Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

V

Sie dehnte sich unter den Umarmungen eines neuen Geliebten: der Menge. Ein ununterbrochener Zug von Körpern, die Lust verhießen, ging durch ihr Schlafzimmer – von hageren, schmachtenden Körpern und gepflegten, athletischen; von den festen geschmeidigen Körpern der Mädchen und von den zartknochigen der Kinder mit schmelzendem Fleisch. Dem Fischer von Santa Lucia folgte der Clubman. Die warmgoldene Bauerndirn mit niedrigen dicken Brauen über den ruhigen Augen hinterließ den kräftigen Abdruck ihrer Formen in Kissen, worauf Lilian Cucuru sich ausstreckte; und auch sie und ihre kalte Vollkommenheit zerriß der schmerzliche Krampf einer ersten Sucht nach Hingabe und Aufgehen. Sir Houston fand sich bei der Herzogin ein und versicherte, seine Mutter habe es ihm erlaubt.

Andere Mütter schrieben Bittbriefe, oder sie kamen selbst und brachten Söhne und Töchter mit, deren Vorzüge sie rühmten. Im Café Turco logen die eleganten jungen Leute einander von ihrem ungewöhnlichen Ruhme vor, erworben im Bett der Herzogin von Assy. Abends im Volksgarten erzählte ein Halbnackter am Brunnen, wo er sich den Ruß der Arbeit vom Nacken wusch, den Gefährten ein Märchen mit blendenden Tiefen aus Gold, Edelsteinen und Leckerbissen; und mitten darin ließ er ihren Namen funkeln. Unter ihren Möbeln vernahm sie beim Schlafengehen die Seufzer derjenigen, die ihre Diener bestochen hatten. Junge Fremde stellten sich ihr vor; sie waren weither gereist in der Hoffnung, ihr zu gefallen. Von ihr ausgezeichnet zu sein, galt als ein Anrecht auf Glück bei Frauen ohne alle Unkosten und auf eine vorteilhafte Heirat. Das in einer drängenden Luft erhitzte, gehetzte Liebesleben voll seltsamer Verfeinerungen, witziger Erfindungen und vom Altertum überkommener Stacheln – alles, was diese Stadt der Lust durchfieberte an heißen Knaben, begehrlichen Matronen, ausgebotenen Kindern, geübten Frauen: die ganze schwelende, dunkle, peinigende Glut schlug zu einer hellen, heidnischen Flamme empor im Palast auf dem Posilippo.

Seine hohe und lange Halle sah zwischen Säulen hinab aufs Meer. Über die oben offenen Marmorwände fielen schwere, tiefrote Gewebe: vor ihnen prangte das weiße Fleisch. Das bronzefarbene sonnte sich auf Behängen aus gelber Seide. Die Statuen fehlten in den Sälen; es gab keine in den Loggien und auf den Gartenwegen. Aber überall blühte mit den großen Blumen das Fleisch, das glänzende oder sanfte. Die Herzogin wünschte sich auf allen Treppenstufen und bei jedem Brunnen die frischen Gesten junger Glieder. Sie ließ Knaben und Mädchen in ihrer Nähe gedeihen bei Sonne, Meerwind und Früchten – und sie war glücklich, dem Blute zusehen zu dürfen, das dieses warme Fleisch schwellte, und der zärtlichen, schmiegsamen Haut, die es nährte. Sie sagte sich:

›Werd ich es je ganz erfassen, was um mich her wächst, die Muskeln spielen läßt, die Gelenke reckt, sich wölbt und sich breitet? Ich bin eine Anbeterin des menschlichen Körpers geworden, aus der einstigen Genießerin von Kunstwerken. Ach! Die Kunstwerke hielten still, ergaben sich und sättigten mich ... Die lebende Schönheit aber wächst, nimmt mich hin, wächst, überwältigt mich, wächst noch immer und wird in ihrer Fülle erst frohlocken, wenn ich erschöpft bin und die Augen schließe!‹

Don Saverio, ihr treuer Freund, brachte ihr seine Schützlinge. Er erklärte selbst:

»Da Sie es mir nicht vergönnen, Herzogin, Sie den andern zu verkaufen, so verkaufe ich sie Ihnen.«

Er hielt Agenten im Lande zur Auffindung menschlicher Vollkommenheit und behauptete, keinen Wettbewerb zu fürchten. Er wurde unter Verzicht auf seine ehemaligen gefährlichen Machtmittel zu einer Art von Haushofmeister im Dienste der Herzogin. Er leitete ihre Feste.

Man ruhte die Halle entlang und bei goldenen Schalen, zwischen deren Rand der Wein eine samtene Decke breitete, auf purpurnen Polstern in der Tiefe der weiten Marmorbänke. Am Boden auf den spiegelnden Quadern sammelten sich Rosenblätter zu roten Lachen. Die schlanken Füße von Knaben strichen darüber hin. An Eminas und Faridas spitzen Brüsten klirrten Tamburine. Ihre kleinen Handflächen röteten sich vom Schlagen. Große Früchte, die barsten irgendwo unter den Fingern eines Gastes, sandten ihnen ins Gesicht ihren Saft. Viele Mädchen drehten sich zwischen den Säulen und hingen ihre Gebärden daran auf wie Kränze. Man rief ihnen zu, verlangte Wein und Küsse, öffnete die Arme und die kühlen Sessel ihrem erhitzten Fleisch.

Und zu dem Saft der zertretenen Blumen, zu dem Mark der Früchte und dem verschütteten Wein mischte sich ganz natürlich ein wenig Blut.

Die Marchesa Trontola, die die mächtigen Rundungen ihres Leibes über zwei Bänke verbreitete, hetzte gemächlich und lüstern zwei arme und schöne Burschen aufeinander. Sie brachten sich mit silbernen Obstmessern viele kleine Wunden bei und lagen am Ende, die Haut voll dünner roter Rinnsale, quer übereinander auf den Fliesen. Die schwarze Gardine ihrer Wimpern war fest zugezogen über ihrer tiefen Blässe.

Lilian Cucuru begann zu leben: sie gestand es selbst. Sie verachtete weniger, sie war nicht mehr kalt von abgestorbenen Schmerzen. Sie liebte es, sich mit ziemlich viel Wein zu erwärmen. Dann behauptete sie laut, daß ihre Schwester das Liebesleben einer Katze führe. Sie selber verstehe nicht, wie man mitten in Zärtlichkeiten sich soviel tückische Eigensucht vorbehalten könne. Als sie einmal dem Spiele Vinons mit dem ganz verwilderten Mister Williams von Ohio zusah, riß der Haß sie hin. Sie warf sich über die Feindin, sie kniete sich auf sie; ihr rotviolettes Haar, das aufging, überflutete die andere wie schwerflüssiges Blut; und mit ihren Schenkeln, den langen, biegsamen Schenkeln, die für lesbische Spiele gebildet waren, zerstampfte Lilian die süßen Formen, indes sie heisere Beschimpfungen ausstieß.

Ein Knabe und ein Mädchen ruhten still in den Armen der Herzogin, während die Orgie lärmte. Auf einmal – weil der Tanz einer Bacchantin zu nahe an ihnen vorbeigetobt war, weil ein schwerer Duft sie angeweht oder eine heiße Hand ihre Stirnen gestreift hatte – sprangen sie auf, kreischten sich ihre Eifersucht ins Gesicht, rangen ihre schmächtigen Glieder ineinander, bis sie stürzten, und verbissen sich mit kleinen scharfen Zähnen, ein jeder an der Stelle von des andern Leibe, wo er es nicht mehr ertragen konnte, daß jenem sich die Lust vollende.

Die wundervolle Contessa Paradisi, sonst außer dem jeweiligen Herzensfreunde nur den Allerreichsten zugänglich, hatte einst versprochen, sie wolle in einer Nacht, und ehe der Morgen die glatten Säulen röte, alle ihre Liebhaber erhören, so viele ihrer sein mochten – ohne eine Vorliebe, ohne eine Abneigung und mit voller Hingabe. Auch hielt sie ihre Zusage, soweit ihre Kraft reichte. Immerhin schloß sie, wie der vierundzwanzigste ihren beseligenden Mund küßte, die Augen und fiel in tiefe Ohnmacht. Sie erwachte, während der Wein, den man ausleerte, auf ihrer Brust schäumte; aber sie blieb geistesabwesend und erklärte, sich krank zu fühlen. Ein unbemitteltes Klubmitglied, das überdies häßlich war, tröstete sich nicht über den Verlust der einzigen Gelegenheit. Nie würde sie wieder so freigebige Glieder auftun, die wundervolle Contessa Paradisi! Als sie schwach geworden war, da war an ihm die Reihe gewesen! Hätten noch zwei andere dazwischen gestanden! Aber für ihn, gerade für ihn war das Unglück geschickt! Er knirschte, und er band, um sich zu erleichtern, mit einem glücklicheren Freunde an. Nackt, wie sie waren, und die Florette in ihren von Trunk und Liebe zitternden Händen, stießen sie einander tiefe Löcher und starben beide nach wenigen Minuten.

Don Saverio vermaß sich, das Geschehene gutzumachen; es werde nicht einmal eine Notiz in die Blätter gelangen. Übrigens war tags darauf alles vergessen wie der rötliche Brodem, den in schwülen Nächten der Vesuv über die Küste rollte und den ein Morgenwind zerblies.

 

Ein kleiner grauer Alter mit Spitzbauch und goldener Brille führte der Herzogin zwei Weiber vor, deren Künste nicht mehr zu überbieten seien, sagte er. Er wage sie nur im geschlossenen Wagen durch die Stadt zu fahren, denn sie hätten bereits auf offener Straße zu viel Empörung der Sinne veranlaßt und zu viele jähe Handlungen. Er ließ sie ein paar Proben ihrer Fähigkeiten ablegen und stöhnte dazu, als greife es ihn an. Er nannte sich Amoroso. Er verlangte viel Geld.

Die Herzogin hieß sie mitkommen. Sie saß in einem inneren Saal mit leerem Marmorestrich. Es war kühl; ein Zugwind strich aus langen, schattigen Gängen herein. Zu ihren Füßen breitete sich die Wasserfläche eines großen Beckens aus, und sie sah jenseits die beiden Weiber warten in schlaffer Haltung, gelb, schwarz, ungekämmt, mit weichem, gebeuteltem Fleisch an Gesicht und Körper, dicken, kleinen Falten im unteren Augenlid, gebauschter Kinnhaut, Säckchen in den Wangen, Stirnrunzeln und mit erhöhten Adern auf müden, kundigen Händen. Soviel innerer Aufruhr hatte ihre Blicke fast blind gemacht; dumpf brütend kamen sie von unten, aus der Tiefe eines Leibes, der noch viele sättigen und zerstören konnte. Nur seine Haut war geweitet; sie war über ihn gezogen wie ein nicht mehr frischer Handschuh über eine meisterhaft ausgearbeitete Hand. Sie waren schön – kraft all der Lust, die sie versprachen.

Sie waren die wahren Zauberinnen der Lust, aus einem geheimnisvollen Thessalien hergehext. Aus dem Kosten der Tränke, mit denen sie andern die Sinne vergifteten, hatten sie selber eine schmerzliche Verzückung ihres Fleisches davongetragen. Nur bei ihnen erzwang der menschliche Körper von sich alles, was er hergeben konnte an Kitzel, Krampf, Sturm ... Die Herzogin winkte ihnen. Sie begannen. Sie glitten erst nur wie zwei spielende Raubtiere nebeneinander auf die kühlen Fliesen, und ihre heiße, trockene Haut erschauerte, da sie sich streiften. Ihre Glieder lockten einander; sie fügten einander den Biß der ersten Liebkosung zu und die Süßigkeit der ersten Herausforderung. Sie kämpften – keuchend, unter Schweißausbrüchen, eine jede wahnwitzig darauf versessen, aus der andern ein Werkzeug des Unmöglichen zu machen und durch sie zu vergehen. Jede starb oftmals mit Röcheln und feierte oftmals eine wilde Auferstehung unter der Geißel, geflochten aus dem Fleisch der andern. Zuweilen verließen sie sich mit gehässigem Aufschreien oder mit einem rauhen, kotigen Wort. Zuweilen erreichten sie das Ziel – und indes ihre letzten Zuckungen verebbten und die durchs Fenster fließende Abendsonne ihre Fleischfalten durchspülte wie die Wellentäler eines Meeres, das sich glättete, lagen sie hingewälzt, sie wußten nicht mehr wo. Keine unterschied die eigenen Glieder, so tief ineinander verwühlt waren sie. Und die eine mit den Brüsten im Schoß der andern, starrten sie einander an, die rosigen, breiten Lippen kraftlos geöffnet, stumpf, das Blut befreit von allen Stacheln, endlich erlöst, endlich glücklich.

Aber die Herzogin drüben in ihrem gebauchten Steinsessel, die Beine gekreuzt, vornübergebeugt zwischen den Armlehnen und das Kinn in der Hand, fragte sich zweifelnd:

›Ist das alles? ... Oder ob auch diese süße Feige, die von allen die reifste ist, sich eine letzte Süßigkeit vorbehält ... Ach! diese Frucht ist wie die andern; nie werde ich sie gepflückt haben – und sei sie schon auf meinen Lippen geschmolzen.‹

Sie sann.

»Eine Klosterpforte hinter sich zuwerfen wie jener andere, allem entsagen, die Augen schließen ...«

Sie schloß sie. Wie sie sie wieder öffnete, traf sie zu ihren Füßen im Wasser ihr Bild.

»Noch eine Weile«, flüsterte sie. »Es handelt sich um weniges.«

Und sie betrachtete in dem flüssigen Spiegel die eigene Nacktheit.

Dieser Leib, der nie geboren hatte, war jungfräulich inmitten seiner zerrütteten Reife. Diese Brüste, klein und spitz, stachen ihre schwarzblauen Warzen täglich in den Schaum neuer Genüsse. Unterhalb des Nabels vertiefte sich immer mehr die eine starke Falte; sie glich einer Schlange, die diesen nach Lust stürmenden Leib anstachelte mit ihren Bissen. Auf dem glatten Bauch und der edlen Senkung der Schultern wurde der matte Alabaster der Haut getönt von ein paar gelben Flecken. Sie waren hingeküßt von einem allzu heftigen Liebhaber, der sich nicht mehr vergessen ließ: von der Zeit. Die Innenseite der Arme war schlaff und die großen Adern geschwellt von einem blauvioletten Blut, das diese oft herabgesunkenen und immer wieder emporgeschnellten Arme antrieb: legt euch um neue Nacken! Die Hände, einst geweiht und vollendet durch das Hinabgleiten an Vasen und Büsten, hatten wieder etwas fast Kindliches bekommen; auf der Höhe ihrer Weisheit und am Ende so vieler Übungen hingen sie aufs neue ungestillt und hilflos. Der ganze Leib war früher üppiger gewesen, zur Zeit des triumphierenden Lebens auf den Thronen der Kunst und zwischen ihren Räucherpfannen. Nun ward er immer magerer; das mürbe Fleisch, abgenutzt und verzehrt von Fiebergluten, schmolz nach jeder Liebesnacht ein wenig weiter fort; und kaum mehr verdeckt von der gespannten, feuchten Haut, drängte sich, ruhelos und heiß, jeder einzelne Muskel unter die flüchtige Hand, die ein wenig Letzung versprach.

»Ich hatte also in mir eine, die fast eure Schwester ist«, sagte sie und nickte hinüber nach den beiden, die übereinandergeworfen im Schlafe atmeten.

»Sie lebt auf, sie springt aus mir heraus, keucht unter der Fuchtel der unerbittlichen Göttin, tobt, ermüdet, sinkt hin ... Was kommt dann?«

Sie lächelte.

»Es handelt sich vielleicht um weniges.«

Ein großer, strotzend roter Fleck schwamm im Wasser. Es war der Widerschein ihres gefärbten Haares. Darunter erblickte sie ihr Gesicht blaß und mager, und inmitten seines Glanzes die Schatten des Verfalls und die kleinen Höhlen, in denen er sich verbarg und arbeitete. Der Mund wand sich blutend in immer eiligerer Genußsucht. Ein Lächeln zog die Haut über den Nasenflanken und unter den Augen so straff, daß sie bläulich spiegelte: ein Lächeln von irrer Süßigkeit, rein – und fast ein Grinsen. Sie wußte selber nicht, prickelte dieses Gesicht von leichter Fröhlichkeit oder grimassierte es angstvoll. Es forderte heraus – und es erschreckte durch seine Fernheit vom Leben. Man sah es sterben ... Die goldgrünen Schatten auf der Stirn, unter dem Haar, das über den Kopf gestülpt war wie ein wilder, kupferroter Helm über eine Maske von peinlicher Modellierung; das bräunlich zerknitterte Lid und die Perlmuttertöne der Wangen; Kinn und Nasenflügel in der rosigen Künstelei einer wächsernen Frucht; und die enge, schwarze, schmerzliche Querfalte des sehnsüchtig gebogenen, fettweißen Halses – alles schillerte und beunruhigte wie Fäulnis, färbte sich prunkend und verdächtig wie Ölflecken im toten Wasser, glomm und verführte wie Irrlichter auf tiefen Mooren, rührte, ängstigte und bezauberte wie das bunte, hastige Flügelschlagen eines verscheidenden Schmetterlings.

Sie sah sich mit einer Frage in die Augen. Es waren unter ihren hohen, schwarzen Brauen noch dieselben Augen; ihr Blick fand den Weg fernher, von stahlblauen Meeren. Aber es zitterte vor ihnen ein Glanz von Hingerissenheit und Angst. Sie waren Zuschauer dieses Leibes, des weißen Leichenfeldes immer neuer Lüste, die auf ihm entbrannten und erstarben.

Und dann antwortete sie ihren Augen.

›Es handelt sich darum, eine halb erhobene Gebärde ganz ausschwingen zu lassen, einen fast schon fertigen Vers zu Ende zu sprechen.‹

 

Sie trug, wie der Sommer vorschritt, an einer nie gekannten Müdigkeit. Keine Abendluft erfrischte sie mehr; sie versäumte den Genuß der reinen, windigen Frühe. Drunten am Meer war alles hell, heiter, voll Bewegung und Mut, jeden Morgen wieder. Auf ihr brütete ein ewiger Mittag. Sie meinte, in eine Wüste verbannt zu sein. Der Sand drang ihr durch die Poren ins Blut; er schob sich träge durch ihre Adern; er mußte schließlich stocken ... Die Feste verließ sie trübe. Aus starken Umarmungen ging sie schwindlig hervor, mit Herzklopfen und mit Übelkeiten. Des Nachts, ans offene Fenster gebettet, ohne Hüllen und voll trockener Hitze, befragte sie sich im Schein starrer Sterne.

›Warum diese Angst, die sich bis in die Fußspitzen schleicht? ... Ich kenne sie ja. Sie kam auch damals, als Jakobus und das große Kunstwerk mich verrieten. Sie war früher schon einmal dagewesen, in Castel Gandolfo, als es mit meinem Freiheitstraum zu Ende ging. Immer ging etwas zu Ende, wenn ich so im Dunkeln beim Wetterleuchten mit Herzklopfen lag und Morphin nahm – immer ging irgend etwas zu Ende. Was ist es diesmal?‹

»Im Grunde weiß ich es vielleicht«, antwortete sie einmal. »Aber ich will es nicht wissen. Es wäre unstolz, zuzugeben, daß wir selber enden können!«

Sie zog sich an den Golf von Pozzuoli zurück und in den alten Garten, der sie, die Venus, und ihre Verherrlichung über seine fiebernden Wipfel emporgehalten hatte. Sie sah begierig alle die Plätze: das Tal der Zypressen, den Bach und den Brunnen; die Sitzreihen auf den Stufen; den Tempel.

