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IV

Die Einwohner von Palestrina liefen hinunter auf die alte Straße, die ihre Bergstadt mit Rom verbindet. Es trieb sie an, von weitem auszuschauen nach dem Kardinal. Endlich sollte er Besitz ergreifen von dieser suburbanen Diözese, die der neue Papst ihm verliehen hatte. Er trug einen deutschen Namen, den keiner behalten konnte.

Der schwarze Wagen rollte schwerfällig herbei; aus den Gärten, den Abhang hinauf, winkten ihm Tücher und grüßten ihn Kränze. Er schlich, vom Volke umringt, das Hoch schrie, mühsam den steilen Platanengang hinan, und er rasselte auf den geschmückten Platz. Böllerschüsse krachten; da sah man einen noch jungen Mann aussteigen. Wo war sein rotes Käppchen und wo die Scharlachstreifen an seinem Kleide? Die Gemeinde schwieg enttäuscht. Aber sie wartete auf Feuerwerk, Konzert und Lotto. Darum fand sie sich darein, daß statt des Kardinals nur sein Vikar erschienen war, der Monsignor Tamburini.

Sie geleiteten ihn durch die engen Treppengassen hinauf zu den Kapuzinern, bei denen er übernachtete. Am nächsten Morgen besuchte er, auf Schritt und Tritt von schmetternder Musik begleitet, das Nonnenkloster. Die Oberin empfing ihn in dem kühlen Hofe, wo von den arabischen Säulchen junge Rosen hingen. Nach der Begrüßung schob sie die Gartenpforte zurück und lud den Vikar in die Vigne. Unter dem schweren Blau des Augusthimmels woben die Weinblätter ihren schwanken Schatten über einen schmalen Felsgrat hin. Am Ende des Weges, wo jäh die Wand abfiel, stand ein Marmortisch, und es saß eine Dame davor, das Gesicht auf die Landschaft gerichtet. Sie sah rechts aus einem Gewoge blauer Kuppen den Soracte emporsteigen. Geradeaus dämmerte ein Wall von grauem Duft, näher und entfernter, den Horizont entlang: Albaner- und Volskergebirg. In der Lücke zwischen ihnen glitzerte weiß eine Ahnung des Meeres. Die braune Campagna dehnte sich in sommerlicher Verlassenheit, fieberglühend bis in jene Ferne.

Der Vikar flüsterte neugierig:

»Wen habt Ihr dort, eine Dame?«

»Sie ist es eben«, erwiderte die Oberin, »wegen derer ich Monsignore hierherführe. Sie ist uns eines Abends ins Haus geschneit und geht nicht mehr fort. Was sollen wir tun?«

»Zahlt sie?«

»Sehr gut.«

»Wie heißt sie?«

»Sie hat einen Namen genannt, den sie später selbst wieder vergessen hatte. Ich möchte schwören, daß es nicht der ihrige war.«

Monsignor Tamburini lächelte.

»Ein Roman? Was Ihr für ein Glück habt, hochwürdige Mutter! Bekommt sie Briefe?«

»Einmal war am Tore ein Mann aus Rom und brachte ein Paket Wäsche. Ich habe es untersucht, es war Geld darin, aber nichts Schriftliches. Es ist alles sehr geheimnisvoll und fast ängstlich.«

»Wir werden sehen«, sagte selbstbewußt der Vikar. Er raffte seine Soutane über die Füße hinauf, daß die violetten Strümpfe zum Vorschein kamen, und durchmaß mit großen Schritten, sich kräftig räuspernd, die Vigne. Die Fremde wandte sich nach ihm um und dankte ihm für seinen Gruß. Ihre Züge dünkten ihm eigentlich bekannt. Er stellte sich vor und fragte:

»Nicht wahr, gnädige Frau, der Anblick dieses Landes fesselt uns wochenlang.«

Die Dame versetzte:

»Es ist schön, aber ich bin nicht deswegen hier. Ich bin die Herzogin von Assy.«

Er fuhr zusammen.

