E. Marlitt
Goldelse
E. Marlitt

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7.

Von nun an ging Elisabeth zweimal wöchentlich hinunter nach Lindhof. Die Baronin Lessen hatte am Tage nach ihrer Aufwartung mittels eines höflichen Billets die Stunden angeordnet und zugleich ein sehr anständiges Honorar für Elisabeths Bemühung festgestellt. Diese Stunden wurden für das junge Mädchen sehr bald eine Quelle hoher Genüsse. Helene von Walde hatte zwar durch jahrelangen Mangel an Uebung in Hinsicht auf technische Fertigkeit sehr verloren und konnte sich mit Elisabeth nicht messen; aber sie spielte mit tiefer Empfindung, hatte einen durchaus geläuterten Geschmack und besaß nicht im entferntesten jene häßliche Angewohnheit der meisten Dilettanten, nämlich, das gering zu schätzen, was über ihren Horizont geht. Die Baronin Lessen war nie zugegen, wenn musiziert wurde, und deshalb gewannen auch die Erholungspausen nach und nach einen eigentümlichen Reiz für Elisabeth. Ein Bedienter brachte dann gewöhnlich einige kleine Erfrischungen; Helene lehnte sich in ihren Fauteuil zurück, und Elisabeth setzte sich auf einen Fußschemel zu ihren Füßen, entzückt der flötenartigen, melancholischen Stimme lauschend, mit der das arme, mißgestalte Wesen aus seiner Vergangenheit erzählte. Dann trat jedesmal das Bild des fernen Bruders in den Vordergrund. Sie konnte nicht genug rühmen, wie er für sie sorge und denke, wie er, obgleich bedeutend älter und sehr ernst, sich bemühe, auf ihre kleinen Liebhabereien und Eigenheiten einzugehen. Sie erzählte ferner, daß er die Besitzung Lindhof einzig aus dem Grunde gekauft, weil die Schwester bei einem längeren Besuche am Hofe zu L. gefunden habe, die Thüringer Luft wirke ganz besonders wohlthätig auf ihren leidenden Zustand. Aus allem ging hervor, daß er Helene zärtlich lieben müsse.

Eines Nachmittags, als ungewöhnlich lange musiziert worden war, trat ein Bedienter ein und meldete Besuch.

»Bleiben Sie heute abend bei mir zum Thee,« sagte Fräulein von Walde zu Elisabeth. »Mein Arzt aus L. ist gekommen, und es haben sich auch einige Damen aus der Nachbarschaft melden lassen. Ich werde jemand hinaufschicken zu Ihrer Mama, damit sie sich über Ihr Ausbleiben nicht ängstigt. Mein Zwiegespräch mit dem Doktor wird nicht lange dauern, bald bin ich wieder bei Ihnen.«

Damit ging sie hinaus. Es waren kaum zehn Minuten vergangen, als die Thür sich wieder öffnete und Fräulein von Walde am Arme eines Herrn eintrat, den sie Elisabeth als Herrn Doktor Fels aus L. vorstellte. Er war ein stattlicher Mann mit einem geistvollen Gesichte, der sich bei Nennung ihres Namens sogleich lebhaft an Elisabeth wandte und ihr in ergötzlicher Weise erzählte, wie er sowohl, als die ganze ehrsame Bewohnerschaft von L. des Erstaunens und Entsetzens kein Ende gewußt hätten, als es laut geworden sei, daß das alte Gnadeck wieder Bewohner und zwar aus Fleisch und Bein beherberge.

Plötzlich rauschte es im Nebenzimmer, und gleich daraus erschienen zwei weibliche Gestalten, eine alte und eine jüngere, von etwas absonderlichem Aeußeren, in der Thür. Die große Aehnlichkeit in den Gesichtszügen ließ sogleich erkennen, daß die Eingetretenen Mutter und Tochter seien. Beide trugen dunkle Kleider, die gegen die herrschende Mode lang und schlaff auf den Boden fielen, große Mantillen von schwarzem Wollstoffe und braune, runde Strohhüte, die bei der Mutter mit einer schwarzen, bei der Tochter dagegen mit einer lila Schleife unter dem Kinn gebunden waren.

