E. Marlitt
Goldelse
E. Marlitt

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10.

Kaum eine Woche war seit jenem Abende vergangen. Diese wenigen Tage aber hatten einen gewaltigen Umschwung im Lindhofer Schlosse hervorgebracht, wie man hörte. Der entlassene Verwalter war bereits durch einen neuen ersetzt, dem jedoch sehr enge Grenzen gesteckt waren, indem der Gutsherr sich selbst die Oberaufsicht vorbehielt. Einige Taglöhner, die man eigenmächtig verabschiedet hatte, weil sie dem Ortsgeistlichen anhingen und der Bibelstunde im Schlosse einigemal untreu geworden waren der dringenden Arbeit wegen, oder auch, weil sie von Kandidaten Möhring das Wort Gottes nicht hören wollten, arbeiteten wieder nach wie vor auf dem Gute. Gestern, als am Sonntage, hatte Herr von Walde in Begleitung der Baronin Lessen und der kleinen Bella dem Gottesdienste in der Dorfkirche zu Lindhof beigewohnt. Herr Kandidat Möhring war zum Erstaunen der Gemeinde als Zuhörer neben der Orgel erschienen – und mittags hatte der würdige Dorfpfarrer im Herrschaftshause gespeist . . . Doktor Fels kam jeden Tag nach Lindhof, denn Fräulein von Walde war krank. Das war jedenfalls der Grund, weshalb Elisabeth bisher keine Aufforderung erhalten hatte, wieder zur Stunde zu kommen, und auch die Ursache, meinte der Oberförster, daß die Baronin Lessen der Verbannung nach Sibirien entgangen sei; »denn«, sagte er, »Herr von Walde wird kein solcher Barbar sein, die kranke Schwester noch kränker zu machen, indem er ihr den liebsten Umgang raubt, und wenn das auch nicht gerade die Baronin ist, so hören doch mit ihrer Entfernung selbstverständlich auch die öfteren und langen Besuche ihres Sohnes auf.« Das war boshaft, »aber unumstößlich richtig kalkuliert«, wie er hinzufügte.

Im Dorfe wußte man, daß es auf dem Gute furchtbare Stürme gegeben hatte, bis die Luft rein geworden war. Herr von Walde hatte die drei ersten Tage nach seiner Ankunst allein auf seinem Zimmer gegessen und sämtliche Briefchen der Baronin, mit denen die alte Kammerfrau zu allen Tageszeiten vor seiner Thür gesehen worden war, zurückgewiesen, bis endlich das heftige Unwohlsein seiner Schwester ihn mit der Kousine im Krankenzimmer zusammengeführt hatte. Seit jenem Tage war der Verkehr scheinbar wieder im Geleise, wenn auch die Bedienten erzählten, daß bei Tische fast kein Wort gesprochen werde. Herr von Hollfeld war auch einmal herübergekommen, um den Heimgekehrten zu begrüßen; man wollte aber bemerkt haben, daß er nach sehr kurzem Aufenthalte mit einem bedenklich langen Gesichte wieder heimgeritten war.

An einem trüben, regnerischen Augusttage war Elisabeth von Fräulein von Walde ersucht worden, doch auf eine halbe Stunde ins Schloß zu kommen. Die Dame war nicht allein, als das junge Mädchen eintrat. Im Fenster saß Herr von Walde. Die hohe Gestalt in einem Fauteuil zurückgelehnt, berührte sein Kopf leicht die hellbekleidete Wand, wodurch das dunkle Braun seines Haares auffallend hervortrat. Seine Rechte hing, die Zigarre zwischen den Fingern haltend, nachlässig vom Fenstersimse herab, während er die Linke gehoben hielt, als habe er soeben gesprochen. Seine Nachbarin, die Baronin Lessen, hielt den Oberkörper vorwärts gebeugt und schien seinen Worten mit einem äußerst verbindlichen Lächeln zu lauschen, obgleich die Rede augenscheinlich nicht an sie selbst, sondern an Helene gerichtet war; sie saß ihm ziemlich nahe und hatte eine Häkelarbeit in der Hand; im ganzen sah die Gruppe sehr friedfertig aus. Auf einer Chaiselongue lag Fräulein von Walde. Ein weiter Schlafrock umhüllte die kleine Gestalt, und die schönen braunen Locken waren unter ein Morgenhäubchen gesteckt, dessen Rosabänder die krankhafte Blässe ihres Gesichtes noch mehr hervorhoben. Auf ihrem ausgestreckt Finger saß der Kakadu; sie hielt ihn von Zeit zu Zeit liebkosend an ihre Wange. Das »abscheuliche Tier« hieß jetzt Liebchen, durfte schreien, soviel es wollte, und wurde höchstens durch ein mitleidiges: »Was ärgert denn mein Herzchen?« zu beschwichtigen gesucht – also auch hier Versöhnung und vollkommener Friede.

