E. Marlitt
Goldelse
E. Marlitt

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6.

Pfingsten war vorüber. Die Glocken, die ehernen, hatten sich ins Stillleben zurückgezogen und blickten droben schwarz und ganz unbeweglich durch die Schalllöcher, als seien sie die Särge des melodischen Lebens, das während der Feiertage die Türme umbraust hatte. Die bunten Glöckchen im Walde aber, lose auf grünem Stengel hängend und ihres feierlichen Amtes wohl bewußt, konnten das Fest nicht vergessen. Sie waren wacker mit eingefallen, wenn es durch die Lüfte harmonisch und erhaben gezittert hatte, und läuteten nun auch unermüdlich weiter bei jedem Windhauche, der durch das Unterholz strich. Es kümmerte sie ganz und gar nicht, daß der Holzhacker, Sonntagsstaat und Festmiene zu Hause lassend, nun mit grober Sohle an ihnen hinstreifte und ein rauhes Lied vor sich hin pfiff. Ließ sich doch der Wald auch nicht irre machen; es zog und wehte geheimnisvoll durch seine Baumwipfel, wie ein von tausend Stimmen geflüstertes Gebet, und die Vögel sangen in den Morgen- und Abendstunden nach wie vor ihre Hymne zur Ehre Gottes.

Droben im alten Schlosse Gnadeck harmonierte die nachhaltige Festtagsstimmung mit der des Waldes, obgleich Ferber seine Geschäfte übernommen und außerdem die unvermeidlichen Antrittsbesuche in L. abzumachen hatte. Frau Ferber und Elisabeth hatten sich durch Sabine bedeutende Aufträge eines Weißwarengeschäfts in L. zu verschaffen gewußt und waren nebenbei im Garten beschäftigt, der in diesem Jahre noch nach Kräften seinen Tribut abgeben sollte. Daß trotz dieser Rührigkeit immer noch ein sonntäglicher Hauch durch die Räume des Zwischenbaues wehte, lag in der gehobenen Stimmung der Familie selbst, die den Einfluß eines glücklichen Wendepunktes in ihrem Leben ungeschwächt fortempfand und sich jeden Augenblick angeregt fühlte, das Sonst mit dem Jetzt zu vergleichen; das Waldleben, so ungewohnt und neu, wirkte fast berauschend auf die Gemüter.

Die zärtlichen Eltern hatten Elisabeth das Zimmer mit den Gobelins angewiesen, weil es die schönste Aussicht bot und gleich bei der ersten Musterung des Zwischenbaues von dem jungen Mädchen für das hübscheste und gemütlichste erklärt worden war. Die unheimliche Thür, die nach dem großen Flügel führte, hatte man wieder zugemauert; die hohen Eichenflügel mit den Messingschlössern und Riegeln bedeckte das Mauerwerk und ließ nicht ahnen, daß jenseits die Wüstenei begann. Den Hintergrund des Zimmers füllte eines der neu hergerichteten Himmelbetten aus; in der Nähe des Fensters befand sich der altertümliche Schreibtisch, außer einem altmodischen Porzellanschreibzeuge und den nötigen Schreibutensilien auch noch zwei hübsche kleine Vasen voll frischer Blumen auf seiner Platte tragend, und draußen auf dem breiten Steinsims, von der Krone eines Syringenbusches schmeichelnd umspielt, stand der gelbe Messingkäfig, in welchem Hänschen, der Kanarienvogel, mit dem ganzen Neide einer verzogenen Bravoursängerin seine schmetternden Triller vor denen der Waldvirtuosen geltend zu machen suchte.

Als das Zimmer eingerichtet wurde und Frau Ferber alle Augenblicke einen neuen Gegenstand brachte, um den kleinen Raum auch recht anmutend auszuschmücken, da trat der Vater endlich an die längste Wand, breitete die Arme darüber und verbannte den kleinen Divan, der eben hereingeschoben werden sollte, wieder in das Nebenzimmer.

»Halt, diesen Platz reserviere ich mir!« rief er lachend. Er holte eine große Konsole von dunklem Holze und befestigte sie an der Wand, die gerade an dieser Stelle eine sehr breite Holzleiste zeigte. »Hier,« fuhr er fort, indem er eine Büste Beethovens darauf stellte, »hier soll er, der Einzige, ganz allein thronen!«

»Aber das sieht ja abscheulich aus,« meinte Frau Ferber.