»Ich hätte es fast erraten!« stotterte er. »Man kennt ja Eure Hoheit aus den illustrierten Blättern!«

Indessen er sie anstarrte, dachte er: ›Die Oberin, das furchtbare Gänschen, hat also recht, wir erleben Abenteuer.‹ Er sammelte sich.

»Welch seltsames Zusammentreffen! Hier im weltfernen Klostergarten finde ich die hohe Frau, die Heldin und die Märtyrerin, deren großartigem Kampf für eine heilige Sache wir alle voll atemloser Angst gefolgt sind ...!«

Er redete mit eherner Stimme, seine mächtigen Hände griffen aus. Er hatte die niedrige, durch eine Haarsträhne geteilte Stirn, die kurze, gerade Nase und das starke Untergesicht des Römers und stand bieder und massig vor sie hingepflanzt; doch unter ihren schweren Lidern prüften seine kleinen Augen sie, beweglich und tiefschwarz. Die Herzogin lächelte:

»Heldin – kaum. Märtyrerin – ich weiß nicht. Jedenfalls keine besonders tapfere, da ich mich hier verkrochen habe. Aber, glauben Sie mir, Monsignore, die Langeweile verleiht Mut. Bevor Sie kamen, hatte ich gerade fünfmal gegähnt, und kaum erblickte ich Sie, war ich entschlossen, mich Ihnen zu erkennen zu geben.«

»Sie haben Furcht gehabt ... vor ...?«

»Ganz recht. Vor der Auslieferung.«

Er hatte sich nicht denken können, was sie fürchtete. Sie hielt sich also für verfolgt? Wie unnötig! Die Machthaber in ihrem Lande waren gewiß sehr froh, sie los zu sein. Seither war es dort beinahe still geworden, wußte sie das nicht? Er öffnete den Mund, um es ihr zu sagen, schwieg aber und wiegte den Kopf. Wenn sie Furcht hatte, warum wollte er sie ihr nehmen? Aus der Furcht eines andern ließ sich immer irgendein Vorteil ziehen. Er sagte fett und überzeugt:

»Hoheit, ich verstehe das.«

Er hatte nachgedacht und belebte sich.

»Die jetzige räuberische Regierung Italiens ist stets zu jeder Schandtat bereit. Die Tyrannen Ihres Heimatlandes brauchen bloß in Rom den Wunsch zu äußern, und Sie, Frau Herzogin, werden schonungslos ausgeliefert.«

»Sie glauben?«

»Da gibt's keinen Zweifel. Solange Sie allein und schutzlos sind, heißt das.«

»Wer sollte mich schützen?«

»Das kann nur ...«

»Wer?«

»Die Kirche!«

»Die Kirche?«

Er ließ sie nachdenken.

»Warum nicht«, äußerte sie schließlich.

»Vertrauen Sie sich der Kirche an, Frau Herzogin! Die Kirche vermag mehr, als Sie ahnen. Was ohne sie fehlgeschlagen ist, vielleicht – vielleicht gelänge es mit ihrem Beistande!«

Sie überhörte seine gedämpfte Andeutung.

»Ich könnte dann in Rom frei umhergehen?« fragte sie.

»Frei und sicher, ich bürge dafür.«

»Nun dann – meinetwegen. Und rasch, Monsignore, rasch! Sie sehen, ich langweile mich.«

»Sofort, Frau Herzogin. Heute abend, nach Beendigung des hiesigen Festes. Ich hole Eure Hoheit in meinem Wagen ab.«

Er verabschiedete sich mit geistlichem Anstande. Draußen erwartete ihn das Orchester. Unter Marschgebläse gelangte er zum Dom und zelebrierte das Hochamt. Am Abend, als vom Stadtplatz zum stahlblauen Sternenhimmel Raketen schossen, hielt sein Wagen an der Klosterpforte. Sie öffnete sich halb, die Herzogin bestieg das Gefährt. Sie reichte der knicksenden Oberin die Hand, das Gesicht der Alten ruhte elfenbeinfarben im Frieden ihrer weißleinenen Flügelhaube. Hinter den kleinen Öffnungen in der kahlen gotischen Fassade spähten die müden Augen junger Nonnen.

