E. Marlitt
Goldelse
E. Marlitt

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13.

Mit Miß Mertens' Einzuge in der alten Burg hatte sich das Ferbersche Familienleben womöglich noch freundlicher gestaltet als bisher. Die Gouvernante fühlte sich seit langer, trostloser Zeit zum erstenmal wieder heimisch angeweht und von Liebe umgeben. Ihr warmes Fühlen, bis dahin ängstlich bewacht und zurückgehalten, brach jetzt hervor und ließ sie im Vereine mit ihrem reichen Wissen höchst liebenswürdig erscheinen. Sie trachtete sich nützlich zu machen, wo sie konnte. Namentlich beschäftigte sie sich viel mit dem kleinen Ernst, der unter ihrer Anleitung eifrig englische und französische Vokabeln lernen mußte; auch Elisabeth suchte von dem Aufenthalte der Miß Mertens auf Gnadeck so viel Vorteil wie möglich zu ziehen. Sie studierte emsig, denn das war ja die beste Abwehr für alle trübe Grübelei.

Die Uebungsstunden bei Fräulein von Walde hatten mittlerweile ihren regelmäßigen Fortgang. Hollfeld, der nur auf einen Tag nach Odenberg gegangen war, kam nach wie vor als eifriger Zuhörer und bot alles auf, einen Moment des Alleinseins mit Elisabeth zu gewinnen. Er hatte es schon einigemal so schlau einzurichten gewußt, daß Helene während der Pause aufgestanden war, um irgend einen besprochenen oder von ihm gewünschten Gegenstand in einem andren Zimmer zu holen; allein er erreichte seinen Zweck nicht, denn Elisabeth ging zugleich hinaus und ließ sich von dem Bedienten ein Glas Wasser geben. An ein Begegnen auf dem Nachhausewege durfte er auch nicht denken, da Miß Mertens regelmäßig mit Ernst kam, um das junge Mädchen abzuholen . . . Dieses stete Vereiteln seiner Wünsche machte ihn endlich ungeduldig und rücksichtsloser. Die Hand fiel von dem Gesichte, er trug seine Leidenschaft unverhohlen zur Schau, und nur ihrer Kurzsichtigkeit verdankte es Helene, daß ihr eine schmerzvolle Entdeckung vorderhand noch erspart blieb . . . So wurden Elisabeth die Gänge ins Schloß immer peinlicher, und sie dankte Gott, als endlich das beabsichtigte Fest heranrückte, denn mit ihm hörten dann wenigstens die täglichen Uebungsstunden auf.

Es war am Tage vor dem Geburtsfeste des Herrn von Walde, als Reinhard nachmittags bei einem Besuche auf Gnadeck erzählte, daß bereits ein Gast unten im Schlosse angekommen sei.

»Der Flederwisch hat uns noch gefehlt!« meinte er ärgerlich.

»Wer ist denn das?« fragten lachend Frau Ferber und Miß Mertens zugleich.

»Ach, eine sogenannte Freundin von Fräulein von Walde, eine Hofdame aus L. Sie will beim Arrangement des Festes helfen; gnade Gott den armen Leuten, die kehrt das Unterste zu oberst!«

»Ah, Fräulein von Quittelsdorf!« rief Miß Mertens noch immer lachend. »Nun ja, die hat allerdings Quecksilber in den Adern, sie ist entsetzlich oberflächlich, aber von Herzen nicht böse.«

Später ging Elisabeth in Reinhards Begleitung hinunter nach Lindhof. Als sie in die Nähe des Schlosses kamen, wurde gerade Herrn von Waldes Reitpferd an die große Freitreppe mitten der südlichen Fronte geführt. Gleich darauf trat er selbst aus der Glasthüre, mit der Reitpeitsche in der Hand, und stieg die Stufen hinab . . . Elisabeth hatte ihn nicht wieder gesehen seit jenem Nachmittage, wo er ihr so rauh und rücksichtslos begegnet war: er erschien auffallend bleich und finster.

