E. Marlitt
Goldelse
E. Marlitt

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8.

Der Oberförster hatte ungefähr acht Tage nach Ankunft seiner Verwandten ein neues Hausgesetz erlassen, das, wie er sagte, von seinem Minister freudig begrüßt worden war, und kraft dessen der Familie Ferber die Verpflichtung auferlegt wurde, allsonntäglich im Forsthause das Mittagbrot einzunehmen . . . Das waren Freudentage für Elisabeth.

Lange vor dem ersten Glockenläuten wurde gewöhnlich der Kirchgang angetreten. Im wehenden weißen Kleide, die Seele geschwellt von jener süßen Ahnung der Jugend, als könne ein schöner, heiterer Tag auch nur Glück in sich schließen, schritt Elisabeth den Eltern voraus und freute sich stets auf den Moment, wo der goldene Knopf des Lindhofer Kirchleins tief drunten im Thale aus den grünen Wogen des Waldes aufleuchtete; wenn rechts und links auf dunklen, verschwiegenen Waldwegen die Kirchgänger der verschiedenen Filialen ihnen entgegenschritten und sich mit freundlichem Gruße und Handschlage zu ihnen gesellten, bis sie in zahlreicher Gesellschaft unter dem Geläute der Glocken den weiten Wiesenplan vor der Kirche betraten, wo meist der Onkel schon wartete. Er begrüßte sie dann schon von weitem mit glänzenden Augen und freudigem Hutschwenken. In jeder Bewegung seiner hohen Gestalt, in seiner ganzen Haltung offenbarte sich jene unbeugsame Wahrhaftigkeit, die vor dem Größten nicht zurückschreckt, jener Ausdruck von Manneskraft und Manneswillen, hinter dem wir große Entschlüsse, kühne Thaten, nie aber die zarten Empfindungen eines reichen Gemütes vermuten. Deshalb meinte auch Elisabeth, es sei unbeschreiblich rührend und ergreifend, wenn ein einzelner, kleiner Stern sein mildstrahlendes Gesichtchen aus dunklen Wolken strecke; genau so aber erscheine ihr der gerade, feste Blick des Onkels, sobald er in einem weichen Gefühle schmelze. Und sie hatte oft genug Gelegenheit, die Metamorphose zu beobachten; denn sie war sein Augapfel geworden. Er hatte ja nie Kinder gehabt und trug nun alle Vaterzärtlichkeit, deren sein reiches, volles Herz fähig war, auf sein liebliches Bruderskind über, das, wie er deutlich mit großem Stolze fühlte, ihm in vielem Beziehung geistig verwandt war, wenn auch hier alle jene Charakterzüge unter dem Hauche echt holdseliger Weiblichkeit sich verklärten.

Sie vergalt ihm aber auch seine Liebe mit kindlicher Hingebung und zärtlicher Fürsorge. Bald hatte sie alles das, was zu seinem häuslichen Wohlbehagen gehörte, herausgefunden und griff da, wo Sabines Scharfsinn oder ihre waltende Hand nicht mehr ausreichte, unmerklich und mit so vielem Takte ein, daß die alte treue Dienerin niemals verletzt wurde, während um den Onkel ein ganz neues, behagliches Leben aufblühte, da Elisabeth auch auf seine kleinen Liebhabereien geschickt einzugehen und ihnen Geschmack abzugewinnen wußte.

Auf dem Heimwege aus der Kirche, der dann gemeinschaftlich angetreten wurde, führte der Onkel Elisabeth gewöhnlich an der Hand, »wie ein kleines Schulmädchen« sagte sie, und es sah auch genau so aus. Die eben gehörte vortreffliche Predigt gab Veranlassung zu einem lebhaften Austausche neu angeregter Gedanken und Empfindungen; dazu sangen und schmetterten die Vögel im grünen Dickicht, als sei es ihr gutes Recht, hier auch mitzusprechen, und durch die dichten Baumkronen taumelten grüngoldene Lichter verklärend auf die Häupter der Wandelnden.

Am fernsten Ende des langen, dunklen Laubganges, denn es war ein sehr schmaler Holzweg, der vom Dorfe Lindhof nach der Försterei lief, blinkte wie ein goldener Punkt die helle, sonnenbeglänzte Lichtung, auf deren Mitte das alte Jagdhaus lag. Mit jedem Schritte näher wurde das kleine Bild deutlicher und klarer, bis man unter der Thür die harrende Sabine zu erkennen vermochte, wie sie, den einen Zipfel der weißen Küchenschürze quer aufgesteckt, die Hand schützend über die Augen haltend, nach den Heimkehrenden spähte und bei ihrem Erblicken eiligst in das Haus zurücklief; denn es galt ja, droben unter den Buchen hinter der dampfenden Suppenterrine in treuer Pflichterfüllung zu stehen, wie der gewissenhafte Festungskommandant auf seinen Wällen.

Heute aber hatte die alte Sabine ein besonders herrliches Mahl hergerichtet; neben der Suppenschüssel leuchtete eine purpurrote Pyramide, die ersten Walderdbeeren, die der kleine Ernst, aber auch die große Elisabeth mit lautem Jubel begrüßte. Der Oberförster lachte über den Enthusiasmus des großen und des kleinen Kindes und meinte, er dürfe doch nicht hinter Sabine und ihrer Extraüberraschung zurückbleiben; er wolle deshalb den Braunen einspannen und Elisabeth, wie längst versprochen, nach L. fahren, wo er ohnehin Geschäfte abzumachen habe. Der Vorschlag wurde von dem jungen Mädchen mit heller Lust aufgenommen.

Bei Tische erzählte Elisabeth vom gestrigen Abend. Der Onkel wollte sich ausschütten vor Lachen.