Bei Elisabeths Eintreten winkte Helene ihr freundlich mit der Hand entgegen; es entging jedoch dem jungen Mädchen nicht, daß sie mit einer leichten Verlegenheit zu kämpfen hatte.

»Lieber Rudolf,« sagte sie, indem sie Elisabeth bei der Hand nahm, »du siehst hier die liebenswürdige Künstlerin, der ich manche genußreiche Stunde verdanke . . . Fräulein Ferber – von ihrem Onkel und bereits auch in der Umgegend Goldelschen genannt – spielt so hinreißend, daß ich sie bitten will, uns heute den trüben, grauen Himmel vergessen zu machen. Sie sehen, liebes Kind,« wandte sie sich an Elisabeth, »daß ich noch unfähig bin, Ihnen am Klavier Gesellschaft zu leisten; wollen Sie die Freundlichkeit haben, etwas allein zu spielen?«

»Von Herzen gern,« erwiderte Elisabeth, »aber ich werde sehr ängstlich sein; denn Sie haben mir selbst zwei unbesiegbare Mächte entgegengestellt, die Wolken da draußen und das günstige Vorurteil, das Sie soeben für mein Spiel geweckt haben.«

»Darf ich mich jetzt auf eine Stunde beurlauben?« fragte die Baronin, indem sie ihre Arbeit zusammenlegte und sich erhob. »Ich möchte mit Bella ein wenig ausfahren, das arme Ding ist so lange nicht an die Luft gekommen.«

»Nun, ich meine, die kann sie stets aus der ersten Hand haben, wenn sie sich die Mühe nimmt, den Kopf zum Fenster hinauszustrecken,« sagte Herr von Walde trocken, während er die Asche von seiner Zigarre abstrich.

»Mein Gott, ist es dir unangenehm, Rudolf, wenn ich fahre? . . . Ich bleibe auf der Stelle zu Hause, wenn –«

»Ich wüßte in der That nicht, weshalb ich dich abhalten sollte. Fahre so oft und so viel es dir beliebt,« war die gleichmütige Antwort.

Die Baronin preßte die Lippen zusammen und wandte sich zu Helene. »Also bleibt es dabei, daß der Kaffee auf meinem Zimmer getrunken wird? . . . Sehr lange bleibe ich doch nicht draußen, des Sprühregens halber; ich bin pünktlich in einer Stunde zurück und werde es mir nicht nehmen lassen, dich, liebste Helene, selbst in mein Zimmer zu fahren.«

»Das wirst du dir doch wohl nehmen lassen müssen,« sagte Herr von Walde. »Es ist mein Amt seit vielen Jahren, und ich will nicht hoffen, daß meine Schwester glaubt, ich sei während meiner Abwesenheit zu ungeschickt geworden.«

»Gewiß nicht, lieber Rudolf . . . ich bin dir sehr dankbar, wenn du so freundlich sein willst!« rief lebhaft Helene, während ihr Blick ängstlich zwischen den beiden hin und her flog. Die Baronin hatte jedoch ihren Aerger bereits tapfer niedergekämpft. Mit dem verbindlichsten Lächeln auf den Lippen reichte sie Herrn von Walde die Hand, küßte Helene auf die Wange und rauschte mit einem. »Nun denn, auf Wiedersehen!« zur Thür hinaus.