Der Vikar erreichte mit seiner unverhofften Begleiterin auf einem Seitenwege die Campagna. Die Pferde mußten laufen; um elf Uhr waren sie beim Tor, kurz darauf auf dem Monte Celio. Dort stand das kleine Haus eines Prälaten, der plötzlich nach dem Orient entsandt war. Es war vollständig möbliert zu vermieten. Die Herzogin übernachtete darin. Am Morgen war sie entschlossen, dazubleiben.

Das Häuschen lag auf dem Rücken des verlassensten der römischen Hügel, in der Tiefe eines verwilderten Gartens. Davor, auf dem von zerbröckelnden Mauern eingehegten, ungepflasterten Platze sonnte sich die Navicella, das bemooste, geborstene Brunnenbecken in Schiffsgestalt. Es träumte von Tagen, als drüben Trinitarierritter klirrend auf die Schwelle ihres Hauses traten. Noch erhob sich über der verschlossenen Tür das Sinnbild des Ordens, ein weißer und ein Mohrensklave, die zur Rechten und zur Linken des segnenden Christus von ihrer Befreiung zeugten. Aber die Front ragte vor zusammengesunkenen Wänden ins Leere. Das Geräusch weniger Schritte verirrte sich an den Ort. Vom Kloster der heiligen Johannes und Paulus her schlürften manchmal durch den Bogen des Kaisers Dolabella die Sandalen eines Mönches.

Seitwärts unter ihrem überspringenden Dache hatte die weiße Villetta der Herzogin einen Pfeilergang. Von dort erblickte sie, eingerahmt von den beiden Zypressen, die an ihrem Gartengitter sich zueinander neigten, das Kolosseum und das Trümmerfeld des Forums.

Im Innern klapperten die Absätze auf roten Fliesen. Die Zimmer waren dunkel tapeziert oder geweißt. Die Möbel luden durch Formen und Stellungen zum Meditieren ein oder zum Beten. Etwas Sachtes und leicht Dumpfiges hing wie unsichtbare Spinnengewebe in allen Räumen; es glich einer Erinnerung an alte Bücher, schwarze, behutsam gleitende Gewänder und längst abgestandenen Weihrauch. Die Herzogin dachte an Monsieur Henry, ihren spottsüchtigen Lehrer.

›Ich will ihm doch schreiben, wohin ich nun geraten bin.‹

Sie benachrichtigte Pavic. Er stellte sich alsbald ein und brachte San Bacco mit. Der Freiheitskämpfer ging feierlich auf sie zu; sein Gehrock war über den Hüften zusammengeschnürt und stand oben offen. Blitzenden Auges sagte er:

»Willkommen, Herzogin, im Exil!«

»Marquis, ich danke Ihnen!« erwiderte sie mit leiser Parodie seines tragischen Tonfalls.

Pavic trat vor.

»Eure Hoheit taten einen folgenschweren Schritt, als Sie, ohne den Rat Ihrer Freunde einzuholen, Ihr sicheres Asyl verließen.«

Sie hob die Schultern.

»Lieber Doktor, haben Sie sich denn eingebildet, ich würde mein Leben im Kloster beschließen?«

»Wir hofften, Sie würden Geduld haben, nur noch eine Weile. Man arbeitete für Sie.«

»Wir arbeiteten für Sie«, wiederholte San Bacco. Die Herzogin meinte:

»Gut. Arbeiten wir also gemeinsam! Und unterhalten wir uns nebenbei. Rom macht mir einen fast närrisch lustigen Eindruck.«

Sie wies durch das Fenster auf den schwermütigen Platz. Pavic rang die Hände.

»Ich beschwöre Sie, Frau Herzogin, setzen Sie keinen Fuß hinaus! Bei Ihrem ersten Erscheinen verhaftet man Sie!«

»Verhaften? Ah! Meine Herren, es ist Ihnen noch unbekannt, welchen mächtigen Schutz ich genieße.«

»Einen ... Schutz?« fragte Pavic mit hörbarer Enttäuschung.