»Kourage hat der Doktor freilich gezeigt,« rief er lachend, »aber was hilft's ihn, es war doch die letzte Tasse Thee, die er gestern in Lindhof getrunken hat.«

»Unmöglich, Onkel, es wäre empörend!« rief Elisabeth, »das kann und wird Fräulein von Walde nicht zugeben, sie wird sich aus allen Kräften widersetzen.«

»Nun,« sagte er, »ich wünschte nur, wir könnten auf der Stelle das Fräulein um ihre heutigen Gesinnungen gegen den Doktor befragen, da solltest du dein blaues Wunder hören . . . Wie sollte auch in solch einem gebrechlichen Gehäuse eine starke Seele stecken; mit der wird das herrschsüchtige Weib bald fertig, und jeder andere Zügel fehlt, denn der Himmel ist hoch und der Zar ist weit, sagen die Russen . . . Gelt, Sabine, wir haben schon gar wunderliche Dinge erlebt, seit die Frau Baronin das Regiment führt?«

»Ach, ja wohl, Herr Oberförster,« entgegnen die Alte, die eben ein neues Gericht auf den Tisch setzte, »wenn ich nur an die arme Schneider denke . . . Das ist eine Taglöhnerswitwe aus Dorf Lindhof,« wandte sie sich an die anderen, »sie hat immer rechtschaffen gearbeitet, um sich durchzubringen, und hat ihr auch niemand was Unrechtes nachsagen können; aber sie muß vier kleine Kinder ernähren, das arme Weib, und lebt nur von der Hand in den Mund . . . Und da ist's ihr einmal im vorigen Herbst recht schlecht gegangen; sie hat nicht gewußt, wie sie die Kinder satt machen soll, nu, da hat sie sich etwas zu schulden kommen lassen, was freilich nicht recht war – sie hat von einem herrschaftlichen Acker eine Schürze voll Kartoffeln mitgenommen. Der Verwalter Linke aber hat hinter einem Busche gestanden; das sehen, vorspringen und auf die Frau losschlagen ist eins gewesen. Ja, wenn er's bei einem kleinen Denkzettel hätte bewenden lassen, da wollte ich nichts sagen; aber er hat gar nicht wieder aufgehört und hat sie sogar wütend mit dem Fuße getreten . . . Ich hatte dazumal gerade etwas in Lindhof zu besorgen, und wie ich da unter den Kirschbäumen beim Dorfe hingehe, sehe ich einen Menschen an der Erde liegen, es war die Schneider; sie hatte ein erschreckliches Blutbrechen, konnte kein Glied mehr rühren, und keine Menschenseele war bei ihr. Da hab' ich Leute gerufen, und die haben mir geholfen, sie nach Hause zu bringen. Der Herr Oberförster war zwar damals verreist, aber ich habe mir gedacht, er würde mir's auch nicht verwehren, wenn er da wäre, und habe das arme Weib verpflegt, soviel in meinen Kräften stand . . . Die Leute im Dorfe waren wütend über den Verwalter, aber was konnten sie denn machen? Es wurde zwar gesagt, die Sache käme vor Gericht; ja, da kann man warten . . . Der Linke ist einer von den Frommen; er ist die rechte Hand bei der Baronin, verdreht die Augen und thut alles im Namen des Herrn. Es durfte doch um keinen Preis unter die Leute kommen, daß so ein Frommer mitunter auch recht unmenschlich sein könne, und da ist die Frau Baronin alle Tage in die Stadt gefahren und hat sich sehr herabgelassen; kurz und gut, die Geschichte ist vertuscht worden, und die Schneider, die noch immer nicht ordentlich fort kann, hat ihre Schmerzen leiden müssen, und ist ihr und ihren Kindern weder ein Trank noch ein Bissen Brot vom Schlosse aus gereicht worden während ihrer schweren Krankheit . . . Ja, der Verwalter und die alte Kammerjungfer bei der Baronin, die treiben's arg zu Lindhof. Die sitzen in der Bibelstunde und in der Schloßkirche und schnüffeln und merken sich fleißig, wer fehlt, und das hat schon manchen ordentlichen Menschen um die Arbeit im Schlosse gebracht.«

»Na, jetzt wollen wir uns aber nicht weiter ärgern,« sagte der Oberförster. »Mir wird jeder Bissen im Munde bitter, wenn ich an diese Geschichten denke, und unser schöner Sonntag. auf den ich mich die ganze Woche freue, soll keinen anderen Schatten haben, als den sich die schuldlosen, weißen Wölkchen da droben erlauben.«

Bald nach dem Essen rollte die kleine Equipage vor das Haus. Der Oberförster stieg hinauf, und wie ein Blitz war Elisabeth an seiner Seite. Indem sie den Zurückbleibenden noch einmal grüßend zunickte, flog ihr Blick über das Haus; aber sie erschrak bis ins innerste Herz vor den Augen, die aus dem oberen Stockwerke auf sie niederstarrten. Freilich verschwand der Kopf gleich wieder, allein Elisabeth hatte die stumme Bertha erkannt, hatte gesehen, daß der Blick voll Haß und Ingrimm ihr gegolten, obgleich sie sich die Ursache dieser Feindseligkeit nicht denken konnte. Bertha hatte bisher in der strengsten Zurückgezogenheit der Familie Ferber gegenüber beharrt; nie kam sie zum Vorschein, so oft auch Elisabeth im Forsthause war. Sie aß allein auf ihrem Zimmer, seit sie wußte, daß der Onkel allsonntäglich Gäste habe, und er ließ sie auch gewähren. Es mochte ihm ganz recht sein, daß die beiden Mädchen gar nicht zusammenkamen.

Frau Ferber hatte auch einmal den Versuch gemacht, sich dem jungen Mädchen zu nähern. Ihrer echt weiblichen Anschauungsweise gemäß hielt sie es für unmöglich, daß Trotz und Böswilligkeit die Triebfedern zu Berthas sonderbarem Benehmen sein könnten. Sie vermutete eine tiefere innere Niedergeschlagenheit, irgend einen Kummer, der sie gegen ihre Umgebung gleichgültig. oder auch bei ihrem heftigen Naturell wohl gar so gereizt mache, daß sie lieber das Sprechen vermeide, um keinen Konflikt herbeizuführen. Sanftes Zureden, ein freundliches Entgegenkommen, hatte sie gehofft, werde das Siegel auf Berthas Lippen lösen; allein es war ihr nicht besser gegangen, als Elisabeth, ja das Benehmen des Mädchens hatte sie dermaßen empört, daß sie ihrer Tochter jeden ferneren Annäherungsversuch streng untersagte. –

Nach kurzer Fahrt war das Ziel erreicht.

