach ganz unbegründet gewesen. Auf alle Fälle vermuteten sie die Tochter noch im Schlosse, waren vielleicht sehr ungehalten über ihr Ausbleiben und warteten möglicherweise bis um zehn Uhr auf ihre Heimkehr. So konnte Mitternacht herankommen, bis man sie erlöste.

Es wurde empfindlich kühl. Fröstelnd zog sie die leichte Mantille über die Brust zusammen und schlang das Taschentuch um den Hals. Sie sah sich genötigt, die Bank zu verlassen und auf der Plattform hin und her zu gehen, um sich vor Erkältung zu schützen. Oefters bog sie sich über das Geländer und sah hinab.

Ueber die Lichtung wogten und wallten weißliche Streifen, wirbelten zusammen und flatterten zerrissen wieder auseinander; es waren die Nebel, die dem feuchten Waldboden entstiegen . . . Elisabeth dachte nicht mehr, wie bisher, an die buntschimmernde Pracht, an die Anmaßung und Eitelkeit, die sich vor wenigen Tagen da drunten gebläht hatten, nicht mehr an die vielen nichtigen Worte, die da gefallen sein mochten, und die ein Geschwirr hervorgebracht hatten, als stehe der Nonnenturm nicht auf altehrwürdigem, thüringischem Waldboden, sondern erhebe sich himmelstürmend an den Ufern des Euphrat. Aus den Dunstwogen tauchten die Schatten der Klosterfrauen auf mit starren, leidenschaftslosen Zügen, das ausgeglühte Herz unter dem lang herabfließenden Gewande, und die wächserne Stirn hinter der mattschimmernden Binde befreit von den unruhigen, marternden Gedanken, die den Weg zwischen Himmel und Welt unausgesetzt durchlaufen hatten und störrig immer wieder zurückgesunken waren auf die enge Erde voll Sünde und böser Lust . . .

Elisabeth dachte an jene finstere Zeit, da hier dunkle Mauern in die Lüfte stiegen, die Verbrechen eines adligen Mörders zu sühnen – kalte, starre Mauern, um den zu versöhnen, der uns das lebendige Wort gegeben hat, der der Urquell der warmen, ewigen Liebe ist! . . . Ob wohl all die geflüsterten Gebete der lebendig Begrabenen, all der Meßgesang und Orgelklang vermocht hatten, die Blutflecken hinwegzuspülen, die der Verbrecher hinauftrug zu den Füßen des Ewigen? . . . Nein, und abermals nein. Er läßt sich nicht Weihrauch streuen im Baalsdienste und ändert niemals seine ewigen Beschlüsse nach dem einsichtslosen Begehr seiner Kreaturen! . . .

Welch grauenvolles Stück Familiengeschichte derer von Gnadewitz erzählten die zerbröckelnden Mauerreste da drunten! . . . Und doch sollte ein Wesen, das sich seines Ringens und Strebens nach Tugend und geistigem Fortschreiten wohl bewußt war, erst Geltung erhalten in dem Augenblicke, da es jenen Namen tragen durfte? Es mußte erfahren, daß sein reines Leben als ein Nichts galt menschlicher Satzung gegenüber, die in der That ein Hirngespinst, ein Nichts war?