»Na, warte nur, morgen oder übermorgen wirst du dich überzeugen, daß mein Arrangement nicht so sehr zu verwerfen ist, und daß für Elisabeth noch ein ganz besonderer Vorteil aus den vorgefundenen Möbeln entspringt.«

Am folgenden Tage, es war der Pfingstabend, fuhr er mit dem Oberförster nach der Stadt, und als er gegen Abend zurückkehrte, kam er nicht durch das Mauerpförtchen. Das große Thor wurde geöffnet, und vier starke Männer trugen einen großen, glänzenden Gegenstand durch die Ruinen. Elisabeth stand gerade in der Nähe des Küchenfensters und war – zum erstenmal in der neuen Wohnung – mit der Zubereitung des Abendbrotes beschäftigt, als die Männer mit ihrer Last den Garten betraten.

Sie schrie laut auf; denn das war ja ein Klavier, ein schönes, tafelförmiges Instrument, das ohne weiteres in den Zwischenbau hineingetragen und droben im Gobelinzimmer unter Beethovens Büste gestellt wurde. Elisabeth weinte und lachte in einem Atem und schlang jubelnd die Arme um den Hals des Vaters, der sein einziges kleines Kapital – den Erlös aus den Möbeln in B. – hingegeben hatte, um ihr das, was die Wonne ihres Lebens war, wieder zu verschaffen. Dann aber öffnete sie das Instrument, und gleich darauf schlugen mächtige Akkorde an die engen Wände, die so lange das Schweigen des Todes umfangen hatte.

Der Oberförster war auch mitgekommen, denn er wollte Elisabeths Freude und Ueberraschung sehen. Er lehnte jetzt stumm an der Wand, als die wunderbaren Melodieen unter den Fingern des jungen Mädchens hervorrauschten. In diesem Augenblicke sprach ja die glühende, mächtige Seele, die in der lieblichen jungen Hülle wohnte, zum erstenmal in ihrer ganzen Gewalt zu ihm. Dieser feingemeißelte Kopf, wie wunderbar beseelt und gedankenschwer erhob er sich jetzt über der zarten Gestalt, welche der ganze Zauber des Mädchenhaften und Tiefsinnigen umwob. Bis dahin waren ja nur Neckereien und Witzworte zwischen ihr und dem Onkel hin und her geflogen. Er nannte sie der Leichtigkeit ihrer Bewegungen und ihrer Gedankenschnelle halber, die nie um eine witzige Replik verlegen sein ließ, oft seinen Schmetterling, am meisten aber »Goldelse«, indem er behauptete, ihr Haar sei so golden, daß er es durch den dichtesten Wald blitzen und schimmern sähe, wie einst jung Roland das Kleinod im Schilde des Riesen.

Als Elisabeth geendet, legte sie beide Hände über das Klavier, als wollte sie den neuen Besitz umarmen, und lächelte glückselig vor sich hin; der Oberförster aber näherte sich ihr leise, küßte sie auf die Stirn und ging schweigend hinaus.

Von diesem Momente an kam er jeden Abend hinauf ins alte Schloß. Sobald die letzten Streiflichter der Sonne auf den Baumgipfeln erloschen waren, mußte sich Elisabeth an das Klavier setzen. Die kleine Familie nahm Platz in der Nische des weiten Bogenfensters und versenkte sich in das Gedankenmeer des Meisters, dessen Bild von der Wand herab ernst auf die begeisterte junge Spielerin schaute. Dann dachte Ferber wohl daran, wie sich Elisabeth das Leben im Walde ausgemalt hatte, als der Brief vom Försteronkel in B. eingelaufen war. Elfen und Kobolde erschienen freilich nicht; wohl aber zogen die Geister, die der gewaltige Tondichter in die Töne gebannt hat, entfesselt auf dem Musikstrome hinaus und hauchten in die feierliche Stille jenes geheimnisvolle Leben, dessen Wonnen und Leiden, wenn auch durch jede empfindende Menschenbrust flutend, auszusprechen und zu verkörpern doch nur dem Genius beschieden ist.