L. war eine echte Kleinstadt und verleugnete auch dies bescheidene Gepräge durchaus nicht, obgleich vom Erscheinen der ersten Primel an bis zum Sinken der letzten herbstlichen Blätter der Hof hier residierte, und die Hauptbewohnerschaft großen Eifer und Fleiß darauf verwendete, in ihrem geselligen Leben, wie auch hinsichtlich der Moden den großstädtischen Ton zu erreichen. Allein die rasselnden Leiterwagen samt Zubehör einer sehr schwunghaft betriebenen Oekonomie ließen sich durch das Rauschen selbst der umfangreichsten, elegantesten Krinolinen nicht übertönen. Das ehrliche Hühnervolk, das die weit offenen Einfahrten der Häuser in vollkommener Sicherheit verließ, um zwischen den unebenen Pflastersteinen und auf den grünen Rasenstreifen längs der Häuserseiten sein tägliches Brot zu suchen, wurde so wenig zu stolzen Pfauen, wie Nachbars Enten, die freudig auf dem quer die Stadt durchschneidenden kleinen Bache hinsegelten, auf Schwanenhoheit Anspruch machten.

Die Lage des Städtchens war unbestritten eine reizende. Inmitten eines nicht sehr weiten Thales, an den Fuß einer Anhöhe geschmiegt, deren Gipfel das imposante fürstliche Schloß krönte, lag es tief gebettet im dunklen Grün schöner, alter Lindenalleen und im Frühling umwogt von einem wahren Blütenmeere zahlloser Obstgärten.

Der Oberförster führte Elisabeth in das Haus eines ihm befreundeten Assessors. Sie sollte dort auf ihn warten, bis er seine Geschäfte besorgt haben würde. Wenn auch herzlich bewillkommnet von der Dame des Hauses, hätte das junge Mädchen doch am liebsten sofort umkehren und dem die Treppe hinabeilenden Onkel folgen mögen; denn zu ihrem Verdrusse geriet sie mitten in einen großen Damenzirkel. Die Assessorin teilte ihr in wenigen flüchtigen Worten mit, daß zur Feier des Geburtstages ihres Mannes lebende Bilder aus der Mythologie gestellt werden sollten, zu welchem Zwecke sich das darstellende weibliche Personal bereits eingefunden habe. Am Kaffeetische eines hübsch eingerichteten Zimmers plauderten mit großer Lebhaftigkeit acht bis zehn Damen, die sämtlich schon im mythologischen Kostüme steckten und jetzt mit ihren Augen der neuen Erscheinung bis in die geheimsten Falten ihres einfachen Anzugs zu schlüpfen versuchten.

Sämtliche Göttinnen ohne Ausnahme hatten sich dem Modezepter der üppigen Kaiserin von Frankreich willig unterworfen und ließen ihre weißen Gewänder über die Krinoline herabfließen; denn – meinte die Ceres, eine ziemlich kompakte Blondine, auf deren geröteter Stirn ein ganzer Erntesegen schwankte – man sehe ja zum Skandal aus, und es sei auch rein unmöglich gewesen, ohne diesen Halt die Aehren und Klatschrosenbüschel auf ihrem Kleide zu arrangieren; – wie Frau Ceres zu den Zeiten ihres Glanzes sich aus dieser Verlegenheit geholfen haben mochte, das war nach dieser Erklärung ein interessantes Problem.

Vielleicht war die Abendbeleuchtung so wohlwollend, über das oft sehr merkwürdige Arrangement der einzelnen Toiletten ein milderndes Licht zu gießen, jetzt aber beleuchtete der helle Sonnenstrahl unerbittlich und mit grauenhafter Wahrheit jedes aufgeklebte Goldpapier, jede Atlas heuchelnde Kattunschleife und jeden langen Heftstich der improvisierten Tunikas. Auf dem Gürtel der Venus glänzten einige steinbesetzte Rokokoschuhschnallen, und der schlecht befestigte silberne Halbmond auf Dianas Scheitel zeigte bei jeder Kopfbewegung eine löschpapierene Kehrseite.

Die Frau des Hauses ging geschäftig ab und zu und schob hier und da einige Worte in die Unterhaltung der Damen.

»Da haben wir's,« sagte sie eintretend, nachdem sie seit geraumer Zeit das Zimmer verlassen hatte. »Die Rätin Wolf läßt soeben bedauern, daß ihr Adolf heute nicht mitwirken könne, er habe Fieber und liege zu Bett . . . Ich lief nach der Hiobspost nochmals selbst hinüber zum Doktor Fels; aber eher will ich einen Mühlstein von seiner Stelle rücken, als diesen Menschen vom Standpunkte seiner Kindererziehung . . . Er wiederholte seine Weigerung von früher, und zwar in so anzüglicher Weise, daß ich ganz außer mir bin. Für halbwüchsige Jungen, wie sein Moritz, halte er derartige Mitwirkung unter Erwachsenen für gänzlich unpassend; sie bekämen leicht eine hohe Meinung von ihrer kleinen Persönlichkeit, würden zerstreut, von ihren Schularbeiten abgezogen, und Gott weiß, was alles . . . Ich hätte auch besser gethan, meinte er hochweise, wenn ich heute abend meinen leidenden Mann – ich bitte euch, leidend, er ist bis auf ein bißchen Rheumatismus gesund wie ein Fisch im Wasser – also, wenn ich ihm heute abend ein Lieblingsgericht vorgesetzt hätte, statt ihn mit der Mummerei zu quälen, die ihn nur um die nötige Nachtruhe und Bequemlichkeit bringe, und aus der doch im ganzen Leben nichts Gescheites werde.«

»Welche Roheit! . . . Wie gemein! . . . Er spielt sich immer auf den Kunstrichter, und versteht nicht so viel davon, wie mein kleiner Finger!« hallte es in wildem Durcheinander von den Lippen der Damen.

»Tröste dich mit mir, liebe Adele,« sagte die Ceres. »Wäre mein Mann nicht, der Fels als Arzt nicht entbehren kann, mein Haus dürfte er schon längst nicht mehr betreten . . . Als ich vorigen Winter die Kindermaskerade arrangierte – die doch gewiß reizend ausgefallen ist – da hat er die Einladung für seine Kinder zurückgewiesen; und was sagte er mir, als ich ihn persönlich um Erlaubnis für seine kleinen Mädchen bat? ›Ob es denn mir wirklich Spaß mache, eine Affenkomödie zu sehen‹ – das vergesse ich ihm nie.«

Vor Elisabeth tauchte plötzlich das geistreiche Gesicht des Doktors auf, mit dem durchdringenden, sarkastisch lächelnden Blicke und dem übermütigen Zuge des Spottes um die seinen Lippen. Sie mußte innerlich lachen über seine derben Ausfälle; aber es drängte sich ihr dabei auch der niederschlagende Gedanke auf, wie schwer es doch oft dem Menschen gemacht werde, seinen Ansichten gemäß zu handeln.