War der Aberglaube, der Hexen verbrannte, finsterer, als der Wahn der Geburtsbevorrechtigung, der, in seinen Konsequenzen wahrlich nicht weniger grausam als die Flamme des Scheiterhaufens, manche schöne, reiche Menschenseele erstickt? Jener Wahn, der schnöde entgegentritt der Absicht des Allgütigen, nach welcher alle seine Kinder gleich aus seiner Hand hervorgehen, gleich in der äußeren Gestalt, in ihrem Baue, in der Aufrüstung ihrer Sinneswerkzeuge, mit denen der König wie der Bettler auf gleiche Weise genießt oder leidet, gleich in der Beschaffenheit des Lichtfunkens, der diese äußere Hülle beseelt; oder wo wäre eine Seele, die selbst auf dem Gipfel menschlicher Vollkommenheit nicht ihre Schwächen hätte, und wo der gesunkenste Mensch, bei welchem unter dem Schutte der Verkommenheit nicht noch wenigstens eine gute Eigenschaft auftauchte? . . . Und er, der das Gepräge eines denkenden Geistes auf der ernsten Stirn trug, dessen Blick und Stimme, wenn auch selten, doch in einer Weichheit schmelzen konnten, wie sie nur aus einem Gemüte kommt, welches tiefen Erschütterungen zugänglich ist, auch er stand unter dem Einflusse jener starren Vorurteile? Die zerbrechliche Form stellte er über das unsterbliche Recht des Menschengeistes, nach welchem wir frei denken und handeln sollen? . . . Und war es nicht gerade das höchste und heiligste Gefühl des menschlichen Herzens, die Liebe, das so oft von jenem Systeme erbarmungslos zermalmt wurde? Hätte Elisabeth in der That Hollfeld geliebt, was wäre ihr Los gewesen, ohne jene Entdeckung? . . . Und wäre – ein schneidender Zug flog um die zuckenden Lippen des jungen Mädchens – in Herrn von Waldes Brust je eine Neigung für sie aufgetaucht, und er käme jetzt und böte ihr seine Hand? Schrecklicher Gedanke! Nie und nimmer würde sie neben ihm leben können in dem Bewußtsein, daß ihre unsägliche Liebe nur insoweit erwidert werde, als es die Konvenienz, alterssteife, verknöcherte Gesetze gestatteten. Einer solchen fortgesetzten Qual gegenüber verlor der Schmerz der Entsagung viel von seiner Furchtbarkeit.

Mit verfinstertem Blick trat Elisabeth in die Ecke des Geländers und sah hinüber nach dem Lindhofer Schlosse. Dort herrschte das tiefste Schweigen. Ueber der ärmlichsten Hütte des Dorfes, wie über dem stolzen Schloßbau flimmerte ein und derselbe Stern und schickte seinen milden Schein unparteiisch hernieder, oder fiel wirklich ein vereinzelter Strahl des roten Lichtes dort auf die Stelle, wo der Wald sich lichtete und in den Park auslief? Nein, der Schimmer stieg vom Boden auf und färbte, rasch in den dichten Wald eindringend und fortlaufend, schwachrötlich die Wipfel. Es war ohne Zweifel eine Fackel, die den schmalen Weg entlang getragen wurde, aus welchem auch Elisabeth bis zum Nonnenturm gelangt war.

Einmal blieb das Licht unbeweglich stehen, und in demselben Augenblicke drang ein ferner Ruf bis zu Elisabeth herüber. Sie sagte sich freudig, daß sich Hilfe nahe, daß sie gesucht werde, und erhob ihre Stimme zu einer Antwort, obwohl sie wußte, daß der schwache Laut die Rufenden nicht erreichen könne. Noch einen Augenblick verweilte der Schimmer, dann kam er in fliegender Eile näher und näher. Das junge Mädchen unterschied bald die Flamme und sah, wie beim Niederstoßen aus den Boden ein Funkenregen umhersprühte.

»Elisabeth!« scholl es plötzlich durch den Wald.

Die Stimme ging ihr durch Mark und Bein, denn es war seine Stimme; Herr von Walde rief nach ihr in den Tönen unbeschreiblicher Angst.

»Hier,« rief sie hinab, »hier bin ich, auf dem Turme!«

Der Fackelträger stürzte durch das Dickicht, über die Waldblöße hinweg. In wenigen Augenblicken stand er drinnen auf den obersten Treppenstufen und rüttelte mit gewaltiger Hand an der Thür. Unmittelbar darauf erfolgten einige kräftige Fußstöße, und das alte Brettergefüge barst krachend auseinander.