In dem Augenblicke, als er sich auf das Pferd schwang, erschien eine junge Dame in weißem Kleide auf der Treppe. Sie war sehr hübsch und eilte mit graziösester Leichtigkeit hinunter, um das Pferd auf den Hals zu klopfen und ihm ein Stück Zucker zu reichen.

Fräulein von Walde, die an Hollfelds Arm mit ihr zugleich herausgetreten war, blieb oben stehen und winkte ihrem Bruder grüßend mit der Hand zu.

»Die junge Dame ist Fräulein von Quittelsdorf?« fragte Elisabeth.

Reinhard bejahte mit einem mißvergnügten Gesichte.

»Ihre äußere Erscheinung gefällt mir,« meinte das junge Mädchen. »Herr von Walde scheint sich gern mit ihr zu unterhalten,« fügte sie leise hinzu. Der Reiter bog sich in diesem Augenblicke vom Pferde herab und schien nachdenklich auf das zu hören, was ihm die junge Dame vorplauderte.

»Je nun, er will nicht grob sein und läßt sich das Geschwätz einen Moment gefallen,« sagte Reinhard weiterschreitend. »Die spricht das Blaue vom Himmel herunter und ist im stande, dem Pferde in die Zügel zu fallen, wenn er davon will, ehe sie mit ihrem Kapitel fertig ist.«

Inzwischen waren sie in das Vestibül getreten. Elisabeth verabschiedete sich hier von Reinhard und begab sich hinauf in das Musikzimmer, wo sich alsbald auch Fräulein von Walde und Hollfeld einfanden. Erstere ging noch einmal in ihr Ankleidezimmer, um ihre ein wenig derangierten Locken in Ordnung bringen zu lassen; diesen Moment benutzte Hollfeld und trat eilig auf Elisabeth zu, die sich in die Fensternische zurückgezogen hatte und in einem Notenhefte blätterte.

»Wir wurden neulich abscheulicherweise gestört,« flüsterte er.

»Wir?« fragte sie ernst und mit Nachdruck und trat einen Schritt zurück. »Ich hatte allerdings Ursache, mich über Störung zu beklagen, und muß gestehen, daß ich sehr entrüstet war, meine Lektüre unterbrochen zu sehen.«

»Ah, jeder Zoll eine Fürstin!« rief er scherzhaft, aber mit unterdrückter Stimme. »Ich habe übrigens durchaus nicht beabsichtigt, Sie zu beleidigen, im Gegenteil, wissen Sie nicht, was die Rose sagt?«

»Gewiß, sie hat sicher gemeint, es sei tausendmal schöner am Zweige zu sterben, als zu einem so unnützen Zwecke abgerissen zu werden.«

»Grausame! . . . Sie sind hart wie Marmor . . . Ahnen Sie denn gar nicht, was mich täglich hierher zieht?«

»Ohne Zweifel die Bewunderung für unsere großen Tonmeister.«

»Sie irren sich.«

»Dann jedenfalls zu Ihrem Vorteile.«

»O nein, denn damit käme ich um keinen Schutt weiter. Die Musik ist lediglich für mich die Brücke –«

»Von der Sie sehr leicht ins kalte Wasser fallen dürften.«

»Und würden Sie mich untergehen lassen?«

»Ja, ganz sicher . . . Ich bin nicht ehrgeizig genug, um mir die Rettungsmedaille verdienen zu wollen,« antwortete Elisabeth trocken.