Helene von Walde begrüßte die Damen als Frau und Fräulein von Lehr, und Elisabeth erfuhr später, daß sie, in L. wohnhaft, den Sommer gewöhnlich im Dorfe Lindhof zuzubringen pflegten, wo sie sich in einem Bauernhause eingemietet hatten.

Unmittelbar nach den Eingetretenen kam die Baronin Lessen am Arme ihres Sohnes und. von einem Herrn begleitet, der von den Anwesenden als Herr Kandidat Möhring angeredet wurde.

Die Baronin war dunkel, aber mit ausgesuchtester Eleganz gekleidet; sie sah imposant aus. Auf der Schwelle blieb sie einen Augenblick stehen und schien sehr unangenehm überrascht durch Elisabeths Anwesenheit. Sie maß das junge Mädchen mit einem hochmütig fragenden Blicke und erwiderte ihre Verbeugung mit einem kaum bemerkbaren Kopfnicken.

Helene hatte den Blick aufgefangen und trat ihr näher, in dem sie begütigend flüsterte. »Ich habe meinen kleinen Liebling heute hier behalten, weil es durch mein Verschulden doch gar zu spät geworden war.«

Elisabeths feinem Ohre entging jedoch diese Entschuldigung nicht. Sie war empört und wäre am liebsten durch das Fenster geflohen, in dessen Nische sie stand, hätte nicht gerade der Stolz ihr geboten, zu bleiben und dem Hochmut der Baronin die Stirn zu bieten. Diese schien indes durch die Sühne des hinter ihrem Rücken begangenen Verbrechens zufriedengestellt zu sein. Sie nahm Helene in ihre Arme, streichelte zärtlich ihre Locken und sagte ihr tausend Schmeicheleien. Dann forderte sie die Anwesenden auf, ihr in das Nebenzimmer zu folgen, wo serviert sei. Sie machte die Honneurs am Theetische und entwickelte dabei die allerdings nicht wegzuleugnende Gabe, das Gespräch in Atem zu erhalten. Mit bewunderungswürdigem Geschick wußte sie es außerdem einzurichten, daß Helene stets der Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeiten blieb, ohne daß die anderen dadurch irgendwie hätten verletzt werden können.

Elisabeth saß schweigend zwischen dem Arzte und Fräulein von Lehr. Die Unterhaltung hatte im ganzen für sie wenig Interesse, da sie sich hauptsächlich um ihr ganz fremde Persönlichkeiten und Verhältnisse drehte. Frau von Lehr erzählte viel und schien sehr unterrichtet von allem, was während der letzten Wochen, gleichviel ob von den Betreffenden geheim gehalten oder öffentlich ausgesprochen, in der Umgegend von Lindhof geschehen war. Sie sprach dabei in eigentümlich klagenden, gehaltenen Tönen und senkte jedesmal beim Schlusse irgend einer empörenden Neuigkeit demütig und sanft das ausgetrocknete Eulengesicht, als sei sie das Lamm, das der Welt Sünde trage. Dann und wann zog sie ein Fläschchen mit Fenchelwasser aus dem großen Strickbeutel und befeuchtete damit ihre angegriffenen Augen, die fast immer den Himmel suchten.

Welch ein Kontrast zwischen ihr und Helenes Madonnengesichtchen, das, an den dunklen Plüsch des Sofas geschmiegt, Elisabeth heute mehr denn sonst an die Seerose denken ließ, wie sie ihr glänzendweißes Haupt träumerisch erhebt aus dem dunklen Grunde. Es lag aber auch heute ein seltsamer Schimmer über ihren Zügen. Ganz verwischt war der Ausdruck des Leidens freilich nicht, aber es brach ein voller Strahl des Glückes aus den Augen, und um die blaßroten Lippen spielte ein entzücktes Lächeln, so oft sie das volle Rosenboukett vom Schoße aufnahm, das Herr von Hollfeld bei seinem Kommen in ihre Hand gedrückt hatte. Er saß neben ihr und mischte sich einige Male in das Gespräch. Sobald er sprach, schwiegen sämtliche Damen und hörten mit sichtbarem Eifer und Interesse zu, obgleich seine Art zu sprechen nichts weniger als fließend war und, wie es Elisabeth vorkam, auch durchaus keinen originellen Gedanken verriet.