Während dieser kurzen Verhandlung beobachtete Elisabeth die Gesichtszüge des Mannes, dessen Blick und Stimme ihr neulich einen so tiefen Eindruck gemacht . . . Hatte sich doch der Schrecken – denn das war ohne Zweifel einzig und allein jene mächtig angeregte Empfindung gewesen – soeben wiederholt, als sie, in die Thür tretend, Herrn von Walde unerwartet sich gegenübersah . . . Wie ruhig blickte heute sein Auge, aus welchem damals Funken zu sprühen schienen; ja es wurde sogar eisig kalt, als es auf dem Gesichte der Baronin haftete. Die obere Partie seines Kopfes, die ohnehin in ihren Linien etwas ungemein Strenges hatte, erschien durch diesen Ausdruck der Augen geradezu eisern. Ein schöngepflegter kastanienbrauner Bart umgab Lippen und Wangen und floß in weichen Wellen vom Kinne herab auf die Brust . . . Herr von Walde sah nicht jung aus, und wenn auch seine schlanke Gestalt viel Elastizität bewahrt hatte, so gaben doch die unbeschreibliche Beherrschung und Ruhe in Haltung und Gebärden seinem ganzen Auftreten jene Respekt einflößende Würde, wie sie nur dem reiferen Manne eigen sein kann.

Als die Baronin das Zimmer verlassen hatte, öffnete Elisabeth den Flügel.

»Nein, nein, keine Noten!« rief Helene hinüber, als sie sah, daß das Mädchen unter den Musikalien suchte und wählte. »Wir wollen Ihre eigenen Gedanken hören, bitte, spielen Sie aus dem Stegreife.«

Elisabeth setzte sich ohne Zögern nieder. Bald hatte sie in der That die Außenwelt vergessen. Ein Melodienreichtum quoll in ihr auf, der ihre Seele hoch emportrug. In solchen Momenten empfand sie stets beseligt, daß sie vor Tausenden anderer Sterblicher begnadigt sei, denn sie hatte die Macht, der leisesten Regung ihres Herzens Ausdruck verleihen zu können. Die Klarheit ihrer ganzen inneren Welt spiegelte sich in den Klängen wieder; nie noch hatte sie nach der verkörpernden Melodie ihre Empfindung suchen müssen, sie lag fertig in ihrem Innern, wie das Gefühl selbst . . . Heute aber mischte sich etwas in die Töne, was sie nicht begreifen konnte; es hatte durchaus keine eigene Stimme; sie hätte es um keinen Preis verfolgen und erfassen können, denn es flog nur wie ein neuer, unbekannter Hauch über die Tonwellen. Es war ihr, als wandelten Schmerz und Freude nicht mehr nebeneinander, sondern flössen in eins zusammen . . . Dies Suchen nach dem Wesen jenes unfaßbaren Klanges ließ sie aber immer tiefer in ihre Gefühlswelt hinabsteigen. Das ganze süße Geheimnis einer reinen, keuschen Mädchenseele entfaltete sich allmählich vor den Zuhörern, sie blickten in einen Wunderbrunnen, aus dessen Tiefe die äußere Erscheinung des jungen Mädchens doppelt verklärt wieder auftauchte, denn es war ja eine unlösbare Harmonie in ihrem äußeren und inneren Menschen.

Der letzte leise Akkord war verklungen. An Helenes Wimpern hingen zwei schwere Thränen, die Blässe ihres Gesichts war fast geisterhaft geworden. Sie blickte nach ihrem Bruder, aber er hatte das Gesicht abgewendet und sah hinaus in der Garten. Als er sich endlich umdrehte, waren seine Züge ruhig wie immer, nur eine leichte Röte färbte seine Stirn, die Zigarre war seinen Fingern entglitten und lag auf dem Boden. Er sagte Elisabeth, die sich inzwischen erhoben hatte, nicht ein Wort über ihr Spiel. Helene, der das Schweigen sichtbar peinlich wurde, erschöpfte sich in Lobeserhebungen, um dem jungen Mädchen die Kälte und Indolenz ihres Bruders vergessen oder wenigstens weniger fühlbar zu machen.