Eines Nachmittags saß die Familie Ferber beim Kaffee. Der Oberförster war auch heraufgekommen, hatte Zeitung und Pfeife mitgebracht und ließ es sich gern gefallen, daß ihm Elisabeth eine Tasse des dampfenden Trankes einschenkte. Er wollte eben einen interessanten Artikel vorlesen, als draußen am Mauerpförtchen geläutet wurde. Zum Erstaunen aller trat, nachdem der kleine Ernst geöffnet hatte, ein Bedienter vom Schlosse zu Lindhof ein und überreichte Elisabeth einen Brief. Er war von der Baronin Lessen. Sie begann damit, dem jungen Mädchen sehr viel Schmeichelhaftes zu sagen über sein vortreffliches Klavierspiel, das sie bei ihren Spaziergängen durch den Wald seit einigen Abenden belauscht haben wollte, und knüpfte daran die Frage, ob Fräulein Ferber geneigt sei, natürlich unter vorher festzustellenden Bedingungen, wöchentlich einigemal mit Fräulein von Walde vierhändig zu spielen.

Der Brief war in sehr höflichem Tone gehalten; gleichwohl warf ihn der Oberförster, nachdem er ihn zum zweitenmal durchgelesen, unmutig auf den Tisch und sagte, Elisabeth scharf anblickend:

»Du gehst nicht darauf ein, wie ich denke?«

»Und warum nicht, lieber Karl?« fragte Ferber an ihrer Stelle.

»Weil Elisabeth nun und nimmermehr in den Kram da drunten paßt!« rief ziemlich heftig der Oberförster. »Willst du das, was du sorgfältig aufgebaut hast, unter giftigem Mehltau oder Reif vergehen sehen – nun, so thue es.«

»Ich habe allerdings,« entgegnete Ferber ruhig, »bis jetzt die Seele meines Kindes allein in den Händen gehabt und bin, wie es meine Pflicht war, eifrig besorgt gewesen, jeden Keim zu wecken, jedes Pflänzchen, das ausbiegen wollte, zu stützen. Nichtsdestoweniger ist es mir nie eingefallen, eine kraftlose Treibhauspflanze erziehen zu wollen, und wehe mir und ihr, wenn das, was ich seit achtzehn Jahren unermüdlich gehegt und gepflegt habe, wurzellos im Boden hinge, um von dem ersten Windhauche des Lebens hinweggerissen zu werden . . : Ich habe meine Tochter für das Leben erzogen; denn sie wird den Kampf mit demselben so gut beginnen müssen, wie jedes andere Menschenkind auch. Und wenn ich heute meine Augen schließe, so muß sie das Steuer selbst ergreifen können, das ich bisher für sie geführt habe . . . Sind die Leute drunten im Schlosse in der That kein Umgang für sie, nun, dann wird sich das sehr bald herausstellen. Entweder es fühlen beide Teile sofort, daß sie nicht für einander passen, und das Verhältnis löst sich von selbst wieder, oder aber Elisabeth geht an dem vorüber, was ihren Grundsätzen widerspricht, und es bleibt deshalb nicht an ihr haften . . . Du gehörst ja selbst zu denen, die nie einer Gefahr ausweichen, sondern stets ihre Kraft, ihren Wert an ihr erproben.«

»Alle Wetter, dafür bin ich auch ein Mann, der für sich selbst einstehen muß!«

»Weißt du denn, ob Elisabeth in späteren Jahren je eine andere Stütze haben wird, als sich selbst, je eine fremde Kraft, die die Verantwortlichkeit für sie mit übernimmt?«

Der Oberförster warf einen schnellen Blick auf das junge Mädchen, das seine Augen feurig auf den Vater geheftet hielt. Er sprach ihr aus der Seele, der für sie der Inbegriff des Unfehlbaren und der Weisheit war – das lag sprechend in ihren Zügen.