»Den Schutz unserer heiligsten Mutter, der Kirche.«

Sie lächelte und bekreuzte sich. Pavic ahmte hastig ihre Gebärde nach, er bat die Sünde ihres Hohns in Gedanken ab.

»Nun schweigen Sie?«

San Bacco schritt aufgeregt durch das Zimmer. Er rief in der Fistel:

»Ich ehre die Kirche als Christ, als Demokrat und als Edelmann. Aber wo ihre Tätigkeit beginnt, da endet die des Soldaten. In meiner Vorstellung, Herzogin, erscheint der Priester erst am Sterbebett des Helden!«

»Marquis, Sie haben vollkommen recht, bis auf eine Kleinigkeit: ich bin kein Held.«

Sie stellte sich vor ihn hin und sah ihm in die Augen.

»Sie überschätzen mich, mein Lieber, ich bin schwach. Die Langeweile hat mich schwach gemacht. Ein starker, gewandter Priester lief mir in den Weg, ein Vikar des Kardinals Grafen Burnsheimb, und ich bin ihm hierhergefolgt. Was wollen Sie, Marquis, ich bin erst fünfundzwanzig! Man muß nicht zuviel von mir verlangen. Ich habe Freunde in Rom, die mich über mein Unglück trösten werden. Monsignor Tamburini erzählt mir, daß die Prinzessin Laetitia hier ist. Ich kenne sie seit Paris und will sie aufsuchen. Meinen Sie, daß die Fuchsjagden im Oktober ohne mich stattfinden sollen?«

San Bacco schüttelte den Kopf.

»Sie stellen sich frivol, Herzogin! Inmitten der leichtfertigen Festlichkeiten in Zara waren Sie von historischer Größe ... jawohl, von historischer Größe! Und jetzt, unter der Last eines pathetischen Verhängnisses, kokettieren Sie mit Oberflächlichkeit. Sie lieben das Bizarre, Herzogin – und es steht Ihnen.«

»Aber Ihnen steht das Geistreiche gar nicht. Seien Sie gut!«

Sie bot ihm die Hand.

»Ich muß eine Menge Einkäufe machen. Sie sehen, wie es hier kahl ist. Kommen Sie, begleiten Sie mich. Nicht wahr, Sie schenken mir ein paar Stunden?«

Er murmelte:

»Ein paar Stunden? Ich gehöre Ihnen ja ganz.«

Er beugte sich über ihre Finger. Sein rotes Kinnbärtchen zitterte.

Hinter ihnen stand Pavic, betreten und mit einem bitteren Geschmack auf der Zunge. Die Herzogin wandte sich um.

»Und Sie, Herr Doktor, sind Sie versöhnt?«

Pavic stammelte:

»Bin ich nicht Ihr Diener? Frau Herzogin, Ihr Diener, wie es auch kommen mag. Ich hatte mir's anders gedacht. Sie sind in Gefahr, Sie fürchteten sich, ich wollte Sie decken mit meiner Brust ...«

Da sie den Mund verzog, verwirrte er sich vollständig.

»Auch ich selbst fürchtete mich, es ist ja wahr ... Genug, jetzt schützen Sie stärkere Hände. Ich als einfaches Sklavenherz war stets ein gläubiger Sohn der Kirche ...«

»Dann ist also alles in Ordnung. Ich höre den Wagen des Kardinals. Gehen wir.«

Sie setzte sich den Hut auf.

»Das Kammermädchen, das man mir geschickt hat, versteht nicht viel. Es ist ein Verbannungskammermädchen.«

San Bacco suchte in allen Zimmern nach ihrem Sonnenschirm. Dann stiegen sie ein. Vor einer der Ladentüren, wo sie auf ihre Dame warteten, sagte der Garibaldianer zu dem Tribunen:

»Ich bewundere diese Frau, denn sie hat mich enttäuscht. Ich kam und meinte Vernunft predigen zu müssen. Sie konnte verbittert sein, nicht wahr, oder kindisch ratlos oder empört. Nein, durchaus nicht; sie scherzt. Sie hat die kraftvolle Leichtigkeit dessen, der seiner Sache gewiß ist. Diese Frau ist groß!«