»Ach, was wollen Sie, Frau Direktor!« eiferte Flora, eine überaus zarte, schmächtige Erscheinung mit einem schönen, aber todbleichen Gesichte, die sich bis dahin einzig und allein damit beschäftigt hatte, ihr blumengeschmücktes Bild im gegenüberhängenden Spiegel anzulächeln. »Uns hat er's nicht besser gemacht . . . Meinen Eltern hat er vor zwei Jahren geradezu ins Gesicht gesagt, es sei nicht allein Thorheit, sondern sogar eine Gewissenlosigkeit – denken Sie – mich, bei meiner Konstitution, so früh auf den Ball zu führen . . . Papa und Mama waren außer sich – als ob sie als Eltern nicht am besten wissen müßten, was ihren Kindern dienlich . . . Nun, es ist nur gut, daß man weiß, was ihn zu dieser Fürsorge bewogen hat. Seine jüngste Schwester war damals noch nicht verheiratet, und solchen ist das Erscheinen des Nachwuchses auf den Bällen nie angenehm. Papa hätte damals dem Doktor sogleich den Abschied gegeben; allein Mama kann ohne seine Mittel nicht sein . . . Nun, man hat zum Glück nicht auf seine Ratschläge gehört, und wie Sie sehen, lebe ich noch!«

Das Schweigen sämtlicher Damen bestätigte Elisabeths Ueberzeugung, daß dieser Triumph ein sehr zweifelhafter sei, und daß dies zarte Wesen mit seiner schmalen eingesunkenen Brust und der krankhaften Gesichtsfarbe das Nichtbeachten des ärztlichen Rates noch schwer werde büßen müssen.

Plötzlich zog eine, die Straße langsam herabrollende Equipage die Damenschar an die Fenster. Elisabeth konnte von ihrem Sitze aus die Straße und mithin auch den Gegenstand der allgemeinen Neugierde übersehen. In dem eleganten Wagen saßen die Baronin Lessen und Fräulein von Walde. Letztere hatte das Gesicht herüber nach dem Hause des Assessors geneigt, und es sah aus, als ob sie gewissenhaft alle Fenster des Erdgeschosses zähle. Die Wangen waren leicht gerötet, bei ihr stets ein Zeichen innerer Erregung. Die Baronin dagegen lehnte nachlässig im Fond; für sie schienen weder Häuser noch Menschen in der Straße zu sein.

»Die Lindhofer Damen,« sagte Ceres. »Aber mein Gott, was soll denn das heißen? . . . Sie ignorieren ja förmlich die Fenster des Doktor Fels. . . . Dort steht die Doktorin . . . ha, ha, ha, seht nur das lange Gesicht, das sie macht; sie hat zu grüßen versucht; aber die Damen haben leider am Hinterkopfe keine Augen!«

Elisabeth sah nach dem gegenüberliegenden Hause. Dort stand eine sehr hübsche Frau, ein reizendes Blondköpfchen auf dem Arme, am Fenster. Es lag allerdings einiges Befremden in den schönen blauen Augen, die dem Wagen folgten; aber lang war das blühende Oval ihres Gesichts durchaus nicht geworden. Durch eine Bewegung des Kindes veranlaßt, das seine Händchen nach den seltsam geschmückten Damenköpfchen im Assessorhause streckte, sah sie herüber und nickte schelmisch lächelnd den Damen zu, die den freundlichen Gruß mittels Kußhänden und allerhand zärtlichen Pantomimen erwiderten.

»Sonderbar,« sagte die Assessorin. »Was nur die beiden Damen haben mochten, daß sie ohne Gruß nach da drüben vorübergefahren sind! Bis jetzt haben sie noch nie die Straße passiert, ohne daß der Wagen gehalten hätte. Die Doktorin stand dann halbe Stunden lang am Wagenschlage, und Fräulein von Walde schien sich sehr in der Unterhaltung mit ihr zu gefallen . . . die Baronin machte freilich manchmal ein saures Gesicht . . . Wirklich merkwürdig; nun, die Zukunft wird ja zeigen, was dahinter steckt.«

»Herr von Hollfeld muß wohl in Odenberg geblieben sein. Er war heute morgen mit den Damen, als der Wagen bei uns vorüberfuhr,« sagte Diana.

»Wie wird Fräulein von Walde die Trennung ertragen?« meinte Flora spöttisch lächelnd.

»Steht es denn so mit den beiden?« fragte die Assessorin.

»Nun, wenn du das noch nicht weißt, Kind!« rief Ceres. »Wie er denkt und fühlt, darüber suchen wir freilich noch Aufklärung, daß sie ihn aber leidenschaftlich liebt, steht außer allem Zweifel. Es ist übrigens fast mit Gewißheit anzunehmen, daß diese Neigung einseitig ist; denn, ich bitte euch, wie ist es möglich, daß ein so entsetzlich verkrüppeltes Wesen Liebe einzuflößen vermag! . . . Und nun gar einem so eiskalten Menschen wie Hollfeld, der an den größten Schönheiten ungerührt vorübergeht!«

»Ja, das ist wahr,« bemerkte Venus mit einem Blicke nach dem Spiegel, den aber Flora, trotz ihrer Magerkeit, anmaßenderweise vollständig in Beschlag genommen hatte. »Aber Fräulein von Walde ist enorm reich.«

»Nun, den Reichtum kann er billiger haben,« sagte Flora überlegen. »Er ist ja doch der mutmaßliche Erbe der beiden Geschwister.«

»Der Schwester, willst du sagen,« verbesserte die Assessorin. »Herr von Walde ist doch noch nicht zu alt zum Heiraten?«

