Eugenie Marlitt
Das Eulenhaus
Eugenie Marlitt

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21.

Die Nachricht, daß die Herzogin krank sei, war bereits überall verbreitet.

»Sie sah so merkwürdig bleich zuletzt aus«, bemerkte Prinzeß Thekla, als man im Neuhäuser Speisesaal beim Abendessen saß.

»Meine Cousine wurde schon in aller Morgenfrühe hingeholt«, erzählte Beate, der man keine Spur von Müdigkeit ansah, obgleich sie gar nicht zu Bette gegangen war, um sämtliche Spuren des Festes beseitigen zu lassen. Da befand sich jede Silbergabel wieder an ihrem Platz, jede Tasse, jedes Möbel, nichts erinnerte mehr an das Feenmärchen der letzten Nacht. »Sie schreibt mir soeben«, fuhr Beate fort, »daß sie die Herzogin pflegt und ganz nach Altenstein übersiedelt ist.«

»Welch rührende Freundschaft!« rief die alte Prinzessin, die sehr schlechter Stimmung war, denn heute früh hatte Baron Lothar die Kinderfrau knall und fall entlassen, und Frau von Berg war schon in aller Morgenfrühe ein Schreiben an das Bett gebracht worden, das sie just in einem beglückenden Traum störte. Es enthielt die Entlassung von ihrer Stelle als Erzieherin »meiner Tochter« in aller Form, zwar unendlich artig gehalten, aber es war so, wenn auch liebenswürdigerweise der Baron am Schlusse die gnädige Frau bat, sie möge über die Gastfreundschaft in seinem Hause verfügen.

Sie hatte nur ein Morgenkleid übergeworfen und war gegen alle Hofsitte in das Schlafzimmer der Prinzessin Helene gestürzt. Die kleine Durchlaucht hatte elend ausgesehen, mit dunklen Ringen um die Augen, als habe sie während der Nacht mehr geweint als geschlafen.

»Was ist da weiter?« war der verdrießliche Trost gewesen. »Sie kommen dann zu Mama, Alice, ich werde mit ihr sprechen. Die Moorsleben geht ja ohnehin zu ihren Eltern zurück.«

Mama hatte dann auch wirklich sogleich die teure Alice aufgefordert, zu ihr zu kommen. Es war ja unerhört, einer »Dame« zu kündigen, als sei sie eine Erzieherin, einer Dame, die sie eigens ausgesucht hatte. Und sie hatte dennoch nicht gewagt, Gegenvorstellungen zu machen, man mußte ihr, die beinahe die fahrlässige Tötung des geliebten Enkelkindes verursacht hatte, sogar scheinbar zürnen.

Frau von Berg saß, blaß wie ein unschuldig gekränkter Engel, in ihrem Gemach, äußerlich voll edler Fassung, innerlich voll Zorn. Das Kinderzimmer war nach unten verlegt, dicht neben die alte gemütliche Schlafstube Beates, nach dem weiten luftigen Hofe hinaus, wo es Pferdchen, Kühe und Hühner zu sehen gab – die nämliche Aussicht, die schon den Vater des Kindes und Tante Beate entzückt hatte, und dieselbe treue Hand, die jene einst gehütet, hielt jetzt das Kindchen auf dem Arme, eine saubere, etwa fünfzigjährige Frau mit den freundlichsten Augen der Welt unter der schwarzen Bauernhaube. Lothar hatte sie heute früh persönlich aus dem schmucken Häuschen am Ende des Dorfes zu seinem Kinde geholt.

»Die Herzogin ist öfter leidend, wie wir alle wissen, Mama«, sagte Prinzeß Helene, die Lothar nicht aus den Augen ließ.

»Natürlich! Vielleicht hat sie sich über irgend etwas aufgeregt«, meinte die alte Prinzessin. »Übrigens, diese Schwüle ist erdrückend, ich hätte nie geglaubt, daß es in den Bergen hier so heiß sein kann, ich muß beständig an die kühle, wogende Nordsee denken. Herr von Pausewitz,« wandte sie sich an den Kammerherrn, »haben Sie Nachricht aus Ostende, ob wir die Zimmer in unserem Hotel bekommen werden?«

Beate schaute verwundert ihren Bruder an. Die ungeheuren Koffer, welche die durchlauchtigsten Damen nach Neuhaus brachten, hätten auf einen längeren Aufenthalt schließen lassen.