›Dort trat Nino hervor ... Wie ist das unglaublich lange her. Drei Monate? Ich muß mich irren.‹

Ihr Villino stand sehr einsam an einer kleinen Bucht. Sie war allein, und sie saß auf der Terrasse im Schatten eines Zeltdaches und versuchte zu lesen: Jean Guignols Verse – die Verse, die durch den Garten geharft hatten, unter denen die Pinien gesurrt und die Frauen geseufzt hatten und die droben am weißen Tempel sich wie Tauben mit roten Füßen niedergelassen hatten vor ihr, der Göttin ... Da sah er selbst ihr ins Buch.

»Ich bin wieder einmal da, Herzogin ... Also Sie denken noch daran? Diese armen Worte sagen Ihnen noch etwas?«

»Ich freue mich, wie neu sie mir sind. Ach, daß es doch etwas gibt, was bleibt!«

»Sie bleiben ja nur für die, die immer neu an Empfindung sind. Wenn eine Empfindung wie die Ihrige, Herzogin, je erschlaffen könnte, wären auf einmal alle Werke tot ... Aber darum sorge ich mich nicht.«

»Sie haben recht«, erklärte sie. »Es geht mir gut.«

Er sah weg, erblaßt vor Schmerz. Er fürchtete, in Weinen auszubrechen.

»Aber auch einer Gesundheit wie der Ihrigen, Herzogin, sollte man in dieser Jahreszeit nicht das Klima dieses Golfes zumuten. Hinter uns liegen Sümpfe: man braucht es nicht einmal zu wissen, die Nase ahnt es.«

»Gewiß, Alpenluft täte mir besser. Ich sollte nach Castelfranco gehen, in meine schöne Villa ... Wäre sie jetzt noch schön?«

»Warum nicht?«

»Wenn die Statuen, die ehemals meine nächsten Freunde waren, an mir wie an einer Fremden vorbeisehen würden – nein, den Versuch mache ich nicht. Ich will nichts zurückrufen ... Wie wunderbar dunkel war es in den Lauben aus Steineichen! Wie schaukelten sich draußen die Rosen auf den glänzenden Kronen! Die Brunnen, die Allee des Schweigens, ein verwilderter Rasenplatz mit einem Sockel in der Mitte – ich bin glücklich, daß ich das alles gehabt habe. Und jetzt bin ich glücklich mit dem, was ich habe. Schauen Sie nur.«

Vom Garten herauf und über die Terrasse hinweg brachen mit glühender Gewaltsamkeit massige Wülste roter Pflanzen. Sie drängten ihre gedunsenen Kelche zwischen die Säulchen des Geländers, sie krochen feucht und in Knollen über die Fliesen hin, wölbten sich in klebrigen Bügeln auf der Balustrade und erfüllten den Garten mit einem dunstenden Blutmeer.

»Es sind Fieberblumen«, sagte Jean Guignol.

»Ich will sie«, erwiderte die Herzogin. Er schwieg. Sie kamen nicht darauf zurück.

Am folgenden Tage traf Rustschuk ein, mit einem Packen Geschäftspapieren, auf die die Herzogin einen gleichgültigen Blick warf. Er blieb da, und die beiden Männer, die in ihrem ganzen Leben noch keinen gemeinsamen Gedanken gehabt hatten, verbrachten viele Stunden allein miteinander, wenn die Herzogin schlief, wenn sie abgespannt schien oder wenn sie ungeduldig ihre Hand nach der Küste ausstreckte.

»Geht und erkundigt euch, wohin das Schiff fährt, das blaue, das eben den Anker losmacht.«

Sie teilten sich täglich in leichtem Ton ihre Beobachtungen mit über das Aussehen ihrer Geliebten. Jeder fühlte, daß der andere ihm bei ihr nicht überlegen war. Sie bemitleideten einander und gewährten einander manchmal das Almosen eines ungestörten Gespräches mit ihr. Rustschuk erklärte ihr bei einer solchen Gelegenheit:

»Sie müssen wissen, daß mir, so alt ich geworden bin, noch keine Frau eigentlich Schmerzen verursacht hat. Sie haben das fertiggebracht.«

»Ich bin stolz darauf.«

»Ich muß Sie haben, Herzogin, ich ersticke sonst an meiner Begierde. Ich sehe zu, wie alle andern Sie genießen – ist das nicht eine Ungerechtigkeit?«

»Es geht nicht nach Verdienst, mein Lieber.«

»Gewiß nicht. Sonst wäre ich der erste gewesen. Bin ich nicht Ihr ältester, treuester Diener? Aber ich habe mir etwas ausgedacht. Wenn ich Sie Ihr Vermögen verlieren ließe? Es wäre mir eine Kleinigkeit.«

»Sie werden es nicht tun. Es gehört Mut dazu.«

»In solchen Dingen habe ich schon öfter Mut gehabt.«

»Und dann sind Sie, glaube ich, fromm geworden.«

»Allerdings. Aber würden Sie mich erhören, um das Ihrige wiederzubekommen?«

»Nein.«

»Nein? Das ist merkwürdig. Sprechen wir nicht mehr davon. Ich vermehre es sogar, trotz Ihrer Verschwendungen.«

»Sehen Sie.«

»Ja, ich bin fromm. Ich bemühe mich, der Freundschaft unseres Generalvikars immer würdiger zu werden.«

»Des Tamburini? Ich zweifle nicht am Erfolg Ihrer Bemühungen.«

»Und gemeinsam werden wir alles aufbieten, Herzogin, Ihre Seele zu retten. Bekehren Sie sich, solange es Zeit ist!«

»Adieu, Hausjud'«, sagte sie. Er begann plötzlich auf der Stelle, wo er stand, zu tanzen, störrisch verzerrten Gesichts.

»Sie werden das bereuen«, murmelte er. »Ich bin nicht der, für den Sie mich halten. Ich habe eine Leidenschaft.«

»Ich habe Sie gar zu klaren Kopfes gekannt, zur Zeit, als Sie sich von meiner gescheiterten Sache lossagten, als Sie Ihre politischen Dummheiten, in meinem Dienst begangen, nachträglich als schlauen Verrat an mir zu deuten wußten ... Eigentlich kenne ich Sie nur schlotternd und findig vor Angst ... Denken Sie doch einmal über das hiesige Klima nach.«

»Es ist mir gleichgültig.«

»Wissen Sie, daß Sie seit Ihrer Ankunft auffallend schlecht aussehen?«

»Ich fühle mich auch danach.«

»Ich rate Ihnen, schleunig abzureisen.«

»Nein.«

»Warum nein.«

»Weil es mir ganz gleich ist, ob ich hier zugrunde gehe. Ich muß Sie haben.«

»Das ist das Wichtigste? Und Ihr Leben?«

»Sie hören ja, ich habe eine Leidenschaft, was heißt da Leben? Lieb ist es mir ja selber nicht, daß es so ist; aber kann ich's ändern?«

»Sie wagen etwas für mich? Sie sind nicht feige?«

Sie sah ihn fest an, sie suchte in den verbrauchten Zügen des alten Geldmenschen nach etwas Jungem. Sie lehnte sich zurück und seufzte vor Befriedigung. »Das ist schön –«, sagte sie, und sie genoß das Glück, einen Menschen nicht länger verachten zu müssen.

Er schnaubte vor ungeduldiger Hoffnung.

»Komm ich nun also dran?«

»Jetzt weniger als vorher. Sie sind nicht mehr der erste beste.«

»Sehen Sie wohl, Sie sind kokett! Sie quälen einen Mann, bis er nicht mehr kann. Ich seh ja ein, wie verrückt es ist, Sie zu lieben. Sie, die jeder haben kann – nur gerade ich nicht. Möchte wissen, wie gemein Ihr Umgang noch werden muß, bis auch ich drankomme!«

Sie hörte ruhig lächelnd zu. Er konnte sich nicht wieder verunstalten; er war weniger häßlich geworden.

Jean Guignol gestand einmal, als sie allein saßen:

»Nun sehne ich mich also doch nach Ihnen. Sie erinnern sich wohl, das war es, was ich am meisten fürchtete.«

Sie wollte nichts wissen. Es war wieder eine ganze Seele voll von Pein, die auf sie zuflatterte. Sie wehrte trotzig ab.

»Ich bin ein wenig müde, ich habe zu viele Männer gehabt.«

Er errötete tief.

»Sie müssen doch verstehen, wie sehr ich darunter leide, mit welcher blinden Selbstaufopferung ich gezwungen bin, Sie zu lieben – nach so vielen!«

»Ich verlange es nicht.«

»Aber ich selbst verlange es! Ich will Sie nie besitzen! Ein Idol sollen Sie mir sein, Sie, die Geliebte der Zahllosen! Ich will an Ihnen nicht einmal mehr deuten, raten, formen wie ehemals, als ich Sie bloß erst aus der Ferne kannte und in meiner Tiefe. Ich will nur noch auf das Unsägliche in Ihrer Seele horchen – ohne die Sucht nach Worten dafür.«

»Was begehren Sie also von mir? Das unmögliche Werk, das Sie niemals schreiben werden? ... Ach, ich kenne das alles. Diese Beschwörungen, diese rechthaberischen Forderungen im Namen eines Werkes, diese Verzückungen und Ernüchterungen: ich habe sie schon einmal durchgemacht. Schließlich verläßt man sich ohne Genugtuung und denkt mit Grauen daran, wie sehr man sich gequält habe.«

Sie setzte insgeheim hinzu: ›Und du bist dazu verurteilt, mit deinen Werbungen jedesmal dann herauszukommen, wenn mich Kopf und Nieren schmerzen und wenn schon das Hinstreifen deiner Lippen über meinen Ärmel mich aufschreien machen könnte.‹

»Herzogin«, flüsterte er mit trockener Kehle.

»Was wollen denn Sie?« fragte sie langsam und sah ihm in die Augen. Und aus ihrem Blick erfuhr er, wie entsetzlich fern er ihr war.

›Ich spreche ins Leere‹, sagte er sich mit einem Kältegefühl. Aber noch kämpfte er um sie!

»Herzogin, ich leide unter jedem Atemzug, den Sie in dieser Fieberluft tun. Seien Sie gnädig, erlauben Sie, daß ich Sie fortführe in irgendein reineres, glücklicheres Land.«

»Glücklicher ... Sie tun immer, als sei ich nicht glücklich. Wissen Sie, daß das beleidigend ist?«

»Ich weiß nur, daß ich selber zu unglücklich bin, und ich kann nicht glauben, daß nicht auch Sie es sein sollten, da Sie ja nicht imstande sind, mich zu trösten, da Sie ja einsam und hart sind.«

Sie antwortete nicht.

»Geben Sie mir eine Hoffnung, geben Sie sich selber eine! Sagen Sie wenigstens, daß Sie es möchten – daß Sie mir folgen möchten!«

Er wartete angstvoll. Schließlich hörte er, wie sie Worte fallen ließ.

»Es wäre unnütz ... Ich habe keine Zeit mehr.«

Darauf schlug er die Hände vors Gesicht und trat von ihr weg. Er sagte tonlos und in sich zurückblickend:

»Oh! erkennen zu müssen, daß eine Frau die einzige ist – die, in der ich der Reihe nach alles wiedergefunden hätte, was in der Jugend so zauberhaft hell war und was mir verlorenging. In der ich Jüngling, Mann und Greis zugleich gewesen wäre. In der ich alles, was mir beschieden ist, doppelt gefühlt haben würde.«

Sie dachte:

›Und als wir das erstemal miteinander sprachen und du es entsetzlich fandest, dich nach mir zu sehnen, da dehnte ich mich vor Verlangen nach dir! Ich hätte damals ernsten, zärtlichen Worten lauschen mögen, einem Knienden die Hände um das Gesicht legen und mich anbeten lassen. Es ist sehr lange her, du verstandest mich damals gar nicht.‹

Sie besann sich, ob sie sprechen solle. Ein Mitleid, von weit her, ließ sie schweigen.

Er öffnete endlich die Augen, und plötzlich bestürmte sie das ganze Rot des Gartens. Es tobte wie in Fieberschweiß gegen die Umfriedung. Es zuckte zwischen den unerbittlichen Armen zweier starrer Zypressen. Dahinter blendete das Meer, leer von Segeln.

»Zu spät gekommen«, murmelte Jean Guignol. »Das erstemal hatte sie zuviel zu erleben. Und jetzt ist nichts mehr übrig.«

Er stützte sich auf die Brustwehr, schwindelnd. Er meinte, etwas erkannt zu haben, was nicht ins Leben gehörte, was sich mit der Tatsache des Daseins nicht vertrug.

›Es ist schon vorüber, aber einen Atemzug lang habe ich erschaut, was nie jemand begreift: daß ich gar nicht hätte leben sollen. Es hat ja nicht gestimmt bei mir! Ich habe den Weg verfehlt und das Zusammentreffen versäumt mit der, die mich erst gerechtfertigt hätte!‹

Er fühlte sie hinter sich, ganz nah, – und er hatte Lust, hier, unter ihrem Blick, den Kopf auf die Arme zu legen und zu schluchzen. Dann erschrak er und fragte sich, ob das etwa Literatur sei.

›Ist alles erkünstelt? Will ich ein Stück daraus machen? Bin ich nur ein gleichgültiger Buchstabierer von Schicksalen, der sich des Handwerks wegen zum Erleben nötigt? ... Ich kenne mich nicht. Wer je aus einer Empfindung einen Vers geformt hat, der darf sich nicht mehr glauben. Das ist das Schlimmste.‹

»Und wenn sie mir sagte: Ja, ich will dich lieben –«, so sprach er in die Flut von giftiger Röte dicht unter seinem Munde, »selbst dann noch wäre es ein Irrtum. Wie es ein Irrtum war, sie, meine Geliebte, verstehen zu wollen. Eine Geliebte versteht man nicht. Sie haben recht, die vollkommenen Frauen, die Geister und Künstler zugleich sind – daß sie nur sehr einfache Männer lieben, nur solche, die gar nicht gescheit genug sind, um sie mit ihrem vorgeblichen Verständnis zu peinigen oder zu langweilen. Dieser Nino! Daß ich nicht einmal eifersüchtig sein kann! Denn wie liebt er sie, – und wie liebe ich sie! Es ist gar nicht dieselbe Frau, die wir lieben! Wir sind kaum Rivalen. Für alles, alles zu klarsichtig. Am Ende jedes kurzen Traumfluges stoße ich mit dem Kopf gegen das Wort Irrtum. Es brummt mein Kopf: du irrst dich, du liebst gar nicht. Du möchtest lieben können, du möchtest nach Gegenliebe verlangen, aber du tust es nicht. Du weißt, dies wäre dein Weib, wenn du so wärest, daß sie dich brauchen könnte. Und wärest du so, dann würdest du sie wieder nicht so lieben wie jetzt, sondern als eine andere. Ein Irrgarten: er lädt dazu ein, sich aufzuhängen an einem seiner Bäume ... Ob ich sterben könnte? ... Oh, ich erschrecke!«

Endlich wandte er sich um – und ließ die Arme sinken. Sie war fort.

Er starrte auf ihren verlassenen Platz. Er hatte nicht gehofft, daß sie seinem versagenden Geflüster zuhören, daß sie ihm zurufen werde: das alles ist falsch, und du darfst leben! Nein, sie saß stumm, fern und ohne seinem Herzen ihr Ohr zu neigen. Aber sie saß doch dort, mit den Füßen auf diesen selben Fliesen, und gleich hinter seiner Schulter ... Nein, nicht einmal das. Und er erschauerte in einer Einsamkeit ohne Grenzen, ohne Ausweg, ohne Echo.

 

Rustschuk und Jean Guignol bekamen nacheinander das Fieber. Auch aus der Dienerschaft wurden mehrere davon ergriffen. Die Herzogin fühlte sich wohler. Der Arzt, der die Kranken besuchte, sagte zu ihr:

»Die böse Luft hat Ihnen noch nichts anhaben können, gnädigste Herzogin. Es liegt an dem Alter, in dem Sie stehen, daß Sie die letzte sind. Aber faßt das Fieber Sie erst einmal, dann – gibt es Sie lebend nicht heraus. Reisen Sie, reisen Sie!«

Ihre beiden Freunde waren außer Gefahr; darauf kehrte sie, merklich erholt, in die Stadt zurück.

Es war Anfang September; einige hundert Leute mit Geld und Titeln hatten sich aus Amerika und Europa nach Neapel bestellt. Sie kannten einander von unzähligen Vergnügungen an fünfzig Plätzen der Erde. Sie hatten einst in Zara der Revolution für die junge Herzogin von Assy beigewohnt wie einer Fuchsjagd oder einem Karneval. Sie hatten in Venedig die Feste besucht, auf denen die satte Kunst prangte neben der reifen Schönheit der Herzogin von Assy. Jetzt kamen sie, um zuzusehen, wie der Ausbruch ihrer späten Wollust eine ganze Stadt auflodern machte.

Denn die heidnische Flamme griff vom Palast auf dem Posilippo über Neapel hin. Das Volk stürzte sich hinein. Es schrie ihr in Krämpfen, wo immer sie vorüberkam, seine Anbetung zu. Es wütete in Orgien, die sie bezahlte. Die Nächte auf den langen Kais brannten von Pechfackeln und von begehrlichen Augen, von erhitzten Körpern, die im Bogen ins Wasser sprangen, von rotem Rauch aus den Kesseln der fliegenden Bäcker, von Wein, von sehnsüchtigen Worten und von rastlosen Umarmungen. Unter den Lichtkränzen farbiger Papierlampen und den Funkenspielen der Fackeln sprenkelten die Häuser sich rosig und grün, flackerte es bunt auf den Gesichtern, stürzten in jähen Farben die Gebärden durcheinander und schillerte das Meer, genußsüchtig sich schlängelnd unter lauter Schuppen aus Erz und Gold.

Gefolgt von ihren Gästen in zahllosen Wagen, fuhr die Herzogin über Santa Lucia. Die Juwelen und die Orden blitzten, die Spitzen zitterten, teure Düfte wehten unter Fächerschlägen hin und her – und dazwischen sprangen die nackten Burschen und winkten vom Strande die Mädchen mit zerzausten Röcken und offenen Miedern. An eine Hand, die elegant bekleidet und in göttlicher Ruhe von einem Wagenpolster hing, befestigte sich der schöne, bebende Arm eines unschuldigen Sterblichen. Die Badenden standen auf den seidenen Kissen der Frauen und schnellten sich mitten in der Fahrt ins Meer.

Neben dem Wagenschlag der Herzogin lief unermüdlich ein schönes, zartes Geschöpf von kaum vierzehn Jahren. Er bat um nichts, er hielt nur seine großen Blicke auf ihrem Gesicht; sie waren voll eines Schmachtens, hilflos und unsäglich. Manchmal schob er mit einer kleinen braunen Hand die Haare von den Augen fort. Sie warf schließlich einen Ring ins Wasser, und der Knabe sprang hinab. Wie sie das nächstemal an der Stelle vorbeikam, zog man ihn eben heraus. Er hatte sich in der Tiefe an einen Pfahl geklammert, er wollte das Licht nicht mehr sehen, worin es etwas so Unerreichliches zu begehren gab – und ihren Ring hielt er fest zwischen den Zähnen. Nun lag er auf das Pflaster gebreitet; das Fackellicht vom Karren eines Obsthändlers tauchte in die weichen Grübchen seines Kinderkörpers und strich in hellen Rundungen um seine kleinen Muskeln.

Bei einem glänzenden Feuerwerk auf der Piazza San Ferdinando erschoß sich der Neffe des Präfekten, der junge Luciano, den sich die Frauen weitergaben wie ein Riechfläschchen. Er erschoß sich, während rings um ihn her eine Menge Raketen rasselten und alle Gesichter nach oben lagen – so daß man seine Tat weder hörte noch sah. Er ward unter den Füßen der Menge hervorgeholt, als sei er im Gedränge ohnmächtig geworden. Dann entdeckte man Blut an ihm, und auf seinem Herzen die Photographie der Herzogin von Assy.