Es war ein schöner jungem Mann von vielleicht vierundzwanzig Jahren. Es lag eine große Ruhe in den edelgeformten Zügen, die in ihren Linien leicht auf männliche Festigkeit hätten schließen lassen; allein wer nur einmal fest und forschend in sein Auge gesehen hatte, dem imponierte die plastische Gesichtsbildung sicher nicht mehr. Diese Augen, obgleich groß und tadellos geschnitten, entbehrten der Tiefe und zeigten nie jenes meteorartige Aufleuchten, das uns oft den geistreichen Menschen verrät, selbst wenn er noch kein Wort gesprochen hat. Dieser Mangel kann übrigens ersetzt werden durch jenen milden dauerhaften Glanz, der von einem tiefen Gemüte ausgeht, und der uns nicht hinreißt, wohl aber anzieht und fesselt. Aber auch davon verrieten die großen schönen Blauen des Herrn von Hollfeld keine Spur.

Diese Beobachtung indes machten vielleicht nur sehr wenige; denn es war nun einmal, und zwar vorzüglich am Hofe zu L., hergebracht, in Herrn von Hollfeld einen Sonderling zu sehen, dessen meist schweigsamer Mund ein um so tieferes Innere verschließe, und am allerwenigsten würden wohl die Damen in und um Lindhof jene Ansicht unterzeichnet haben. Das bewies vor allen Frau von Lehrs sehr korpulente Tochter, indem sie sich jedesmal, als gelte es die Verkündigung eines Evangeliums, über die ängstlich zurückweichende Elisabeth hinüberbog, so oft Herr von Hollfeld den Mund aufthat. Aber auch sie schien gern ihr Licht leuchten zu lassen.

»Sind Sie nicht auch entzückt von den herrlichen Predigten, mit denen uns Herr Kandidat Möhring an den heiligen Festtagen erquickt hat?« fragte sie, sich an Elisabeth wendend.

»Ich bedaure, sie nicht gehört zu haben,« entgegnete Elisabeth.

»So haben Sie den Gottesdienst gar nicht besucht?«

»O ja . . . ich war in Begleitung meiner Eltern in der Dorfkirche zu Lindhof.«

»So,« sagte die Baronin Lessen, indem sie zum erstenmal den Kopf nach Elisabeth umwandte, wodurch diese ein äußerst höhnisches Lächeln zu sehen bekam, »und es war wohl recht erbaulich in der Dorfkirche zu Lindhof?«

»Gewiß, gnädige Frau,« entgegnete ruhig Elisabeth und sah fest in das spöttisch funkelnde Auge der Dame. »Ich war tief bewegt von den schlichten und doch so ergreifenden Worten des Predigers, der übrigens nicht in der Kirche, sondern außerhalb derselben, unter den Eichen seinen Vortrag hielt . . . Als der Gottesdienst beginnen sollte, da stellte es sich heraus, daß die kleine Kirche die massenhaft herbeigeströmten Zuhörer nicht fassen könne. Es wurde sofort eine Art Altar unter Gottes freiem Himmel errichtet, wie es schon oft geschehen sein soll.«

»Jawohl, ist leider bekannt,« unterbrach sie hier der Kandidat Möhring, der bis dahin nicht viel gesprochen und sich damit begnügt hatte, die Berichte der Frau von Lehr mit einem zuvorkommenden Lächeln oder einem beipflichtenden Kopfnicken zu begleiten. Jetzt aber war sein breites, etwas glänzendes Gesicht dunkelrot, als er, gegen die Baronin gewendet, spöttisch fortfuhr. »Gnädigste Frau Baronin, ja, es ist weit gekommen – die alten Götzen steigen hernieder in die heiligen Haine, und der Druide opfert ihnen unter den Eichen!«