Herr von Pausewitz machte eine bedauernde Bewegung. »Durchlaucht, der Wirt depeschiert, daß leider meine Bestellung zu spät kam, glaubt aber, in einem anderen Hotel –«

»Sie werden uns hoffentlich begleiten, lieber Lothar«, unterbrach Prinzessin Thekla den alten freundlichen Herrn und wandte sich zu Baron Gerold. »Die Erinnerung an unsere teure Verewigte wird Sie ebenfalls dorthin ziehen, wo Sie die kurzen Wochen der Brautzeit miteinander verleben durften.«

Lothar verbeugte sich. »Verzeihung, Durchlaucht ich sehe Plätze, an welche sich Erinnerungen knüpfen, die für mich so traurig sind, nicht gern zum zweitenmal. Aber abgesehen hiervon, ich habe in letzter Zeit bemerkt, daß meine Anwesenheit in Neuhaus mehr als nötig ist; auch für meinen Besitz in Sachsen dürfte es gut sein, wenn das Auge des Herrn einmal wieder sorgend auf ihm ruht.«

Die Prinzeß warf einen verzweiflungsvollen Blick durch das Fenster, der ebensogut den drohenden Wolken da draußen gelten konnte, wie der Starrköpfigkeit ihres lieben Schwiegersohnes.

»Eine Frau, eine Mutter faßt das Angedenken an die Heimgegangene natürlich anders auf«, sagte sie kühl, »weniger heroisch. Verzeihung, Baron!«

»Durchlaucht«, erwiderte er mit Wärme, »es wäre schlimm, würde es anders sein! Die Frauen haben das holde Vorrecht, Kultus zu treiben mit den äußeren Zeichen der Trauer wie der Freude. Sie sind es, welche Blumen streuen zum fröhlichen Fest, sie sind es, die das Grab bekränzen. Welcher Schimmer würde dem Leben fehlen, wenn sie ›heroischer‹ wären!«

Prinzeß Helene ward dunkelrot. Wie kam ihre Mutter auf den Einfall, von hier fortzugehen – jetzt? Die Gabel in ihrer Hand zitterte, sie mußte sie hinlegen.

Komtesse Moorsleben rief: »Um Gott..., sind Durchlaucht nicht wohl?«

»In der Tat – ich bin – mir ist so schwindlig plötzlich«, stammelte die Prinzessin. »Verzeihung, wenn ich –«

Sie hatte sich erhoben und, das Tuch vor die Augen gedrückt, schritt sie hinaus. Sie flog die Treppe förmlich hinauf und in Frau von Bergs Zimmer.

»Alice!« rief sie fassungslos, »Mama spricht vom Abreisen! Es ist schrecklich – es ist alles verloren!«

Frau von Berg, die im hellblauen Morgenkleide im Zimmer auf und ab schritt und ihr Riechsalz zuweilen mit halbgeschlossenen Augen an die Nase führte, hielt inne und vergaß für einen Augenblick ihre Krankenrolle.

»Gerold hat Mama seine Begleitung abgeschlagen«, fuhr die Prinzessin erregt fort, indem sie an ihrem Taschentuch zerrte, daß die feinen Spitzen zerrissen. »Er schwärmt plötzlich von seinen Wäldern, wie ein erbgesessener Bauernsohn, dem man zumutet, nach Amerika auszuwandern. Was soll ich in Ostende? Und noch dazu wenn ich weiß, Sie sind nicht mehr hier, Alice! Ich ertrage es nicht«, beteuerte sie und warf sich auf das Sofa, »ich springe unterwegs aus dem Zuge, ich stürze mich von der Mole in die See – ich –«

Das weiße Gesicht der Prinzessin leuchtete kaum noch kenntlich aus der schnell hereinbrechenden Dunkelheit herüber zu der unbeweglich dastehenden Frau.

»Ach Gott, es ist ja alles verloren!« rief sie, als diese schwieg. »Ich gehe, und sie bleibt!« Und sie begann leidenschaftlich zu weinen, indem sie aufs neue den Kopf in die Kissen barg. »Ich fühle es, Alice, ich fühle es, er liebt sie!« schluchzte sie.