Pavic murrte:

»Groß, hm, groß – ich sage nicht nein. Es gibt eine passive Größe. Manche sterben lustig. So ein Aristokrat, der sich guillotinieren ließ, weil irgendeine Liebesgeschichte ihn vom rechtzeitigen Überschreiten der Grenze abhielt, ich halte ihn für eine lächerliche Figur, schon darum, weil er zwecklos ist.«

»Mein Herr! Sie vergessen, zu wem Sie das sagen!«

San Bacco richtete sich stolz auf. Aber Pavic versetzte ruhig:

»Sie, Herr Marquis, den ich so hoch verehre, sind ein Mann der Freiheit.«

Und der Mann der zwei Seelen, der San Bacco hieß, wußte nichts zu entgegnen. Der andere sprach weiter:

»Der aber, an dessen Leben eine große Sache hängt, ist zu kostbar; er darf nicht sterben irgendeiner Schimäre zu Gefallen, und trüge sie den klingendsten Namen. Sollte ich, der ich meinem Volke viel bin, zusehen müssen, wie auf Barrikaden Blut fließt? Muß ich mich statt eines Bauern spießen lassen?«

San Bacco verstand nicht, er schwieg, und Pavic verbiß sich stumm in seine Idee. Sie hielt ihn besessen bei Tage und bei Nacht. Kaum vom Schlummer erwacht, begann er der Herzogin, als ob sie vor ihm stände, die Gründe vorzuhalten, weshalb das Opfer seines Lebens, das sie verlangt hatte, töricht und verderblich gewesen wäre. Er saß dann im Bett und redete mit dem Mute, den er vor ihrem Angesicht nicht fand, auf sie ein, schallend laut, mit starken Gesten und schließlich ganz erbittert. Er warf ihr seine Nachtwachen vor, seine Heimatlosigkeit und sein gebrochenes Dasein, ja, auch den Tod seines Kindes. In seiner Überreiztheit glaubte er oft, sie habe den Knaben gefordert statt seiner selbst.

»Und nach so vielen Opfern ...!«

Er vollendete sich den Gedanken niemals, aber sein Gefühl überzeugte ihn, daß sie für so viele Opfer sich ihm hätte geben müssen. Und nie mehr würde sie es tun, er wußte es! Er hatte sie, in einer Stunde, da er über die Ratlose verfügen durfte, nach der grauen Bergstadt und ins Kloster gebracht. Die Gefahr hatte er übertrieben, ihr und sich selbst. Einsamkeit, Ernüchterung und Furcht sollten an ihrer Seele arbeiten, sie demütig, zahm und mitleidig machen. Nun war sie ihm aus der Hand entschlüpft, ein bunter Vogel, der hoch über ihm auf einem schmalen Zweige saß und zwitscherte, unüberwindlich frei und hochmütig. Pavic verzweifelte. Was konnte er noch tun, um in ihrem Gedächtnisse jene Stunde auszulöschen, da er nicht gestorben war. Er irrte umher und suchte.

Nach Beendigung ihrer Einkäufe sagte die Herzogin:

»Morgen abend sehen wir uns beim Kardinal. Sie sind eingeladen, meine Herren.«

 

Zur bestimmten Zeit trafen sich die beiden in der Lungara, der zwischen Palästen still dahinziehenden Straße jenseits des Tiber. Sie erstiegen gemeinsam die breite, flache Treppe im Hause des Kirchenfürsten. Hinter einem schwarzgekleideten Diener, der fromm geneigten Hauptes einen Armleuchter vor ihnen hertrug, durchmaßen sie eine Reihe von Sälen mit verschlossenen Fensterläden. Das Kerzenlicht riß Lücken in das Dunkel, es enthüllte ein Stück Deckengemälde: große kalte Leiber, berechnete Haltungen und wohlgeordnete Faltenwürfe erstarrten in einem öden Pomp; es streifte verblaßtes Gold an weit voneinander getrennten Stühlen, von denen brokatene Fetzen fielen. Dann öffneten sich den Besuchern einige kleinere Gemächer, von Schaukästen eingenommen, auf denen ausgestopfte Vögel mit gewundenen Hälsen, gespreiztem Gefieder, aufgesperrten Schnäbeln sich in der Dämmerung bauschten zu seltsamen Gestalten. Im Bibliothekzimmer stand ein junger Abbate vom Studium auf, verbeugte sich und kehrte zu seinem Schreibzeuge zurück.