»Ich wüßte nicht, daß dergleichen vorgekommen wäre, und hätte mir mit der lebhaftesten Einbildungskraft in jenem Augenblicke auch nicht vorstellen können, daß ich einem heidnischen Opferfeste beiwohne,« entgegnen Elisabeth. Sie lächelte, fuhr dann aber warm und ernster fort. »Mir war an dem herrlichen Pfingstmorgen, als der Orgelton aus den geöffneten Kirchenfenstern und Thüren quoll, und der ehrwürdige alte Mann unter dem lebendigen Grün der Bäume seine bewegte Stimme erhob, genau so zu Mute, wie da ich zum erstenmal in meinem Leben das Gotteshaus betreten durfte.«

»Sie scheinen ein vortreffliches Gedächtnis zu haben, mein Fräulein,« warf hier Frau von Lehr ein. »Wie alt waren Sie damals, wenn man fragen darf?«

»Elf Jahre.«

»Elf Jahre? . . . O, mein Gott, wie ist das möglich?« rief die alte Dame entsetzt. »Können das christliche Eltern wohl übers Herz bringen? . . . Meine Kinder kannten das Haus des Herrn schon in ihrer frühesten Kindheit, das müssen Sie mir bezeugen, bester Doktor!«

»Ja wohl, meine Gnädigste,« entgegnete dieser ernst. »Ich erinnere mich, daß Sie den Krupanfall, an welchem Sie leider Ihr zweijähriges Söhnchen verlieren mußten, einem Besuche des Kindes in der kalten Kirche zuschrieben.«

Elisabeth sah erschrocken ihren Nachbar an. Der Doktor hatte der anfänglichen Unterhaltung nur insofern beigewohnt, als er hier und da in trockener Weise Sarkasmen einstreute, die dem jungen Mädchen um so ergötzlicher waren, als die Baronin ihm jedesmal einen verweisenden Blick dafür zusandte. Als Elisabeth selbst zu sprechen begann, hatte sie auf ihn nicht mehr geachtet, ebensowenig wie die anderen, die nur das unglückliche Heidenkind im Auge hatten; deshalb bemerkte niemand, daß er sich innerlich fast zu Tode lachen wollte über die freimütigen Antworten des jungen Mädchens und deren Wirkung auf die Anwesenden. Jetzt kam er Elisabeth grausam vor durch seine Antwort; aber er mußte wohl seine Leute kennen, denn Frau von Lehr blieb ruhig und unbewegt und sagte salbungsvoll. »Ja, der Herr nahm den kleinen, frommen Engel zu sich, er war zu gut für diese Welt . . . Und so war und blieb Ihnen für die ersten elf Jahre Ihres Lebens das Reich des Herrn verschlossen?« wandte sie sich an Elisabeth.

»Nur sein Tempel, gnädige Frau . . . Ich wußte schon als kleines Kind die Geschichte des Christentums und lernte jedenfalls mit meinen ersten Gedanken das höchste Wesen kennen und verehren, denn ich weiß nicht, daß ich je gelebt hätte ohne die Vorstellungen von Gottes Dasein . . . Es ist meines Vaters Grundsatz, seine Kinder nicht zu früh das Haus Gottes betreten zu lassen; er meint, so junge Seelen seien unfähig, die hohe Bedeutung desselben zu verstehen, langweilen sich bei der Predigt, die sie mit dem besten Willen nicht fassen könnten, und so entstände von vornherein eine saloppe Anschauung . . . Mein kleiner Bruder ist sieben Jahre alt und war noch nicht in der Kirche.«

»O der glückliche Vater,« rief der Doktor, »daß er dies durchführen kann und darf!«

»Nun, was hindert Sie, Ihre Kinder moralisch wie die Pilze aufschießen zu lassen?« fragte malitiös die Baronin.