Der Sohn eines ländlichen Wirtes versuchte, ihr Gift beizubringen in einem Glase Orangenwasser, das sie auf Spazierfahrten sich zuweilen von ihm an den Wagen bringen ließ. Sie fand den Geschmack des Getränkes schlecht und gab es ihm zurück. »Ich hatte erst nach dir trinken wollen«, erklärte der junge Mann blaß und standhaft und verschluckte es.

Aber durch seine Seltsamkeit am auffallendsten war der Tod eines harmlosen, wohlhabenden Grundbesitzers aus Pistoja. Gleich nach seinem Erscheinen hatte Lilian Cucuru ihn für sich ausersehen und ihn unschwer bewogen, sich mit ihr zu verloben. Übrigens reute es sie bald; sie erinnerte sich ihres Freiheitsstolzes; auch sah sie den armen Carlo zum Sterben verliebt in die Herzogin. Sie bot ihm die Zurückgabe seines Versprechens an; er nahm es, zögernd aus Gewissenhaftigkeit, und erst am Tage vor der Hochzeit. Nur, daß Don Saverio nicht gesonnen war, den unverhofften Gatten seiner Schwester entwischen zu lassen. Er unterrichtete ihn davon, daß die Camorra sich mit ihm beschäftige; es heiße heiraten oder sich auf ein plötzliches Ende gefaßt machen. Der arme Carlo heiratete. Er kniete, von seiner Braut weggewendet, auf der Altarstufe. In der Kirche zeigte man sich die Camorristen, die ihn eingeholt haben würden, wenn er zu fliehen gewagt hätte ... Er floh anders.

In der weiten Loggia im Hause der Herzogin von Assy, auf einem ihrer betäubenden Feste, saß er, halbversteckt von einer Säule, und sah sie an. Er tat nichts weiter, und er tat es die Nacht hindurch. Sie streifte selten sein Gesicht und fand es sehr blaß. Zuweilen meinte sie, ohne daß sie es sah, deutlich zu fühlen, wie es dort neben ihrer Schulter wieder ein wenig weißer geworden war. Die schweren, glühenden Blicke in diesem Leichengesicht quälten sie. Und auf einmal, als gerade die erste Morgenluft hereinfächelte, sank der arme Carlo lautlos unter den Tisch. Es zeigte sich alsdann, daß das Wasser des Brunnenbeckens, bei dem er gesessen hatte, hinter der Wand von Blumen tief gerötet war und daß der Tote an der linken Hand die Ader geöffnet und kaum noch Blut im Leibe hatte.

Es war schwer zu verstehen, daß sogar ein ehrbarer Provinzler von der Tollheit der andern ergriffen war. Aber es strich ein Wind von Wahnsinn den Golf entlang. Die Herzogin selber spürte ihn. Jedes neue Sterben, das für sie geschah, schnellte ihre Genußsucht in wütendere Wirbel. Die Gier durchwühlte sie bis zum Aufschreien: alle zu beglücken, alle zu befreien von ihrem Drange – Lust zu spenden, soweit ihr Wurf reichte, und inmitten alles zuckenden Lebens dem Tode keinen Fleck am Boden zu lassen, wo er sich hinstrecken konnte.

Aber er holte sie ein, so wild sie jagte; er war immer schon da. Überall, wo sie, die Wollust, vorbeikam, da erhob, und sogar unter den Hufen ihrer eigenen Pferde, der Tod den Kopf vom Pflaster. Je mehr fieberheißes Leben sie verschenkte, desto mehr Todeskälte bekam sie zurück.

Und inzwischen fühlte sie sich leben ohne Ermatten, ein irres, Unheil austeilendes Leben, für das man sie haßte. Man ging starren Gesichts ihrer unheimlichen Schönheit entgegen, man verwünschte sie, und man verlangte danach, sich ihr zum Opfer zu bringen.

Es kam vor, daß berauschte junge Leute ihr die Pferde ausspannten und die Herzogin in ihrem Wagen davonschleppten in der Haltung von Sklaven und unter Flüchen. In der Menge hörte sie nun rachsüchtige Zurufe zusammen mit unflätigen. Huldigungen und Drohungen spritzten als der gleiche Kot um ihre Wagenräder. In einer Nacht stürmte das Volk die Zeitungskioske und verbrannte Packen eines illustrierten Blattes mit ihrem Bildnis – während das Meer voll brünstiger Gitarren war, die nach ihr riefen.

Sie konnte sich der Unruhen wegen, die sie veranlaßte, wenig mehr zeigen. Die vielen, denen sie von ferne erschienen war, gedachten ihrer kaum noch wie eines Menschen. Sie war das überall gegenwärtige, ungeheuerliche Sinnbild der Liebessucht, die die Stadt geißelte. Sie wurde wieder zu der Morra, der Hexe, die Herzen herausfraß aus Brüsten und zu deren Klippen der Vorüberfahrende hinaufstarrte, gebannt, in grauenvollen Begierden.

Eines Abends aber sammelte sich ein wütender Haufe vor ihrem Haustor und wollte Feuer daranlegen. Die obszönen Lieder gellten bis in ihr Fest hinein, begleitet von den Stößen und Schreien der Einbrechenden. Am Ende bekam sie ein Billett, und es stellte sich heraus, daß es Jean Guignol war, der den Lärm veranstaltete, denn er hatte sich getötet. Er rief ihr noch aus dem Nichts seinen Dank zu für den wollüstigen Wahnsinn, in den sie mit der ganzen Stadt auch ihn gestürzt habe. »Welch Glück! Ich weiß, daß ich Sie wirklich liebe, ohne Literatur – wenigstens in diesem Augenblick, da ich meinen Tod beschließe! Ganz ehrlich und unschuldig sterbe ich, einer der ratlosen Körper, die, von Ihrem Blick getroffen, an Ihrem Wege verröcheln! Ich liebe Sie! Und ich tue es nicht eines schönen Verses wegen – da ich ja sterbe!«

Sie zerriß den Brief. Sie zitterte vor zorniger Verachtung. »Das ist sein Auskunftsmittel! Ich habe ihm nicht erlaubt, sich auf eine andere Weise mit mir zu verbinden: drum stirbt er für mich. Auf mich läßt er sein Blut spritzen. Wie ist das feige! Er hat sich besiegen lassen, und er will, daß auch ich an seiner Niederlage leide: der doppelte Feigling!«

Aber die eigene Härte schmerzte sie wie ein Überfall ihrer Krankheit.

Sie hielt diese Nacht den Stab mit dem Weinlaub sehr hoch. Zum ersten Male schrillte durch eine ihrer Orgien ein Ton wie von Verzweiflung. Den armen Rustschuk reizte und enttäuschte die Herzogin so lange, bis sein Gesicht blaurot und seine Zunge seltsam schwer ward. Dann stieß sie ihn zu Lilian, die Geld brauchte, auf das Ruhebett mit der herrischen Geste von Venus, als sie Helena und Paris zusammentrieb. Man behauptete, der Minister habe diesmal einen richtigen Schlaganfall erlitten. Draußen heulte noch der Aufruhr um Jean Guignols Leiche; und aus der Mitte ihrer Gäste traf sie feindseliges Gemurmel.

Sie fuhr aus. Sie erschien im Theater San Carlo und bot sich der Wut dar, die zu ihr emporbrach bei offener Szene. Eine Garde von Anbetern um jeden Preis, zusammengewürfelt aus Herren mit Gardenien und aus Zerlumpten, verteidigte die Tür ihrer Loge. Sie sah in den Saal hinunter, der in Krämpfen lag, auf die Galerie hinauf, die Fäuste schwenkte, und sie erkannte das Volk wieder, das in Zara ihren Wagen umtobt hatte, weil sie einen Mörder entschuldigte. Sie meinte, jener Alte tanze aufs neue an der Hafenbucht umher, weil sie ein Ruder ergriff. Und die unmenschliche Mundhöhle des römischen Zeitungsausrufers schien sich, ihr gerade gegenüber, noch einmal aufzutun, angefüllt mit Geifer, mit verdorbenem Atem, mit Sterbelauten, und ihr, frohlockend vor Haß, alles Unheil ins Gesicht zu keuchen, das für sie geschah und durch sie!

Einen Augenblick allgemeiner Erschöpfung und drückender Stille benutzten ihre Anhänger, um ihr Beifall zuzurufen. Es waren alte Böcke, Kokotten und junge Halbleichname. Es war das Schlimmste, was zu überstehen war. Sie hielt es aus, sehr hochmütig, das Lorgnon an den Augen und ohne auf die Grüße zu antworten.

Plötzlich war sie verschwunden. Ihr Wagen sauste davon, ehe jemand es gewahr ward. Sie saß darin noch in derselben starren Haltung wie auf ihrem Logenplatz. Sie deuchte sich unbeweglich in einer steil und mühsam aufgebauten Einzigkeit. Nur keine Furcht vor Schwindel!

Die Diener rissen das Gartengitter auf. Wie der Wagen hindurchfuhr, sah die Herzogin an dem schmiedeeisernen Blätternetz eine kleine Form lehnen, ein Kind mit Blumen auf dem Schoß. Ohne Besinnen rief sie »Halt!« und stieg aus.

»Gib mir deine Blumen«, sagte sie.

Das kleine Mädchen blieb still.

»Sie schläft«, murmelte die Herzogin und näherte ihre Lippen der Stirn des Kindes. Sobald sie sie berührte, fiel der Kopf auf die Schulter. Sie betastete es: das Kind war tot.

Sie stand und bebte. Sie fühlte die Sekunde kommen, wo sie über das Kind hinstürzen würde und aufschluchzen.

Sie befahl, mit Furcht vor sich selber, ihren Leuten, draußen zu bleiben, und betrat allein den dunkeln Park.

›Ein verhungertes Kind‹, sagte sie zu sich. ›Es sitzt zufällig auf einem Stein vor meiner Pforte. Was geht es mich an!‹

Aber nach all den Toten, die sich ihr entgegengeworfen hatten, als gehörten sie ihr, taumelte sie bei der leichten Berührung dieser zufälligen Kinderleiche.

›Es sind zu viele, sie wälzen sich übereinander, soweit ich sehe. Ich begreife nicht mehr, wie ich sie alle habe ertragen können: früher, von Dalmatien und von Paris bis nach Venedig, wo die Bahre vor mich hingestellt ward mit San Baccos Körper. Ich fühlte doch mit der Alten von Benkowaz, die den Schädel ihres Sohnes an seinem Schopfe umherschwenkte und nach Gerechtigkeit schrie. Ich war ebenso stark! Bin ich nicht die Tochter von Starken, in deren Lebensläufen sich die Körper der Besiegten häuften? Wie viele mußten wohl untergehen oder verkümmern, damit das Leben eines Assy frei, ungehemmt, groß und schön werde? Er hat sie nie gezählt! Er nahm sie hin, er hielt sich aller Opfer wert, er hatte den Mut dazu und das gute Gewissen!

O meine Väter! Wo seid ihr? Ich habe nie gewußt, daß ich bis hierher allein sei! Welch eine schlimme Einsamkeit, die keine Spur hinterlassen wird! Nach mir hört die Welt auf! ... Man verbeugt sich vor meinem Namen, vor meinem Stolz, vor der Verachtung, die ich fühlen lasse. Aber wo ist meine Familie? Welchem Lande gehöre ich an? Welchem Volke? Welchem Stande? Was vertrete ich? Rechtfertigt mich eine Gemeinschaft? Wehe mir, wenn ich schwach werde! Ich bin einzig auf meine Nerven gestellt. Niemand wird Achtung für mich beanspruchen, wenn mein eigener Stolz sich einmal verdunkelte! ... Hätte ich ein Kind!'

Mit ihr stieg die lange Gartenmauer den Hügel hinauf und herab, und von droben starrten im Sternenlicht Masken sie an, kalt und stumpf. Sie sehnte sich:

»Hätte ich ein Kind!«

Es war ihr plötzlich, als folgte ihr etwas mit Schwimmbewegungen. Sie war auf einem fernen Meere, es schwamm etwas hinter ihr: Pavic' ertrunkener Knabe!

Vor ihr, quer über den Rasen, trippelte, ohne sie anzusehen, kühl und lieblich in ihrem verjährten Prunk, die kleine Linda, das künstliche, zukunftslose Kind ihrer sieben Jahre mit Jakobus. Wäre es ihr eigenes gewesen – wenigstens dieses!

Der junge Tortenbäcker hockte irgendwo unter einem Busch, wimmernd, mit gebrochenen Beinen. Weil er ihr gefallen hatte, war er vom Küchenbalkon gestürzt worden. Braunblaß und mit großen umränderten Augen lagen schwarzsträhnige Knaben auf den Schwellen seltsam umrahmter Portale, und vor einem Orangengarten saß ein Kind mit weichem Profil und langen Wimpern und ganz vergoldet vom Schein all der Früchte. ›Gewiß sind auch sie schon gestorben: ich habe sie zu heftig begehrt!‹

Der Fischerbub, ihren Ring zwischen den Zähnen, streckte sich erstarrt auf den Kies mit ausgebreiteten Armen, ganz glücklich, sich ihr dargebracht zu haben ... Und draußen, am Gitter, bewegte der Nachtwind die Blumen im Schoß einer kleinen Toten.

Wo und unter welchen Kränzen lag nun Jean Guignol?

›Von mir ist keiner dabei ... Er hat mir folgen und mein Leben weniger einsam machen wollen. Er hätte es nicht gekonnt – gleichviel. Ich habe ihn fortgeschickt und begreife nicht mehr, warum. Ich habe ihn fortgeschickt, und er ist weit gegangen, möglichst weit, bis ans Ende von allem. Hatte er nicht recht? Wie durfte ich ihn feige nennen? Oh, ich tat es nur aus Not; ich verstehe ihn ja! Warum hat er mich damals nicht verstanden? Jetzt würde er mich nicht einmal hören. Käme er wieder, wie sollte er mich jetzt milde und willfährig finden bei seinen vergeblichen Versuchen, Liebe zu fühlen! Er wurde nicht geliebt, der Arme – aber er liebte auch nicht: das ist schlimmer. An der Sehnsucht, lieben zu können, zerbrach er.

Ich aber, ich liebe! Ich kann mir von Nino sagen lassen, daß ich, wie es auch komme, doch immer Yolla bin – und kann es ihm glauben! Er soll kommen! Er wird den Mut haben, der mir entsinkt. Er ist so unbedenklich, so mit sich einverstanden. Ich werde es wieder werden. Ich bin gerettet!‹

Aber zum Schluß der schlimmen Nacht und all ihres fassungslosen Schluchzens und als Ausgang einer Gereiztheit bis zu Krämpfen und einer Traurigkeit bis zur Erschlaffung, war es ihr wieder klar:

›Nein! Wäre die Erlösung so leicht zu haben, dann hätte ich gleich nach ihr gegriffen, und alle Angst war unnötig. Aber sie ist nicht zu haben! Nino darf nicht kommen! In dem Augenblick, wo ich schwach bin! Es wäre schimpflich, wenn das »nächste Mal«, an das er glaubte, so aussähe. Und noch dazu handelt es sich für mich um das letzte Mal – beinahe bei allen Dingen.‹

Nach vier Stunden Schlaf hielt sie alles für einen Alp. Sie fühlte eine herausfordernde Stärke, zeigte sich in Gesellschaft, erhörte einen fremden Diplomaten, beteiligte sich an seinem Versuche, einen andern fortzuintrigieren, und gab am Abend darauf ein Gartenfest, das Vinon Cucuru erdacht hatte und dem sie wegen der Trauer um ihren Gatten nur aus einem Verstecke zusah. Die Damen erschienen dabei in Trikots und die Herren als Affen.

Aber mitten aus dem Tanz mit einem großen, wildriechenden Affen verschwand die Herzogin, um nach Salerno zu fahren, wo sie ein Stelldichein hatte mit Asclitino, dem Grafen von Aversa.

 

In der Vorhalle des Doms, unter den Arkaden, stand sein steinerner Sarkophag. Er hatte ein rundes Loch; zwei Kinder, die hineinspähten, sagten ihr:

»Nicht wecken! Er schläft.«

Aber sie weckte ihn, kraft ihrer Sehnsucht.

Sie ging zurück über den Mosaikboden mit Vögeln auf kreisenden Ringen, mit Masken, Fischen – rätselhaften Zeichen, die Wahrheiten gewesen waren in den Köpfen ihrer Väter. In ihren Köpfen hatten die Löwen am Portal gelebt, gleich verwandelten Menschen.

Sie erstieg zwischen Kakteen den Berg. Zackige Mauern bändigten die schwarzen Massen der Gärten. Tief darin schrien die kreidigen Flecken der Villen. Sie ließ versunkene Kapellen zurück; eine Kuppel mit klaffenden Sprüngen; leere Bogen, in denen der Sonnenuntergang erblindete. Drunten dämmerte die Stadt.

Die Ackerterrassen um die Burg waren schattenbraun. Die Bauern schliefen schon; ein Hund schlug an und beruhigte sich.

Sie ging an Brücke und Tor vorbei, die Außenseite der langen Mauern hinab. Sie lehnte sich in eine Bresche und sah hinauf. Dort hinter der geschwärzten Fensterluke stand er wohl, und der Fürst stellte ihm das goldene Banner in die Hand. Sie hörte klirrende Schritte, unregelmäßig auf verfallenen Stufen – und er betrat den Hof. Er war in einem schlanken Panzer aus Silber, mit Olivenzweigen über der Stirn, um die großen blonden Locken, die sich aufwärts bogen; und er hatte kurze, rote Lippen.

Sie lehnte in der ausgezahnten Bresche, ihr schwarzer Umriß zerfloß ins Dunkel, ihr weißes Gesicht ruhte schräge darin. Mit einem schrägen Blick, mit einer schluchzenden Lockung betrachtete sie ihn. Er sah geradeaus, fest und sanft in ihr Auge. Er lächelte ihr zu. Es ward ganz finster – sie aber wußte, beseligt und voll Frieden, er halte die Hände gekreuzt über den Knauf seines Schwertes und lächele im Schatten.

Als sie wiederkam, war es zu früh; sie hatte es vorausgesehen. Sie wartete in einem engen Viereck zerbröckelten Gesteins. Das Meer funkelte herauf, ein magischer Spiegel, aufgestellt zwischen Trümmern von ihrer Traumburg, um alte Dinge zurückzurufen. Sie machte aus einem Felsstück ihr Kissen. Neben ihr raschelte es. Sie wandte sich um; eine Eidechse sah sie mit spitzen Äuglein an. Die Herzogin legte wie als Kind den Kopf auf die Arme, und sie und die kleine Verwandte verschollener Riesen belauschten einander, lange und in Freundschaft – wie einst. Sie fühlte sich klein wie einst und stillen Sinnes. Es kam einer und legte die Hände um ihre Wangen.

Er kam im schlichten Wams, warf die Kappe ab und setzte sich zu ihr; und sie plauderten. Sie liebte ihn ganz ohne Drängen, ganz ohne Angst. Der Wein war gut geraten dieses Jahr, nun begann die Ernte. Die Oliven litten an keiner Krankheit. Der Herr von Capua, den man den Wolf der Abruzzen nannte, hatte wieder einmal einen Angriff auf die Stadt Aversa gemacht, aber Asclitinos Normannen waren Sieger geblieben. Ein Türkenschiff hatte sich nicht weit von der Küste blicken lassen. Die Normannen aus ihrem Wachtturm waren ihm nachgesegelt, hatten es gekapert und große Beute gemacht. Wenn es heute nacht regnete, konnte man morgen einen guten Fischzug tun. Roland von Hochecorne hatte seinen Vetter erschlagen und mußte der Kirche tausend Dukaten zahlen, um von seiner Sünde loszukommen ... Das war das Leben; es war einfach, ohne Fieber, ohne Zweifel.

Zum Abschied küßte er sie unter den Sternen, während Leuchtkäfer um sie her schwebten und Menthe bitter duftete. Sie hob seine Hände, in die ihrigen verschränkt, über ihre Köpfe, als ob sie mit ihm ränge – und so sanken sie sich an die Brust.