Fräulein von Walde kam zurück. Sie schien verwundert, die beiden im Gespräche zu finden, denn bis dahin war ja noch nie ein Wort zwischen ihnen gewechselt worden. Ihr Blick streifte prüfend über Hollfelds Gesicht, das den Ausdruck eines lebhaften Verdrusses noch nicht ganz zu unterdrücken vermochte, dann setzte sie sich schweigend an das Klavier und präludierte, während Elisabeth die Noten zusammensuchte. Hollfeld nahm seinen gewöhnlichen Platz ein und stützte melancholisch den Kopf auf die Hand. Noch nie aber hatten seine Blicke so glühend und verzehrend auf Elisabeth geruht, als in diesem Augenblicke. Sie bereute, sich in ein Gespräch mit ihm eingelassen zu haben; ihr Bestreben, ihn durch Kälte und Schroffheit zurückzuweisen, schien eine ganz entgegengesetzte Wirkung gehabt zu haben. Furcht und Widerwillen bemächtigten sich ihrer beim Anblicke seiner auffallend erregten Gesichtszüge, und obgleich das triumphierende Lächeln des Onkels vor ihr aufstieg, gewann doch der Entschluß, lieber den Stunden zu entsagen, als sich noch länger diesen unverschämten Blicken auszusetzen, immer mehr Boden in ihrer empörten Seele.

Die Stunde nahte ihrem Ende, als Fräulein von Quittelsdorf rasch eintrat. Sie trug ein kleines Wesen im weißen Tragkleidchen auf dem Arme und drückte mit der einen Hand den Kopf desselben an ihre Schulter.

»Frau Oberhofmeisterin von Falkenberg empfiehlt sich gehorsamst,« sagte sie zeremoniell, »und bedauert unendlich, ihres Zipperleins wegen sich morgen nicht einfinden zu können . . . Dafür aber gibt sie sich die Ehre, ihr geliebtes, blühendes Enkelkind zu schicken –«

In dem Augenblicke machte das Geschöpfchen auf ihrem Arme einige verzweifelte Bewegungen und sprang plötzlich mit einem lauten Quieken auf den Boden, wo es sofort, das lange Kleid nachschleppend, unter einem Stuhle verschwand.

»Nein, Cornelie, du bist doch zu kindisch!« rief Fräulein von Walde lachend und ärgerlich zugleich, als Alis angstvolles Gesicht, von einer bebänderten Kinderhaube umgeben, scheu unter dem Stuhle hervorguckte. »Das sollte die gute Falkenberg wissen, da wäre es sicher aus mit deinen Schelmenstreichen am Hofe zu L.«

Bella, die mit hereingekommen war, wollte ersticken vor Lachen und suchte sich erst zu mäßigen, als ihre Mutter, erstaunt über den Lärm, eintrat und ihr das Unschickliche einer so lauten Lustigkeit zu Gemüt führte. Die Baronin drohte Fräulein von Quittelsdorf lächelnd mit dem Finger, als ihr Helene deren tollen Einfall mitgeteilt hatte, und näherte sich darauf Elisabeth.

»Fräulein von Walde wird Ihnen wohl noch nicht mitgeteilt haben,« sagte sie in ziemlich gnädigem Tone zu dem jungen Mädchen, »daß sich alle Geladenen zu dem Feste morgen um vier Uhr unten im großen Saale einfinden werden? Ich bitte, die Stunde ja nicht zu versäumen. Das Konzert wird jedenfalls gegen sechs Uhr zu Ende sein; ich bemerke Ihnen dies nur, damit Sie die Ihrigen nicht früher zu Hause erwarten.«

Helene sah bei diesen Worten verlegen auf die Tasten, während Fräulein von Quittelsdorf sich neben die Baronin postierte und Elisabeth neugierig ins Gesicht starrte. So hübsch auch die schwarzen Augen waren, die auf ihr ruhten, so fühlte sich das junge Mädchen doch verletzt durch das unausgesetzte Fixieren. Sie verbeugte sich leicht vor der Baronin mit der Versicherung, daß sie sich pünktlich einfinden werde, und heftete dann einen festen, ernsten Blick auf die hübsche Zudringliche. Die Wirkung war eine blitzschnelle. Fräulein von Quittelsdorf wandte den Kopf weg und drehte sich verlegen und wie ein ungezogenes Kind auf dem Absatze herum. In demselben Augenblicke entdeckte sie Herrn von Hollfeld in der Fensternische.