»Das kann ich Ihnen mit wenig Worten sagen, gnädige Frau. Ich habe sechs Kinder und bin nicht reich genug, einen Hauslehrer für sie zu halten. Sie selbst zu unterrichten, daran hindert mich mein Beruf; mithin bin ich gezwungen, sie in die öffentliche Schule zu schicken und mich mit ihnen zugleich in die Gesetze der Anstalt zu fügen – dahin gehört der Kirchenbesuch der Kleinen . . . Genau so verhält es sich mit einer anderen Ueberzeugung, die ich ebensowenig zur Geltung bringen darf – das ist das selbständige Bibellesen der Kinder. In diese kleinen Hände gehört die Bibel nicht, die, als Fundament unseres ganzen späteren Lebens und Wirkens, für die Jugend mit einer unnahbaren Glorie umgeben sein müßte . . . Das Kind, mit sehr seltenen Ausnahmen, sucht lieber Unterhaltung als ernste Belehrung, und hat den Trieb, gerade das, was ihm verschwiegen wird, zu enthüllen. Und so weiß ich, und streng beobachtende Lehrer wissen es auch, daß die Kleinen, das ehrwürdige Buch auf dem Schoße und von unachtsamen Eltern darüber belobt, nicht immer den Text der letzten Predigt, sondern auch anderes ausblättern und sich gegenseitig auf verpönte Worte aufmerksam machen, die die gebildete und moralische Mutter daheim nie zu ihren Ohren gelangen läßt, deren Sinn ihnen aber oft genug klar gemacht wird durch Kinder, die, in ungebildeter Sphäre lebend, von unvorsichtigen, rohen Eltern und Dienstbaren mehr erfahren, als ihnen gesund ist. Und gesetzt auch, das letztere fällt nicht vor und das Kind fragt die Mutter über die Bedeutung des unverstandenen Wortes, so wird sich eine verständige Frau wohl zu helfen wissen, aber sie wird sich trotzdem genötigt sehen, dem Kinde den Gebrauch der Ausdrücke zu verbieten – denken wir nur an das Hohelied – so entstehen aber die ersten Skrupel und Zweifel in der jungen Seele, die um so tiefer Wurzel greifen müssen, als das unausgebildete moralische Gefühl und der unreife Verstand noch kein Gegengewicht bieten können.«

Hier erhob sich die Baronin Lessen mit einer ungeduldigen Bewegung. Auf ihren blassen, vollen Wangen waren allmählich zwei rote Flecken aufgeblüht, welche für alle, die sie kannten, das Zeichen inneren Zornes waren. Deshalb stand auch Fräulein von Walde, die sich während des ganzen Gesprächs passiv verhalten harte, sofort auf, bot ihrer Kousine den Arm und führte sie ans Fenster, indem sie fragte, ob es ihr wohl genehm sei, wenn sie mit Elisabeth ein wenig musiziere.

Dieser Blitzableiter wurde mit einem Kopfnicken bewilligt, vielleicht hauptsächlich aus dem Grunde, weil die Frau Baronin dem Doktor gegenüber sich doch nicht gewachsen fühlte. Ihre Indignation mußte jedes gemerkt haben, und so war es ja die schöne Musik, durch welche sie sich besänftigen und abhalten ließ, des Doktors himmelschreiende Angriffe gegen ihren Eifer im Dienste des Herrn – sie verteilte ja höchst eigenhändig die Bibeln unter die armen Kinder – zu Boden zu schmettern.

Sie zog sich in eine Fensternische zurück und starrte hinaus in die Gegend, aus die sich die ersten, leichten Schatten der hereindämmernden Nacht legten. Ihr Blick zeigte einen kaltgrausamen Ausdruck, wie er jener gewissen Art wasserblauer, hellbewimperter Augen so leicht innewohnen kann. Eine tiefe Falte lagerte um die Mundwinkel, ein Zeuge tiefen Grolles, der auch nicht verschwand, als Schuberts Erlkönig, zu vier Händen und meisterhaft von den beiden Damen vorgetragen, in dämonischer Gewalt erbrauste. An dieser Brust verhallten ungefühlt die Töne, wie der Wellengesang am Uferfelsen.

Als der letzte Akkord verklungen war, erhoben sich die beiden Damen, und der Doktor, der regungslos zugehört hatte, eilte auf sie zu. Sein Auge glänzte; er dankte begeistert für den Genuß, der ihm, wie er versicherte, seit vielen Jahren nicht zu teil geworden sei . . . Hier wurde Fräulein von Lehrs Gesicht dunkelrot, und die Mama schoß einen wahren Giftblick nach dem unglücklichen Enthusiasten . . . Hatte nicht die Tochter im vergangenen Winter zum Besten mildthätiger Zwecke mehrere Male öffentlich in L. gespielt, und war er nicht in jedem Konzerte zugegen gewesen? . . . Der Doktor schien übrigens gar nicht zu bemerken, welches Gewitter sich hinter seinem Rücken auftürmte. Er sprach eingehend über Schuberts herrliche Tonschöpfung, wobei er ein feines Urteil und den gründlich gebildeten Musikverständigen verriet.