Frau von Berg lächelte. Sie hatte keinen Grund mehr zur Schonung, seit ihrer heutigen Niederlage haßte sie alle diese Menschen.

»Prinzessin, jetzt keine unnötigen Tränen«, sagte sie kühl, »jetzt müssen Sie handeln. Vor allen Dingen, meine ich, müßte der Herzogin bewiesen werden, daß Durchlaucht keineswegs gestern abend ›im Fieber‹ redeten. Alles andere würde sich dann finden.«

Frau von Berg sah im Geiste schon die ganze Gesellschaft in die Luft fliegen, ihretwegen auch dieses kindische unentschlossene Geschöpf.

»Aber ich kann es ihr nicht sagen, ich kann es nicht!« flüsterte die Prinzessin, »ich habe einmal sehen müssen, wie sie ein Reh krankgeschossen hatten, und ebenso blickte sie mich gestern an. Ich kann es nicht! Ich habe die ganze Nacht deshalb nicht geschlafen.«

Frau von Berg zuckte die Achseln. »So gehen Durchlaucht nach Ostende, die Idylle hier wird sich dann ungestört entwickeln.«

Draußen warf der Wirbelsturm, der vor dem Gewitter daherbrauste, Sand und Blätter gegen die Fenster und zerzauste wütend die Äste der Linden, dann fuhr der erste grelle Blitz hernieder und streifte das spöttisch verzogene Gesicht der schönen Frau, die am Fenster lehnte und in das Toben hinausschaute.

»Ich will ihr schreiben«, sagte jetzt die Prinzessin, und nach einer Pause, während welcher ein Donnerschlag das Haus erbeben machte: »Ich bin es ihr schuldig – ja, ja, ich bin es ihr schuldig, Sie haben recht, Alice! Kommen Sie in mein Zimmer, ich fürchte mich.«

Frau von Berg zündete eine Wachskerze auf dem Schreibtisch an und leuchtete der Prinzessin über den Flur nach ihrem Zimmer. Auf dem weißen runden Frauen- gesicht lag ein Zug höchster Befriedigung. »Endlich!« dachte sie und ballte heimlich die Faust. Wie hochmütig sie an ihr vorübergeschritten war, als Baron Gerold sie – Frau von Berg, – maßregelte, sie, deren Vorfahren mindestens so alt waren wie die ihren.

»Was meinen Sie, Alice«, unterbrach die Prinzessin ihre Gedanken, »wie soll ich schreiben?«

Die zierliche Gestalt der kleinen Durchlaucht saß vor dem Rokokoschreibtischchen, vor sich ein wappengeschmücktes Briefblatt. Vorläufig stand nichts weiter darauf als: »Geliebte Elisabeth!«

»Irgend so etwas, Durchlaucht, wie – daß die Sorge um das Glück Ihrer Hoheit Sie veranlasse, die gestern hingeworfene Bemerkung näher zu begründen, Durchlaucht könnten es vor Ihrem Gewissen nicht verantworten und so weiter, und hier sei der Beweis –«

Die Prinzessin wandte den Kopf und schrieb. Draußen tobte das Wetter, und wenn ein Donnerschlag das Haus erschütterte, hielt die schreibende Mädchenhand inne. Zuweilen fuhr sich die Prinzessin ängstlich über die Stirn, dann flog die Feder aufs neue über das Papier, und endlich reichte das Mädchen der bewegungslos inmitten des Zimmers stehenden Frau das Schreiben.

Diese trat zu der kleinen Kerze und las. »Wie immer gefühlvoll«, sagte sie, »rührend! Und nun das Briefchen Seiner Hoheit, Durchlaucht«, und ihre Augen schimmerten wie die einer beutegierigen Katze.

Die Prinzessin zog das Kettchen unter ihrem Kleide hervor, zögernd nahm sie den Brief aus der Kapsel und schloß dann die Hand zur Faust darum. Ein letzter Kampf rang in ihrem Herzen. Frau von Berg lehnte an der Wand neben dem Tische. »Übrigens«, sagte sie langsam, »großartig sah sie aus, gestern, diese Klaudine. Sie haben einen eigenen Reiz, diese blonden Frauen mit den feuchten blauen Augen –« aber sie bemerkte doch, daß die Prinzessin bereits mit zitternden Fingern die Adresse schrieb.