Herr von Walde trat heraus auf die Plattform. In der Linken hielt er die Fackel und mit der Rechten zog er Elisabeth in den Bereich der Flamme. Er war ohne Kopfbedeckung, das dunkle Haar fiel ungeordnet auf die Stirn und eine tiefe Blässe bedeckte sein Gesicht. Sein Blick lief wie ein Blitz über ihre Gestalt, als wollte er sich überzeugen, daß sie auch wirklich unverletzt vor ihm stehe. Er schien in einer unbeschreiblichen Aufregung zu sein; die Hand, die ihren Arm umklammerte, zitterte heftig, er war im ersten Augenblicke keines Wortes mächtig.

»Elisabeth, armes Kind!« stieß er endlich seufzend hervor. »Hierher, in die dunkle Nacht, auf dies unheimliche Gemäuer hat Sie die Schmach getrieben, die Sie heute in meinem Hause erdulden mußten?«

Elisabeth erklärte ihm, daß ihr Verweilen hier oben kein freiwilliges gewesen sei, wie ja die geschlossene Thür beweise, und erzählte in flüchtigen Worten den Verlauf der Sache. Dabei schritt sie die Treppe hinab. Er ging ihr voraus und bot ihr die Hand, um sie zu stützen; aber sie faßte nach dem Strick, der als Treppengeländer diente, und wandte die Augen weg, um seine Bewegungen ignorieren zu können.

In diesem Augenblicke erlosch die Fackel, die ohnehin nur noch schwach brannte, in einem starken Luftzuge, der durch eine offene Luke einströmte; tiefe Finsternis umgab die Hinabsteigenden.

»Geben Sie mir jetzt die Hand,« sagte er, in den befehlenden Ton von früher verfallend.

»Ich halte mich am Geländer und brauche keine andere Stütze,« entgegnete sie abwehrend.

Kaum war das letzte Wort über ihre Lippen, als sie sich von zwei Armen umschlungen fühlte, die sie ohne weiteres wie eine Feder vom Boden aufhoben und die Treppe hinabtrugen.

»Thörichtes Kind,« sagte er, indem er sie draußen auf dem Rasenplatze niederließ, »ich werde doch nicht leiden, daß Sie sich auf den Steinfliesen des Turmes die Glieder zerschmettern!«

Sie schlug den Weg ein, der direkt nach dem Lindhofer Schlosse führte; er war ja der kürzeste. Herr von Walde schritt schweigend neben ihr her.

»Sie haben die Absicht, heute von mir zu gehen, ohne mir ein versöhnliches Wort zu sagen?« fragte er, plötzlich stehen bleibend. In seinem Tone stritten Schmerz und verhaltener Groll. »Ich habe das Unglück gehabt, Sie zu beleidigen?«

»Ja, Sie haben mir wehe gethan.«

»Weil ich meinen Vetter nicht sofort zur Rechenschaft zog?«

»Das konnten Sie ja nicht, seine Werbung geschah mit Ihrer Genehmigung. Sie so gut, wie die anderen, wollten mich zwingen, Herrn von Hollfeld meine Hand zu reichen.«

»Ich Sie zwingen? . . . Kind, wie schlecht verstehen Sie sich auf die Erforschung eines männlichen Herzens? . . . Ich war von einem finsteren Irrtume befangen, oder richtiger, ich wollte diesen Irrtum vollends von mir werfen, wollte prüfen, als ich ›ja‹ sagte . . . Sie sollen im Gegenteil erfahren, daß ich alles entfernen werde, was Sie an den heutigen Vorfall erinnern könnte . . . Sie sind gern in Lindhof?«

»Ja.«

»Die Baronin Lessen wird das Schloß verlassen, und ich will Sie bitten, meiner Schwester Stütze und Umgang zu sein, wenn – wenn ich wieder in die weite Welt hinausziehen werde, wollen Sie?«

»Das kann ich Ihnen nicht versprechen.«

»Und warum nicht?«

»Fräulein von Walde wird meine Gesellschaft nicht wünschen, und wenn auch . . . ich habe heute schon einmal erklärt, daß ich den neuen Namen nicht führen werde.«