»Ach, gehe mir doch mit dem!« rief Ceres erzürnt. »Die Frau müßte erst noch geboren werden oder geradezu vom Himmel niedersteigen, die dem zusagen sollte . . . Der ist aus lauter Hochmut zusammengesetzt und hat noch weniger Herz als sein Vetter . . . Was habe ich mich als Mädchen über den geärgert, wenn er bei den Hofbällen in der Thür lehnte, die Arme verschränkt, als wären sie zusammengewachsen, und vornehm auf die Versammlung herabsah! Nur wenn er von der Fürstin oder den Prinzessinnen zum Tanzen befohlen wurde, rührte er sich von der Stelle; und auch da hielt er's nicht der Mühe wert, zu verbergen, daß er für diese Ehre keinen Pfifferling gebe . . . Nun, wie er in Bezug auf diejenige denkt, der er den stolzen Namen der Frau von Walde zu Füßen legen würde, das wissen wir ja, er hat's rund heraus erklärt. Ahnen, Ahnen muß sie haben und ihren Stammbaum womöglich vom Männlein und Fräulein in der Arche Noah herleiten können.«

Alle lachten, nur Elisabeth blieb ernst. Fräulein von Waldes Benehmen hatte einen tiefen Eindruck auf sie gemacht. Sie war empört und fühlte ihre Ansichten vom menschlichen Charakter gedemütigt . . . War eine solche Wandlung in wenig Stunden wohl möglich? . . . Für andere mit weniger idealer Anschauung wäre der unbegreifliche Zauber, den die Baronin Lessen auf Helene von Walde ausübte, sofort aufgeklärt worden durch den Ausspruch der Damen, daß das junge Mädchen den Sohn der Baronin liebe – für Elisabeth jedoch nicht. Jenes erhabene Gefühl, das die Dichter aller Zeiten und Zonen begeistert als das Lieblichste und Herrlichste auf Erden feierten, konnte doch unmöglich zur Triebfeder unedler Handlungen werden; ebensowenig konnte sie aber auch begreifen, wie Herr von Hollfeld ein solches Gefühl einzuflößen vermochte. Hier betrat sie den einseitigen Standpunkt, auf welchem wir nach unserer Individualität die Neigung anderer bemessen; aber war es der Instinkt der edlen weiblichen Natur oder in der That jener seltene scharfe Blick, für den die Linien der Physiognomie mit den Fäden der Seele so eng verwebt sind, daß er sie verfolgen kann bis zu ihrem Ursprunge – genug – hier war ihr Urteil über einen Menschen, mit dem sie doch eigentlich noch fast gar nicht verkehrt hatte, vollkommen gerechtfertigt.

Herr von Hollfeld war durchaus nicht befähigt, das Ideal einer schönen weiblichen Seele verwirklichen zu können. Er besaß weder Geist noch Witz. Bei alledem war er maßlos eitel und wollte nicht allein durch seine schöne Gestalt Interesse erwecken; er wußte recht gut, daß die meisten Frauen eher ein häßliches Aeußere, als den Mangel an innerem Fond verzeihen. Es blieb ihm mithin nichts anderes übrig, als jene Verschlossenheit und Schroffheit des Wesens anzunehmen, hinter denen die Welt sehr leicht geneigt ist, durchdringenden Verstand, Originalität und Strenge der Ansichten zu vermuten. Es gab keinen Mann in der Welt, der sich rühmen konnte, auf vertrautem Fuße mit Herrn von Hollfeld zu stehen; er war schlau genug, jeden Einblick in sein Inneres abzuwehren, und vermied streng jedes eingehende Gespräch mit Männern; den Damen genügte jene rauhe Schale vollkommen, um hier das Sprichwort vom »desto süßeren Kern« in Anwendung zu bringen. Herr von Hollfeld verstand zu rechnen. Er wurde der Gegenstand stiller Wünsche und Sehnsucht, wie ja das Eroberungsgelüst in der Schwierigkeit den Sporn findet. Was indes Hollfelds Geiste an Kraft und Feuer gebrach, das wurde vollkommen ausgeglichen im Gebiete der niederen Leidenschaften, unter denen die Habsucht und die sinnliche Liebe die Hauptstimme hatten. Um seine Stellung in der Welt zu einer glänzenden und angenehmen zu machen, scheute er keine Intrige; er hatte den ergiebigsten Boden für dieselbe unter den Füßen, denn er war Kammerjunker am Hofe zu L. Er log und trog und war um so gefährlicher, als hinter seinem geraden, trockenen Wesen niemand, nicht einmal die Männer, einen solchen Feind vermuteten, so wenig, wie die Frauen zugegeben haben würden, daß da, wo ihrer Ueberzeugung nach die köstliche Perle, die Liebe, noch unberührt schlief, eine unreine Flamme verheerend lodere.

Elisabeth war froh, als sie den Onkel um die Ecke biegen und auf das Haus zukommen sah. Tief aufatmend saß sie endlich an seiner Seite im Wagen. Sie hatte den Hut abgenommen und badete die heiße Stirn in einem köstlich frischen Abendlüftchen, das leise vorüberstrich. Aus den schwach zitternden Blättern der Pappeln zu beiden Seiten der Fahrstraße glänzte der letzte Sonnenstrahl; auch über die blühenden Kartoffelfelder flog noch ein goldener Hauch, aber der Wald, der mit seinen Armen Elisabeths trautes Heim umschloß, lag dunkel und düster da drüben, als habe er bereits das sonnige Leben vergessen, das ihm doch heute bis in das innerste Herz geschlüpft war.

Der Oberförster hatte das schweigende junge Mädchen einige Male von der Seite angesehen. Plötzlich nahm er Zügel und Peitsche in eine Hand, faßte mit der anderen Elisabeths Kinn und bog ihr Gesicht zu sich herüber.

»He, laß mal sehen, Else!« sagte er. »Was, zum Henker, hast ja zwei Runzeln auf der Stirn, so tief, wie der Sabine ihre Ackerfurchen! . . . Hat's was gegeben da drin? Heraus mit der Sprache – du hast dich geärgert, nicht?«

»Nein, Onkel, Aerger war's nicht, aber geschmerzt hat es mich, daß du so recht gehabt hast hinsichtlich deiner Ansicht über Fräulein von Walde,« entgegnete Elisabeth, indem ein tiefes Rot der Erregung über ihre Züge flog.

»Geschmerzt, weil ich recht behielt, oder weil Fräulein von Walde unrecht gethan hat?«

»Nun eigentlich, weil es böses war, was du prophezeit hast.« –

»So solltest du mir auch nun von Rechts wegen gram sein, gelt? Dürftest an einem Hofe gelebt haben, wo derjenige der Strafbare ist, der sich unterfängt, über einen nichtsnutzigen Bevorzugten die Wahrheit zu sagen . . . Na, und welcher Vorfall verschafft denn meiner geschmähten Lebensweisheit den Sieg?«

Sie schilderte ihm Helenes Benehmen und teilte ihm auch die Vermutungen der Damen mit. Der Oberförster lächelte vor sich hin.