»Wie, Hollfeld,« rief sie, »sind Sie es selbst, oder ist's Ihr Geist? Was thun Sie hier?«

»Ich höre zu, wie Sie sehen.«

»Sie hören zu? . . . Ha, ha, ha! . . . Und genießen Unverdaulichkeiten wie Mozart und Beethoven? . . . Wissen Sie nicht mehr, daß Sie mir noch vor vier Wochen beim letzten Hofkonzert versichert haben, Sie litten jedesmal nach dem Genusse klassischer Musik an verdorbenem Magen?«

Sie hielt sich die Seiten vor Lachen.

»Ach, lassen Sie jetzt die Possen, beste Cornelie,« sagte die Baronin, »und helfen Sie mir lieber mit Ihrem erfinderischen Geiste beim Festprogramm . . . Und auch du, lieber Emil, würdest mir einen großen Gefallen thun, wenn du mitkommen wolltest . . . Du weißt ja, ich bin jetzt in die traurige Notwendigkeit versetzt, eine männliche Stütze neben mir haben zu müssen, wenn meine Anordnungen respektiert werden sollen.«

Hollfeld erhob sich mit sichtlichem Widerstreben.

»Nun, dann nehmt mich auch mit! . . . Wollt ihr so grausam sein, mich die ganze, lange Zeit bis zum Thee allein zu lassen?« rief Helene vorwurfsvoll und stand auf. Sie sah verstimmt aus, und es kam Elisabeth zum erstenmal so vor, als hafte ihr Blick neidisch auf Corneliens flinken Füßen, die ohne weiteres Hollfelds Arm genommen hatte und zur Thür hinaushüpfte. Elisabeth machte den Flügel zu und wurde eiligst entlassen.

In den Gängen des Schlosses, die das junge Mädchen passieren mußte, herrschte ein reges Leben. Mehrere Bediente schleppten Körbe voll Silberzeug und Porzellan in ein Zimmer neben dem großen Saale. Aus den Küchenfenstern im Souterrain quollen Duftströme aller möglichen gebackenen und gebratenen guten Dinge, und in einem offenstehenden Domestikenzimmer lagen ganze Berge grünen Laubwerks und bereits fertiger Guirlanden und Kränze.

Und er, zu dessen Verherrlichung sich aller Hände heute rührten und regten, er ritt einsam draußen, mit umdüsterter Seele auf Mittel und Wege sinnend, wie er dem fried- und freudelosen Leben in seinem Hause entfliehen könne!

Elisabeth ging hinüber in das Dorf, um einen Auftrag ihres Vaters auszurichten. Vor einigen Tagen nämlich hatte ein heftiger nächtlicher Gewittersturm dem baufälligen Erker im Garten wieder dergestalt zugesetzt, daß man fürchten mußte, er werde bei der leisesten Erschütterung zusammenstürzen und die ihm naheliegenden, kaum erst mit so großer Mühe hergestellten Gartenanlagen mit seinen Trümmern zerstören. Zwei Lindhofer Maurer hatten endlich Ferber versprochen, die Ruine nächsten Montag abzutragen; da ihnen aber in bezug auf das Worthalten nicht zu trauen war, wie der Oberförster nach gemachter Erfahrung versicherte, so wollte Elisabeth sie nochmals an ihre Zusage erinnern und ihnen die Notwendigkeit ihres Kommens vorstellen.

Das Resultat ihrer Wanderung war ein befriedigendes. Einer der Arbeiter hatte ihr sogar bei allem, was ihm heilig und teuer, geschworen, zu kommen, und nun schritt sie durch den stillen, einsamen Wald nach Hause. Ungefähr in der Mitte des Pfades, der vom Dorfe nach dem Forsthause lief, bahnte sich ein schmaler, nach der Burg Gnadeck aufwärts führender Weg ab. Er wurde selten betreten und wäre deshalb für ein fremdes Auge gar nicht sichtbar gewesen, denn an vielen Stellen überwucherte ihn das Gestrüpp, und das modernde Laub lag so locker aufgeschichtet zwischen den knorrigen Baumwurzeln, als sei es noch nie von der Sohle eines Menschen berührt worden. Elisabeth liebte diesen Pfad und wählte auch jetzt ihn zum Rückwege.