»Wunderliche Antwort! . . . Das gehört nicht hierher . . . Ah, jetzt verstehe ich! Endlich wird es hell vor meinen Augen! Sie glauben also, ich habe Hollfelds Wahl gebilligt, weil Ihnen plötzlich ein adliger Name zugefallen ist . . . wie, ist's nicht so?«

»Ja, das glaube ich.«

»Und folgern weiter, daß ich Sie aus dem Grunde auch jetzt als Umgang für meine Schwester wünsche? . . . Sie sind überhaupt der Ansicht, daß der Aristokrat bei allem, was ich thue und denke, die erste Stimme hat?«

»Ja, ja!«

»Nun, dann frage ich Sie, welchen Namen führten Sie, als ich hier, auf diesem Wege, Sie um einen Glückwunsch für mich bat?«

»Damals wußten wir noch nicht, welches Geheimnis der Erker enthielt,« flüsterte Elisabeth kaum hörbar.

»Haben Sie die Worte vergessen, die Sie mir an jenem Tage nachsprechen mußten?«

»Nein, ich habe jede Silbe klar und fest im Gedächtnis,« entgegnete das junge Mädchen rasch.

»Nun, und halten Sie es für möglich, daß solche Worte enden könnten mit einem ›und bleiben Sie gesund im neuen Jahre‹ oder dergleichen?«

Das junge Mädchen antwortete nicht, sah aber tief errötend zu ihm auf.

»Hören Sie mich einen Moment ruhig an, Elisabeth,« fuhr er fort; er selbst aber war so wenig ruhig, daß man das Klopfen seines Herzens in der schwankenden, von innerer Bewegung fast erstickten Stimme hören konnte. »Ein Mann, den das Glück bevorzugte, indem es ihm eine höhere Lebensstellung und Reichtum in die Wiege legte, mißtraute diesen Vorzügen, als er anfing, selbständig zu denken. Er fürchtete, daß gerade an ihnen das scheitern könne, was er Lebensglück nannte. Er schuf sich deshalb in bezug auf die Wahl seiner Lebensgefährtin ein Ideal; nicht, daß er außerordentliche geistige und körperliche Vorzüge beansprucht hätte, er suchte einfach ein Wesen im Besitze eines reichen und reinen Herzens, das kein Verständnis habe für die Vorteile des Ranges und Reichtums und sich ihm, nur ihm ohne jedwede Nebenrücksicht, hingeben würde . . . Er kam allmählich zu der Ueberzeugung, daß sein Ideal ein Ideal bleiben werde; denn er war über seiner Erforschung nachgerade siebenunddreißig Jahre alt geworden . . . Wenn die Hoffnung bereits die Flügel zusammenfaltet, wenn es dunkel werden will, dann hat das in der zwölften Stunde noch plötzlich aufglühende Morgenrot etwas Ueberwältigendes für die Menschenseele. Sie wird aus dem Geleise gerissen, und eben die Verspätung, das so lange erfolglose Harren stürzen sie in ein Meer von Zweifeln und lassen sie nicht recht mehr an das unerwartete Glück glauben . . . Elisabeth, er fand ein solches Herz, das, unterstützt von einem klar erwägenden, reich ausgestatteten Geiste, hoch stand über jenen kleinlichen Interessen; aber es schlug in einer jungen, mit dem höchsten Liebreize geschmückten Hülle . . . War es da wohl ein Wunder, wenn der gereiste Mann, der, wie er wohl wußte, nichts Bestechendes in seinem Aeußern hatte, mißtrauisch und voll Angst auf einen anderen blickte, der Jugend und eine schöne Gestalt in die Wagschale legen durfte? . . . War es ein Wunder, wenn er durch einen Blick, eine Versicherung, eine Handlung des jungen Mädchens sich einen Augenblick zu den kühnsten Hoffnungen hinreißen ließ, um im nächsten der tiefsten Mutlosigkeit zu verfallen, wenn er jenen um sie bemüht sah? War es nicht ganz begreiflich, wenn er fürchtete, die Jugend werde sich zur Jugend gesellen? . . . Nie hat wohl ein männliches Herz glühender die Erfüllung seinem Wünsche herbeigesehnt, als das seinige, nie aber auch mag feiger gezweifelt worden sein an einem Erfolge, als er in namenloser Qual gezweifelt hat! . . . Und als man ihm sagte, daß sein kleiner vergötterter Liebling jenem andern angehören werde, da leerte er den Schmerzenskelch und sagte ›ja‹, weil er wähnte, er handle in ihrem Sinne . . . Elisabeth, ich stand heute völlig vernichtet und verzweifelnd an der Schwelle des Pavillons. Sie wissen nicht, was es heißt, wenn der Schiffer alle seine besten Schätze, seine Kleinodien auf ein einziges Schiff häuft, und dies vor seinen Augen versinkt . . . Soll ich Ihnen beschreiben, was ich empfand, als Sie so entschieden die Standeserhöhung von sich wiesen und somit eine Verbindung mit Hollfeld unmöglich machten? Soll ich Ihnen sagen, daß mich nur der Zustand meiner Schwester und die Rücksicht auf Sie selbst abhalten konnten, den ehrlosen Buben vor Ihren Augen zu züchtigen? . . . Er hat bereits Lindhof verlassen und wird nie wieder Ihren Weg kreuzen. . . . Wollen Sie die Beleidigung vergessen, die Ihnen heute in meinem Hause widerfahren ist?«