»War das wieder einmal genial!« rief sie. »Die Leute in B. hatten sicher keine Ahnung von dem goldenen Liederquell in Elschens Brust, sonst hätten sie wohl das liebe Mädchen nicht in die Thüringer Wälder auswandern lassen.«

»Sie haben bis jetzt in B. gelebt?« fragte Herr von Walde, das Auge auf Elisabeth richtend; sie sah einen Augenblick hinein, das Eis war geschmolzen, ein seltsamer Schimmer tauchte dafür auf.

»Ja,« antwortete sie einfach.

»Aus einer großen, schönen Stadt, die alle erdenklichen Genüsse und Annehmlichkeiten bietet, plötzlich in den stillen Wald, auf einen einsamen Berg versetzt zu werden, das ist ein unliebsamer Tausch . . . Sie waren natürlich trostlos über diese Veränderung?«

»Ich betrachtete sie als ein unverdientes Glück,« war die unbefangene Antwort.

»Wie? . . . Sonderbar . . . Ich meine, man greift nicht nach der Distel, wenn man die Rose haben kann.«

»Ueber Ihre Meinungen habe ich begreiflicherweise kein Urteil.«

»Ganz recht, weil Sie mich nicht kennen . . . jene Ansicht ist jedoch eine ganz allgemeine.«

»In ihrer Anwendung ist sie einseitig.«

»Nun denn, ich will Ihre Geschmacksrichtung, mit der Sie unter Ihren Altersgenossinnen wohl schwerlich eine gleichgesinnt Seele finden dürften, nicht weiter anfechten . . . In Ihrem Interesse will ich jedoch glauben, daß es Ihnen nicht ebenso leicht geworden ist, Ihre Freunde zu verlassen.«

»Sehr leicht sogar; denn – ich hatte keine.«

»Ist das möglich?« rief Fräulein von Walde. »Sie hatten mit niemand Verkehr?«

»O ja; aber das waren Leute, die mich bezahlten.«

»Sie gaben Unterricht?« fragte Herr von Walde.

»Ja.«

»Aber hatten Sie nie das Bedürfnis, eine Freundin zu besitzen?« rief Helene lebhaft.

»Niemals, denn ich habe eine Mutter,« erwiderte Elisabeth mit einem Tone tiefen Gefühls.

»Glückliches Kind!« murmelte jene und senkte den Kopf.

Elisabeth fühlte, daß sie hier eine wunde Stelle in Helenes Herzen berührt hatte. Es that ihr leid und sie wünschte lebhaft, den Eindruck zu verwischen. Herr von Walde schien diese Gedanken auf ihrem Gesicht zu lesen; denn ohne auf Helenes Verstimmung zu achten, frug er. »Und war es der Thüringer Wald ganz besonders, wo Sie zu leben wünschten?«

»Ja.«

»Und warum?«

»Weil mir schon in meiner frühesten Kindheit erzählt wurde, daß wir aus den Thüringer Bergen stammen.«

»Ah, aus dem Geschlechte der Gnadewitze?«

»So hieß früher meine Mutter – ich bin eine Ferber,« antwortete Elisabeth bestimmt.

»Sie sagen das mit einem solchen Nachdrucke, als ob Sie Gott dankten, daß Sie jenen Namen nicht zu führen brauchen?«

»Ich bin auch froh darüber.«

»Hm . . . er hat seiner Zeit bedeutenden Klang gehabt.«

»Aber keinen reinen.«

»Ei, was wollen Sie? . . . An allen Höfen hat er so gut gegolten wie unverfälschtes Gold; denn er war sehr alt, und vorzüglich die letzten seiner Träger sind deshalb stets mit den höchsten Würden überhäuft worden.«

»Verzeihen Sie, aber dafür habe ich ganz und gar kein Verständnis, daß . . .« Sie hielt errötend inne.

»Nun? . . . Sie haben den Satz angefangen, und ich bestehe darauf, auch sein Ende wissen zu wollen.«

»Nun, daß Sünden belohnt werden, weil sie alt sind,« erwiderte sie zögernd.