»Ja, die Weiber, die Weiber – und die da drinnen vollends!« sagte er. »Die lassen die Leute schon miteinander verheiratet sein, wenn sie zum erstenmal in ihrem Leben guten Tag zu einander sagen . . . Na, in dem Falle können sie übrigens recht haben, was ich bis jetzt nicht begriffen habe.«

»Um einer solchen Neigung willen, Kind, sind schon ganz andere Dinge geschehen, und wenn ich auch Fräulein von Waldes Schwäche und Nachgiebigkeit durchaus nicht billige, weit entfernt! so beurteile ich sie doch jetzt milder . . . Das ist die Macht, die uns selbst Vater und Mutter vergessen läßt um eines anderen willen.«

»Ja, das eben kann ich mir ganz und gar nicht vorstellen, Onkel, wie man einen fremden Menschen lieber haben kann als die eigenen Eltern,« entgegnete Elisabeth eifrig.

»Hm,« meinte der Oberförster und ließ die Peitsche leicht auf den Rücken des Braunen fallen, um ihn ein wenig anzutreiben. Diesem »Hm« folgte ein leichtes Räuspern, und dabei ließ er es bewenden; denn er dachte ganz richtig. »Steht es so, dann wird meine Definition der Liebe nicht verstanden, und wenn ich mit Engelszungen spräche« – und er selbst! . . . Die Zeit lag fern, da er den Namen der Geliebten in die Baumrinde geschnitten, und seine Stimme gezwungen hatte, in zarten Liebesliedern hinzuschmelzen; da er stundenweit gelaufen war, um einen einzigen Blick zu erhaschen, und denjenigen als seinen bittersten Feind gehaßt hatte, der es wagte, die Angebetete beifällig anzusehen. Jetzt blickte er beschaulich zurück und freute sich jener tollen Zeit; sie aber, mit ihrem Wogengebrause aufgeregter Gefühle, mit ihrem Lachen und Weinen, Hoffen und Verzagen zu schildern, das vermochte er nicht mehr.

»Siehst du dort den schwarzen Strich über dem Waldeck?« fragte er dann nach einem längeren Schweigen, indem er mit der Peitsche nach den immer näher rückenden Bergen zeigte.

»Jawohl, das ist die Fahnenstange auf Schloß Gnadeck. Ich habe sie schon vorhin entdeckt und bin in diesem Augenblicke unsäglich froh in dem Gedanken, daß dort ein Stückchen Erde ist, auf welchem wir heimisch sind, eine Stätte, von der niemand in der Welt das Recht hat, uns zu vertreiben. Gott sei Dank, wir haben eine Heimat!«

»Und was für eine!« sagte der Oberförster, während sein leuchtender Blick über die Gegend flog. »Als ich noch ein kleiner Junge war, da lebte schon die Sehnsucht nach den Thüringer Wäldern in mir, und daran war der Großvater schuld mit seinen Erzählungen. Er hatte seine Jugendzeit in Thüringen verlebt und schüttelte Sagen und Märchen seiner Heimat förmlich aus dem Aermel. Nachdem ich denn meine Sache gelernt hatte, wanderte ich hierher. Damals gehörte noch der ganze Forst, den wir hier vor uns sehen, den Gnadewitzen; aber denen mochte ich nicht dienstbar sein, ich kannte diese Menschenkinder genug von meinem Vater her. Ich war der erste Ferber seit undenklichen Zeiten, der darauf verzichtete, in ihren Diensten zu stehen, und ließ mich beim Fürsten von L. anstellen. Der Universalerbe des letzten Gnadewitz hat die großen Waldungen geteilt, weil der Fürst von L. seinen Waldbesitz zu vergrößern wünschte und sich diese Liebhaberei ein tüchtiges Stück Geld kosten ließ. So kam es, daß ein lebhafter Wunsch meiner Jugend erfüllt wurde, denn ich wohne jetzt in dem Hause, das eigentlich die Wiege der Ferber ist. – Du weißt doch, daß wir aus Thüringen stammen?«