Noch nie war ihr ein menschliches Wesen begegnet; heute aber war sie noch nicht weit in die grüne Dämmerung vorgedrungen, als sie die Bemerkung machte, daß ungefähr zwanzig Schritt vor ihr, und zwar rechts, drunten am Abhange, neben dem Stamme einer mächtigen Buche, etwas wie ein Arm sich langsam vorwärts strecke und dann wieder zurücksinke. Sie konnte diese Bewegung um so deutlicher erkennen, als an jener Stelle die Bäume weiter auseinander traten und eine kleine Lichtung begrenzten, deren grüner heller Rasenfleck wie eine Oase mitten im Waldesdüster lag. Elisabeth schritt unhörbar und langsam weiter und kam dadurch immer näher in das Bereich jener Buche, bis sie plötzlich erschrocken stehen blieb.

An dem Baume lehnte ein Mann. Er kehrte ihr den Rücken zu; sein Haupt war unbedeckt und zeigte einen Wust ungekämmter, struppiger Haare. Einen Augenblick stand er unbeweglich, als lausche er auf irgend ein Geräusch; dann trat er einen Schritt vor, hob den ausgestreckten Arm in die Höhe, richtete die Mündung einer Pistole hinaus nach der Waldblöße, als wolle er auf einen gegenüberstehenden Baum schießen, und ließ nach einer Weile den Arm niedersinken.

»Er übt sich,« dachte Elisabeth, aber sie dachte es nur, um sich zu beruhigen, denn eine unbeschreibliche Angst hatte sich ihrer plötzlich bemächtigt; sie wußte nicht, sollte sie vor- oder rückwärts laufen, um von dem Unheimlichen nicht bemerkt zu werden, und blieb deshalb gerade wie festgewurzelt stehen.

Da schlug Pferdegetrappel an ihr Ohr. Der Mann drüben richtete sich wie elektrisiert in die Höhe. Wenige Augenblicke darauf erschien jenseits der Lichtung ein Reiter. Langsam schritt das Pferd über den weichen Wiesenboden – sein Herr hatte, in Gedanken verloren, den Zügel fallen lassen . . . Der Mann mit der Pistole trat rasch zwei Schritt vor, hob den Arm in der Richtung des Reiters und wandte dabei den Kopf etwas seitwärts . . . Elisabeth erkannte sofort in den todblassen, von Haß und Grimm entstellten Zügen den ehemaligen Verwalter Linke, und jener dort, den sein Pferd immer näher vor die Mündung der todbringenden Waffe trug, war Herr von Walde . . . In diesem Augenblicke ging eine merkwürdige Verwandlung in Elisabeth vor. Hatte sie noch eben mädchenhaft ängstlich vor der Begegnung mit jenem unheimlichen Menschen gezittert, so überkam sie jetzt ein wunderbarer Mut, eine unbegreifliche Ruhe und Beherrschung ihrer selbst in dem Gedanken, daß sie berufen sei, zu retten . . . Lautlos glitt sie vorwärts und stand plötzlich, wie aus der Erde gewachsen, neben Linke, der das Auge gespannt auf sein Opfer richtend, ihre Nähe nicht ahnte . . . Mit aller Kraft, deren sie fähig, packte sie seinen Vorderarm und riß ihn zurück. Die Pistole entlud sich mit einem lauten Knalle und die Kugel schlug zischend seitwärts in einen Baum, während der Elende entsetzt zur Erde taumelte. Zu gleicher Zeit scholl ein lauter weiblicher Hilferuf durch den Wald . . . Der Mörder richtete sich auf und floh in das Gestrüpp . . . Drüben bäumte sich das Pferd im ersten Schrecken, dann aber flog es, von seinem Herrn angetrieben, über die Wiese und stand mit einigen Sätzen nahe bei Elisabeth, die sich totenbleich an der Buche festhielt, denn nun, nachdem die Gefahr vorüber, machte die weibliche Natur ihr Recht geltend. Das junge Mädchen zitterte am ganzen Körper, aber ein glückliches Lächeln verklärte ihr ganzes Gesicht, als sie Herrn von Walde gerettet vor sich sah.