»Gemach, man sagt von mehreren Ahnen der Gnadewitze, daß sie sich tapfer und brav gezeigt haben.«

»Das mag sein, aber es liegt auch ein Unrecht in dem Gedanken, daß dies Verdienst noch nach Jahrhunderten ausgebeutet werden darf von solchen, die nicht brav und tapfer sind.«

»Sollen große Thaten nicht fortwirken?«

»Gewiß, aber wenn wir es verschmähen, ihnen nachzueifern, dann sind wir auch nicht würdig, ihre guten Folgen zu genießen,« gab Elisabeth mit Entschiedenheit zur Antwort.

Ein Wagen rollte donnernd in die Einfahrt. Herr von Walde runzelte die Stirn und strich mit der Hand über die Augen, als sei er unsanft aus einem Traume geweckt worden. Gleich darauf öffnete sich die Thür und die Baronin trat ein. Sie hatte gleich Bella, die heute mit dem Anstande einer erwachsenen jungen Dame neben der Mama herschritt, Hut und Mantille noch nicht abgelegt.

»Da wären wir glücklich wieder! Ist das eine abscheuliche Luft heute! Ich habe es tausendmal bereut, mich hinaus gewagt zu haben, und werde wahrscheinlich für meine mütterliche Fürsorge mit einem tüchtigen Schnupfen büßen müssen . . . Bella möchte gern selbst sehen, wie es dir geht, liebe Helene; ich habe mir deshalb erlaubt, sie mit herein zu nehmen.«

Die Kleine ging geraden Schrittes auf das Ruhebett los. Sie schien Elisabeth nicht zu bemerken, die dicht daneben saß, und streifte sie so hart, als sie sich bückte, um Helenes Hand zu küssen, daß ein Knopf ihres Mantels die leichte Garnierung an Elisabeths Kleid faßten und zerriß. Bella hob den Kopf und schielte seitwärts auf den Schaden, den sie angerichtet; dann drehte sie sich um und ging hinüber zu Herrn von Walde, um ihm die Hand zu geben. »Nun,« sagte dieser, indem er seine Hand zurückzog, »hast du keine Entschuldigung für deine Ungeschicklichkeit?«

Sie erwiderte kein Wort und retirierte neben die Mama, auf deren Wangen die zwei verhängnisvollen roten Flecken erschienen. Der Blick, den sie Elisabeth zuwarf, zeigte indes, daß ihr Unwille nicht dem ungezogenen Töchterchen galt.

»Nun, Kind, kannst du nicht reden?« fragte Herr von Walde nochmals, indem er sich erhob.

»Fräulein Ferber saß aber auch so nahe,« entschuldigte die Baronin an Stelle der hartnäckig schweigenden Bella.

»In der That, ich hätte fortrücken sollen . . . Das Unglück ist ja auch gar nicht so groß,« sagte Elisabeth ängstlich und griff mit einem anmutigen Lächeln nach Bellas Hand. Die Kleine aber that, als sähe sie diese Bewegung nicht, und steckte beide Hände unter den Mantel.

Ohne ein Wort zu sagen, schritt Herr von Walde auf sie zu, faßte sie am Arme und führte sie direkt zur Thür, die er öffnete. »Du gehst jetzt augenblicklich hinüber in dein Zimmer,« gebot er, »und kommst mir nicht eher wieder vor die Augen, als bis ich es wünsche.«

Die Baronin war innerlich außer sich. Ihre Züge arbeiteten einen Augenblick heftig; aber was konnte sie thun? Sie hatte keinerlei Waffen gegen die Gewaltthätigkeit und Barbarei dieses Mannes, der hier Gebieter war und jetzt mit einer so empörenden Ruhe seinen Platz wieder einnahm, als sei er sich der Grausamkeit seiner Handlungsweise nicht im entferntesten bewußt. Endlich siegte die Klugheit der Dame.