Jeden Abend kehrte er wieder nach der Arbeit seines Tages, nachdem er geerntet oder getötet, gekämpft oder Streit geschlichtet hatte. Sie dachte sich nur noch bei ihm. Er war so zart, daß er ihre Gedanken mit seinen Lippen auf ihrer Stirn zu finden wußte, und stark genug, um ihr Bruder und Geliebter, Beschützer und Vater zu sein. Und auch Kind war er ihr.

Er gab ihr so viel Ruhe, daß sie ohne Schreck, ja, ohne besonderen Nachdruck aussprechen konnte: »Es heißt nun bald sterben.« Sie war in angenehmer Erwartung eines neuen Spieles, das Sterben hieß, einer noch nicht getragenen Maske und einer unbekannten Erregung. Der Tod trat in ihren Geist wie in einen Zaubergarten; die glänzende Luft darin machte ihn blühend und leicht.

Sie wünschte sich einen Vorgeschmack von ihm. Sie genoß ihn mit Asclitino; sie, die den Tod noch durchkosten mußte mit ihm, der ihn schon erprobt hatte. Er erklärte ihr, daß der Tod von einer geliebten Hand sehr süß sei. Er bat sie darum.

Die erste Nacht brachte sie ihm drei vergiftete Rosen. Sie rochen daran. Sie sagten sich alle ihre Koseworte mit den Lippen über den tödlichen Blumen.

Die zweite Nacht war er blaß; sie schloß ihn in um so zärtlichere Arme. Sie trug zwei vergiftete Orangen, deren Saft sie tranken. Darauf war er nur noch ein Schatten, und sie selbst fühlte sich in der dritten Nacht ganz leicht, beflügelt, zauberhaften Dingen entgegenzitternd. Sie bot ihm ihre Lippen – und schrak zurück, ehe er sie berühren konnte. Es war finster, unter ihnen glühte geisterhaft das Meer. Er sagte in einem Schauer, mit geschlossenen Augen:

»Ich wollte, Yolla, du tätest es.«

Da gab sie ihm das Gift in einem Kusse.

 

Am Morgen kam ein Billett von Rustschuk: Slicci sei von seiner Tournee im Auslande zurück; er sei unerhört. Sie fuhr sofort nach Neapel. Slicci hatte nichts für sich als seine burlesken Schmutzereien und eine hahnenmäßige Männlichkeit.

Als Rustschuk sah, daß sie Slicci ohne weiteres zu ihrem Geliebten machte, fragte er sich in großer Unruhe:

›Noch gemeiner kann ihr Geschmack doch wohl nicht werden? Also käme ich gar nicht mehr dran? Denn sie wird mich unmöglich gemeiner finden als Slicci. Vielleicht doch ... Hoffentlich doch!‹

Und gläubig wie er war, richtete er die Bitte an seinen alten Gott, die Herzogin möge ihn noch gemeiner finden als Slicci.

Der Komiker schwitzte Abgefeimtheit. Er war ein kupferblonder Neapolitaner, häßlich, mager, ganz aus Nerven und mit kleinen wässerigen Augen, die wild blicken konnten. Seine Behendigkeit erschreckte, und seine trockenen Gesten waren grausam bei aller Drolligkeit. Es entlud sich, sobald er wollte, eine eherne Stimme aus seinem engen Körper.

Solange er auf der Bühne des Varietés stand, gefiel sich auch der Zuschauer in dem Gefühl rückhaltloser Verlumptheit. Er erschien als Bub in blauer Bluse mit einem hölzernen Pferdchen und sang von seiner Mama als von einem »sonderbaren Typ«. Sie verschwinde immer mit den Herren, Papa aber stehe am Büfett, esse, trinke und lasse es gehen. Plötzlich riß der Bengel sein Pferdchen an der Leine herum, peitschte um sich und biß sich dabei auf die heraushängende Zunge, während er fürchterlich nach seiner Nasenspitze schielte, die rot gefärbt war ... Aber dann kam er in der Schirmmütze eines bleichen Schlingels vom »Schlimmen Leben« und ließ den Pfiff hören, womit er der Dirne meldete, er warte an der Ecke und habe Lust, sich ihren Kunden zu besehen. Und die drei unheilvollen Noten, kalt hinstreichend durch die Reihen der aufhorchenden Bürger, verbreiteten grausiges Entzücken.

Die Herzogin behielt ihn bei sich. Sie brauchte ihn gegen die Schalheit einer Stunde, gegen eine Nacht voll Unrast, gegen den Ekel an dem, was war, gegen die Gedanken an das, was bevorstand. Sie griff nach ihm zu jeder Tageszeit wie nach einem Ätherfläschchen. Er war ihr Laster; sie hing daran und fürchtete es. Denn es war alles, was ihr blieb, und es sollte sie töten.

Eines Abends erlitt sie unter seiner Umarmung einen Blutsturz. Sie hatte vorher nichts bemerkt als leichten Schwindel. Slicci verließ mit einem Satz das Bett und fuhr, sinnlos schreiend, im Zimmer umher. Schließlich fand er die Tür und rettete sich, mit seinen Unterbeinkleidern in der einen und seinen falschen Brillantknöpfen in der andern Hand.

Sie sagte sich, ein wenig betäubt von dem Ereignis:

›Nun ist es also soweit.‹

Aber es schien ihr nicht, daß das irgend etwas ändern müsse. Am Morgen war ihr nicht einmal sehr schwach. Sie schickte nach Slicci; er war nicht da. Sie entbehrte ihn den ganzen Tag, wie die gewohnte Gabe eines Mittels zur Anregung der Nerven. Gegen Abend erfuhr sie, er sei abgereist, und zwar mit Lady Olympia, die gerade angekommen war. Es schien, daß sie in Slicci endlich den Mann getroffen hatte, den sie nicht zu schonen brauchte; und sie raubte ihn ihrer Freundin. Venus war eine eifersüchtige Göttin. Unter denen, die ihr dienten, gab es keine Treue.

Die Herzogin fuhr sofort hinterdrein. Sie hatte einen einzigen Schrei der Enttäuschung und der Not ausgestoßen. Unterwegs dachte sie keinen Augenblick an sich, an ihren Zustand, ihr Schicksal. Es beunruhigte sie auch keine Erinnerung an den Rausch, den der Entflohene ihr vermittelt hatte und um dessentwillen sie ihm nachjagte. Sie hatte nichts vor ihrem Geiste als ein Ziel, ein ungewisses.

In Rom forschte sie vergebens. Sie setzte Detektive in Bewegung. In Mailand erfuhr sie bei einem Agenten, daß der Komiker Italien verlassen habe. Sie durchquerte die Alpen. Drüben war es Spätherbst.

Sie fuhr, sie wußte nicht, wohin. Sie lehnte in ihrem Kupee und war erstaunt, einen großen Pelzkragen um ihre Schultern zu fühlen. Auf einer Station fragte sie Nana, ihre Kammerfrau:

»Ihr habt ja nicht gewußt, daß ich in kalte Länder reisen würde.«

»Prosper behauptete es. Er nahm alles mit.«

»Prosper?«

Sie wunderte sich. Sie war also nicht allein? Es dachte jemand an sie? Prosper, noch immer?

Sie ging den Spuren nach, die ihre Späher ihr zeigten, von einer Stadt zur andern. Am Ende sagte man ihr, das Paar habe sich nach Madeira eingeschifft. Ah! es mußte schön dort sein, auf einer Insel mit ewigem Frühling.

Sie stand, nach dieser Auskunft, in einer Stadt nahe dem nordischen Meer und ließ unschlüssig den Wagen warten. Um eine Kirche mit spitzen Türmen sauste ein eisiger Wind, so jäh, daß ihr schwerer Pelzkragen aufflog.

Sie reiste noch weiter. Den Komiker hatte sie vergessen. Aber ein Ziel lag vor ihr, ein ungewisses. Sie wußte genau, hier kam etwas ganz Neues, etwas noch Unausgedachtes, wovor man nicht einmal Furcht haben konnte, so unfaßbar war es. Und in einer Spannung, die ihren Atem kürzer machte, saß sie steif aufrecht am Fenster und richtete ihr weißes, mageres Profil gegen die Heide, auf die es schneite.

Endlich sah sie es.

Der Zug hielt auf freiem Felde, denn das Geleise war mit Schnee überhäuft. Sie stieg aus und sah den Krähen zu, deren Flug in das Gestöber hinein Gestalten zeichnete. Es war nur eine Gestalt, und mit einem schwarzen Fluge kam es immer näher. Es grinste ihr zu, kalt und unentrinnbar.

Und in der Spanne eines einzigen Herzschlages zerrissen alle die gestickten Schleier, die ihr Geist jemals ausgespannt hatte vor dem Nichts. Schönheit und Liebe, der Stolz auf eine freie Seele: alles flatterte auf. Alles zerstob vor ihren Augen: die Größe der Gebärden, die prangenden Formen, die Farben in ihrem Glanze, der Worte Pomp.

Sie fühlte sich nackt unter diesem Grinsen im Schnee. Sie öffnete, nach vorn geworfen, gebannt und angelockt, beide Handflächen wie zu einem Willkommen. Und ein erstarrter Rest von den Tänzen einer Bacchantin war in den Grüßen, womit sie den Tod empfing.

Sie kehrte um. Asthmatische Anfälle zwangen sie mehrmals, die Fahrt zu unterbrechen. Ein Schmerz in der Herzgrube kam und ging. Auf jedem der Gasthofbetten befahl sie sich: ›Nicht hier sterben! Ich bin nicht fertig.‹

Die Qualen im Kopf begannen wieder einmal. Immer brachten sie Aufruhr mit für ihren ganzen Körper; er drängte und tobte dann nach den Armen des Mannes. Aber jetzt dachte sie an keinen. Ihr Blut tat nur einen Schrei: »Das Kind!« Ein einziger Gedanke in ihr empörte sich gegen das Ende. Nur eine Sehnsucht warf die Arme heraus aus dem Schatten, der über sie hinwuchs: »Ein Kind!« Die Nacht würde weniger schwarz sein. Die Welt würde hinter ihr nicht untergehen, sie würde weiter blauen und singen.

In Basel änderte sie plötzlich ihre Richtung und fuhr nach Paris.

Der Doktor Barbasson empfing sie in seinem Häuschen in Asnières. Er war von der Praxis zurückgezogen; bei der Meldung der Besucherin hatte er eine Regung von Ungeduld zu überwinden. Rechtzeitig erinnerte er sich, daß diese Fremde in der glänzenden Zeit seiner Kraft mit anderen ganz großen Damen seine Hand gespürt hatte, seine kurze, zarte Hand, die aus Klientinnen Geliebte machte. Hatte sie sich nicht Mutterfreuden eingebildet, denen es schlechterdings an jeder Voraussetzung fehlte? Wie der alte Herzog, dieser Zyniker, gegrinst hatte!

Sie saß in seinem kleinen Salon. Es fielen die Namen einiger ehemaliger Bekannter. Der Doktor versicherte von dem einen, er sei am gebrochenen Vaterherzen gestorben, von der anderen, der Tod sei ihr gesandt, um ihr größeres Leid zu ersparen. Die Herzogin meinte gereizt: ›Wie fest muß er mich noch mit dem harmlosen Leben verbunden glauben, um mir solche Wohlgemeintheiten zuzumuten! Er selber, unter seinem Barett aus schwarzem Samt, mit seinem schöngeschnittenen weißen Bart, denkt an kein Abdanken.‹ Dann berichtete sie von ihrem Leiden.

Und auf einmal war der Weltmann ausgemerzt aus dem scharfen, tiefen Gesicht des Arztes. Er hörte zu, das Kinn in der Hand. Sein Blick streifte manchmal, verschleiert, ihre Augen. Er schob aus dem Hintergrunde tastend irgendeine kleine Frage vor, die ganz harmlos klang; und doch stak sie voll Unheil. Die Herzogin merkte es gar nicht; er wunderte sich über die Kälte ihrer Stimme. Schließlich erklärte er, eine Untersuchung vornehmen zu wollen. Während sie sich entkleidete, sagte er sich im Nebenzimmer:

›Die da schert sich den Teufel um ihre Gesundheit. Sie weiß so gut wie ich, daß das keine vier Worte mehr lohnt. Sie will etwas anderes. Wir werden's schon erfahren ... Welch eine prachtvolle Zerrüttung! Ah! sie ist Weib gewesen ohne Schonung bis ans Ziel. Wenn viele den Mut dazu hätten, wäre unsereiner brotlos. Gleichviel, ich bewundere sie. Und wäre ich Weib: so möchte ich enden!‹

Einstweilen aber war er's zufrieden, vielen Frauen bei der vorsichtigen Verlängerung ihres Daseins geholfen und oftmals sein eigenes Vergnügen dabei gefunden zu haben – und daß diese prachtvolle Sterbende ihm in seinem behaglichen Zimmer eins nach dem anderen alle Male vorzeigte, die der wütende Eros schlagen konnte ... Aber warum tat sie es? Was wollte sie?

»Ich bitte die Frau Herzogin, sich wieder anzukleiden«, sagte er sehr zurückhaltend. Sie dachte sichtlich an etwas anderes.

Sie war übervoll von ihrem einen, flehentlichen Gedanken. ›Noch einen Augenblick! Wenn ich spreche, bin ich verloren. Er wird mir sagen, daß es unmöglich ist, unmöglich auf immer. Ich weiß es, oh, mein Körper gibt es mir grausam zu verstehen. Aber ich glaube es ihm nicht, ich will es nicht glauben! Meine Hoffnung ist wahnsinnig, aber ich will sie behalten!‹

Schon halb in den Kleidern, rief sie ihn nochmals zurück. Von oben herab, befehlshaberisch, sagte sie:

»Auch wünsche ich von Ihnen zu erfahren, ob meine Beschwerden mit meiner Kinderlosigkeit zusammenhängen.«

Der Doktor hatte verstanden, er nickte. Das hatte gefehlt; er war befriedigt.

»Zweifellos«, sagte er langsam. »Aber die Mutterschaft wäre lebensgefährlich.«

Er sah ihre verächtliche Miene.

»Inmitten des Rückbildungsprozesses, den Eure Hoheit durchmachen, wäre es lebensgefährlich«, wiederholte er entschuldigend. Sie verlangte starren Gesichts:

»Verschaffen Sie mir Gewißheit, ob es möglich ist!«

Er ging ohne Besinnen an die unnütze Förmlichkeit. Er legte ihr sorgsam die Kissen zurecht, er prüfte sie lange und peinlich und hatte dabei das Gefühl, als stehe der alte Herzog hinter ihm und grinse. Dann richtete er sich auf und versetzte ernst:

»Madame, Sie haben nichts zu hoffen.«

»Nichts mehr?«

»Nein.«

Sie zögerte.

»Niemals mehr?«

»Nein.«

Ihre Stimme klang plötzlich rauh, brüchig. Sie lag noch da mit erschlafften Zügen, während der Arzt hinausging.

Sie kehrte in den Salon zurück, um sich einfach zu verabschieden. Aber Barbasson sagte ihr freundlich und pflichtmäßig:

»Ich bitte die Frau Herzogin, sich keine unnötigen Sorgen zu machen. Die Lungenblutungen haben nicht die Wichtigkeit, die man ihnen beilegt. Im Bette liegen, könnte eine hypostatische Lungenentzündung zur Folge haben. Ich rate Ihnen vielmehr zu Luftbädern, Gymnastik, Märschen. In allem wäre Mäßigung zu beobachten, denn leider ist das Rückenmark bedroht. In dieser Beziehung verhehle ich nicht meine Besorgnis. Wenn Sie mir folgen wollen, Madame, so begeben Sie sich nach Riva am Gardasee und unter die ärztliche Leitung eines meiner Freunde. Der Doktor von Männingen wird Ihnen, unterstützt durch das günstige Klima, mit ein wenig kaltem Wasser und geeigneter Bewegung in zwei Jahren Ihr vollständiges Gleichgewicht zurückverschaffen. Möge die Frau Herzogin nicht daran zweifeln«, setzte er hinzu, leicht lächelnd.

Sie fuhr, um irgend etwas zu tun, an den Opernplatz und nahm ein Billett nach Riva. Sie bestieg in Desenzano den Dampfer; da erinnerte sie sich, daß an diesem See Jakobus wohne. In Maderno verließ sie das Schiff; sie fand es sehr gleichgültig, ob hier oder in Riva.

Das nahe Dorf, wo er wohnte, stand geschützt von Bergen im Halbkreis vor dem Rebengelände. Die geschlossene Masse seiner verwitterten Häuser schob gedrungene steinerne Freitreppen hinaus; darauf hockten Weiber, die Arme um die Knie, und riefen einander an. Aus den offenen Speichern unter den vorspringenden Dächern aus Holz drängten sich Reisigbündel. Jakobus' Haus lehnte am Abhang zwischen Wein und Oliven. Es war ein viereckiges Bauernhaus, durch eine Terrasse, zweimal so lang wie die Fassade, im Rang erhöht.

Eine schöne Magd, schwarzhaarig, großbusig, von warmer Färbung, gab ihr den Bescheid, der Herr sei ausgegangen. Wie die Herzogin zurückschlenderte, sah sie ihn kommen zwischen zwei Männern, deren einer, kurz und dick, ein ländlicher Besitzer sein mochte. Der andere war vergilbt, hölzern und vermutlich ein Advokat. Sie umfaßte diese beiden mit demselben Blick wie ihn, und sie fand, er gehöre zu ihnen. Er hatte keinen Bauch, er war ein wenig steif geworden nach der Richtung des Advokaten. Er drehte sich um; sein Rücken war sogar ausgehöhlt. Aber die Gebärde, mit der er über das Feld hinwies, war kräftig und zufrieden: die des Besitzers.

Als er sie bemerkte, blieb er stehen und hörte auf zu sprechen. Er hatte nur ihren Gang erkannt. Sie hob im langsamen Näherkommen den Schleier auf; Jakobus stutzte. Gleich darauf verständigte er seine Begleiter durch ein Wort; sie blieben eingeschüchtert zurück. Er kam, küßte unbefangen und ohne Überschwang ihre Hand und sagte:

»Wie freundlich, daß Sie mich aufsuchen.«

»Es ist mir die Neugier gekommen, Sie noch einmal zu sehen.«

»Noch einmal, Herzogin? Öfter, hoffe ich.«

»Nur diesmal, da ich krank bin und Abschied nehmen muß.«

»Gehn's, reden's doch nicht. Man sieht Ihnen ja nichts an.«

»Sie sahen es soeben.«

»Sie sind trübe gestimmt, wir haben viel durchgemacht, Sie und ich. Seitdem habe ich nur selten etwas über Sie gehört. Die Welt, wissen Sie, liegt so weit von hier. Ich gehöre ganz dem Lande. Es tröstet. Man muß nur verzichten können. Machen Sie's wie ich. Hier gibt's nichts Aufregendes, vor allem malt hier niemand.«

»Man merkt es gleich«, meinte sie.

»Nicht wahr?«

Er wandte sich um.

»Hier haben wir was Besseres zu tun als malen, wie, meine Herren? ... Das sind meine Freunde, Herzogin: Signor Fabio Benatti und Advokat Romualdo Bernardini.«

»Ganz recht, Hoheit«, erklärte der Advokat, stimmlos, aber mit Schwung. »Hier heißt's rastlos tätig sein zur Vervollkommnung der Ölgewinnung sowohl als zur Hebung des Weinbaues.«

»Die gebenedeite Reblaus!« seufzte Benatti.

»Wir werden sie besiegen!« verhieß Jakobus. Der Advokat krächzte begeistert:

»Haben wir doch eine Gesellschaft zu ihrer Überwachung und Bekämpfung gegründet – eine Gesellschaft mit Statuten und Verwaltung. Alles ist im besten Wege, dank der Opferfreudigkeit und Arbeitslust unseres Herrn Präsidenten ...«

Jakobus verbeugte sich.