»Vater,« sagte sie, »du sollst sehen, daß du dich nicht geirrt hast, daß ich nicht schwach bin . . . Ich habe von jeher das abgenutzte Bild vom Epheu und der Eiche nicht leiden mögen und werde es am allerwenigsten an mir wahr machen . . . Lasse mich getrost ins Schloß hinuntergehen, Onkelchen,« wandte sie sich schelmisch lächelnd an den Oberförster, dem die grimmige Falte in möglichster Entwickelung zwischen den Augenbrauen erschienen war. »Sind die Bewohner herzlos, ei, so setzt das noch lange nicht voraus, daß ich sofort zum Kannibalen werden und mein eigenes Herz unter dem Mühlsteine der Grausamkeit zermalmen muß. Wollen sie mich treten und verletzen durch Hochmut, dann setze ich mich innerlich auf einen so hohen Standpunkt, daß alle Pfeile umsonst nach mir verschossen werden, und sind sie Heuchler, nun, so sehe ich der Wahrheit um so fester ins sonnige Angesicht und weiß dann desto klarer, wie häßlich jene schwarzen Masken sind.«

»Schön gesagt, unvergleichliche Elfe, und wäre auch wunderleicht durchzuführen, wenn nur die Leute die Freundlichkeit haben wollten, ihre Masken so handgreiflich zur Schau zu tragen . . . Wirst dich schon wundern, wenn du eines Tages Spreu da findest, wo du so und so lange auf Gold geschworen hast.«

»Aber, lieber Onkel, ich werde doch nicht so thöricht sein, mich lediglich Illusionen hinzugeben . . . Bedenke nur, wie viel Trübes in meine Kinderzeit gefallen ist; und das ist durchaus nicht so unverstanden an mir vorübergegangen . . . Allein, ein wenig Vertrauen auf seinen guten Stern und auf sich selbst muß das Menschenkind auch haben; und deshalb verzweifle ich noch gar lange nicht, selbst wenn ich gleich beim Eintritt in die fremde Welt in einen Abgrund von ägyptischer Finsternis und greulicher Molche fallen sollte . . . Siehst du, liebes Onkelchen, das hast du nun von deinem Eifer für mein Seelenheil – deine Tasse sieht aus, als solle eine Eisbahn darauf eröffnet werden und dein unglücklicher Meerschaumkopf liegt in den letzten Zügen.«

Der Oberförster lachte, wenn auch, wie es schien, wider Willen. Dann aber sagte er zu Elisabeth, die geschäftig seine Tasse frisch füllte und einen brennenden Fidibus herbeibrachte, »du brauchst nicht etwa zu denken, daß ich all mein Pulver verschossen habe, wenn ich sage. ›na meinetwegen, da gehe hin und versuch's‹ – Ich will mir lediglich die Genugtuung verschaffen, eines schönen Tages das heldenmütige Küchlein eilig und verscheucht unter den schützenden Flügel des Daheim kriechen zu sehen.«

»Ach!« lachte Frau Ferber, »da kannst du warten, du kennst unsern kleinen Eisenkopf schlecht! . . . Aber laßt uns einen Entschluß fassen. Meiner Ansicht nach wäre es passend, wenn Elisabeth sich morgen den Damen vorstellte.« –

Tags darauf, und zwar nachmittags gegen fünf Uhr, stieg Elisabeth den Berg hinab. Ein schön gehaltener Weg führte durch den Wald, der in dem Parke gewissermaßen aufging. Kein Gitter trennte den ersten, herrlich gepflegten Rasenplan, der mit seinen feinen, elastisch auf und ab wehenden Gräsern wie ein duftiges grünes Gefieder dalag, von dem mit knorrigen Wurzeln bedeckten Waldboden.

Elisabeth hatte ein frischgewaschenes, helles Musselinkleid angezogen, und ein weißer, runder Strohhut bog sich leicht über ihre Stirn. Der Vater gab ihr das Geleite bis an die erste Wiese, dann schritt sie allein mutig vorwärts. Keine menschliche Seele begegnete ihr auf dem langen Wege durch die reizenden Anlagen; ja, es schien, als flüsterte es hier im Laube der Bosketts tiefer, als droben im Walde, und als hüteten sich selbst die Vögel, allzu laut zu werden. Sie erschrak vor dem Knirschen des Sandes unter ihren Füßen, als sie in die Nähe des Schlosses kam, und wunderte sich über sich selbst, wie diese bängliche Stille sie mit einemmal so verzagt mache.

Endlich hatte sie den Hauptflügel erreicht und erblickte das erste Menschenangesicht. Es war ein Bedienter, der in einem imposanten Vestibüle geschäftig, aber möglichst geräuschlos hantierte. Auf ihre Bitte, sie bei der Baronin zu melden, schlüpfte er die breite, gegenüberliegende Treppe hinauf, an deren Fuß zwei hohe Statuen standen, die ihre weißen Glieder halb unter dem dunklen Laube mehrerer Orangenbäume versteckten. Sehr bald zurückkehrend, meldete er, daß sie willkommen sei, und eilte flüchtigen Fußes wieder voraus, kaum mit der Fußspitze die Stufen berührend.