»Ich hoffe, lieber Rudolf,« sagte sie, ihre Stimme bebte ein wenig, »du wirst Bella die kleine Unart nicht nachtragen . . . Ich bitte dich, nimm ein wenig Rücksicht, ihre Gouvernante ist gar zu tölpelhaft.«

»Miß Mertens? . . . Nun, der mag es bei ihrer angeborenen Sanftmut und ihrem feinen Takte unsägliche Ueberwindung kosten, Bella so zu erziehen, wie sie sich eben gezeigt hat!«

Ueber die Stirn der Baronin flammte es abermals dunkelrot. Aber sie bezwang sich. »Mein Gott!« rief sie, um dem Gespräche eine andere Wendung zu geben, »da habe ich über der dummen Geschichte ganz und gar vergessen zu sagen, daß Emil von Odenberg herübergekommen ist. Er war zu Pferde, ist sehr naß geworden und wechselt gegenwärtig seinen Anzug . . . Darf er seine Aufwartung machen?«

Eine hohe Glut flog über Helenes Wangen, und aus ihren Augen brach ein leuchtender Strahl des Glückes. Allein sie sprach kein Wort, sondern senkte das Gesicht tief herab, um die Zeichen ihrer inneren Erregung zu verbergen.

»Gewiß,« erwiderte Herr von Walde. »Beabsichtigt er, länger hier zu bleiben?«

»Einige Tage, wenn du es erlaubst.«

»Ganz recht . . . Nun, wir werden ihn ja bei dir sehen, wenn wir zum Kaffee kommen.«

»Er wird sehr glücklich sein . . . Wenn es übrigens gefällig ist, so kann die Uebersiedelung sogleich vor sich gehen; denn meine Kammerfrau meldete mir, als ich aus dem Wagen stieg, daß alles zum Empfange meiner lieben Gäste bereit sei.«

Hier erhob sich Elisabeth und rüstete sich zum Fortgehen. Herr von Walde richtete einen fragenden Blick auf die Baronin. Ohne Zweifel erwartete er, daß sie das junge Mädchen auffordern würde, mitzukommen; die Dame fand jedoch in diesem Augenblicke, daß der Gärtner den Blumentisch im Fenster doch zu reizend arrangiert habe, und vertiefte sich förmlich im Anschauen einer Gruppe Azaleen, wobei sie dem jungen Mädchen den Rücken zukehrte.

Elisabeth verabschiedete sich mit einer tiefen Verbeugung, nachdem ihr Helene mit unsicherer Stimme, aber in herzlicher Weise gedankt hatte. Draußen im Korridor kam ihr Herr von Hollfeld entgegen. Bei ihrem Anblicke verdoppelte er seine Schritte; zugleich fuhr sein Blick wie ein Blitz nach allen Seiten hin, als wolle er sich versichern, daß kein Lauscher in der Nähe sei. Ehe sie sich dessen versah, hatte er Elisabeths Hand erfaßt, drückte einen glühenden Kuß auf dieselbe und flüsterte: »so groß, daß sie im ersten Augenblicke keine Worte finden konnte. Sie zog aber schnell, als sei sie gestochen worden, ihre Hand zurück, und er schien sehr einverstanden damit zu sein, denn Helenes Zimmer wurde in diesem Augenblicke geöffnet und Herr von Walde trat heraus. Hollfeld nahm, als sähe er erst in diesem Augenblicke Elisabeth, den Hut leicht vor ihr ab, wobei seine Züge wieder einen völlig fremden Ausdruck hatten, und ging seinem Verwandten entgegen.

Elisabeth war außer sich über diese Komödie. Zuerst die empörende Vertraulichkeit, die ihr das Blut wallen machte vor Entrüstung, und dann die Verleugnung derselben vor dritten Personen. Ihr Mädchenstolz war tief verwundet. Sie schalt sich, ihn nicht auf der Stelle hart angelassen und seine Dreistigkeit gerügt zu haben. Eine helle Röte stieg ihr in das Gesicht aus Scham darüber, daß ein Mann in der Weise sie berührt hatte . . . es war ihr, als brenne die Stelle noch, auf der die heißen Lippen geruht; sie ließ eilends den Strahl einer Fontaine im Parke über ihre Hand sprühen, um den vermeintlichen Fleck wegzuspülen.

In großer Aufregung kam sie nach Hause und klagte der Mutter unter Thränen des Unwillens die ihr widerfahrene Beleidigung. Frau Ferber war sehr verständig und besaß einen ruhigen, klaren Blick. Sie erkannte sofort aus Elisabeths Entrüstung, daß hier nicht die mindeste Gefahr für das Herz ihres Kindes zu befürchten sei, und war beruhigt. Aeußere Anfechtung ließ sich abwehren, nicht aber der Jammer, den eine unglückliche Neigung heraufbeschwört.