»Wir waren im allgemeinen ein wenig zurück«, so berichtete er. »Ich habe infolge genauer Studien ein ganz neues System der Kelterung auf meiner Besitzung eingeführt.«

»Sie selber?« fragte die Herzogin.

»Ich selber. Es findet Anklang. Sie werden seine Vorzüge leicht erkennen, wenn ich Ihnen sage –«

Aber Fabio Benatti rief dazwischen:

»Was wir brauchen, das sind Gemeindekellereien. Warum bleiben unsere Weine so niedrig im Preis? Weil sie keinen gemeinsamen Typus haben!«

»Die Stabilität des Typus«, bemerkte der Advokat mit erhobenem Finger, »das ist die erste und unerläßliche Bedingung für die Verkäuflichkeit und den Ruf eines Weines. Solange jeder Bauer auf eigene Hand seinen Wein herstellt, ist kein stabiler Typus möglich.«

Jakobus fügte hinzu:

»Und erwägen Sie, Herzogin, daß der Wein unserer Gegend dem von Bardolino, der soviel höher bezahlt wird, in nichts nachsteht. Er ist reich an Alkohol, er kommt darin gleich nach dem von Rovigo; ich könnte Ihnen den Prozentsatz nennen. Er enthält auch eine Menge Tannin, Glykosin und überhaupt viel von den Elementen, die seine Verarbeitung auf wissenschaftlicher Grundlage erleichtern würden ...«

Sie stützten sich alle drei auf einen Zaun und redeten. Die Herzogin ließ den Blick lässig über die Reben schweifen. Es erhob sich ein schwärzliches Kirchlein aus dem hellen Laub. Es war baufällig, verschlossen und verlassen. Aber über der Tür voller Sprünge trug die Mauer ein kaum versehrtes Bild in Traumfarben, grau und rosig: eine Verkündigung. Die zur Mutterschaft Ersehene war schüchtern, die Anmut des Engels sanft und leichtfertig. Und der Blick der Fremden blieb darauf haften. Er begann zu brennen auf diesem Bilde ihrer eigenen unmöglichen Sehnsucht an der Stirn des verurteilten Hauses.

 

Jakobus trennte sich endlich von seinen Freunden. Sie waren bei den Auswanderungen; der Advokat versicherte:

»Der neue Kataster wird durch eine gerechtere Verteilung der Lasten vieles wiedergutmachen.«

»Vertrauen wir darauf«, sagte Jakobus. Der Advokat rief ihm etwas nach, er kam eilig zurück:

»Mir ist eine Idee gekommen, die die gnädigste Frau Herzogin mir nicht verübeln möge. Wenn Eure Hoheit unserer Gesellschaft beitreten – was sage ich, die Ehrenmitgliedschaft unserer Gesellschaft gütigst genehmigen würden ...«

»Ihrer Gesellschaft gegen die Reblaus?«

»Es würde ihr sicherlich Glück bringen.«

»Nicht der Reblaus«, sagte Fabio Benatti, »sondern der Gesellschaft.«

»Ich fühle mich geschmeichelt, meine Herren, ich nehme an. Sie werden mir dagegen die Ehre erweisen, eine Stiftung entgegenzunehmen.«

Jakobus führte die Herzogin über seine Äcker, ließ sie die Trauben, die noch übrig waren, in der Hand wiegen, nannte ihr den Ertrag der Reben. Er zeigte ihr den See, als habe er ihn zu vertreten, pries seine Fische und entschuldigte ihn, weil die Aussicht nicht klar sei. Dann mußte sie seinen Hausgarten loben. Die Rosen blühten noch! Seine Hühner legten bewunderungswürdig. Er zog ein Ei aus der Spreu, bohrte es an und reichte es ihr; das gebe Kraft. Inzwischen ging die Magd umher, ein Kind auf dem Arm, und blickte aus ihren schönen, fragenden Tieraugen gleichmütig auf die Fremde.

Jakobus errötete.

»Pasqua, geh ins Haus!« befahl er.

»Warum?« meinte die Herzogin. »Ich sehe sie gern.«

»Was wollen Sie?« murmelte er, »das Bedürfnis nach der Frau ... Und dann der Bub, der macht mir Freude!«

»Das ist Ihr Kind?«

»Ja.«

Nach einer Weile sagte sie:

»Sie sind glücklich. Mutter und Kind müssen Sie glücklich machen.«

Er fuhr fort, sich zu entschuldigen.

»Ich hatte die klugen Frauen satt, wissen Sie. Und die liebenden gar! Immer in einem Ungewitter von Leidenschaft stehen! ... Die Pasqua ist wundervoll geistlos. Auch denkt sie nicht daran, mich zu lieben. Sie sieht nichts, als daß ich ein richtig gewachsener, rüstiger Fünfziger bin. Auch habe ich Eigenschaften, die ihr gefallen: ich trinke nicht, ich trage kein Messer. Sie tut, wozu sie berufen ist, und erwartet, daß ich sie in meinem Testament bedenke; ihre Hoffnung soll nicht enttäuscht werden. Aus dem Buben machen wir natürlich einen tüchtigen Bauern.«

»Natürlich. Er sieht sehr gesund aus. Wenn Sie ihn dann eines Tages allein lassen müssen, tun Sie es mit dem Bewußtsein, daß alles in Ordnung ist. Er wird wieder Kinder haben ...«

»Es hat lange gedauert, bis ich eigentlich mein Herz entdeckt habe: eine gefühllose Frau, ein schönes, kraftvolles Tier. Ah! die verlangt kein Werk von mir. Gemalt wird nicht!«

»Das scheint jetzt Ihr Ruhm zu sein: nicht zu malen?«

»Ich hab halt doch eine ziemliche Enttäuschung erlitten – seinerzeit«, erklärte er mit gutmütigem Vorwurf. »Man braucht eine Weile, um sich zu erholen.«

»Nun, ich bin um Sie nicht besorgt, Sie werden sich erholen.«

»Aber jetzt bitte ich Sie, Herzogin, mein ländliches Mahl zu teilen. Haben wir Carpione, Pasqua? ... Der Carpione ist nämlich der König unserer Fische. Er kommt nur im Gardasee vor. Er erschien auf der Tafel der römischen Kaiser stets mit Lorbeer bekränzt.«

»Ich möchte schon – wenn ich nur essen könnte. Ich bin ein wenig erschöpft.«

Er bekam einen Schreck, sie schien ihm zu schwanken. Er griff nach ihr, gerade unter der Haustür.

»In dieses Zimmer, Herzogin – nur ein paar Schritte. Aber was haben Sie denn? Die Reise war wohl etwas anstrengend? ... Bitte hier, diese Ottomane ist sehr bequem.«

Er bettete sie. Sie sah ihm zu und gedachte des Doktors Barbasson. ›Immer dieselbe Gebärde um mich her: zurechtgeschobene Kissen.‹ Matt und ungeduldig sagte sie:

»Lassen Sie. Ich möchte eine Stunde ruhen, es wird genügen. Ich fahre nachmittags weiter, nach Riva, zum Doktor von Männingen.«

»Ah!«

Er betrachtete sie zum erstenmal mit ganzer Aufmerksamkeit und ohne die Sorge, sich ihr vorzuführen. Kleinlaut schlich er hinaus.

Als sie wieder zum Vorschein kam, hatte er nachgedacht.

»Herzogin haben Ihre Leute vorausgeschickt?«

»Ja.«

»Aber Sie können nicht allein reisen. Wenn Herzogin befehlen, begleite ich Sie.«

»Ich danke Ihnen.«

»Ich bin sehr gut bekannt mit dem Doktor von Männingen. Eine bessere Wahl konnten Herzogin gar nicht treffen. Er ist ein wirklicher Arzt, also von einer sehr seltenen Gattung. Eine Persönlichkeit, die auf andere übergreift, nach allen Seiten austeilend, aufrichtend, fördernd, und selber beglückt durch das Gefühl ihrer Wirkungen. Er wird Sie auf wienerische Art mit betäubender Liebenswürdigkeit geistig vergewaltigen, daß Ihnen kein Besinnen auf Ihre Krankheit mehr freisteht. Sie werden ans Rudern, an Tiefatmungen, an Bergbesteigungen von ganzen zweihundert Metern einen Ehrgeiz wenden! Das ist gesund, das beruhigt! Erinnern sich Herzogin wohl, wie ich verbraucht, unstet, hoffnungslos, fertig war – damals? Nun, dem Doktor von Männingen verdanke ich's, daß ich heute mein Selbstvertrauen wiederhabe und Ziele und ein festes Lebensmaß.«

›Was für Ziele?‹ dachte die Herzogin. ›Ein gar zu mäßiges Leben!‹ Sie äußerte:

»Ich habe von Riva ein wenig unbedachtsam gesprochen, ich muß mir's noch überlegen.«

»Bleiben Sie bei Ihrem Entschluß! Ich rate Ihnen gut.«

Er redete weiter; sie fragte sich: ›Lohnt es sich denn, seine Glieder täglich soundso viele gesunde Bewegungen ausführen zu lassen – nur um der Welt nicht Lebewohl sagen zu müssen? Ich habe ja das Programm heruntergespielt, Stück für Stück, das für mich festgestellt war, schon bevor ich da war. Die drei Göttinnen haben, eine nach der anderen, mein Gewand in Falten gelegt und meine Gesten geregelt, jede nach ihrem Sinne. Mein Leben war ein Kunstwerk. Soll ich meinem zerbrochenen Schicksal willkürlich etwas anstücken? ... Nein!‹

»Ich habe mich entschieden, ich fahre heim nach Neapel.«

»Erwägen Sie es besser, Herzogin, ich flehe Sie an! Sie beunruhigen mich mehr, als ich Ihnen sagen kann!«

»Ohne Grund, lieber Freund; es geht mir nach Wunsch. Begleiten Sie mich zurück nach Desenzano!«

»Ich darf? Aber es fährt heute kein Dampfer mehr. Übernachten Sie bei mir?«

»Nein, nein. Können wir segeln?«

»Segeln, natürlich, segeln! Es wird doch Wind sein?«

Er lief an die Tür.

»Paolo, ist Wind nach Desenzano? ... Ja, Herzogin, wir können! Wirklich segeln, mit Ihnen, Herzogin!«

Er war glücklich; seine Ermahnungen und seine Besorgnisse hatte er auf einmal vergessen, da er mit ihr segeln durfte. Ohne daß sie es wußte, erinnerte er sie an Nino. »Was für ein Kind!« meinte sie, zärtlich fast.

»Aber dann müssen wir gleich fort!« rief er. »Wir haben drei Stunden. Der Zug nach Mailand geht um fünf Uhr fünfundzwanzig.«

»Telegrafieren Sie zuvor an den Arzt in Riva, daß ich nicht komme, und auch an Prosper, meinen Jäger. Er ist schon dort. Er soll sogleich umkehren und mir nach Mailand folgen.«

Sie stiegen ein.

»Sie nehmen keinen Schiffer mit?«

»Wozu denn? Ich segele ja selber, als hätt ich nie was anderes getan.«

»Und Linda«, fragte sie plötzlich. »Die kleine Linda!«

»Ja, daß Herzogin die nicht gesehen haben, ist zu schade. Bis vor acht Tagen war sie hier. Nun wird's kühl, da ist sie in der Stadt besser aufgehoben.«

»In Venedig?«

»Bei Clelia ... Mein Gott, ich mußte der armen Frau doch irgendeine Entschädigung bewilligen. Ich habe ihr Linda dagelassen. Was hat sie denn sonst. Mortœil vertrottelt, ich glaube, er trinkt.«

»Die kleine Linda in ihrem schweren, glänzenden Kleid, wie aus Perlmutter ...«

»Oh, das hat sie abgelegt. Was glauben's denn, sie ist ja nun dreizehn. Ein großes Mädel.«

»Hübsch gewiß.«

»Na!«

Er führte die Finger an den Mund.

»Und froh?«

»Still, sehr still.«

Er verstummte.

»Aber zum Anschauen –!« sagte er rasch. »Ich schau sie immer nur an und dank ihr dafür, daß sie da ist. Zu malen brauch ich sie nicht: drum find ich sie so schön. Welch ein Genuß, die schönen Dinge ansehen zu dürfen, ohne ans Malen denken zu müssen! Sehen Sie diesen Nebelsee voll von gedämpften Spiegelbildern. Wie mich das früher aufgeregt hätte! Jetzt geht's mich gar nichts an – gar nichts.«

»Wissen Sie, wer mich neulich besucht hat?« fragte er. »Nino!«

»Was tut er, wo ist er?«

»Er fuhr nach Genua, er will nach Amerika im Auftrage seiner Partei. Diese Jugend! ... Seine arme Mutter ist sehr brustkrank, es wird nicht lange dauern.«

»Ich weiß.«

»Auch Siebelind war einen Tag bei mir. Herzogin werden ihn in Neapel treffen. Er wird ganz grau. Wissen Sie, das ist mir unangenehmer bei meinen Bekannten als bei mir selbst. Zu sehen, wie alles alt wird ...«

»Alt? Nein. Ich wenigstens nicht. Meine Jugend und mein Leben enden auf einmal.«

»Dann sind Sie glücklich«, murmelte er.

Es verging eine Weile.

»Ich versande«, sagte Jakobus. »Vielmehr, ich bin schon versandet. Glauben Sie doch nicht, Herzogin, daß ich das nicht weiß. Es gelingt mir meistens, nicht daran zu denken. Aber es gibt Tage – und heute, da ich Sie wiedersehe ... Sie sind schöner als je!«

Sie sah langsam auf ihn hernieder, der, den Kopf über seinen Knien, nach ihr hinaufstarrte. Sie schwiegen. Die Herzogin saß steil aufrecht am hohen Steuer. Es ward Abend. Aus der Wolkenbank hinter ihr glitten ins Wasser ein paar Rosen.

»Glücklicherweise brauche ich Sie nicht zu malen«, murmelte er wieder.

»Es geht Ihnen recht gut, scheint mir ... Aber Sie bekümmern sich zuwenig um das Segel.«

»Gleich ... Bedenken Sie aber auch, mir ist geradezu alles fehlgeschlagen. Die Pallas des Botticelli hat man jetzt wiedergefunden, wissen Sie's?«

»Ja, im Palazzo Pitti. Ich habe Photographien nach ihr gesehen.«

»Ich bin sogar hingereist ... Nun also, sie ist ganz anders.«

»Leider.«

»Ganz anders als meine. Nein, ich habe nie einen der Träume des großen Jahrhunderts zu Ende träumen dürfen, zur Zeit der Minerva sowenig als später, da ich die Venus wollte.«

»Sie wollten zuviel.«

Es summten ihr eigene, ehemals gesprochene Worte im Ohr: »Gemacht aus den Schlünden jedes Abgrundes, aus den Sternen jedes Himmels.« Gehörte auch er dazu?

»Sie waren berühmt, Sie verdienten viel – trotzdem hat Ihre Kunst Sie nicht befriedigt. Das ist nicht gewöhnlich.«

»Aber es ist ein bescheidenes Maß von Ungewöhnlichkeit.«

»Allerdings.«

Nein, er gehörte nicht dazu – da er sich klein machte, da er sich bescheiden konnte und ernüchtert weiterleben mochte.

Sie sagten lange nichts. Die Wellen wurden größer, ihr Boot stieg und fiel. Die See war weit wie ein Meer. Die Ufer waren verloren hinter tiefziehenden Wolken. Sie sahen kein Schiff, sie waren miteinander ganz allein.

»Man fragt, wohin Sie fahren«, meinte er nachdenklich. »Verzeihen Sie, Sie sehen so aus, als müßte man fragen, – ganz weiß inmitten all dieser dunkeln Wasserdämpfe, – ganz steil auf dem hohen Hinterdeck und ganz weiß, – mit einem flachen, blutroten Strich unter der Wolke gerade hinter Ihren schmalen Schultern, – ganz weiß, und die Wolke steht Ihnen eisern, wie ein Helm auf dem Kopfe.«

»Ich erkenne Sie wieder«, sagte die Herzogin. »Sie haben noch all Ihre Phantasie.«

Er stöhnte.

»Sie können es glauben, ich habe nachgedacht in der langen Zeit. Ich dünkte mich zu gut für die hysterische Renaissance, nicht wahr? Nun, ich hatte kein Recht dazu. Die verführerischen Krankhaftigkeiten waren genau das, was ich zu machen hatte. Hätte ich sie sonst machen können? Wir sollen nie glauben, etwas anderes zu können als das, was wir machen; jener schmutzige Perikles hatte ganz recht ... Wir sind heute alle auf das Kranke angewiesen. Wo immer ein Verfall röchelt, da antworten wir. Das ist unser Beruf. Ich aber vergriff mich an dem großen, gesunden Leben. Sie, Herzogin, waren damals Venus, glatt und reif. Ich wollte aus Ihnen etwas Überschwengliches machen, etwas Allumarmendes, eine zermalmende Verherrlichung. Schließlich ward Siebelinds leidende Fratze daraus. Es geschah mir recht. Ich konnte Sie malen, Herzogin – aber das einzige Werk, das allen eine Offenbarung sein sollte, das jeder erträumt zu haben glauben konnte und das nur ich gemacht haben würde: das gaben Sie mir damals nicht. Heute ...«

»Heute bin ich endlich krank genug dazu.«

»Herzogin, ich habe Ihnen das Bild schon beschrieben – das Bild dieser seltsamen Fahrt ...«

»Der letzten Fahrt.«

»Oh!«

»Sie haben sich nicht sehr beeilt. Sie kommen im Augenblick, da ich sterbe.«

» Wie sterben Sie! Wie vieles stirbt mit Ihnen! Die letzte von vielen Großen! Das alles würde ich mitmalen! ... Herzogin, kehren Sie mit mir um!«

Sie antwortete nicht.

Er glitt von der Bank herab und auf die Knie.

»Kehren Sie mit mir um!«

»Besinnen Sie sich ... Sie haben die Segelleine aus der Hand gelassen, der Wind dreht sich.«

»Steuern Sie nach links ... Herzogin, Sie müssen! Sie dürfen es mir nicht verweigern, mein Werk, mein größtes auf immer: das Bildnis der sterbenden Herzogin von Assy!«

»Das sind die eigensinnigen Worte von früher. Ich habe heute nichts mehr zu verweigern und nichts mehr zu geben.«

»Dann sterbe ich mit Ihnen!«

Plötzlich legte sich das Boot tief auf die Seite. Jakobus fiel um.

»Sie haben das Segel zu hoch gespannt. Ziehen Sie es ein!«

»Warum, Herzogin? Wollen wir nicht sterben?«

»Ziehen Sie es ein, sage ich!«

Es kostete ihn Mühe; der Rand des Bootes hob sich nur schwer.

»Ich hatte es gar nicht zu hoch gespannt, ich kann doch segeln! Aber hier bei der Halbinsel ... Herzogin, wären wir gestorben! Es wäre nun alles gut.«

Sie sah ihn von ihrem hohen Sitz reglos an – bis er zu ahnen begann, wie unfaßbar fern dieser in eine Brust verschlossene Tod ihm selber war, dem Hoffenden, der sich aus Trotz den Tod von draußen forderte. ›Sie ist es zufrieden, zu sterben; aber nicht in einem zufälligen Abenteuer und nicht mit mir.‹

Es ward ihm scheu zumute. Er sehnte sich nach einem harmlosen Wort. Bei der Ankunft rief er sehr laut nach einem Kutscher. Er wollte mit einsteigen; aber sie gab ihm die Hand zum Abschied, lächelnd und kühl.

In Genua am Bahnhof hatte sie eine Genugtuung. Sie war versucht gewesen, Nino hinzubestellen; aber sie hatte sich beherrscht. Er glaubte an das andere Mal, und das war noch nicht dieses.