Plötzlich wurde mit hartem Anschlage ein voller Akkord auf dem Flügel gegriffen – es war, als ob knöcherne Finger auf die Tasten schlügen. Erschrocken drehten sich die Plaudernden um. Der Kandidat saß am Klavier mit hochgehobenem Kopfe und ausgedehnten Nasenflügeln und ließ eben wieder beide Hände zu einem zweien schrillenden Akkorde auf die Tasten fallen. Er begann einen schönen Choral, der aber durch das schauderhafte Spiel zu einer wahren Marter für feingebildete Ohren wurde. Das hätte sich am Ende noch überstehen lassen; aber nun fiel er zu Elisabeths Verzweiflung auch noch mit einer abscheulich näselnden Stimme ein. – Das war zu viel. Der Doktor griff nach seinem Hute und verbeugte sich abschiednehmend vor Helene und der Baronin. Die letztere bog ihr Gesicht nach dem Fenster und bewegte nachlässig ihre Hand als Zeichen der Entlassung.

Ein unvergleichlicher Ausdruck von Humor überflog die Züge des Doktors. Er drückte Elisabeths Hand herzlich beim Scheiden und empfahl sich dann mit einer höflichen Verbeugung bei den übrigen.

Sobald sich die Thür hinter ihm geschlossen hatte, erhob sich die Baronin und trat aufgeregt zu Helene, die sich still in einer Sofaecke niedergelassen hatte.

»Unerträglich!« rief sie, und ihre scharfe Stimme klang gedämpft, als ob ihr der innere Grimm den Hals zusammenschnüre, während sie ihr stechendes Auge fest auf das junge Mädchen heftete, das fast schüchtern und beklommen den Blick zu ihr erhob. »Und du duldest es so widerstandslos, Helene,« fuhr sie fort, »daß man in deinen Zimmern unsere Standesvorrechte, unsere Frauenwürde, ja, das Heiligste, was wir treulich behüten und pflegen, mit Füßen tritt?«

»Aber, liebe Amalie, ich sehe nicht ein –«

»Du willst nicht einsehen, Kind, in deiner unerschöpflichen Geduld und Langmut, daß dieser Doktor mich beleidigt, wo er kann. Nun, ich muß mir das gefallen lassen, weil es nicht in meinem Hause geschieht, und weil ich als gute Christin lieber dulde und Unrecht leide, als daß ich die unziemlichen Waffen der Wiedervergeltung in die Hand nehmen möchte . . . Diese Duldsamkeit jedoch findet ihr Ende, sobald unser Herr in seinen göttlichen Rechten angegriffen wird. Hier sollen wir kämpfen und streiten und nicht ermüden . . . Ist es nicht wahrhaft gotteslästerlich, daß diesem Mensch sans façon seinen Hut nimmt und mit großem Geräusche das Zimmer verläßt, während unsere Seelen durch den erhabensten Gedanken der Musik, durch den Choral, tief bewegt sind?«

Sie war immer lauter und heftiger geworden und bedachte nicht, daß sie in diesem Augenblicke ein sanftes, sämtliche Töne einer ganzen Oktave berührendes Hinaufschleifen des unermüdlich weitersingenden Kandidaten völlig wirkungslos machte.

»Ach, das mußt du dem Doktor nicht so übel nehmen,« sagte Fräulein von Walde. »Er ist an seine Zeit gebunden, hat vielleicht noch einen Krankenbesuch in L. zu machen und wollte ja eigentlich schon aufbrechen, ehe wir zu spielen anfingen.«

»Indes der heidnische Spuk des Erlkönigs ließ diesen vortrefflichen Mann seine Patienten vergessen,« unterbrach sie die Baronin höhnisch. »Nun, ich bescheide mich . . . Es liegt leider in unserer traurigen Zeit, daß die Vertreter des Unglaubens die herrschenden werden.«

»Aber, mein Gott, Amalie, was willst du denn, daß ich thun soll? Du weißt ja nur zu gut, daß Fels mir unentbehrlich ist . . . er ist der erste und einzige Arzt, der meine körperlichen Leiden zu lindern versteht!« rief Helene, und ihr Auge schimmerte feucht, während die Röte der Aufregung in ihre blassen Wangen stieg.