»Du weißt nun, wes Geistes Kind Herr von Hollfeld ist,« sagte sie. »Es wird dir durchaus nicht schwer werden, jede fernere Begegnung mit ihm streng zu vermeiden, und wenn er trotzdem abermals zudringlich werden sollte, ihn gebührend in die Schranken zurückzuweisen . . . Sein Benehmen zeugt von aristokratischem Dünkel und Feigheit, zwei Eigenschaften, die ihn höchst wahrscheinlich nicht weiter vorgehen lassen werden, wenn er sieht, daß du seine Huldigungen verschmähst . . . Auf alle Fälle aber mache dich mit dem Gedanken vertraut, daß dir mit dieser Zurückweisung ein Feind erwächst, der später möglicherweise deine Beziehungen zu Fräulein von Walde lösen wird . . . Das kann dich selbstverständlich nicht einen Augenblick im unklaren lassen, wie du dich zu verhalten hast. Gehe also ruhig und besonnen deinen Weg weiter . . . Vorläufig rate ich dir noch nicht, deine Besuche im Schloß Lindhof einzustellen.«

»O behüte! . . . Das werde ich auch ganz und gar nicht!« rief Elisabeth lebhaft. »Was würde der Onkel dazu sagen, wenn das Küchlein in der That eilig und verscheucht unter die Flügel des Daheim kröche!« fügte sie unter Thränen lächelnd hinzu. »Es wäre doch schlimm, wenn ich von all der Stärke, deren ich mich gerühmt, nicht einmal so viel besäße, um einen zudringlichen Menschen in der Weise abzufertigen, daß ihm die Wiederholung des aufgedrungenen Handkusses für alle Zeit vergeht.«

Sie dachte an ihr heutiges Gespräch mit Herrn von Walde und fand zu ihrer großen Beruhigung, daß sie doch eigentlich sehr tapfer sei; denn diesen durchdringenden Augen, dieser strengen Stirn gegenüber, war es wahrhaftig nicht so leicht gewesen, eine Ueberzeugung auszusprechen, die kecklich an dem stolzen Gebäude seines Ahnenhochmutes zu rütteln wagte. Sie hatte jeden Augenblick erwartet, sein Blick werde sich wieder zu Eis panzern, wie im Gespräch mit der Baronin; allein der eigentümliche Glanz und Ausdruck, der ihr sogleich aufgefallen war, als sie ihm gegenüber Platz genommen, war nicht gewichen; ja, einigemal hatte es ihr sogar geschienen, als ob sich die Lippen unter dem Barte zu einem leisen, kaum bemerkbaren Lächeln verzögen . . . »Vielleicht hat er sich heute in der Rolle des Löwen der Maus gegenüber gefallen. Er hatte großmütig geduldet, daß ein kleines Mädchen seine naiven Ansichten zu seinen Füßen auskrame; dort blieben sie freilich liegen; denn sich danach zu bücken, das war einem hochadligen Rücken nicht zuzumuten – aber sie hatten ihn doch einen Augenblick amüsiert als ein Beweis, daß das Sprüchlein vom Hündlein, welches den Mond anbellt, sich bewahrheite.« . . . Sie sagte sich dies eindringlich, um ihrem ungetreuen Gedächtnisse die allgemein feststehende Ansicht von seinem unbegrenzten Hochmute aufs neue fest einzuprägen.

Sie wußte selbst nicht, wie ihr der Gedanke kam, aber sie war sich plötzlich bewußt, daß sie unter dem Hochmute des Herrn von Walde unsäglich leiden müßte, wenn er denselben ihr gegenüber geltend machen würde; deshalb mußte sie doppelt auf ihrer Hut sein, um sich durch die Formen der allgemeinen Höflichkeit nicht irreführen zu lassen. Daß er diese achte und konsequent zur Geltung zu bringen suche, davon hatte sie schon am nächsten Tage den schlagendsten Beweis.


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