Er sprang bei ihrem Erblicken bestürzt vom Pferde; sie aber, die eben noch eine so außerordentliche Selbstbeherrschung an den Tag gelegt, stieß einen lauten Schrei aus und drehte sich tödlich erschrocken um, als sich von rückwärts zwei Arme um ihre Schulter legten; sie blickte in Miß Mertens' tief erregte Züge.

»Um Gotteswillen, Elisabeth,« rief die Gouvernante atemlos, »was haben Sie gethan, er konnte Sie ermorden.«

Herr von Walde drang durch den Rest von Gestrüpp, der ihn von den beiden trennte.

»Sind Sie verletzt?« fragte er rasch und heftig Elisabeth.

Sie schüttelte mit dem Kopfe. Ohne ein Wort weiter zu sagen, hob er sie vom Boden auf und trug sie nach einem umgestürzten Baumstamme, wo er sie niederließ. Miß Mertens setzte sich zu ihr und lehnte den Kopf des jungen Mädchens an ihre Schulter.

»Nun sagen Sie mir, was geschehen ist,« sagte Herr von Walde zur Gouvernante.

»Nein, nein,« rief Elisabeth angstvoll, »nur hier nicht, wir wollen gehen; der Mörder ist entkommen; er lauert vielleicht im nächsten Gebüsche und führt sein Vorhaben doch noch aus!«

»Linke wollte Sie ermorden, Herr von Walde,« sagte Miß Mertens mit zitternder Stimme.

»Der Elende! Der Schuß galt also mir,« entgegnete er ruhig, ohne das mindeste Anzeichen von Bestürzung. Er ging hierauf tief in das Gebüsch, durch welches, nach Miß Mertens' Angabe, Linke entflohen war. Elisabeth zitterte, als er im Dickicht verschwand, und war eben im Begriffe, alle Selbstbeherrschung zu verlieren und ihm nachzuspringen, als er zurückkehrte.

»Sie können ruhig sein,« sagte er zu dem jungen Mädchen; »es ist keine Spur von ihm zu entdecken, der schießt heute sicher nicht zum zweitenmal . . . Nun erzählen Sie mir den Vorfall, Miß Mertens.«

Sie war, wissend, daß Elisabeth heute über das Dorf zurückkehre, ihr auf dem schmalen Waldwege entgegengegangen. Langsam vom Berge niedersteigend, hatte sie dieselbe Entdeckung gemacht, wie das junge Mädchen. Die Absicht des Erbärmlichen war ihr sofort klar geworden, aber der Schrecken hatte sie dergestalt übermannt, daß sie im ersten Augenblicke weder Zunge noch Fuß zu bewegen vermochte. So hatte sie in tödlicher Angst wie eingewurzelt gestanden, als plötzlich Elisabeth, die sie vorher nicht gesehen, hinter dem Mörder erschienen war. Im Entsetzen über die Gefahr, in welche sich das junge Mädchen begeben, war ihr der Hilferuf entflohen, den man mit dem Schusse zugleich gehört hatte . . . Sie erzählte dies alles in fliegenden Worten. »Wo nahmen Sie nur den Mut her, Elisabeth,« sagte sie schließlich, »den Menschen zu packen? . . . Ich schauderte schon bei dem bloßen Gedanken an die Berührung und hätte es sicher beim Schreien bewenden lassen.«

»Wenn ich schrie,« entgegnete Elisabeth einfach, »dann konnte eine unwillkürliche Bewegung Linkes infolge des Schreckens das Unglück gerade herbeiführen.«

Herr von Walde hörte der Schilderung mit großer Ruhe und Aufmerksamkeit zu. Nur als Miß Mertens beschrieb, wie Elisabeth den Mörder mit Blitzesschnelle gefaßt hatte, wechselte er jäh die Farbe und warf einen langen, ängstlich forschenden Blick auf das junge Mädchen, als wolle er sich versichern, daß es auch wirklich unverletzt aus der Gefahr hervorgegangen sei . . . Er bog sich zu ihr nieder, nahm ihre Rechte und führte sie an seine Lippen; sie fühlte dabei ein leises Beben seiner Hand.