»Jawohl, schon seit meiner Kinderzeit.«

»Weißt auch, was es für Bewandtnis mit unserer Herkunft hat?«

»Nein.«

»Nun, es ist freilich schon ein wenig lange her, und ich bin vielleicht noch der einzige, der die Geschichte kennt; aber ganz verlieren soll sie sich doch nicht, das Andenken ist ja der einzige Dank, den wir Nachkommen für eine brave That haben können; drum sollst du die Geschichte jetzt hören, und später einmal erzählst du sie weiter . . . Vor etwa zweihundert Jahren – du siehst, wir können unsere Stammbaum auch ein gutes Stück zurückleiten, nur schade, daß wir nicht zu sagen wissen, wer unsere Ahnenmutter war; solltest du indes einmal gefragt werden, vielleicht von der Frau Baronin Lessen und dergleichen, so kannst du getrost sagen, daß wir vermuten, es sei – wenn auch nicht gerade die Gustel von Blasewitz, denn die Geschichte spielt im Dreißigjährigen Krieg – so doch eine Marketenderfrau gewesen . . . Vielleicht war es auch eine rechtschaffene, brave Frau, die bei ihrem Manne in allen Bedrängnissen des Krieges treu ausgehalten hat; aber verzeihen kann ich's ihr doch nicht, daß sie ihr Kind verlassen konnte . . . Nun also, vor etwa zweihundert Jahren sieht die Frau des Jägers Ferber, als sie in der Morgenfrühe die Hausthür aufmacht – dieselbe, die jetzt auch mein Hab und Gut verschließt – ein Kindlein auf der Schwelle liegen. Heisa, die hat die Thür wacker zugeschlagen, denn damals hat sich viel Zigeunergesindel in den Wäldern umhergetrieben, und sie hat gemeint, es sei solch ein unreines Wesen. Ihr Mann aber war christlicher, er hat das Kind hereingeholt, es war kaum einen Tag alt. Auf seiner Brust hat ein Zettel gelegen, der hat gesagt, man möge sich des kleinen Knaben annehmen, er sei ehelich geboren und habe in der heiligen Taufe den Namen Hans erhalten, man werde später näheres über das Kind erfahren. In dem Wickelkissen hat auch ein Beutelchen mit etwas Geld gesteckt. Die Jägersfrau ist sonst ein gutes Weib gewesen, und als sie gehört hat, daß der Knabe von christlichen Eltern und wahrscheinlich ein ehrlich Soldatenkind sei, das wohl die Eltern ausgesetzt hatten, um es nicht in die Gefahren des Krieges zu bringen, da hat sie ihn an ihr Herz genommen und mit ihrem kleinen Mädchen aufgezogen, als ob sie Geschwister seien. Und das war sein Glück, denn es hat sich keine Menschenseele von seinen Verwandten wieder um ihn gekümmert. Später hat ihn sein Pflegevater adoptiert, und um sein Glück vollzumachen, hat er auch sein schönes Milchschwesterlein heimführen dürfen. Er sowohl wie auch sein Sohn und ein Enkel haben als Jäger der von Gnadewitz in meiner jetzigen Wohnung darin gelebt und sind auch darin gestorben. Erst mein Großvater ist auf die Besitzung nach Schlesien versetzt worden . . . Als Knabe ärgerte ich mich immer unbeschreiblich, daß nicht nach so und so viel Jahren eine gräfliche Mutter aufgetaucht war, die in dem Findlinge ihr durch Bosheit geraubtes Kind erkannt und ihn triumphierend in ihr Schloß zurückgeführt hatte. Diese fehlende romantische Wendung im Geschicke unseres Ahnherrn habe ich freilich später um so lieber verschmerzt, als mir der Gedanke kam, daß mein Erscheinen auf dieser schönen Welt dann doch vielleicht ein sehr zweifelhaftes sei; auch gefiel mir mein wackerer Name zu gut, als daß ich einen anderen hätte führen mögen . . . Aber wunderbar war mir doch zu Mute, als ich zum erstenmal die Schwelle überschritt, auf welcher der kleine Ausgesetzte wohl den hilflosesten Augenblick seines Lebens verbringen mußte; seine natürlichen Versorger hatten ihn verlassen, und das Mitleid hatte ihre Stelle noch nicht eingenommen . . . Der tief ausgetretene Stein ist ohne Zweifel noch derselbe, auf dem das Kind gelegen hat, und solange ich lebe oder in dem Hause etwas zu sagen habe, soll er nicht von seiner Stelle gerückt werden.«

Plötzlich beugte sich der Oberförster vor und deutete durch die Zweige, denn man fuhr bereits im Walde.

»Siehst du dort den weißen Punkt?« fragte er.

Der weiße Punkt war die Haube Sabines, welche vor der Thür saß und nach den Rückkehrenden ausschaute. Als sie des Wagens ansichtig wurde, stand sie eiligst auf, schüttelte den Inhalt ihrer Schürze, der sich später als eine Menge Vergißmeinnicht auswies, in einen neben ihr stehenden Korb und half Elisabeth beim Aussteigen.

Der Braune trabte wiehernd hinter das Haus, wo bereits der Knecht in dem offenen Hofthore wartete, und das Thier mit einem liebkosenden Schlage empfing. Hektor legte sich schwanzwedelnd auf den Rasen nieder, und die durch den Lärm verjagten Tauben und Spatzen kehrten nach und nach zurück und hüpften zutraulich auf den Tisch und die grün angestrichene Bank unter der Linde, wo der Oberförster sein Frühstück und Abendbrot einzunehmen pflegte, und das wußten die kleinen Schmarotzer sehr genau. Er ging auch nur in das Haus, um seine Uniform mit einem bequemen Hausrocke zu vertauschen, und kehrte bald mit Pfeife und Zeitungen unter die Linde zurück, wo Sabine bereits gedeckt hatte.

»Gelt, das ist auch ein närrischer Sonntagszeitvertreib für so ein altes Weibsbild, wie ich bin?« sagte die Haushälterin im Vorübergehen lachend zu Elisabeth, die, auf der nun so interessant gewordenen Thürschwelle sitzend, den Korb mit den Blumen auf den Schoß genommen hatte und an dem Kranze weiterflocht, den die Alte angefangen. »Aber ich bin das nun einmal so gewöhnt von meiner Jugendzeit her. Da hab' ich zwei kleine schwarze Bildchen in meiner Kammer – sie stellen meine seligen Eltern vor; die habend wohl um mich verdient, daß ich ihr Andenken ehre und ihnen ein frisches Kränzchen hinstelle, solange es ›Blümelein‹ gibt. Ein paar Kinder aus Lindhof bringen mir jeden Sonntag frische; heute aber hab ich so viel bekommen, daß auch ein Kranz für Goldelschen abfällt – wenn Sie den in einen Teller voll Wasser legen, da haben Sie die ganze Woche etwas Schönes vor Augen.«

Noch eine Zeitlang saß heute abend Elisabeth mit dem Onkel zusammen. In dem Oberförster waren eine Menge Erinnerungen wach geworden. Mit dem Erzählen der zweihundertjährigen Familiengeschichte waren auch viele Entschlüsse, Pläne und Empfindungen seiner Jugendzeit aufgetaucht, die er jetzt mitleidig lächelnd an sich vorübergehen ließ; sie waren samt und sonders vor dem reellen Leben zerstoben, wie Spreu im Winde. Er erzählte behaglich, wie einer, der auf sicherem Lande steht und nur von fern noch das Rauschen der Brandung hört, die ihm nichts mehr anhaben kann. Manchmal fiel auch ein Witzwort oder eine Neckerei dazwischen, die von Elisabeth oder Sabine, wem es gerade galt, gehörig pariert und zurückgegeben wurden.

Mittlerweile flog ein heller Schein hinter den Baumwipfeln auf, die erst gestaltlos mit dem dunklen Himmel vermischt, jetzt in scharfen Umrissen auf dem lichten Hintergrunde erschienen. Einzelne Lichter zuckten wie silberne Pfeile durch gekreuzte Aeste und blieben als kleine Lichtoasen eine Zeit lang unbeweglich auf der nachtdüsteren Wiese liegen, bis endlich der Mond groß und siegreich über den Baummassen schwebte und seinen bleichen Strahl ungehindert über sie herfließen ließ. Das leichte Abendlüftchen hatte längst seine Flügel zusammengefaltet; man hätte den Schatten der Lindenblätter auf dem hellbeleuchteten Rasen nachzeichnen können, so unbeweglich hingen sie droben. Desto vernehmlicher drang das Brunnengeplätscher aus dem Hofe über das Haus herüber und ein schwaches, unbestimmtes Geräusch von den Wäldern her, was Elisabeth ›das schlaftrunkene Regen‹ des Waldes nannte.