Endlich gelangten sie in das Kabinett des Hausherrn. San Bacco, der ihm bekannt war, nannte ihm Pavics Namen; darauf stellte er sie beide den vier Damen vor, die um die Herzogin von Assy herumsaßen, einer sehr fetten und überaus lebhaften Greisin, der Fürstin Cucuru, sowie ihren zwei schönen blonden Töchtern und der Contessa Blà, einer noch jungen Frau. Monsignor Tamburini hielt sich, ein pflichtstrenger Adjutant, im Rücken des Kardinals. Graf Burnsheimb lehnte klein, schmächtig und leicht gebeugt, im schwarzen, rot umsäumten Gewande und das rote Käppchen auf dem dünnen weißen Haar, an einem hohen roten Ledersessel. Seine weiße magere Hand ruhte ungekrümmt und lebensvoll auf der gelben Marmorplatte seines Arbeitstisches. Es erhob sich darauf zwischen gehäuften Büchern eine römische Ampel, drei bronzene Schnabelbecken an einem langen Stiel. Sie erhellte von unten das versteckte, feine Lächeln des Kardinals. Er wandte das schmale, blasse Gesicht den Damen zu, einer nach der andern, und lud mit kühler, langsamer Stimme seine Gäste ein, ihm in die Galerie zu folgen.

Tamburini schob in der Wand eine Kulisse zurück, sie betraten die lange, ansehnlich breite Wandelhalle, die durch drei Glastüren auf den Garten hinaussah. Er drängte sich hier in der Höhe des ersten Stockwerks, eng und abgezirkelt, an den Abhang des Janiculushügels. Noch hing etwas rosiger Staub, von der Sonne zurückgelassen, in den Taxusmauern. Sie umgaben quadratisch zwei dreieckige Wasserbecken, auf deren niedrigen Einfassungen zwei Tritonen sich rekelten und zwei Faune.

An beiden Enden der Galerie befand sich eine verschlossene Pforte, überdacht und umflutet von Vorhängen aus grünem Marmor. Aus den mächtig geschwungenen Steinwellen traten zwei weiße, nackte Figuren, ein Knabe hüben, und drüben ein Mädchen. Sie lächelten und legten einen Finger auf den Mund. Die ganze Länge des Raumes trennte sie; zaghaft setzten sie den Fuß an, als wollten sie einander entgegengehen über den spiegelnden Mosaikboden, worauf blaue Pfaue, umkränzt von Rosen, die goldigen Schweife aufrollten. Statt ihrer humpelte die Fürstin Cucuru darüber hin. Sie bot, sobald sie auf den Füßen war, einen überraschenden Anblick. Ihre lahmen Knie machten sie ungeduldig, sie bestrebte sich, ihnen vorauszueilen, mit angelnden Armen und leidenschaftlich stampfendem Krückstock. Sie beugte sich, fast zusammenbrechend unter der Last ihres Fettes, so weit nach vorn, daß der untere Teil ihres Rückens die Schultern überragte. Dadurch ward hinten das Kleid aufgerafft und enthüllte die geschwollenen Beine der Greisin. Ihr ägyptisches Profil mit platter, auf der Oberlippe fest anliegender Nase schoß vor sich her den bekümmerten Blick eines die Beute versäumenden Raubvogels. Sie blieb hinter der Gesellschaft zurück und schrie mit gieriger Lockstimme abwechselnd »Lilian!« und »Vinon!« Aber die Hilfe ihrer Töchter verbat sie sich wütend.