Sie näherte sich in kleinen Tagereisen dem Süden. Es ward wärmer, ihr Herz schlug kräftiger. In Capua stieg sie aus – wie einst – und fuhr über Land. Das Pferd mußte Schritt gehen, die Steine am Weg bereiteten ihr Schmerzen; – aber dennoch breitete diese Luft noch so üppige Kissen ihren Sinnen hin wie damals. Der Erntetag war blau und leicht. Die Wolken, vom Winde zerrieben, schwebten nur als ein silberner Schaum im Bogen über dem Horizont. Hinter den Zypressen mit silbernen Rändern hörte sie es singen und lachen von den Flöten des Abends; sie antworteten den Flöten des Morgens. Die Erde war neu wie am ersten Tage –

›– wie im Garten, als ich Kind war und im Ginster lag. Nun steht auch die blaue, behaarte Libelle wieder vor mir in der Luft ... Und ich selbst bin nicht gealtert. Ich habe zu Ende gelebt; aber ich kenne keinen Überdruß, keine Verachtung. Ich hasse nichts, auch nicht den Tod.

Dort lächeln wieder, am Abhang, meine blassen Oliven, schwach, mit ausgehöhlten Stämmen, und immer noch bereit zu dem Wunder neuer Ernten ... Ich möchte sein wie sie; ich feiere das Leben bis zum letzten Axthieb.

Kreist nicht in mir, mit meinem Blut vermischt, die Liebe dieses ganzen Landes? Alle seine Geschöpfe, von zuviel Sonne matt und feurig, haben mich abwechselnd entflammt und entnervt. Durch hundert Umarmungen ist es mein geworden, dieses Land. Es ist in mir: diese Sonne ist in mir, die Schwellung dieser Traube, der Staub an den Füßen dieses Armen, und jedes wunderschöne Lächeln! ... Ich bin stolz darauf! Und ich werde eine letzte Ernte feiern, gleich dem umgehauenen Ölbaum. Ich werde dieser Erde, die ich so sehr geliebt habe, alles auf einmal zurückgeben. Das ist der Tod, er ist nicht schrecklich, ich hasse ihn nicht, weil ich das Leben nicht hasse.

Es ist weit, weit, das Gespenst im Schnee. Hier hat es keine Macht. Hier ist der Tod mild, ich kenne schon sein Lächeln. Ich weiß ja, welcher Knabe an der Wand jener Kapelle zwei Frauen voranleuchtet, mit silberner Ampel, in ein tiefes Dunkel. Ich liebe ihn, den Genius meines Todes!

Mein ganzes Leben war eine einzige große Liebe; jeder Größe und der ganzen Schönheit habe ich meine heiße Brust entgegengeworfen. Ich habe nichts verschmäht, niemand verdammt, keinen Groll gehegt. Mich und mein Schicksal habe ich gutgeheißen bis ans Ende; wie könnte ich meinen Tod hassen? Er ist nichts Fremdes. Er hat Teil an meinem Leben, das ich liebe. Er ist seine letzte Geste, und ich wünschte, er wäre seine glücklichste.‹

 

Zu Hause fand sie ein Telegramm von Nino:

»Im Begriff, die Reise über das große Wasser anzutreten, sende ich dir, liebe Yolla, einen letzten Gruß aus der Alten Welt.«

Sie lächelte zu seinen abenteuerlüsternen Gemeinplätzen; sie antwortete ihm: »Guten Mut und auf Wiedersehn!«

Es war ihr still und süß zu Sinn, als sie sich zur Ruhe legte. In der Nacht erwachte sie von dem gewöhnlichen Schmerz in der Herzgrube. ›Es ist so wenig, ich kenne das viel schlimmer‹, dachte sie. Aber ihr Herz schlug wie unter einer Hülle von Angst. Sie lauschte darauf. Plötzlich setzte es aus. Sie sah mit Augen, weit offen und voll von Grauen, in die Dämmerung, und sie meinte, es spiegele sich in der fahlen Luft ihr eigenes schreckliches Bild. Sie seufzte auf; der Puls war zurückgekehrt.

Ihre Glieder waren kalt. Sie tat ein paar Schritte, da ward der Herzmuskel aufs neue vom Krampf erfaßt. Es blieb ihr keine Zeit, ihr Lager aufzusuchen, der Schmerz warf sie in einen Stuhl. Dieser Schmerz eilte zu beiden Seiten der Brust nach dem Halse hin, das Genick hinauf und in den Kopf. Zwischen den Anfällen erhob sie sich. Das Liegen tat ihr weh und ängstigte sie. Sobald sie sich setzte, zwangen Unruhe und Ratlosigkeit sie zu weinen – sie wußte nicht, warum, denn sie beklagte sich nicht.

Ihre Herzkrämpfe währten drei Tage. Sie suchte, planlos durch die Zimmer irrend, nach Erleichterungen. Sie legte die Hände gefaltet auf das Genick, denn dort hatte eine drückende Beschwerde sich festgesetzt und wich nicht einmal in den Viertelstunden der Besserung. Sie weigerte sich, einen Arzt zu empfangen. Sie schickte sogar ihre Kammerfrau hinaus.

Eines Abends ging die Tür auf, und darunter stand Siebelind. Er sah die Herzogin von Assy auf den Fußboden gestreckt, entstellt von Qualen. Und er schämte sich dieser Rache, die sie ihm gewährte, sie, die Stolzeste unter den Glücklichen. Er blieb reglos und schlug die Augen nieder. Sie erhob sich ohne Hast und lehnte sich, fast stehend, in einen Sessel: fahlweiß in ihrem gelblichen Schlafrock, ganz schmal unter ihrem breiten, schwarzen Haar, worin die Reste des künstlichen Rot sich auflösten. Eine Hand krümmte sich am Herzen, die andere tauchte frostig in Kissen, die knisterten. Siebelind verfolgte auf ihrer Blässe die kleinen blutigen Windungen ihres Mundes. Er wußte nicht, schuf die Angst sie oder ein Lächeln.

Er habe sehr wichtige Mitteilungen zu machen, sagte er, sonst würde er sich nicht herausgenommen haben, einzudringen. Er erklärte, in Genua mit Nino zusammengewesen zu sein. Er habe ihn bei der Durchreise in Neapel begrüßen und ihn verhindern wollen, die Frau Herzogin aufzusuchen. Er wisse, der junge Mann wäre ihr in diesem Augenblick nicht erwünscht gekommen ... Sie sah ihn an.

»Sie wissen noch immer so gut Bescheid in fremden Seelen?«

»Oh, in einer in der Lage der Ihrigen! ... Nun ist gestern sein Schiff angekommen; er war nicht darauf. Ein Telegramm an ihn konnte nicht bestellt werden. Es ist etwas Rätselhaftes vorgefallen.«

»Er ist irgendeinem anderen Einfall gefolgt. Er fährt eben mit dem nächsten Schiff.«

»Wer weiß, wohin sein Schiff fährt.«

»Ich verstehe Sie nicht.«

»Verstehen Sie denn, wohin das Ihrige fährt?«

»Ach so. Sie meinen, daß ich sterbe. Das ist wahrscheinlich.«

»Frau Herzogin, ich habe Ihnen etwas abzubitten.«

Unter seinen Augen kamen rote Flecken hervor. Er stand gebeugt, eckig in seinem langen schwarzen Rock und grau an den Schläfen.

»Ich habe Sie für eine der ruchlosen Glücklichen gehalten, die nichts vermuten von den Tiefen der Leidenden. Ich muß mich geirrt haben. Der Glückliche stirbt rasch, ahnungslos, wie er lebte. Sein letzter Becher war vergiftet, er wußte es nicht, und ehe er's begreift, ist er tot. Sie, Frau Herzogin, haben Zeit, zu begreifen und zu schmecken! Sie müssen mit dem Leiden bekannt sein; sonst vermiede es Sie auch in dieser Stunde ... Ermüde ich Sie?« fragte er sehr zart.

Sie antwortete freundlich, obwohl eine Angst sie folterte: »Nein, nein.«

Er sprach noch eine Zeitlang ganz leise und mit gesenkten Lidern von ihrem Tode, der sie läutere und verkläre. Sie meinte fast, ihr Tod verbessere zunächst ihn selbst. Er war ruhiger als ehemals, ohne ungesundes Kreischen der Gefühle. Die Hand, mit der er von ihr Abschied nahm, war nicht heiß. Er bat, wiederkommen zu dürfen; sie hatte nichts dagegen.

Sie fand, als er weg war, christliche Büchlein auf ihrem Tisch und wendete ein paar Blätter um. Etwas Unbestimmtes hatte ihr wohlgetan, war wie ein nun verbotener Wohlgeruch von früher, ziemlich fade schon, bis in ihr Krankenzimmer gedrungen. Es war Liebe, wenn noch so wenig. Dieser Schwache hatte sich aufrichtig in sie verliebt, das war es. Jetzt endlich, da sie starb, fühlte er sich ihr nahe genug: er, dessen Dasein ein langes Sterben war.

Sie hörte kein Wagenrasseln unter ihrem Fenster, und sie erfuhr, das Volk selbst trage Stroh herbei. Am Abend gelangte sanftes Gezirp von Gitarren zu ihr. Sie lächelte:

›Nun lieben sie mich. Wenn ich tot bin, werden sie weinen. »Die Arme«, werden sie sagen, denn so nennen sie die Toten. Wie müssen sie froh sein, mich einmal bemitleiden zu dürfen – dieses eine, unvermeidliche Mal!‹

Ihr Herz beruhigte sich endlich. Vier Tage lang litt sie nichts. Am späten Nachmittag des fünften fragte ein Diener aus dem erzbischöflichen Palais, ob Ihre Hoheit geneigt seien, den Generalvikar zu empfangen. Sie hatte noch gar nicht Zeit zu antworten gehabt, da ward er schon gemeldet.

Tamburini trat ein, rasch und wuchtig, wie vor vielen Jahren. Er war noch immer der massige, starkknochige Geschäftsmann im Priesterkleid. Seine beweglichen klugen Augen funkelten unter schweren Lidern in dem vierschrötigen Gesicht. Kein Muskel seiner mächtigen Kiefer war erschlafft, sein Gebiß war vollständig, und die Haarsträhne, die seine niedrige Stirn teilte, war tiefschwarz. Aber unter seiner Haut floß noch mehr Galle.

Der künftige Kirchenfürst stand aufgepflanzt wie vor der Front von Millionen und in der einschüchternden Haltung eines Portiers. Hinter ihm verharrte Rustschuk. Die Herzogin lud die Herren ein, sich zu setzen. Tamburini sagte:

»Frau Herzogin, ich komme als alter Freund. Sie sind immer eine gute Tochter der heiligen Kirche gewesen. Ich kann das unmöglich vergessen, bloß weil Sie in den letzten Jahren in Irrtümer verfallen sind.«

»Sie sind zu gütig, Monsignore«, sagte die Herzogin.

»Ihre Irrtümer sind schwer, das gebe ich zu, und haben viel Ärgernis erregt. Aber durch eine umfassende Beichte und aufrichtige Reue setzen Sie mich in den Stand, Sie von allen Sünden loszusprechen. Und dann haben Sie ja noch ein anderes, sehr wirksames Mittel, alles gutzumachen.«

Hierauf räusperte er sich. Die Herzogin sah ihn fragend an, dann seinen Begleiter.

»Deshalb kommen wir nämlich«, sagte Rustschuk.

Er blinzelte nach ihr hin, verschwommenen Blicks, schaudernd und begehrlich. Da lag sie und starb, immer schön und jung, da sie ja eine Herzogin war – und er hatte sie nicht besessen! Er stammelte nochmals:

»Deshalb kommen wir nämlich.«

Sie verstand.

»Ah! das Geld. Sie wollen Geld?«

»Herr von Siebelind«, erklärte Tamburini, »hat mir auf meinen ausdrücklichen Wunsch berichtet, wie er Sie gefunden hat, liebe Tochter. Sie seien sich über Ihren Zustand klar«, sagte er, »und ertrügen ihn christlich. Da durften wir keine Zeit verlieren, um so mehr, als der bewährte Vertreter Ihrer weltlichen Interessen, unser Freund, der Herr von Rustschuk, uns wissen ließ, daß Sie bisher keinerlei Verfügungen getroffen haben.«

Hierauf warf er dem Finanzmann einen Blick zu.

»Herzogin«, stammelte Rustschuk rotviolett. »Sie wissen selbst, daß ich Ihr Vermögen gut verwaltet habe ... Es mag sein, daß ich meinen Vorteil dabei gefunden habe, wer leugnet das. Sicher ist nur, daß kein anderer, und sei es der unbequemste Tugendheld, Ihnen solche Summen hätte beschaffen können wie ich!«

»Weil keiner so geschickt ist«, erklärte Tamburini.

»Daher«, behauptete Rustschuk, »werden Hoheit mir glauben, wenn ich Ihnen sage: das beste ist, Sie vermachen alles der Kirche. Mir kann es ja gleich sein, aber ich rate Ihnen dazu.«

»Der Kirche?« meinte sie erstaunt. »Nun ja, warum nicht ebensogut der Kirche.«

»Schon wegen der ewigen Seligkeit«, sagte der Finanzmann. »Und noch aus anderen Gründen.«

»Das künftige Leben, meine Tochter, ist eine hochwichtige Sache!« stieß der Vikar polternd hervor.

»Mir hat das gegenwärtige genügt«, sagte die Herzogin schlicht. »Und ich habe es wichtig genommen.«

»Wir Christen legen nur auf die Ewigkeit Wert«, bekannte Rustschuk mit Überzeugung. »Dieses Leben erfüllt uns zuwenig Wünsche.«

Und sie sah sein ungestilltes Verlangen trüb aufflackern.

»Sie wissen sowenig anzufangen mit dieser kurzen Spanne Zeit, Sie Christen«, sagte die Herzogin, und ihre Bemerkung wunderte sie tief, »– und Sie vermessen sich, mit Ihrer Person die Ewigkeit auszufüllen?«

»Diese Philosophie werden Sie bitter bereuen, liebe Tochter!« rief der Vikar drohend. »Statt Ihre Sache durch billige Lästerungen zu verschlimmern, machen Sie lieber, wie man Ihnen rät, Ihr Testament zugunsten der heiligsten Kirche, damit Sie doch etwas zu Ihrer Rechtfertigung vorzubringen haben. Sie können es im nächsten Augenblick brauchen – an dem Ort, wohin Sie gehen.«

»Dort – ich weiß schon, was ich dort sagen werde zu meinem Ruhm. Ich werde sagen, ich habe Sie, Monsignore, durch meinen Jäger hinausbringen lassen. Und wer weiß, vielleicht werde ich's wirklich getan haben.«

Darauf geriet Tamburinis herrische Haltung ins Wanken. Er stotterte etwas Bescheidenes. Rustschuk murmelte peinlich betroffen: »Herzogin sind strenge, man wagt nicht mehr –«

»Wagen Sie nur«, sagte sie seltsam lächelnd.

Er lehnte sich zurück. Sein Stuhl rückte hin und her, so schlotterte er. Er begehrte sie; mit Grauen vor dem Tode und die Sinne gepeitscht von seiner Gegenwart, begehrte er sie noch auf diesem Bette. Er würde der einzige sein, den an ihrem Sarge das unwiderrufliche Bedauern zermalmen würde. Er allein hatte sie nie besessen. Und sie starb!

Sie saß tief zurückgelehnt, ganz hell, und das Gesicht in den dunkeln Polstern ihres Haares. Die Brauen waren hervorgearbeitet aus den eingesunkenen Schläfen, die Augen umspannt von dem vielfach gefältelten Schatten der Nasenflanken – und über den engen Sattel des schmalen, durchsichtigen Knochens hinweg, fast horizontal, schlich ihr Blick herbei, müde zum Erlöschen.

Dennoch demütigte er ihre beiden Zuschauer. Sie haßten sie dafür; aber sie erwarben auch jetzt nicht das Recht, sie zu bedauern. Ihr blieb die Schönheit des letzten Abendlichts. Einen roten Fleck spiegelte die schräge Sonne unter ihren linken Nasenflügel. Das Kinn bog sich von unten, weich und gepolstert, eine letzte Verführung. Die Zähne blinkten, feucht und weiß. Hinter ihrem blaß violett beschatteten Fleisch und seiner mattweißen Gewandung stand ein rotgelbes Kissen auf der Mauer und ihrer scheinend gelben Seide.

Aber das Sprechen hatte sie erschöpft. Sie fühlte ihren Herzmuskel sich aufs neue zusammenziehen. Ihre Fußspitzen brannten auf einmal vor Kälte. Sie läutete und ließ sich die Knie in Decken wickeln.

 

Tamburini sah nicht ein, warum er sich von dieser Todkranken einschüchtern lasse.

»Haben Hoheit irgendwelche Einwände weltlicher Natur?« fragte er. »Sie besitzen keine Familie, niemand, dem Sie diese große Anzahl von Millionen könnten zuwenden wollen ... All das Geld!« sagte er mit vollen Backen.

Sie sann. Nino? Der Reichtum würde ihn zu früh zerstören. Die kleine Linda? Was brauchte sie, die so still und kühl in sich ruhte. Wer also? Sie erwiderte:

»Ich habe nichts dagegen – und nichts dafür.«

»Geben Sie's nicht der Kirche«, äußerte der Vikar, »so verfällt alles dem dalmatinischen Staat.«

»Ja, dann kriegen wir's«, bestätigte Rustschuk. »Hoheit sehen, wie uneigennützig ich Ihnen rate. Nur wegen Ihres Seelenheils.«

»Und nicht, weil Sie ein Geschäftsmann der heiligen Kirche sind? Der größte Bankier der Christenheit?«

»Hoheit verkennen mich. Ich denke nicht an so kleinliche Vorteile. Wollen wir den weltlichen Gesichtspunkt einnehmen? Dann urteile ich als Staatsmann und finde, daß das – wie soll ich sagen, freie Leben Eurer Hoheit eine Sühne verlangt vor der Öffentlichkeit. Das Vertrauen in die bestehende Gesellschaftsordnung müßte eine bedenkliche Erschütterung erleiden, wenn eine Dame in der ungewöhnlichen Stellung Eurer Hoheit, hoch betitelt und überaus kapitalkräftig, nicht wenigstens angesichts des Todes einen wohlgesinnten Gebrauch von ihren großen Mitteln machte.«

Er sprach sehr rasch, den Mund scheu gesenkt bis auf das fallende Fett seines Halses, und mit kleinen, schwachen Armbewegungen. Tamburini deklamierte um so unbefangener.

»Alles: die Verhältnisse sowohl als die göttlichen und menschlichen Pflichten, und nicht zuletzt der eigene Vorteil weist Eure Hoheit darauf hin, Ihre Besitztümer Ihrer heiligen Mutter, der Kirche, zu vermachen. Auch habe ich schon den Notar bestellt. Soll er eintreten?«

»Der Kirche oder dem Staat«, wiederholte sie. »Er ist mir eigentlich ebenso sympathisch.«

»Wenn ich statt dessen –«

Sie legte die Wange auf die Handfläche. Sie blinzelte aus halbgeschlossenen Lidern und aus der goldigen Tiefe all ihrer nie abdankenden Liebe nach den beiden apokalyptischen Tieren, die ihre letzte Stunde ihr vorgaukelte.

»Wenn ich drei große Vermächtnisse machte. Eines für die Freiheitskämpfer aller Völker und für die Seltenen zwischen den Völkern, die den Geist befreien. Das zweite für Kunstwerke, die verschwenderischen Träumen gleichen und von denen der Bürger nichts wissen kann, also eben für Kunstwerke. Das dritte für wunderbare Inseln der Lust, wo Menschen ohne Not und beinahe ohne Sehnsucht vergessen dürfen, daß es einen Staat, eine Kirche und eine Menschheit gibt, die leidet.«

»Herzogin werden es nicht wagen! ...« befahl Tamburini barsch und brach in Drohungen aus. Rustschuk behauptete, solch ein Testament sei anfechtbar. »Deshalb«, erklärte er, »weil man glauben würde, eine allzu zügellose Seele habe hier in Wahnsinn geendet.«

Sie hörte nichts. Ihre leisen Traumworte hatten sie erregt bis zum Aufschreien. Da zerriß sie ein neuer Schmerz vom Rücken nach dem Magen. Der Krampf ergriff den Magen; das Herz zuckte und flog. Sie fuhr auf mit einem Stöhnen und setzte sich wieder.