»Da,« sagte Sabine und drückte den eben fertiggewordenen Vergißmeinnichtkranz auf Elisabeths Stirn. »So bringen Sie ihn unzerdrückt heim.«

»Da mag er auch bleiben,« meinte lachend das junge Mädchen und erhob sich. »Schönen Dank für die Spazierfahrt! . . . Gute Nacht, Onkel! Gute Nacht, Sabine!«

Damit eilte sie durch Haus und Hof und stand bald droben auf dem Berge außerhalb des Gartens, dessen Thür sie zuschlug. Sie flog auf dem schmalen, mondbeglänzten Waldwege aufwärts. Droben im Wohnzimmer brannte die Lampe, der Lichtschimmer war trotz der Mondbeleuchtung weithin sichtbar, weil die Front des Zwischenbaues im tiefen Schatten lag. Als sie auf die Waldblöße heraustrat, fiel ein merkwürdiger Schatten quer über ihren Weg . . . das war weder ein Baum noch ein Pfahl, sondern eine fremde Männergestalt, die seitwärts gestanden hatte und jetzt zu ihrem Schrecken auf sie zuschritt. Die Erscheinung nahm höflich den Hut ab, und in dem Augenblicke verschwand Elisabeths Furcht, denn sie blickte in das lächelnde, gutmütige Gesicht eines ältlichen, feingekleideten Herrn.

»Verzeihung, mein Fräulein, wenn ich Ihnen vielleicht einen kleinen Schrecken eingejagt habe,« sagte er und blickte freundlich über zwei große, funkelnde Brillengläser hinweg in ihr Gesicht, »aber ich habe es weder auf Ihr Leben noch auf Ihre Börse abgesehen und bin nichts weiter als ein heimkehrender, friedlicher Reisender, der gern wissen möchte, was es mit dem Lichte da droben in den Ruinen für ein Bewenden hat . . . Ich überzeuge mich übrigens in diesem Augenblicke, daß es ganz überflüssig war, zu fragen . . . Die Feen und Elfen führen dort ihren Reigen auf, und die Schönste streift im Walde umher, um keinen ungestraft des Weges ziehen zu lassen, der ihren gefeiten Ring betritt.«

Der galante Vergleich, so abgenutzt er übrigens auch sein mochte, war doch in diesem Augenblicke nicht übel angewendet, denn die schlanke Mädchengestalt im weißen Gewande, den blauen Kranz über dem engelschönen Gesichte und vom Mondlichte umflossen, konnte recht wohl für eine Märchenerscheinung gelten, als sie so leicht durch die Gebüsche über den einsamen Berg dahinflog.

Sie selbst aber lachte innerlich über das seichte Kompliment und dachte zugleich ein wenig entrüstet, sie sehe doch wahrhaftig nicht so leichtfertig aus wie solch ein quecksilbernes Elfenkind, und das wollte sie dem alten Herrn auf der Stelle klarmachen.

»Es thut mir leid,« sagte sie leicht, »daß ich Sie in die rauhe Wirklichkeit zurückführen muß, aber ich wüßte wahrhaftig nicht, wie ich es anfangen sollte, dort in dem Lichte etwas anderes zu sehen, als die respektable Lampe in der gemütlichen Stube eines fürstlich L.schen Forstschreibers.«

»Ei,« lachte der Herr, »und haust der Mann ganz allein in den unheimlichen alten Mauern?«

»Er könnte es getrost wagen, denn über den, der den rechten Weg wandelt, haben die ›Unheimlichen‹ keine Gewalt . . . Uebrigens leisten ihm noch einige lebende Wesen Gesellschaft, unter anderen auch zwei gutgeartete Ziegen und ein allerliebster Kanarienvogel; die Eulen ungerechnet, die sich jedoch sehr indigniert ins Privatleben zurückgezogen haben, weil sich das Treiben lustiger Menschenkinder nicht mit der ernsten Lebensanschauung dieser gestrengen Herren verträgt.«

»Oder auch, weil sie lichtscheu sind und es nicht vertragen können . . .«

»Daß der neue Ankömmling die Wahrheit verehrt?«

»Auch möglich . . . Ich wollte aber eigentlich sagen, daß sie die zwei Sonnen fliehen, die plötzlich in den Ruinen aufgegangen sind.«

»Zwei Sonnen auf einmal? . . . Das wäre aber auch eine starke Zumutung für die armen Eulenaugen und möchte selbst einem Feueranbeter zuviel werden!« entgegnete lachend Elisabeth, indem sie mit einer leichten Verbeugung an ihm vorübereilte, denn die Eltern traten eben aus dem Mauerpförtchen und gingen ihr einige Schritt entgegen. Sie waren besorgt heruntergeeilt, als sie Elisabeths Stimme und die eines fremden Mannes gehört hatten, und gaben ihr nun, nachdem sie ihr kleines Abenteuer erzählt hatte, einen sanften Verweis dafür, daß sie so rückhaltlos auf ein Gespräch eingegangen war.

»Deine Neckerei hätte sehr unangenehme Folgen für dich haben können, mein Kind,« sagte die Mutter. »Zum Glück sind es Männer von Bildung gewesen . . .«

»Männer?« unterbrach sie das junge Mädchen erstaunt. »Es war ja ein einziger.«

»Nun, dann sieh dich um,« sagte der Vater, »dort kannst du sie noch sehen.«

Wirklich tauchten da, wo der Weg anfing, steil abwärts zu laufen, noch zwei helle Herrenhüte auf.

»Da kannst du sehen, Mütterchen,« meinte Elisabeth lachend, »wie wenig verfänglich die Begegnung gewesen ist. Der eine hat sich nicht einmal aus dem Gebüsche heraus getraut, und hinter dem guten, alten Gesichte des anderen steckt sicher auch nicht das Atom einer Banditenseele.«

Oben in ihrem Zimmer nahm sie vorsichtig den Kranz von der Stirn, legte ihn auf einen Teller und stellte beides unter Beethovens Büste. Dann küßte sie den schlafenden Ernst auf die Stirn und sagte den Eltern gute Nacht.


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