Miß Mertens, welche bemerkte, daß diese Dankesäußerung Elisabeth sehr verlegen machte und ihr eine Purpurglut auf die Wangen trieb, verließ ihren Platz, hob die Pistole vom Boden auf, die Linke auf seiner Flucht von sich geworfen hatte, und gab sie Herrn von Walde.

»Abscheulich!« murmelte er. »Der Elende hat sich auch noch einer Waffe bedient, die mir gehört.«

Elisabeth erhob sich jetzt auch und versicherte auf Miß Mertens' Befragen, daß sie von den Wirkungen des Schreckens ganz und gar nichts spüre und den Rückweg antreten könne. Beide wollten sich von Herrn von Walde verabschieden; allein er band sein Pferd an der verhängnisvollen Buche noch fester an und sagte in scherzhaftem Tone. »Linke ist, wie wir uns heute überzeugt haben, sehr rachsüchtiger Natur; es dürfte leicht sein, daß er meine Lebensretterin noch grimmiger haßt, als mich selbst . . . ich kann nicht zugeben, daß Sie ihm ohne männlichen Schutz begegnen.«

Sie stiegen den Berg hinauf. Miß Mertens eilte voraus, um auch Herrn von Walde zur Eile anzutreiben, denn es mußten ja doch Schritte zur Verfolgung des Verbrechers geschehen; allein ihre Bestrebungen waren umsonst. Er schritt langsam und schweigend neben Elisabeth, die eine Zeitlang mit sich kämpfte, endlich aber in leisem, verzagtem Tone ihn bat, er möge jetzt nicht wieder allein zu seinem Pferde zurückkehren, sondern dasselbe holen lassen.

Er lächelte. »Mein Belisar ist wild und eigensinnig, Sie kennen ihn ja,« sagte er. »Er geht nur mit mir und würde es sehr übel vermerken, wenn ihn ein anderer, als sein Herr, nach Hause bringen wollte . . . Jener feige Mensch wird übrigens, wie ich Ihnen schon gesagt habe, heute auf keinen Fall einen zweiten Angriff gegen mich wagen . . . Nun, und wenn auch, ich bin ja gefeit! . . . Ist nicht heute ein guter Stern über mir aufgegangen!«

Er blieb stehen. »Was meinen Sie,« fragte er plötzlich mit gedämpfter Stimme, während sein Auge aufleuchtete und das ihre forschend suchte, »soll ich wohl den entzückenden Wahn festhalten, daß er mich durch mein ganzes Leben begleiten werde?«

»Wenn Sie Wagestücke in diesem Sinne ausführen wollen, dann ist es freilich besser, Ihr Glaube an jenen Stern ist kein so unbedingter.«

»Das größte Wagestück war wohl dieser augenblickliche Wahn selbst,« murmelte er für sich, während ein finsterer Schatten über sein Gesicht flog.

»Ich verstehe Sie nicht,« sagte Elisabeth erstaunt.

»Das ist ganz natürlich,« entgegnete er bitter, »Ihr Denken und Wünschen hat ja eine ganz entgegengesetzte Richtung . . . Bei aller Strenge gegen sich selbst begegnet es einem doch manchmal, daß man sich von einem lieblichen Traume begleichen läßt . . . Nein, nein, sagen Sie nichts mehr! . . . ich bin ja schon bestraft, denn ich wache.«

Jetzt beschleunigte er seine Schritte und ging nun an Miß Mertens' Seite, während Elisabeth stumm folgte und sich den Kopf darüber zerbrach, warum er wohl so plötzlich wieder in jenen rauhen Ton verfallen war, der sie stets so tief verletzte. Er sprach kein Wort mehr, und als endlich die Mauern des alten Schlosses durch die Büsche blickten, empfahl er sich in auffallend kurzer und knapper Weise und schritt rasch den Berg wieder hinunter.