Die beiden verstummten plötzlich. Sie sahen auf der Stirn der Geängsteten den Schweiß ausbrechen, ihre Lider zuklappen und ihre Züge erschlaffen. Das Gesicht dieser Frau, die ihnen noch eben Scheu und Begierde eingeflößt hatte, war jäh ausgewechselt gegen die verfallene Maske einer ohnmächtigen Verlebten. Rustschuk heulte rauh auf. Der aufgebrachte Priester verfiel ohne Übergang in Weihe. Er nahm ihre Hand, er fand sie eisig und einen kleinen, fadenförmigen Puls an ihr, der aussetzte.

»Meine Tochter, verzage nicht. Die Barmherzigkeit wacht über dir. Siehe, der Tod naht dir als Erlöser.«

Sie schien zu erwachen; das Leben trat hinter ihr Gesicht wie eine Flamme.

»Nicht als Erlöser«, sagte sie undeutlich.

Sie wollte ihn nicht als Erlöser, nein, als Geliebten – ihn, die letzte Verwandlung ihres Lebens, in der Vollkraft seiner Schmerzen! ... Sie wand sich auf dem Rücken hin und her, sie kämpfte vergebens um ein Wort. Sie fühlte den ganzen Mut ihrer Seele auf ihre Lippen stürzen. Und ihren tiefen Qualen entstieg, unhörbar, aber blitzend wie Vogelflug aus der Nacht von Klüften, ein äußerstes Bekenntnis zu dem großen Leben und seiner Unerbittlichkeit.

»Sagten Hoheit etwas?« fragte Tamburini.

Plötzlich riß sie die Decken von sich, rang sich empor, machte zwei Schritte, schrie laut auf. Der Schmerz entrückte sie. Sie legte sich mit der Herzgrube auf eine Stuhllehne. Gleich darauf stand sie steil aufgerichtet und als ob sie lauschte. Ihr Gesicht färbte sich bläulich. Dann begann sie zu keuchen; der Atem kehrte wieder. In der Minute, als er ausgeblieben war, hatte sie gedacht: ›Also auf diese Weise – und so schnell.‹

 

Nein, es kam nicht schnell. Sie schleppte sich an ihr Lager zurück, sie ließ sich betten. Nana legte ihrer Herrin, die würgte und sich erbrach, Dampfkompressen auf. Rustschuk war vom Schrecken ins Vorzimmer gescheucht, wo er jammerte und plapperte. Es war voll von Leuten, die auf ihren Augenblick warteten.

Tamburini schloß die Tür des Krankenzimmers hinter sich und erteilte Befehle.

»Ist der Notar da? ... Gut, Cavaliere Muzio, die Frau Herzogin wird sogleich Ihre Dienste in Anspruch nehmen. Sie hat uns ihren Willen kundgegeben. Nur ein wenig Ruhe brauchen Ihre Hoheit, die Unterredung hat sie angegriffen ... Ärzte! Sind keine da? Was für eine Nachlässigkeit. Girolamo, Antonio, ihr lauft nach Ärzten. So viele wie möglich, hört ihr! Professoren!«

Der Vikar vervielfältigte sich. Er nahm einen Priester in die Ecke oder ergriff einen der Herren am Knopf, die mit dem Hut auf dem Kopf und in der Hand ein offenes Notizbuch zwischen den Gruppen hindurchschlüpften. Neugierige von der Straße quollen durch die unbewachten Türen des Sterbehauses. Die Treppe summte von Stimmen. Durch das wirre Hin und Her brachen Tamburinis Boten sich eine schwarze und zielbewußte Bahn.

»Filippo, ehe ich's vergesse: nach Santo Stefano! Der Pfarrer soll mit den heiligen Sakramenten kommen! Es ist nur für alle Fälle, wir werden es, so Gott will, nicht nötig haben, die Frau Herzogin erholt sich!«

»Da sind Sie!« rief er einem eleganten Herrn entgegen. »Sie können im ›Mattino‹ schreiben, daß die Frau Herzogin die Hälfte ihres Vermögens der Stadt Neapel vermacht, die andere Hälfte den Armen. Ein namhaftes Legat erhält der Heilige Vater.«

Er schob Rustschuk und den Notar gegen eine Wand.

»Das macht sich besser«, raunte der Vikar. »Wenn die Tatsache vollendet ist, erfährt man sie noch früh genug.«

Rustschuk trocknete sich wortlos die Stirn. Er war fahl und fürchtete umzufallen. Aber Muzio, ganz gelb in seinem blanken Röckchen, lächelte abgefeimt.

»Ich kenne die Dame«, sagte er mit spaßhaften kleinen Verrenkungen. »Man darf mit ihr nicht allzu viele Umstände machen. Sie ist eigensinnig, Monsignore glauben nicht wie sehr. Man sollte ihr zum Heil ihrer Seele die Hand führen bei der Unterschrift.«

»Das ist Ihre Sache«, entschied der künftige Kirchenfürst barsch. »Wir wissen nichts davon ... Hätten wir nur nicht soviel Zeit verloren. Die Kranke entfernte sich immer wieder von dem Gegenstande, auf den es ankommt. Es handelt sich doch um all das Geld!«

Muzio legte ihm nahe:

»Wenn Monsignore einmal nachsehen würden. Gewiß hat sie sich schon gebessert. Das geht rasch bei ihr, ich kenne sie.« »Sie haben recht, Muzio.«

Der Vikar schritt schnell und gnädig durch die auseinanderweichende Menge.

»Die Kranke verlangt nach mir«, erklärte er laut.

Aber vor der verschlossenen Tür stand ein breitschultriger Alter in der Uniform eines Jägers, die Reitpeitsche in der Hand.

»Öffnen Sie«, befahl der Vikar. Der Jäger sagte ruhig:

»Es tritt niemand ein.«

»Ich bin der Generalvikar.«

»Ich kenne Monsignore. Es tritt niemand ein, die Frau Herzogin leidet.«

»Du willst nicht?« fragte Tamburini und erhob die Hand.

»Nein.«

Und Prosper salutierte mit der Peitsche.

Man entrüstete sich, der Jäger wurde umdrängt und verteilte Stöße. Der Vikar rief seine Diener herbei. Es waren schwarzgekleidete, beschauliche Menschen mit friedevoll rasierten Lippen und wußten mit dem harten Greise nicht umzugehen. Einer bekam einen Hieb übers Gesicht, darauf legten die andern sich Zurückhaltung auf.

»Da ist der Arzt!« rief man von hinten. Ein kleiner, magerer Sechziger hastete wichtig herbei, in hellem Anzug, mit gefärbtem Schnurrbärtchen und zappelnd vor Jugendlichkeit.

»Die Frau Herzogin hat mich befohlen?« rief er in der Fistel. »Natürlich, wenn die Frau Herzogin die Hilfe der Wissenschaft braucht, bin ich der einzige, an den sie denkt. Ich habe Ihrer Hoheit ja schon einmal das Leben gerettet! Mit Gottes gnädigem Beistand, Monsignore, wird es auch diesmal gelingen.«

Der Vikar faßte ihn am Rockaufschlag.

»Doktor Giaquinto«, flüsterte er, »es handelt sich darum, das Leben der Frau Herzogin um eine Stunde zu verlängern. Hören Sie, um eine Stunde. Das übrige ist für Gottes und seiner heiligen Kirche Zwecke nicht von Belang.«

»Wenn – ich's zehnmal wollte, die ärztliche Kunst kann nicht weiter reichen als Gottes Wille«, versicherte der Doktor.

Aber Rustschuk wälzte sich schwankenden Bauches an den Arzt heran. »Tun Sie das Unmögliche, überbieten Sie sich, Doktor, erhalten Sie die Herzogin am Leben!«

Er flehte mit gerungenen Händen. Das Testament kümmerte ihn nicht. Er hatte nur den einen inständigen Wunsch, sie möge leben. Solange sie lebte, blieb ihm die Hoffnung, sie auch noch zu besitzen, wie alle andern.

Tamburini herrschte den Jäger an.

»Den Arzt werden Sie wohl einlassen.«

Prosper klopfte an die Tür, ein Spalt ging auf. Nana antwortete nach einer Weile, wenn der Doktor etwas gegen Asthma habe, dürfe er eintreten.

»Asthma bloß?« rief Giaquinto und erhob frohlockend beide Arme gegen die Versammlung. »Asthma ist ja meine Spezialität! Und Stramoniumzigaretten trage ich immer in der Tasche! Die Wissenschaft ist wohlausgerüstet!«

Er glitt hinein. Jemand hatte einen Fuß in den Spalt geschoben, zu seiner Beseitigung mußte Prosper einen Ringkampf bestehen. Inzwischen krochen die Leute mit den Notizbüchern ihm zwischen den Beinen durch, um zur Tür zu gelangen. Sie ward von innen geschlossen. Aber noch immer umtobte Aufruhr den Jäger; er hieb mit der Reitpeitsche um sich.

Ein Herr im dunkeln Überzieher, sehr bleich, mit roten Flecken unter den Augen, gab einen Seufzer von sich und taumelte gegen Prospers Schulter. Der Alte versuchte, ihn auf einen Stuhl zu setzen; aber Siebelinds Glieder waren nicht zu beugen. Er stand mit geschlossenen Augen, kalkweiß, und antwortete nicht. Endlich, mit einem zweiten Seufzer, wachte er auf. Es war ringsumher ganz still geworden. Noch sehr verwirrt, ohne zu wissen, wo er war, lallte Siebelind:

»Das kommt zuweilen vor, seit der dummen Geschichte damals mit Lady Olympia.«

Er besann sich:

»Um des Himmels willen, ich muß hinein zu ihr, ich habe ihr etwas von höchster Wichtigkeit zu sagen.«

»Später«, entschied der Jäger.

»Wenn die Herzogin wüßte, von wem ich Nachricht bringe, keine Sekunde würde sie leben wollen, ohne mich zu hören.«

Prosper benutzte den Augenblick der Ruhe, um den Knopf einer Klingel zu erreichen. Der Türhüter zeigte sich endlich mit zwei Lakaien. Der Jäger gab ihnen seine Anweisungen, und sie begannen den Gästen durch Wort und Tat zu verstehen zu geben, es werde Nacht, man schließe das Haus. Ein paar hohe Hüte rollten dabei die Treppe hinab, einige kleinere Einrichtungsgegenstände wurden unter den Röcken von Besuchern hervorgezogen.

Schließlich lagen die Gemächer menschenleer und im Schatten. Siebelind saß im Vorzimmer unter einem Fenster, die Hände gefaltet mit spitzen, rötlichen Knöcheln, und wiederholte sich unter trockenem Schluchzen:

»Ich werde sie niemals mehr sehen – sie, und ihr schönes Leiden. Ich darf nicht teil daran haben ...«

Rustschuk, ihm gegenüber, quoll und tropfte von Tränen. Tamburini stand aufgepflanzt in der Mitte und horchte, die Arme gekreuzt, nach dem, was drinnen der Doktor redete, hinter der Tür, die Prosper reglos bewachte. Der Notar Muzio reckte in seinem bescheidenen Versteck den gelben Hals lang aus und nickte zu allem wie ein schmutziger und weiser Vogel aus der Höhe.

 

Ehe der Doktor eintrat, hatte die Herzogin schon den Augenblick von Schwäche bereut, der sie verleitet hatte, ihn zu rufen. Sie winkte ihm zu gehen; er mißverstand sie.

»Herzogin sind zu gnädig. Ja, ich werde mir erlauben, diesen Sitz einzunehmen und ihn erst zu verlassen, wenn meine Kunst Eure Hoheit vollkommen gesund gemacht hat ... An Asthma leiden Hoheit, wie ich sehe. Das Atmen ist erschwert und tönend. In die Hände welches Pfuschers mögen Hoheit nur geraten sein? Welcher Ignorant hat Sie so zugerichtet?«

Er horchte. Die Kranke schob aufgeregt den Kopf durch die Kissen. Sie brachte ein Wort hervor.

»Wie? Das Rückenmark? Hoheit sollten sich keinen Einbildungen hingeben. Was hat denn ein gewöhnliches Asthma mit dem Rückenmark zu tun, frage ich. Hoheit als Laie können darüber gar nicht urteilen. Die Wissenschaft wird nach ernstlicher Prüfung zweifellos etwas ganz anderes herausbekommen ... Wie? Der Doktor Barbasson in Paris? Also das ist der Nichtskönner, der mir das Vertrauen Eurer Hoheit abgeschwindelt hat! Habe ich der Frau Herzogin nicht schon einmal einen wichtigen Dienst erwiesen? Habe ich Ihnen nicht in einem Augenblick gefährlicher Erschöpfung eine wohltätige Haft verordnet? In kürzester Zeit waren Sie hergestellt. Hätten Eure Hoheit sich auch diesmal meiner Kunst überlassen: ich bin überzeugt, daß es heute mit Eurer Hoheit nicht so stände, wie es steht ... Denn Herzogin dürfen sich nicht in Täuschung wiegen, es steht schlimm. Das sehe ich ohne weiteres mit dem Scharfblick der Wissenschaft. Um zu erfahren, wie schlimm es steht, werde ich eine genaue Untersuchung vornehmen.«

Er zog die Handschuhe aus. Der mühsame Widerspruch der Kranken ging unter in seinem Gekreisch. Sie zuckte und rang nach Luft. Nana mußte ihm helfen, ihre Herrin zu entkleiden. Sie richteten sie auf. Die Herzogin wandte das Gesicht weg. Ihre Büste stand wie aus Porzellan in scharfen Flächen und erhöht durch grellweiße Lichter in dem zurückgleitenden Linnen. Man hob ihr den Arm empor und deckte darunter die magere, dunkle Grube auf.

»Die Glieder sind eiskalt«, so stellte Doktor Giaquinto fest. »Kein Puls daran zu fühlen; höchst sonderbar. Die Wissenschaft wird die Erscheinung aufklären. Der Unterleib ist schmerzfrei, auch bei Druck. Also in der Herzgrube sind wir empfindlich? Herzzittern haben wir? Und der Schmerz erstreckt sich über die linke Schulter und den linken Arm? Aha ... Wie? Auch im Rücken tut es weh? Dort dürfte es durchaus nicht weh tun! Es ist doch nur Asthma! Ich leugne, daß es mit dem Rückenmark im geringsten etwas zu tun hat! Wir werden sehen, die Empfindlichkeit ist eingebildet, einfach hysterisch ...«

Er strich mit seiner hornigen Hand das Rückgrat hinab. Die Herzogin schrie auf; der Schmerz gab ihr plötzlich den Atem zurück.

»Lassen Sie mich! Nana, das Fenster öffnen!«

»Nicht öffnen!« rief der Greis und betupfte sein luftiges Seidenhemd. »Es weht eine starke Tramontana. Die Frau Herzogin wird sich erkälten.«

Sie betrachtete ihn flüchtig.

»Nana, hilf dem Herrn seinen Mantel anlegen.«

Sie nahm ein paar Züge der kalten Luft.

»Der Kopf ist unbenommen«, sagte der Doktor. »Es wird sich machen, nur keine Angst. Solange ich da bin, geschieht Eurer Hoheit nichts. Da habe ich gewisse Zigaretten, denen hält kein Asthma stand.«

Sie erkannte erst jetzt: »Ah! Tamburini schickt ihn.« Sie sagte:

»Sie wollen mir Opium geben? Aber ich habe keine Zeit, mich betäuben zu lassen. Gehen Sie!«

»Wie? Eure Hoheit verweigern die Wohltaten der Wissenschaft? Eure Hoheit tun sehr unrecht. Man wird leider annehmen müssen, daß Eure Hoheit nicht mehr die Kraft besitzen, über sich selber zu bestimmen. Man wird Sie gegen Ihren Willen retten müssen. Mußte ich das nicht schon einmal?«

Er entzündete ein Wachskerzchen und hielt eine Zigarette in die Flamme. Der Rauch schlug der Kranken ins Gesicht, sofort sank sie zurück, laut röchelnd. Sie machte eine Bewegung mit der Hand, Nana stürzte zur Tür.

»Prosper!«

Der Jäger erschien auf der Schwelle; er ließ drei Herren eintreten. Der Doktor Giaquinto erwartete sie mit würdiger Zurückhaltung. Sie waren alle drei jünger als er, und sie waren Professoren der Universität. Man hatte sie aus den Theatern geholt. Im Krankenzimmer waren sie auf einmal steif, wächsern, unnahbare Würdenträger des Nichts. Neben ihnen deuchte der Herzogin ein Giaquinto liebenswert. Er war immerhin Mensch.

»Zunächst«, sagte Giaquinto, die Rechte in der Weste, »leugne ich mit aller Entschiedenheit, daß der Zustand der Kranken vom Rückenmark ausgeht. Sollten die Herren Kollegen das Gegenteil befinden, so ziehe ich mich sofort zurück.«

Er geleitete die drei an das Lager. Sie ließen sich, über die zu Untersuchende gebeugt, wortlos die Symptome berichten. Sie waren Idole, denen die Krankheiten zugeschleppt wurden wie scheußliche Mahlzeiten: sie rührten sich kaum. Am Ende sahen sie sich an, und einer sprach für alle die Worte, gegen die es keine Berufung gab.

»Die Frau Herzogin leidet an Brustkrampf, Asthma cardiacum, krankhafter Erregung der Herznerven, hervorgerufen durch Rückenmarksreizung, Irritatio spinalis primaria. Im ganzen Lauf der Rückenwirbel haben wir die größte Empfindlichkeit gegen die leiseste Berührung, besonders der Herzgrube gegenüber. Insgesamt das Bild eines hysterischen Krampfzustandes, doch ohne nachweisbare entzündliche Erscheinungen. Tun Sie die Zigaretten weg, Herr Kollege, sie sind zwecklos. Wir nehmen eine Ableitung vor durch ein Seifenbad.«

Doktor Giaquinto senkte den Kopf. Schließlich verlangte er, wenn man schon auf die schmerzhaften Rückenwirbel wirken wolle, einen tüchtigen Blasenzug.

»Noch besser, den Rücken mit Bürsten bearbeiten! Haha! Sie sollen sehen, es hilft alles nichts. Denn es ist eben gar nicht das Rückenmark!« rief der Alte, klagend vor Eigensinn.

Man hörte nicht auf ihn. »Sorge für ein Seifenbad!« sagte einer der Herren zu Nana. Aber die Kammerfrau stand, ganz erstarrt von soviel kalter Schicksalsmacht, mit ausgebreiteten Armen vor ihrer Herrin.