Atemlos und hochrot fiel sie schließlich in einen Fauteuil bei der geöffneten Gartentür. Daneben schob der Kardinal eigenhändig einen zweiten Sitz für die Herzogin. Die Cucuru rief:

»Nehmen Sie dreist allen Platz, Herzogin! Sie brauchen Kühlung, Sie sind zart. Ich, ich habe überhaupt keine Luft nötig, ich habe eine Gesundheit und eine Kraft! Vierundsechzig bin ich, hören Sie, vierundsechzig, und werde noch hundert werden! Mit Seiner Hilfe!«

Sie schielte nach oben und murmelte, sich bekreuzigend, etwas Unverständliches.

»Jaja, Anton«, so wandte sie sich noch lauter an den Kardinal, »Ihr seid natürlich recht froh, daß Ihr die da im Hause habt!«

Und sie klopfte mit dem Horngriff ihres Stockes die Herzogin kräftig auf den Arm. Der Kardinal sagte:

»Genießen Sie unsere Abendkühle, liebe Tochter, hier am Janiculus ist sie zuträglich, und trösten Sie sich, wenn es möglich ist, über die Bitternisse des Exils!«

»Papperlapapp!« machte die Cucuru, »Freund, was redet Ihr vom Exil! Die Frau ist jung, sie kann tätig sein und leben, leben, leben! Geld hat sie, sie weiß kaum wieviel, und Geld, Freund Anton, ist die Hauptsache!«

Monsignor Tamburini bestätigte dies mit einem fetten »So ist es!«. Die Contessa Blà erkundigte sich:

»Hoheit, nehmen Sie Ihr Mißgeschick schwer?«

»Ich weiß nicht«, erklärte lächelnd die Herzogin, »ich habe mich bisher nicht genau untersucht. Augenblicklich ist es mir gleich, der Garten duftet so frisch.«

Die Blà nickte und schwieg. Aber Pavic, der noch nichts gesagt hatte, ließ sich vernehmen. Die schleichende Rachsucht, die seine Begierde, der Herzogin von Assy zu Füßen zu liegen, jetzt manchmal verdrängte, stieg ihm plötzlich zu Kopf. Seine Stirn war gerötet, er sagte leidselig und dem Auge der Herzogin ausweichend:

»Eine Unheilsbotschaft; ich weiß nicht, wie ich sie länger zurückhalten soll. Den Assyschen Besitzungen in Dalmatien droht die Konfiskation. Der Staat steht im Begriffe, sie einzuziehen. Zu dieser Stunde ist es vielleicht schon geschehen.«

Der Kardinal fragte ruhig:

»Sie wissen es im voraus?«

»Hier ist der Brief meines Vertrauensmannes.«

Pavic trat zurück, befriedigt und dennoch von Schmerz zerrissen.

Der Kardinal las und reichte das Papier der Herzogin. Dann griff die Cucuru danach. Sie prüfte es und brach, sobald sie es für echt befunden hatte, in Gelächter aus. Vermittels ihres Stockes, den sie unablässig auf den Boden stieß, verstärkte sie ihren Lärm. Dann wurden die Augen der alten Dame wässerig und ein Stickhusten gestattete ihr nur noch leise Kreischlaute. Monsignore Tamburini maß die Herzogin von der Seite, mißtrauisch und entrüstet, wie einen zahlungsunfähig gewordenen Kunden. Sie selbst fragte plötzlich:

»Der Staat konfisziert meine Domänen? Das soll heißen, Nikolaus nimmt sie mir weg?«

Pavic antwortete düster:

»Ja.«

»Ah, Nikolaus ... und Friederike und ... Phili«, sagte sie vor sich hin. Das Vernommene erregte ihr tiefstes Staunen. Es kam ihr keineswegs wie ein Unheil zum Bewußtsein, das sie betroffen hätte; ohne an seine Folgen zu denken, sah sie nur den Akt vor Augen. Der König Nikolaus vollzog in einer Regung väterlicher Unzufriedenheit die gewichtige Urkunde. Friederike stand spitz und entschieden daneben, Phili ganz begossen. Die armen Leute! Um ihrem Gegner nahezukommen, erfanden sie nichts weiter, als ihm sein Geld zu stehlen. Auch Rustschuk wäre darauf verfallen! Plötzlich hörte sie dicht an ihrem Ohr die Contessa Blà:

»Nicht wahr, Hoheit, die Sache hat etwas Groteskes?«

»Etwas ... Woher wissen Sie?«

Sie sah überrascht auf.