Er hatte längst ihre beiden Hände ergriffen und hielt sie gegen seine Brust. Sie ließ es widerstandslos geschehen und bejahte mit bebenden Lippen seine Frage.

»Und wollen wir nicht überhaupt alles vergessen, meine süße, kleine Goldelse, was sich zwischen Anfang und Schluß des Glückwunsches gedrängt hat? . . . Mein liebliches, blondes Mädchen, die Wonne meiner Augen, meine kleine Elisabeth Ferber steht wieder vor mir und sagt folgsam Wort für Wort nach, nicht wahr? . . . Der letzte Satz, der so grausam unterbrochen wurde, lautete?«

»Hier ist meine Hand als Bürge eines unaussprechlichen Glückes,« stammelte Elisabeth.

»Ich will die Deinige sein im Leben und Sterben bis in alle Ewigkeit!«

Aber sie öffnete vergebens die Lippen, um die Worte, die er feierlich in tiefster Bewegung sprach, zu wiederholen. Thränen stürzten aus ihren Augen, und sie schlang ihre Arme um den Hals dessen, der sie jubelnd an seine Brust zog . . .

»Nun flieht mein himmlischer Traum wieder von mir,« sagte er mit einem Seufzer, als sich Elisabeth endlich leise aus seinen Armen wand. »Lasse mir wenigstens deine Hand, Elisabeth; ich muß erst lernen, an mein Glück zu glauben. Wenn du heute von mir gehst, werde ich in die Nacht der Zweifel zurückfallen . . . Du bist dir klar und fest bewußt, daß du jetzt unwiderruflich mein bist? Du weißt doch, daß du nun Vater und Mutter und die traute Heimat auf dem Berge verlassen mußt um meinetwillen?«

»Ja, das weiß ich und das will ich, Rudolf,« sagte sie lächelnd, aber fest.

»Sei gesegnet, mein Liebling, für diese Worte . . . Aber du sollst die ganze Schwäche meines Unglaubens kennen lernen. War es nicht nur Erbarmen mit meiner grenzenlosen Liebe, was dich bewog, meiner ungestümen Werbung nachzugeben?«

»Nein, Rudolf, es war die Liebe, die in meinem Herzen lebt, seit ich – klingt das nicht seltsam – in deine zürnenden Augen sah, seit ich deine Stimme gehört hatte, wie sie menschliche Grausamkeit und Härte unerbittlich richtete. Und sie ist seit jenem Augenblicke auch nie wieder von mir gewichen; sie ist im Gegenteil groß gewachsen und immer mächtiger geworden, trotz all meines Bestrebens, sie zu vernichten, trotz aller rauhen Worte, die oft genug tödlich verwundeten.«