»Die Frau Herzogin haben mir befohlen«, stotterte sie, »man soll die Frau Herzogin in Ruhe lassen. Die Frau Herzogin brauchen keine Hilfe.«

Giaquinto riß den Mund auf und hob die Arme. Aber die drei verharrten unbeteiligt in lebloser Erhabenheit wie Idole, denen die Schlachtopfer ausblieben. Unerwarteterweise kehrten sie um und traten in ihren Winkel zurück, als trüge man sie wieder in ihren Tempel. Der Sprecher erklärte:

»Wir werden nichts ohne den Willen der Patientin unternehmen. Wir werden warten. Die Kranke hat Augenblicke, wo das Asthma durch einfaches Herzklopfen ersetzt wird – wo sie naturgemäß Mut faßt und sich einbildet, das ärztliche Eingreifen entbehren zu können ... Aber es treten schon allgemeine Krämpfe ein. Die Krämpfe des Zwerchfells und der übrigen Respirationsmuskeln nehmen zu an Heftigkeit und Dauer. Wir haben Krämpfe der Stimmritze mit Erstickungsgefahr und Cyanose ...«

»Sehr wahr!« krähte Doktor Giaquinto und rieb sich ingrimmig die Hände. »Ganz blau ist sie! Oh, sie wird sich nicht mehr lange sträuben! Sie wird der Wissenschaft nicht mehr lange Widerstand leisten!«

In der Tür erschien Prosper, er hielt einen Briefteller. Er schlich bis vor die Füße seiner Herrin, legte die Hand an die Hosenstreifen und wartete, ob sie ihn hören könne. Es war still im Zimmer; nur der Atem der Herzogin pfiff, ein dünnes, oft unterbrochenes Rinnsal von Luft, durch ihre Kehle, stockte, kehrte wieder, versagte ganz und entlud sich auf einmal und mit Rasseln, indes der Hals der Erstickenden, angstvoll sich windend, den scharfen Umriß seiner Muskeln hinhielt.

Der Jäger schluckte hinunter.

»Frau Herzogin verzeihen«, meldete er stramm, »es ist ein Paket mit einem Bilde da, es kommt aus Maderno ... Und dann ein Brief, wenn Hoheit gestatten, der Absender steht auf der Rückseite, es ist Frau Gina Degrandis.«

Sie hob den Kopf; niemand hatte es gehofft, denn sie schien auszuatmen.

»Was wollte man mir geben?« fragte sie klar. »Ein Seifenbad? Also schnell.«

Nana eilte hinaus.

»Wie lange Zeit werde ich haben?« fragte sie noch und sank zurück, zuckend vom Krampf.

Giaquinto frohlockte.

»Solange Eure Hoheit belieben. Nur die Aussprüche der Wissenschaft müssen Sie achten.«

Er lief ins Vorzimmer, den Professoren voraus.

»Die Frau Herzogin ist gerettet, sie bekommt ein Seifenbad!«

»Ist ein Journalist da?« fragte einer der Professoren.

»Dieser elende Jäger hat alle hinausgeworfen«, sagte Tamburini.

Als man wieder hinsah, war der Professor fort. Ein anderer äußerte bitter:

»Ich verzichte gerne auf die Presse. Es liegt mir gar nichts daran, daß man erfahre, ich habe dabeigestanden, als eine Herzogin starb.«

Und er schritt aufrecht hinaus. Der Sprecher sagte:

»Ich tue meine Pflicht, ich komme wieder in drei viertel Stunden. Länger als eine Stunde wird die Patientin nicht leben.«

Doktor Giaquinto wartete, bis die Tür sich geschlossen hatte. Dann geriet er in Aufruhr.

»Diese hochnäsigen Besserwisser! Wollen einen alten Praktiker belehren! Erst diagnostizieren sie Krankheiten, die ein Pferd umbringen, und dann wollen sie sie mit ein bißchen Seifenwasser beseitigen.«

»Sagen Sie die Wahrheit, Doktor, wie lange Zeit hat die Kranke?«

»Ich hin ein ehrlicher Mann ... Exzellenz belieben doch bitte nicht so schrecklich zu heulen!« schrie er dem fassungslosen Rustschuk zu. »Ihre Hoheit werden morgen beim Frühstück ihr Testament unterschreiben.«

»Ist das Ihre Überzeugung?«

»Lassen wir die Frau Herzogin zur Sicherheit schon um drei Uhr frühstücken. Solange erhalte ich sie Ihnen und der heiligen Kirche, oder machen Sie mit mir, was Sie wollen, Monsignore! Ich gebe ihr Moschus und Opium, ich spritze ihr Äther ein, bis sie tanzt und singt!«

»Es wäre ein großes Unglück«, erklärte der Vikar schlicht, »wenn die arme Frau nicht mehr dazu gelangte, ihre Seele zu retten, und wenn der Kirche das Geld entginge – all das Geld!«

»Ich würde auch gewünscht haben«, klagte Rustschuk, »sie hätte ihr Geld vernünftig verwendet, wenigstens nach ihrem Tode.«

»Sie wird es ja tun, meine Herren«, rief der Doktor.

»Sie wird es nicht tun«, entschied Siebelind unhörbar. »Wenn sie all ihr Leiden und ihre Demütigung durch ein christliches Testament bekräftigte, es wäre schön. Sie wird es nicht tun. Ich habe alles in allem nie und nirgends einen Heiden gesehen, wie diese Frau einer war.«

»Drum wird man mit ihrem Vermögen die Heiden bekehren«, sagte Muzio, der danebenstand, den Finger weise erhoben.

»Und die wundervolle Grabrede, die ich dieser großartigen Bekehrten gehalten hätte!« versetzte der Vikar, die Arme gekreuzt, die Stirn gesenkt. »Ich hätte gesagt –«

»Das Krankenzimmer ist abgeschlossen«, zischte der Doktor heftig erbittert. Er klopfte mit allen Knöcheln. Prosper öffnete einen Spalt, er erklärte ziemlich höflich:

»Die Frau Herzogin sind vom Bade sehr erschöpft, sie haben Schlummer und ersuchen die Herren um eine Stunde der Ruhe. Hernach werden sie den Herrn Arzt zu sich bitten.«

Und er schloß die Tür.

»Sind wir sie los?« fragte die Herzogin ihn. »Dann gib her, Prosper.«

Im Vorzimmer sahen Tamburini, Muzio und der Doktor einander in die Augen: »Es ist nichts zu machen!« Darauf gab der Vikar ein Zeichen, sie knieten hin, alle drei in einer Reihe, und jeder lehnte die Handflächen zusammen. Siebelind warf sich hinter sie zu Boden mit schauriger Begeisterung. Rustschuk ließ sich unter feuchten Seufzern mühsam nieder. Der Vikar sprach eintönig und schallend:

»Heiligste Jungfrau Maria, wir bitten, daß durch deine Hilfe diese arme Seele in der letzten Stunde den Weg der Gnade finde.«

 

Sie hatte, um von den Eindringlingen nichts hören zu müssen, ihr Ruhebett in das nächste Zimmer tragen lassen. Es war ein Saal, den viele Säulen stützten und weite Mosaiken beglänzten.

Sie lag mit dem Rücken hoch gebettet, die Gliedmaßen vom Bade erwärmt, mit schnellem, sehr schwachem Puls; und sie hielt sich ganz still, in der Sorge, diese leise, schmerzlose Ermattung, die das letzte Stück besonnenen Daseins war, für die kommende halbe Stunde zu ersparen. Nachher, das fühlte sie voraus, kam das plötzliche Versinken ... Und es gab noch zu tun.

»Gib her, Prosper.«

Der Jäger reichte ihr den Teller mit Briefen. Jakobus meldete ihr ohne weiteres die Absendung ihres Bildes.

Gina schrieb von Genua aus dem Hospital. Sie sterbe mit ihr. »Nino geht uns voran. Ich bin herbeigeeilt, um, selber verurteilt, seinen letzten Atem mit meinen Lippen zu empfangen. Könnte ich sie auf die Ihrigen legen!

Jenes Bild behält recht: er geht uns Frauen mit seiner Ampel voran. Ich habe geglaubt, er leuchte uns in die Gefilde der Kunst; nein, der Garten, wohin wir ihm folgen, gehört dem Tode. Aber wir folgen ihm! ... Gönnen Sie ihm zwei Worte, die ihm Mut machen!«

»Der Herr von Siebelind«, sagte Prosper, »bittet die Frau Herzogin, diesen Zettel zu lesen; es sei wichtig.«

Siebelind schrieb:

»Ich muß Ihnen ein letztes Unheil schicken; mein Gewissen will es. Ich darf Sie nicht schonen. Sie sollen die Rechtfertigung des Leidens ganz haben, und die Schönheit, ganz geschlagen zu sein.

Er ist in Genua in einem verrufenen Hause umgekommen. Er ging die dunkle Treppe hinunter, und von den Balken darüber fiel ihm ein Körper auf die Schultern: ein kleiner, arg verwachsener Mensch, der auf seinem Nacken ritt, ihn umwarf, ihn würgte und stach. Am Morgen fand man ihn beraubt und halbtot irgendwo in der Gosse.«

Sie ließ sich Papier und Feder geben und schrieb, auf Prospers Arm gestützt:

»Siehst Du, nun treffen wir uns beim Sterben. Ich weiß, ich werde als letztes Bild vor Dir stehen, so wie mein letzter Blick auf Dich gerichtet sein wird. So sieht das nächste Mal aus, an das Du glaubtest – und wir wollen glücklich sein. Sei ganz sicher, daß ich nie jemand geliebt habe als Dich!«

»Das muß gleich aufs Telegrafenamt getragen werden.«

Der Jäger lieferte die Depesche am jenseitigen Ausgang einem Lakaien ab. Dann stellte er Jakobus' Bild vor sie hin. Sie ließ ihn alle Flammen aufdrehen. Große Büschel elektrischen Lichts vergewaltigten hart die Dämmerung. Der kalte Prunk des Saales blitzte auf. Und in der weißen Helle sah die Herzogin in das plötzlich entschleierte Gesicht ihrer letzten Verwandlung.

Sie stand im hohen Kahn auf dem Nebelmeer, die Brust flach unter dem fahl gleißenden Panzer, schwarzes Haar am Rande des Helmes, der matt herausschien aus Wolken, und die müde, blasse Hand auf den Schwertknauf gestreckt. Sie war die Jungfrau, die, von allen Gewalten des heißen Lebens verwüstet, im Glanze einer anderen, unangreifbaren Reinheit von dannen fuhr.

Ihr Maler hatte mehr gemalt als ihr Sein und mehr als ihr Vergehen. Aus diesem weißen Gesicht, das kühl erhoben über das Leben hinwegsah, grüßten im Verscheiden die großen Träume von Jahrhunderten. Diese glatte Rüstung und dies kalte Schwert funkelten unbesiegbaren Stolz. Und die Blässe des Todes rief auf dieses Gesicht eine zweite Unschuld. Es war wieder das der zwanzigjährigen, unbekümmerten Siegerin. Was damals die Unberührte nicht wußte – die Sterbende hatte es vergessen. Das Leben, das damals noch hinter ihrer Schulter lächelte, war inzwischen aus der Sehweite ihrer großen, starren und hellen Augen entflohen. Nun stand wie gereifte Saat der vielfache Tod in ihr auf. Es zog in den Augen der sterbenden Assy der lange Leichenzug all derer vorbei, in denen sie vormals schon gelebt hatte.

Mit gefalteten Händen, spitzen Füßen und aus Eisen reckten sich auf ihren Sarkophagen die einen, und Mönche hüllten sie in Gebetmurmeln. Jener andere strahlte bleich und groß von den Fackeln nackter Knaben, die seine Bahre umringten. Die Toten waren zart geschminkt und zierten sich mit gemaltem Lächeln, oder sie grinsten fürchterlich aus fahl geränderten Wunden ... Sie alle starben aufs neue und endgültig. In dieser Frau, die leise zu Ende ging, entschwankten mit majestätischem Getöse ihre zahllosen Katafalke. Alle ihre Schönheiten waren noch einmal erstanden in dieser Frau. In ihr hatten alle ihre Leidenschaften noch einmal aufgeschrien. Nun versiegte mit ihr der letzte Blutstropfen, der ihnen gehört hatte. Mit ihr erstarrte ihrer aller letzte Begierde, zerbrach ihre letzte Geste und senkte seinen Flügel ihr letzter Traum.

 

Sie entwarf einige Zeilen an Jakobus, um ihm zu danken und ihm zu sagen, daß sie beide recht getan hätten, damals, als sie sich begehrten, sich genossen und miteinander kämpften. »Dies Werk gibt uns zuletzt recht – und alles ist gutes Schicksal.«

Aus dem Vorzimmer schrillten falsche Töne der Grabrede, die Tamburini im voraus zum besten gab. Er war bei der Einleitung und sagte kraftvoll:

»... Ich wollte, daß alle von Gott entfernten Seelen, daß alle diejenigen, die sich vorreden, man könne sich nicht selbst überwinden, noch seine Standhaftigkeit bewahren inmitten der Kämpfe und Schmerzen; kurz, daß alle, die an ihrer Bekehrung oder ihrer Ausdauer verzweifeln, zugegen gewesen wären beim Tode dieser Frau! ...«

»Komm her, Prosper, da hast du einen Scheck auf die Bank von Frankreich. Dort bekommst du, ohne daß dir jemand Schwierigkeiten machen kann, soviel als ihr alle braucht, du und Nana und die anderen. Du verteilst es nach Verdienst ... Und nun gib mir die Hand, ich muß dich verabschieden.«

Der Alte murmelte:

»Frau Herzogin sagten einmal, als Don Saverio mich fortschickte, Sie würden es niemals tun – mich niemals verabschieden.«

»Und sieh, nun tue ich's doch. Aber gewartet hab ich bis zur letzten Viertelstunde, das mußt du mir zugut halten.«

»Aber die letzte Viertelstunde der Frau Herzogin, die sollte nicht kommen«, sagte der Jäger, verstört, mit brechender Stimme. »Wo bleibe ich?«

»Du darfst noch dableiben – solange ich da bin. Sage, wirst du nun in die Heimat zurückkehren, dir ein Gütchen kaufen?«

»Frau Herzogin halten zu Gnaden, ich weiß nicht mehr, wohin ich gehöre, wenn die Frau Herzogin mir einmal nicht mehr befiehlt, ihr zu folgen, hierher oder dorthin.«

»Es ist wahr, das tust du seit so langer Zeit. Hast du keinen Freund?«

»Zu Hause in Dalmatien hatte ich einen. Wir liebten uns sehr, er hatte mir das Leben gerettet. Aber er gehörte zu den Feinden der Frau Herzogin, darum sagte ich ihm, es sei aus zwischen uns.«

»Hättest du dich nicht verheiraten wollen?«

»Ein Weib in Zara wollte mich; ich hätte sie genommen. Aber sie besaß eine Wirtschaft und verlangte, ich solle dableiben. Wie konnte ich – da ja die Frau Herzogin fortgingen.«

Sie betrachtete ihn, er war schön, dieser Alte, kraft seiner langen Ehrfurcht. Sie sagte ihm:

»Und alle deine Entsagungen tragen dir nur die eine Belohnung ein, daß deine Herrin es durch dich ein wenig besser gehabt hat. Genügt dir das?«

Er kniete hin, sie gab ihm beide Hände, er küßte sie langsam, leise, andächtig. Durch die verschlossenen Türen schallte ehern die Stimme des Vikars:

»... Ihr Tod sah aus wie eine heilige Handlung ... Denn wie das Wasser das Feuer löscht, so das Almosen die Sünde! Und ihre ist ganz ausgelöscht! ...«

»Prosper«, sagte sie schläfrig, »drehe das Licht ab, es stört mich. Zünde die drei Kerzen an auf dem Armleuchter hier neben mir.«

Sie hörte die eigene Stimme wie im Nebel, und sie meinte einzusinken in etwas Weichem, Dumpfem, worin die Sinne nur noch halb wachten und die Träume auf samtenen Fußsohlen und eilig vorüberliefen. Sie schloß die Augen. Im hellen Schlummer war's ihr, als kehrte sie von einer Reise zurück – zurück aus dem schwarzen Lande, wo man litt. Die wilden Schmerzenslandschaften blieben hinter ihr. Die Steine, die unter den Rädern ihrer Kutsche gekracht hatten und sie gemartert und ihr den Atem genommen hatten, waren fort. Sie fuhren nun sanft über den feuchten Strand eines Meeres, das weite, flache Wellen rollte; und sie stiegen aus, Nino und Yolla.

Sie standen aneinandergelehnt vor dem Meer und starrten mit ihren Seelen in ein blutig rauchendes Abendrot. Es kamen ihnen Gedanken, die kein Wort entsiegelte und die nur das tiefe Heraufzittern ihres unsäglichen Stolzes waren.

Ganz ferne strengte eine grobe Stimme sich an:

»... Allen Ruhm ihrer Vorfahren hat sie übertroffen dadurch, daß sie sich unterwarf und in Demut litt ...«

Sie erblickten, über die Meeresweiten hingeschoben, ein Feld mit langen Zügen zerrissener Bogen, die das Feuer des Abends erfüllte – mit starken Grabmälern, Zypressen golden gerändert, und vielen Reitern, die dahinjagten.

Jene Stimme erhob sich wieder:

»... Die Grabstätte großer Menschen ist die Welt, sagt ein Heide. Wir aber sagen mit dem heiligen Bischof Ambrosius: Mögen die weinen, die auf kein neues Leben hoffen! ...«

Sie erstiegen zusammen die Stufen eines schimmernden Terrassenbaues. Ihn krönten weiße Tempel und bevölkerten Statuen, stumm, in unerbittlicher Schönheit. Zwischen bleichen Säulen, von Lorbeer umraschelt, spähte aus der Tiefe das fahle Meer. Sie atmeten kaum.

Es schrie dort hinten:

»... Ihre letzte Stunde war dem Nachdenken gewidmet über die Irrtümer des menschlichen Lebens. Die Ewigkeit trat ihr vor Augen als der einzige, des Menschenherzens würdige Gegenstand ...«

Und sie befanden sich am Rande eines alten rostigroten Gartens, wo heiße Tiere umherschlichen, grimme Flöten gellten und große Giftblumen einen blutigen Saft verspritzten.

»... Nur wer kein Erbe an Liebe hinterläßt, den freut nicht seine Urne! so ruft der Dichter. Vereinigt euch alle, ihr Christen, die ihr sie geliebt habt, Einheimische und Fremde: helft mir, ihr Lob zu vollenden. Jeder von euch erzähle eine ihrer Tugenden und verweile bei einem rührenden Zuge aus ihrem Leben ...«

Die Sterbende schrak empor. Sie war allein, und sie fühlte sich gewürgt. Sie besann sich; es war der Krampf, der letzte, der nun ihre Brust packte. Sie sammelte den Rest ihrer Kraft, sie richtete den Nacken auf, sah sich um. Prosper stand, Brust heraus, Hände an den Hosenstreifen, zur Seite der Tür, bereit, noch einmal zu grüßen, wenn sie noch einmal vorüberkäme.

Ihr gegenüber dämmerte das Bild, worauf sie starb.

Sie griff nach dem Kandelaber mit drei Kerzen. Durch die erste Flamme, schien ihr's, lief eine schlanke Frau in kurzem Chiton, den silbernen Bogen auf der Hüfte. Die Flamme starb zwischen den Fingern der Herzogin. In der zweiten, meinte sie, stand aufrecht eine andere, in geraden Falten, mit Helm und Speer. Die Herzogin zerdrückte die zweite Flamme. Ihre Finger umzingelten langsam die letzte. Es lag darin, den Kopf ins Feuer zurückgeworfen, eine dritte, mit schwellenden Brüsten, und öffnete gewaltige Glieder.

Und plötzlich stürzten von Decke und Wänden übereinander die weiten Schatten.

Die Herzogin fiel zurück, mit dem Gesicht auf die rechte Seite, röchelnd mit offenem Munde. Der Atem blieb ihr vollends aus – da sah sie, klaren Geistes, in der Dunkelheit einen Jüngling erscheinen. Er lehnte sich gegen eine Säule und hielt die Hände hinter dem Kopf gekreuzt. Sein Fuß trat lässig auf eine ausgelöschte Fackel. Er war nackt. Er deuchte ihr sehr schön. Er hatte große, aufwärts gebogene Locken, seine Augen blitzten blau, sein Mund mit kurzer, roter Lippe war vor Kühnheit fast töricht.

Draußen wurden die Worte entschleudert:

»Tochter Björn Björnsides, steige auf gen Himmel!«

Die Herzogin errang einen letzten Atemzug. Die Stirne feucht und kalt und brechenden Blicks lächelte sie hinüber in den Schatten. Und sie fühlte, es lächele im Schatten.

*

 


 << zurück