»Ich dächte, mein Fräulein,« begann hier Frau von Lehr, die bis dahin schweigend und lauernd wie eine Spinne in einer Ecke gesessen hatte, langsam und feierlich, »vor allem müsse wohl das Seelenheil berücksichtigt werden; die Sorge für das körperliche Wohl kommt meiner Ansicht nach erst in zweiter Linie . . . Im übrigen hat L. noch mehr vortreffliche Aerzte aufzuweisen, die es getrost mit der Gelehrsamkeit des Herrn Doktor Fels aufnehmen können . . . Glauben Sie mir, liebes Fräulein, es berührt die Gläubigen in unserem guten L. oft schmerzlich, wenn sie sehen müssen, wie ihr offenkundiger Widersacher als Freund und Ratgeber in Ihrem Hause aus und ein gehen darf.«

»Wenn ich auch das Opfer bringen wollte, einen anderen Arzt zu nehmen,« entgegnete Helene, »so dürfte ich doch ohne die Einwilligung meines Bruders diesen Schritt nicht thun. Da aber würde ich auf den heftigsten Widerstand stoßen – ich weiß es – denn Rudolf hält sehr viel auf den Doktor und schenkt ihm sein unbedingtes Vertrauen.«

»Ja, Gott sei's geklagt!« rief die Baronin. »Das ist auch so eine schwache Seite in Rudolfs Charakter, die ich nie habe begreifen können! . . . Mit diesem sogenannten Freimute, den man am besten mit Frechheit übersetzen könnte, imponiert ihm der Herr Fels . . . Nun, ich wasche meine Hände, werde mir aber künftig die Besuche des Herrn Doktors verbitten und halte mich bei dir, liebe Helene, für die Zeit stets entschuldigt, wenn du ihn bei dir siehst.«

Fräulein von Walde erwiderte kein Wort. Sie erhob sich, während ihr getrübtes Auge durch das Zimmer glitt, als vermisse sie etwas; es schien Elisabeth, als gelte dieser suchende Blick Herrn von Hollfeld, der vor einer Weile unbemerkt das Zimmer verlassen hatte.

Die Baronin griff nach ihrer Spitzenumhüllung, und auch Frau von Lehr nebst Tochter rüsteten sich zum Aufbruche. Beide sagten dem Kandidaten, der seinen Vortrag geendet hatte und nun, verlegen seine Hände reibend, am Flügel stand, noch einige Liebenswürdigkeiten und verabschiedeten sich dann in Begleitung der Baronin von Helene, die ihnen mit erschöpfter Stimme gute Nacht sagte.

Als Elisabeth die Treppe hinunterstieg, sah sie Herrn von Hollfeld in einem gegenüberliegenden, nur schwach beleuchteten Korridor stehen. Er hatte droben während des Zornergusses seiner Mutter in einem Album geblättert und sich mit keinem Worte in die leidenschaftlichen Verhandlungen gemischt. Das war Elisabeth ganz abscheulich vorgekommen; sie hatte lebhaft gewünscht, er möge zu Helene stehen und dem Treiben der Baronin durch ein männlich ernstes Wort ein Ende machen. Noch mehr aber mißfiel es ihr, als sie bemerken mußte, daß er, über das Buch hinweg, sie unausgesetzt fixiere. Möglich war es schon, daß er in ihren Zügen den Verdruß über sein Benehmen gelesen hatte, aber sie meinte, dafür habe er sie nun lange genug angestarrt. Sie fühlte, daß sie endlich unter seinem Blicke tief errötete, und ärgerte sich darüber um so mehr, als dies ihm gegenüber, ganz gegen ihren Willen, schon einige Male der Fall gewesen war. Ein eigentümlicher Zufall wollte nämlich, daß sie beim Nachhausegehen von Schloß Lindhof Herrn von Hollfeld stets begegnete, sei es nun im Korridor, auf der Treppe, oder daß er plötzlich hinter einem Boskett hervortrat. Warum ihr dies zuletzt peinlich wurde und sie verlegen machte, wußte sie selbst nicht. Sie grübelte auch nicht weiter darüber und hatte die Begegnung meist vergessen, ehe sie noch daheim war.