Beklommenen Herzens folgte ihm Elisabeth. Nicht der sie umgebende Glanz war es, der sie niederdrückte, nein, es war das Gefühl des Alleinstehens in dieser neuen, ungekannten Sphäre. Der Diener führte sie durch einen langen Korridor, an den sich mehrere Zimmer anschlossen, die, außerordentlich reich und elegant ausgestattet, jene tausend Kleinigkeiten in sich schlossen, welche ein unbefangenes und unverwöhntes Menschenkind auf die Vermutung bringen müssen, es sei in eine Warenausstellung geraten.

Der Bediente öffnete leise und behutsam eine Flügelthür und ließ das junge Mädchen eintreten.

In der Nähe des Fensters, Elisabeth gegenüber, lag auf einem Ruhebette eine dem Anscheine nach sehr leidende Dame. Ihr Kopf ruhte auf einem weißen Kissen, warme Decken verhüllten fast die ganze Gestalt, die jedoch – so viel ließ sich trotz der Umhüllung beurteilen – von beträchtlichem Embonpoint sein mußte. In der Hand hielt sie ein Flakon.

Die Dame richtete sich ein wenig in die Höhe, so daß Elisabeth vollständig ihr Gesicht sehen konnte; es war voll und blaß und erschien im ersten Augenblicke nicht unangenehm. Bei schärferer Beobachtung jedoch mußte man finden, daß die großen blauen Augen, von weißblonden Wimpern umrahmt und unter ebenso hellen, in die Höhe gezogenen Brauen liegend, kalt wie Gletschereis blickten, ein Ausdruck, den ein Zug von Hochmut um Lippen und Nasenflügel und ein stark hervortretendes, breites Kinn keineswegs milderte.

»Ach, es ist sehr freundlich von Ihnen, mein Fräulein, daß Sie kommen!« rief die Baronin mit schwacher, aber trotzdem hart und spröde klingender Stimme, indem sie mittels einer Handbewegung nach einem ihr nahe stehenden Fauteuil deutete und das sich höflich verbeugende junge Mädchen aufforderte, sich zu setzen. »Ich habe,« fuhr sie fort, »meine Kousine bitten lassen, sich bei mir mit Ihnen zu verständigen, da ich leider zu unwohl bin, Sie hinüberführen zu können.«

Der Empfang war jedenfalls höflich und zuvorkommend, obgleich sich in Ton und Bewegung der Dame eine bedeutende Dosis Herablassung nicht verkennen ließ.

Elisabeth setzte sich und wollte eben auf die Frage, wie es ihr in Thüringen gefalle, antworten, als die Thür heftig aufgerissen wurde. Ein kleines, ungefähr achtjähriges Mädchen mit fliegenden, etwas rötlichen Locken stürzte herein, in ihren Armen einen niedlichen, zappelnden und quiekenden Hund an sich drückend.

»Ali ist so unartig, Mama, er will gar nicht bei mir bleiben!« rief die Kleine fast atemlos, indem sie den Hund auf den Teppich warf.

»Wahrscheinlich hast du das kleine Tier wieder einmal zu arg geneckt, mein Kind,« sagte die Mama. »Ich kann dich übrigens hier nicht brauchen, Bella; du machst zu argen Lärm, und ich habe Kopfweh . . . Geh hinüber auf dein Zimmer.«

»Ach, dort ist's so langweilig. Miß Mertens hat mir verboten, mit Ali zu spielen, immer soll ich die alten Fabeln lernen, die ich gar nicht leiden mag.«

»Nun, so bleibe hier, aber verhalte dich ruhig.«

Die Kleine strich dicht an Elisabeth vorüber, wobei sie deren Anzug von oben bis unten musterte, und stieg auf einen gestickten Fußschemel neben der Spiegelkonsole, um eine Vase voll frischer Blumen besser erreichen zu können. Im Nu verwandelte sich das reizend geordnete Boukett in ein wildes Chaos unter den kleinen Händen, die sich eifrig bemühten, einzelne Blumen in die feingestickten Löcher der Vorhangsbordüre zu placieren. Bei diesem Arrangement liefen dicke Tropfen der trüben Lache, in der die Blumen gestanden, von den Stielen auf Elisabeths Kleid, so daß diese sich genötigt sah, weiter zu rücken, denn es hatte nicht den Anschein, als ob die kleine Vandalin selbst oder ein Verbot der Mama dem Amüsement so bald ein Ende machen würde.