»Wer hat das gethan?«

»Du selbst, du warst heftig, abstoßend gegen mich.«

»O Kind, das waren die Ausbrüche einer wahnsinnigen Eifersucht! Ich habe mich mein ganzes Leben hindurch in der Selbstbeherrschung geübt, aber jene schrecklichste aller Qualen ließ sich nicht hinter den Schild zwingen . . . Und deshalb wollte mein kleines Mädchen den Himmel zerstören, den sie mir jetzt eröffnet?«

»Deshalb nicht, das wäre auch ganz vergebliche Mühe gewesen, denn ein warmer Blick von dir machte alles wieder gut; aber es trat ein anderer hartnäckiger Streiter in die Schranken – das war der Verstand. Er hatte sich die allgemein verbreitete Sage von deinem unglaublichen aristokratischen Hochmute wacker eingelernt und wiederholte mir bei jeder Aufwallung meines Herzens eindringlich den Grund, weshalb du die Hand einer fürstlichen Hofdame zurückgewiesen haben solltest.«

»Ah, die sechzehn Ahnen!« rief Herr von Walde lächelnd. »Siehst du, kleine Goldelse, das ist das Walten der Nemesis!« fuhr er ernster fort. »Um Widerwärtigkeiten zu entgehen, griff ich ohne weitere Ueberlegung zu dem ersten, besten Mittel, das wie ich jetzt merke, mich um ein Haar mein ganzes Lebensglück gekostet hätte . . . Ich verkehre sehr gern mit dem Fürsten von L., aber der Aufenthalt an seinem Hofe wurde mir eine Zeitlang gründlich verleidet durch die Heiratspläne, mit denen mich besonders die Prinzessin Katharine verfolgte. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, aus einer ihrer Hofdamen und mir ein Paar zu machen. Daß mir das Mädchen völlig gleichgültig sein könne, hielt man für unmöglich, da sie für eine der ersten Schönheiten galt und vieler Herzen umstrickt hatte. All mein Protestieren half nichts, man spann die kleine Intrige immer weiter, und so schnitt ich sie eines Tages kurz ab, indem ich Ihrer Durchlaucht erklärte, daß mich eine derartige Wahl eines meiner Güter kosten würde; denn es falle laut Testament meines Onkels dem Staate anheim, wenn ich eine Gattin heimführen sollte, die nicht ihre sechzehn Ahnen habe . . . Mit jener Erklärung hatten alle Quälereien ein Ende; im ganzen, kleinen Lande ist ja kein solcher Stammbaum zu finden, und man begriff völlig, daß ich mein Gut zu behalten wünschte.«

»Und um meinetwillen erleidest du jetzt einen solchen Verlust?« rief Elisabeth betroffen.

»Es ist kein Verlust, Elisabeth, es ist nur ein Tausch, ein Tausch, bei welchem ich einen unermeßlichen Schatz, der Lebens höchste Glückseligkeit, gewinne.«

Eine Fackel tauchte seitwärts im Dickicht auf.

»Halt, hierher!« rief Herr von Walde.

Einer seiner Diener stand alsbald vor ihm. Er beauftragte denselben, so rasch wie möglich hinauf nach Gnadeck zu eilen und Fräulein Ferbers Zurückkunft anzumelden.

Der Bediente eilte spornstreichs davon.

»Ich bin sehr egoistisch gewesen, Elisabeth,« sagte Herr von Walde, indem er ihren Arm in den seinen legte und nun ungesäumt mit ihr vorwärts schritt. »Ich wußte, daß deine Verwandten in großer Angst und Unruhe um dich sind; Vater und Onkel suchen dich drüben im fürstlichen Waldreviere; meine sämtlichen Leute und die Lindhofer Bauern durchstreifen deinetwegen die Gegend nach allen Richtungen hin, und ich vergaß alles in dem Augenblicke, als ich dich fand.«

»Meine armen Eltern!« seufzte Elisabeth nicht ohne Gewissensbisse; auch für sie war ja die ganze Welt versunken, als er gekommen war, sie zu befreien.