Jetzt nun stand er da drunten in dem dunklen Gange. Ein schwarzer, tief herabgedrückter Hut bedeckte halb sein Gesicht, und den hellen Sommerrock hatte er mit einem dunklen Ueberzieher vertauscht. Er schien auf etwas gewartet zu haben und trat, sobald Elisabeth die letzte Stufe erreicht hatte, rasch auf sie zu, als ob er ihr etwas sagen wolle.

In dem Augenblicke erschienen Frau und Fräulein von Lehr droben auf der Treppe. »Ei, Herr von Hollfeld,« rief die alte Dame hinab, »wollen Sie denn noch eine Promenade machen?«

Die Züge des jungen Mannes, die Elisabeth auffallend belebt und erregt vorgekommen waren, nahmen sofort einen gleichgültigen, ruhigen Ausdruck an.

»Ich komme aus dem Garten,« sagte er in eigentümlich nachlässigem Tone, »wo ich mich in der milden Nachtluft noch ein wenig ergangen habe. Bringe Fräulein Ferber nach Hause,« gebot er dann dem Hausknechte, der eben zu diesem Zwecke mit einer Laterne aus der Domestikenstube trat, und schritt, nach einer Verbeugung gegen die Damen, in den Korridor zurück.

»Wie gut ist's,« sagte Elisabeth eine Stunde später, als sie, am Bette der Mutter sitzend, ihren Bericht über die heutigen Erlebnisse schloß, »daß wir morgen Sonntag haben. Da wasche ich in unserer lieben, einfachen Lindhofer Dorfkirche den häßlichen Eindruck aus der Seele, den mir die letzten Stunden hinterlassen haben . . . Nie hätte ich geglaubt, daß ich beim Anhören eines Chorales je eine andere Empfindung haben würde, als die der Erhebung und Andacht. Heute aber überkam es mich wie Zorn, ja, ich fühlte mich im Innersten tief verletzt, als mitten in das Theetassengeklirr und, nachdem man stundenlang über dem guten Namen des Nächsten durchaus nicht liebevoll zu Gericht gesessen, plötzlich das Lied einfiel, das ich gewohnt bin, nur in weihevollen Stunden zu hören . . . Hinter diesem christlichen Eifer steckt eine maßlose Herrschsucht – das ist mir heute klar geworden; wenn aber andere so empfinden wie ich, dann steht es schlimm um die Siege dieser Bekehrer . . . gelt, Mütterchen, ich habe doch eigentlich keine Ader vom Rebellen? allein, heute zum erstenmal in meinem Leben fühlte ich eine unwiderstehliche Neigung zum Trotz und Widerspruch in mir.«

Schließlich gedachte sie noch des Herrn von Hollfeld und seines sonderbaren Benehmens in der Hausflur, woran sie die Bemerkung knüpfte, daß sie sich doch gar nicht denken könne, was er eigentlich von ihr gewollt habe.

»Nun, darüber wollen wir uns auch den Kopf nicht zerbrechen,« sagte Frau Ferber. »Sollte es ihm jedoch einmal einfallen, dir seine Begleitung beim Nachhausegehen anbieten zu wollen, so weise sie unter allen Umständen zurück. Hörst du, Elisabeth?«

»Aber, liebe Mama, was denkst du denn?« rief lachend das junge Mädchen. »Da steht eher des Himmels Einfall zu erwarten, als ein solches Anerbieten . . . Haben Frau und Fräulein von Lehr, die sich jedenfalls zu den vornehmen Leuten zählen, allein nach Hause gehen müssen, da wird er sich doch wahrhaftig meiner simplen Persönlichkeit gegenüber nicht herablassen.«


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