In diesem Augenblick erschien die Komtesse, um ihre junge Gebieterin zu der Mutter zu rufen. Die alte Prinzessin hatte Nervenanfälle und war in jener krankhaften Verfassung, wo sie Sachen zerschlug und Stoffe zerriß. Auch heute tobte sie wie das Wetter draußen. Mit verweinten Augen kam die Prinzessin nach einer halben Stunde zurück in ihr Gemach, sie hatte mit stummem Trotz die ganze Flut der Vorwürfe hingenommen. Auf dem Schreibtisch flackerte noch das Wachslicht im Verlöschen, die hastig hingeworfene Feder lag neben dem Schreibzeug, aber – die kleine Hand fuhr nach der Stirn – der Brief? Wo war der Brief?

Eine zitternde Angst überfiel sie, sie stürzte durch den Flur nach Frau von Bergs Zimmer.

»Alice!« schrie sie in die Dunkelheit hinein, »der Brief! Wo haben Sie den Brief? Ich will ihn noch einmal lesen!«

Keine Antwort.

»Alice!« rief sie heftig und trat mit dem Fuße auf.

Alles blieb still.

Sie lief die Treppe hinunter. Durch die halbgeöffnete Tür der Halle drang wundervoll erfrischende Luft herein, es hatte aufgehört zu regnen. Draußen auf den Steinfliesen glitt ein Schatten auf und ab.

»Alice!« rief die Prinzessin zum drittenmal und eilte hinaus. »Der Brief! Wo ist der Brief?«

»Durchlaucht, ich habe ihn pünktlich besorgt.«

Ein halberstickter Schrei kam aus dem Munde der Prinzessin.

»Wer hat Ihnen befohlen, den Brief abgehen zu lassen?« stammelte sie zornig und faßte die Schulter der Dame.

»Nun, Durchlaucht«, erwiderte diese, nicht im mindesten aus der Fassung gebracht, »ich fand just Gelegenheit.«

Aber die Prinzessin beruhigte sich nicht. »Und was soll ich sagen, woher ich dieses entsetzliche Briefchen habe?« fragte sie, die Hände ineinander windend.

»Gefunden!« erwiderte die Berg.

»Ich lüge nie!« rief das fürstliche Mädchen und ihre zierliche Gestalt wuchs förmlich. »Von Ihnen wisse ich es, werde ich sagen, so wahr mir Gott helfe, und ich spreche die Wahrheit damit, Alice!«

»Wie Durchlaucht darüber denken – dann habe ich das Briefchen gefunden«, erwiderte sie. »Ich gab es dem Reitknecht mit, den der Baron an Fräulein von Gerold nach Altenstein sandte, er soll es an Frau von Katzenstein abgeben; ich schrieb ihr ein paar Worte, daß sie den inliegenden Brief Eurer Durchlaucht morgen früh Ihrer Hoheit überreichen solle.«

Die Prinzessin war still geworden. Sie hielt sich an dem im blassen Mondlicht schimmernden Türklopfer von Bronze, den der sterngeschmückte Hirsch krönte. Sie konnte nicht mehr klar denken, sie fühlte sich unsäglich elend.

Frau von Berg wußte ganz genau, daß es ein Brief Beates war, den der Reitknecht forttrug, aber warum das sagen? So wurde das Feuer noch mehr geschürt.

Die Prinzessin wandte sich nach der Halle zurück und dort stand sie still. Es war eine Furcht, ein unnennbares Grauen über sie gekommen.

Beate trat eben aus dem Zimmer Lothars, das Schlüsselkörbchen am Arm. »Prinzessin!« rief sie erschreckt, »wie sehen Sie aus!«

Da kam es wie Leben über sie. Sie eilte die Treppe hinauf und in ihr Zimmer, und da wühlte sie die Hände ins Haar und lag angekleidet auf ihrem Bette die Nacht hindurch, halb bewußtlos, und fürchtete, daß es Tag werden möchte.


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