Miß Mertens sah ihm erstaunt nach. »Sonderbarer Mann!« sagte sie endlich und schüttelte den Kopf. »Und wenn auch wirklich das Leben für ihn sehr wenig Wert hat, wie ich in diesem Augenblicke annehmen muß, so meine ich doch, wäre ein Wort des Dankes beim Auseinandergehen nicht gerade überflüssig gewesen, wenn man bedenkt, daß Sie Ihr Leben um seinetwillen in Gefahr gebracht haben.«

»Ich sehe diese Notwendigkeit durchaus nicht ein,« entgegnete Elisabeth. »Sie legen überhaupt meinem Anteil bei dem Vorfalle viel zu viel Gewicht bei . . . Ich habe einfach eine Pflicht gegen den Nächsten erfüllt, und würde,« fügte sie mit einem eigentümlichen Trotze in Ton und Gebärden hinzu, »ganz ebenso gehandelt haben, wenn der Fall ein umgekehrter, und Linke der Bedrohte gewesen wäre . . . Es ist mir sehr erwünscht, daß auch er die Sache in der Weise auffaßt; denn bei seinem Hochmute müßte ihm das Gefühl einer nicht einzulösenden Verbindlichkeit einem anderen menschlichen Wesen gegenüber jedenfalls ein höchst peinliches werden, ich aber möchte um alles dieses Wesen nicht sein.«

In diesem Augenblicke stritten zärtliche Angst und Bitterkeit in ihr. Sie verfolgte in Gedanken den Hinabsteigenden Schritt um Schritt und schüttelte sich vor Entsetzen, wenn sie dachte, er gehe vielleicht gerade jetzt an der Stelle vorüber, wo der Rachedürstende auf ihn lauere . . . dann meinte sie, indem sie hastig vorwärts schritt, es sei doch recht thöricht, alles Denken und Empfinden an einen Mann zu verschwenden, der ihr geflissentlich die rauheste Seite seines Wesens zeige . . . Selbst der Baronin gegenüber, die ihm doch in tiefster Seele zuwider war, verlor er keinen Augenblick seine Ruhe, setzte er nie die Formen der allgemeinen Höflichkeit aus den Augen, wenn er ihr auch seine Ueberzeugung stets ungescheut ins Gesicht sagte. Seine ganze Umgebung kannte ihn nicht anders, als von dem Nimbus der Ruhe und Würde umgeben; nur im Gespräch mit ihr hielt er es nicht der Mühe wert, sich zu beherrschen . . . Wie heftig konnte er da werden! Wie flammten seine Augen auf und hingen mit verzehrender Ungeduld an ihren Lippen, wenn sie nicht rasch oder bestimmt genug antwortete! . . . Dabei verlangte er, sie solle ihn womöglich schon verstehen, noch bevor er gesprochen, und doch war er ihr noch völlig unverständlich, wenn er fertig zu sein meinte. Vielleicht waren alle anderen scharfsinniger als sie und fanden sich rascher in seine Sprech- und Denkweise, die für sie nun einmal ein unlösbares Rätsel war und blieb . . . War es ihr zu verdenken, wenn sie sich vornahm, dergleichen Konflikten künftig auszuweichen? . . . Gewiß nicht . . . Nun, zum Glücke war ja seine Abreise nahe . . . zum Glücke? . . . Der mittels Trotz und Stolz aufgerichtete Bau der Selbstbetrügerei zerfiel plötzlich vor diesem einen Gedanken; ja, er versank so spurlos, daß sie zu Miß Mertens' Verwunderung eilig in den Weg einbog, der von der Waldblöße hinunter nach dem Schlosse führte . . . Sie mußte sich überzeugen, ob Herr von Walde unangefochten zurückkehre. Miß Mertens folgte ihr willig bis in ein Boskett, nahe bei der Thür, wo er abzusteigen pflegte, und auch ihr fiel ein Stein vom Hetzen, als er gleich darauf aus dem Walde hervorsprengte.


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