Elisabeth hatte eben nur so viel Zeit gehabt, zu retirieren und auf die wiederholte Frage der Baronin zu antworten, daß sie sich in Thüringen bereits vollkommen heimisch und sehr glücklich fühle, als die Dame sich ziemlich rasch aus ihrer liegenden Stellung emporrichtete und mit einem verbindlichen Lächeln auf den Lippen nach einer Tapetenthür winkte, die sich seitwärts geräuschlos aufthat. Auf ihrer Schwelle erschienen die zwei jungen Leute, die Elisabeth neulich durch das Fernrohr beobachtet hatte; aber wie ganz anders und seltsam sahen sie jetzt nebeneinander aus! Herr von Hollfeld, eine fast übergroße, schlanke Gestalt, mußte sich tief auf die Seite neigen, um der kleinen Hand eine Stütze sein zu können, die auf seinem Arme lag. Jenes sylphenartige Wesen, das damals auf dem Ruhebette gelegen, war eine gänzlich verschobene Kindergestalt. Der auch in diesem Augenblicke vollendet schöne Kopf steckte tief in den Schultern und die Krücke in der rechten Hand zeigte, daß auch in den Füßen ein Mißverhältnis sein müsse.

»Verzeihe, teure Helene,« rief die Baronin der Eintretenden entgegen, »daß ich dich herüberbemühen mußte; allein du siehst, ich bin wieder einmal der arme, geplagte Lazarus, an dem du deine Engelsgüte ja stets übst . . . Fräulein Ferber,« deutete sie vorstellend auf das junge Mädchen, das sich errötend erhob, »hat die Freundlichkeit gehabt, auf mein gestriges Billet selbst zu kommen.«

»Und dafür bin ich Ihnen von Herzen dankbar!« wandte sich die junge Dame mit einem liebreizenden Lächeln an Elisabeth und reichte ihr die Hand. Ihr Auge glitt dabei wie im bewundernden Erstaunen über die Erscheinung des jungen Mädchens und blieb dann in den blonden Flechten haften, die unter dem Hute hervorquollen. »Ach ja,« sagte sie, »Ihr schönes Goldhaar habe ich schon gesehen, und zwar gestern auf einem Spaziergange durch den Wald – Sie bogen sich über eine Mauer droben im alten Schlosse.«

Elisabeth errötete noch tiefer.

»Aber eben weil Sie dort waren,« fuhr die junge Dame fort, »kam ich um den Genuß, um dessenwillen ich eigentlich die Anhöhe hinaufgeklettert war – lediglich um Sie noch einmal, wie am Abend zuvor, spielen zu hören . . . So jung und kindlich, und ein so tiefes Verständnis der klassischen Musik, wie ist das möglich! . . . Sie werden mich sehr glücklich machen, wenn Sie öfter mit mir spielen wollen.«

Es glitt etwas wie Mißbilligung über das Gesicht der Baronin, und einem seinen Beobachter wäre auch wahrscheinlicherweise das leise, spöttische Lächeln in den Mundwinkeln nicht entgangen; für Elisabeth aber war es vollständig verloren, denn ihr ganzes Interesse wandte sich der unglücklichen jungen Dame zu, deren weiche Silberstimme unmittelbar aus dem Herzen zu quellen schien.

Herr von Hollfeld hatte unterdes einen Fauteuil für Fräulein von Walde an das Ruhebett gerückt; dann empfahl er sich, ohne ein Wort gesprochen zu haben. Weil er aber durch die Thür das Zimmer verließ, die Elisabeth gerade gegenüberlag, so konnte ihr nicht entgehen, daß sein letzter langer Blick auf ihr ruhte, ehe er die Thür langsam schloß. Sie erschrak förmlich darüber, denn die Art und Weise, wie er sie angesehen, war zu eigentümlich gewesen, so daß sie im stillen ihren Anzug prüfte, ob er wohl am Ende gar zu auffallend sei.