»Friedrich hat flinke Füße,« tröstete Walde, »er wird lange vor uns auf dem Berge sein und die Deinen beruhigen.«

Sie traten in den Park ein und schritten am Schlosse vorüber. Es lag finster und schweigend da. Nur in Helenes Schlafzimmer schimmerte gedämpftes Lampenlicht.

»Dort wird jetzt ein Kampf auf Leben und Tod gekämpft,« murmelte Herr von Walde hinüberblickend. »Sie hat den Elenden wahrhaft fanatisch geliebt; wie furchtbar muß die Erkenntnis sein!«

»Gehe hinauf und tröste sie,« bat Elisabeth.

»Trösten? In solchem Augenblicke? . . . Kind, mir hätte einer mit Trostgründen kommen sollen, als ich dich zu verlieren glaubte . . . Helene hat sich eingeschlossen, seit ich den Befehl gegeben habe, man möge Herrn von Hollfelds Pferd vorführen, aber die Kammerfrau ist in ihrer Nähe. Es wird einer längeren Zeit bedürfen, ehe sie mich sucht und meinen Anblick wünscht, denn sie hat sich um jenes Erbärmlichen willen von mir losgerissen; ein Mensch aber, der so schwer getäuscht wurde, kehrt selten augenblicklich zurück zu denen, die ihn gewarnt haben . . . Uebrigens werde ich heute mein Haus nicht wieder betreten, ohne mich versichert zu haben, daß deine Eltern dich mir nicht entreißen wollen.«

Seitwärts zweigte sich der Weg ab, an welchem die bewußte Gartenbank stand.

»Weißt du noch?« fragte Elisabeth lächelnd und deutete hinüber.

»Ja, ja. Dort sprachst du den kühnen Entschluß aus, als Erzieherin in die weite Welt zu gehen, und ich nahm mir die Freiheit, zu denken, daß ich dies nun und nimmer zugeben würde. Es bedurfte all meiner Selbstbeherrschung, daß ich den kleinen verwegenen Zugvogel nicht sofort in meine Arme nahm und sein goldenes Köpfchen voll trotziger, stolzer Gedanken an meine Brust drückte . . . Dort entlockte ich dir das unbewußte naive Geständnis, daß deine Eltern noch den ersten Platz in deinem Herzen behaupteten. Aber du nahmst auch eine abweisende, kühle Haltung an, als ich mich unterfangen wollte, vertrauensvoll zu sprechen.«

»Das war Schüchternheit . . . und ich bin noch nicht sicher, ob ich nicht morgen, wenn ich deine strenge Stirn bei Tagesbeleuchtung sehe, in meine Verzagtheit zurückfalle.«

»Sie wird nicht mehr streng aussehen, mein Kind, das Glück hat sie mit weichem Finger berührt.« –

Bald nachher erlebten die alten Buchen, die über die Waldblöße hinweg in das hellerleuchtete Ferbersche Wohnzimmer sehen konnten, ein seltenes Schauspiel. Ein hoher Mann, dessen Gesicht die Blässe tiefer, innerer Bewegung bedeckte, führte die Tochter den Eltern zu, um sie in demselben Augenblicke zurückzufordern als sein künftiges Weib, sein zweites Ich. Die alten Buchen sahen, wie er die junge Braut in die Arme nahm und so den Segen der erschütterten Eltern empfing, sahen, wie ein unter Thränen lächelndes Muttergesicht dankend zum Himmel aufblickte, und wie der kleine Ernst an Hänschens Käfig rüttelte, um dem verschlafenen Sänger im ›gelben Fracke‹ feierlich zu verkünden, daß die Else merkwürdigerweise Braut sei.


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