Fräulein von Walde unterbrach diese Musterung mit der Frage, welchem Lehrer Elisabeth ihr vollendetes Spiel verdanke, worauf letztere erzählte, daß die Mutter sie ganz allein ausgebildet, wie überhaupt die Eltern sie in allem, was sie habe lernen müssen, selbst unterrichtet hätten.

Während dieser Mitteilung hatte sich Bella auf den Teppich gekauert und spielte mit dem Hunde. Es würde ein allerliebstes Bild gewesen sein, hätten nicht das Gewinsel und die heftigen Bewegungen des kleinen Tieres bewiesen, daß es gequält werde. Nach jedem lauteren Schrei des Hundes, bei dem Fräulein von Walde stets erschreckt zusammenfuhr, rief die Baronin wie mechanisch. »Laß doch die Possen, Bella!« Endlich aber, als das Tier in ein schmerzliches Geheul ausbrach, hob sie drohend den Finger gegen die kleine Unartige und sagte: »Ich werde Miß Mertens rufen müssen.«

»Ach,« entgegnete die Kleine geringschätzend, »die darf sich doch nicht unterstehen, mich zu strafen; du hast es ihr ja selbst streng verboten.«

In dem Augenblicke wurde die Tapetenthür leise aufgemacht, und ein blasses, älteres Frauenzimmer trat ein. Indem sie sich demütig vor den Damen verbeugte, sagte sie schüchtern.

»Der Herr Kandidat wartet auf Bella.«

»Ich will heute aber keine Stunde!« rief die Kleine, während sie ein Wollknäuel vom Tische nahm und dasselbe nach der Eingetretenen warf.

»Ja, mein Kind, das muß sein,« sagte die Baronin. »Gehe mit Miß Mertens, sei hübsch artig, Bella.«

Bella setzte sich, als ginge sie die Sache so wenig an, als den hinter das Sofa geflüchteten Ali, in ein Fauteuil und zog die Füße in die Höhe. Die Gouvernante schien sich ihr nähern zu wollen, aber ein zorniger Blick der Baronin wies sie an die Thür zurück.

Wahrscheinlicherweise würde diese widerwärtige Szene noch lange gespielt haben, hätte nicht die Baronin Hilfstruppen in Gestalt von Bonbons aufmarschieren lassen. Die Kleine verließ, nachdem sie Mund und Taschen vollgestopft hatte, ihren Sitz, und während sie die Hand der Gouvernante, die sie führen wollte, zurückstieß, lief sie hinaus.

Elisabeth saß starr vor Erstaunen. Auch die sanften Züge des Fräuleins von Walde drückten unverkennbare Mißbilligung aus, aber sie sagte kein Wort.

Die Baronin sank in die Kissen zurück. »Diese Gouvernanten rauben mir Jahre vom Leben!« seufzte sie. »Ob diese Miß Mertens nur einmal lernen wird, Bella zu behandeln, wie es dies erregbare Kind mit seinen empfindlichen Nerven verlangt . . . Da wird keine Rücksicht auf Lebensstellung, Temperament und Körperkonstitution genommen. Alles kommt unter eine Schablone, gleichviel, ob Krämer- oder Pairstochter, ob zartbesaitete Wesen oder robuste Tagelöhnernaturen . . . Miß Mertens ist ein widerwärtiger pedantischer Schulmeister. Dabei ist ihr Englisch abscheulich; Gott weiß, aus welchem Winkel Englands sie stammen mag!«

»Aber das kann ich durchaus nicht finden, liebe Amalie,« sagte Fräulein von Walde; ihre Stimme hatte dabei etwas unendlich Begütigendes.

»Ach ja, das sagst du nun wieder in deiner Engelsgüte; aber obgleich ich selbst nicht Englisch verstehe, so höre ich doch auf der Stelle, wenn du, liebes Herz, mit ihr sprichst, wie ungleich eleganter deine Aussprache ist.«

Elisabeth bezweifelte innerlich die Kompetenz dieses Urteils, und Fräulein von Walde machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand, wobei sie leicht errötete. Die Baronin aber fuhr unbehindert fort. »Bella scheint dies auch recht gut zu fühlen. Sie schweigt hartnäckig, wenn ihre Gouvernante sie englisch anredet; ich verdenke es ihr keinen Augenblick, muß mich aber immer unbeschreiblich ärgern, wenn diese Person auch noch behauptet, es sei Eigensinn und Bosheit von dem Kinde.«

Die anfänglich so schwache und angegriffene Stimme der Baronin war unter dem Ergusse des Verdrusses merkwürdig kräftig geworden. Sie schien dies plötzlich selbst inne zu werden und schloß ermüdet die Augen. »O mein Gott,« seufze sie, »da spielen mir nun wieder einmal meine unglücklichen Nerven übel mit . . . Ich werde heftig, wo ich langmütig sein sollte; diese Verdrießlichkeiten sind doch wahres Gift für Leib und Seele.«

»Ich würde dir raten, zuzeiten, wo du so angegriffen bist, wie heute, Bella unter der Obhut des Herrn Möhring und der Miß Mertens getrost zu lassen. Ich bin überzeugt, daß sie da ganz gut aufgehoben ist . . . Wenn ich auch deine rührende Angst und Sorge um das Kind vollkommen begreife, so muß ich doch zu deiner Beruhigung sagen, daß Miß Mertens viel zu sanft und gebildet ist, um irgend etwas zu thun, was nicht zum Heile der Kleinen wäre . . . Du siehst ganz erschöpft aus,« fügte sie teilnehmend hinzu. »Es wird gut sein, wenn ich dich jetzt allein lasse. Fräulein Ferber wird gewiß die Güte haben, mich bis an mein Zimmer zu führen.«

Damit erhob sie sich, bog sich über die Baronin und hauchte einen Kuß auf deren Wange. Dann legte sie ihre Hand auf Elisabeths Arm, die von der Baronin mittels einer sehr gnädig aussehenden Handbewegung verabschiedet wurde, und verließ das Zimmer.

Auf der langsamen Wanderung durch verschiedene Korridors sagte sie, es werde vorzüglich für ihren Bruder, der jetzt so fern von ihr lebe, eine große Freude sein, wenn sie die Musik wieder aufnehme. Er habe früher stundenlang in einer dunklen Ecke sitzen und ihr zuhören können, bis eine erhöhte Nervenreizbarkeit sie gezwungen habe, auf eine lange Zeit der geliebten Musik zu entsagen. Jetzt fühle sie sich wieder viel kräftiger, und auch der Arzt habe seine Zustimmung gegeben – nun wolle sie fleißig üben, um den Bruder zu überraschen, wenn er dereinst zurückkehre.

Elisabeth eilte wie geflügelt durch den einsamen Park und den Weg hinauf. Droben auf der Waldblöße vor dem offenen Mauerpförtchen gingen die Eltern auf und ab, und der kleine Ernst sprang ihr schon von weitem entgegen. Wie heimisch und traut erschien ihr alles hier oben. Die Ihrigen begrüßten sie, als sei sie schmerzlich vermißt worden; droben am Fenster schmetterte und jubelte Hänschen, daß es eine wahre Lust war, und hinter den zwei sich gegenüberliegenden offenen Thüren der großen, dämmerstillen Halle glänzte der grüne Garten doppelt sonnig und zeigte im Hintergrunde die Lindengruppe über dem kühlen Brunnen, in dessen Nähe ein weißgedeckter Tisch mit dem Abendbrote stand.

Das ganze italienische Schloß mit all seiner Pracht, seiner vornehmen Atmosphäre und seiner fast beängstigenden Stille, die nur durch den Lärm eines ungebärdigen, verzogenen Kindes unterbrochen worden war, versank hinter ihr wie ein Traum, den man gern abschüttelt; und als sie die Reihenfolge ihrer Eindrücke den Eltern mitgeteilt hatte, da schloß sie mit den Worten: »Deiner Lehre nach, Väterchen, dürfte ich mir heute noch kein festes Urteil über die neue Bekanntschaft bilden; denn du verwirfst den ersten Eindruck als etwas Trügliches, das uns leicht ungerecht macht. Aber was kann ich für meine widerspenstige Phantasie? So oft ich an die beiden Damen denke, sehe ich eine junge, einsame Hängebirke, die einer vom Sturme getragenen Wetterwolke ihre elastischen Zweige willenlos preisgibt.«


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