»Ganz recht, ich finde dasselbe. Aber sagen Sie, woher wissen Sie?«

»Aus den Bildnissen der dalmatinischen Herrschaften. Sie haben etwas so streng – wie soll ich sagen, so streng Bürgerliches. Sie müssen überaus sittenrein sein und werden, was sie Ihnen, Hoheit, nun zufügen, sicherlich nicht gern tun. Der König Nikolaus, wie konnten Sie ihn erzürnen, er ist so ehrwürdig.«

»Ehrwürdig, das ist für ihn das Wort!« rief die Herzogin mit zuckendem Gesicht. Die beiden jungen Frauen begannen gleichzeitig zu lachen. Unwillkürlich reichten sie einander die Hand. Die Blà murmelte: »Natürlich, es sind Bürger ...« und zog ihr niedriges Taburett näher heran. Sie setzte sich vor die Herzogin hin, fast zu ihren Füßen.

San Bacco lief, durch die Neuigkeit mächtig aufgerüttelt, in der Galerie hin und her. Er schleuderte, mit den Armen fuchtelnd, aus seinem gärenden Selbstgespräch zuweilen ein lautes Wort ins Freie. Endlich brach er los. Die Verruchtheit dieser elenden Tyrannen hatte also an der Knechtung des Volkes nicht mehr genug, sie erfrechten sich zu Übergriffen gegen alte, erbeingesessene Geschlechter!

»Ein tausendjähriger Familienbesitz, wer hat denn ein Recht, ihn mir abzusprechen? Kein Staat und kein König – nur Gott!«

Nach diesem Ausspruche ließ der Revolutionär, der diesseits und jenseits des Meeres alle angestammten Rechte gestürmt hatte, drohende Blicke unter seinen Zuhörern kreisen.

»Ein hergelaufener Monarch, mit dem Reisesack in der Hand ins Land gekommen! Nicht einmal ein Eroberer! Aber ich werde ihn vernichten! Ich werde zu ermitteln wissen, wieviel jünger die Koburg sind als die Assy! Und das werde ich den Blättern mitteilen!«

Pavic ward durch die Heftigkeit des andern an glückliche Tage erinnert. Es war ihm zumute, als liefe wieder das Volk von allen Seiten zusammen; es umwogte ihn keuchend, und er fühlte schon die Bretter irgendeines Weinfasses unter den Füßen. Seine Augen begannen zu glänzen, die Hände bebten, und dann redete er. Er hielt eine seiner großen Reden: niemand war darauf gefaßt gewesen. Die Damen erschraken, der Kardinal betrachtete gelassen diesen neuen Menschentypus. Monsignore Tamburini verlor vorübergehend sein überlegenes Urteil unter dem Anprall dieser Beredsamkeit und versuchte sich klarzumachen, wieviel sie unter Umständen wert sei.

Die Herzogin sah unaufmerksam weg; sie war zu oft bei den Proben auf der Bühne gewesen. Allmählich blieb sie an den Gesichtern ihrer neuen Bekannten haften. Die Blà, die das Mienenspiel des Tribunen skeptisch studierte, machte den Eindruck einer eleganten Frau ohne Schicksale, fein und gütig. Und obendrein spielte Geist auf der schönen Weiblichkeit ihrer Züge. Vinon Cucuru, die Dunkelblonde, kicherte in ihr Schnupftuch. Sie war mit Stumpfnase und Grübchen ein selbstbewußtes Kind, dem es gar nicht fehlen konnte. Aber ihre Schwester schien alles hinter sich zu haben und gebrochen von allem zurückgekommen zu sein. Lilians Haar war tiefrot, mit violetten Lichtern. Sie hielt den blassen Blick gesenkt, ihre Nase begann vorn sich zu röten, die Hände lagen, wie kranke Mollusken, trostlos im Schoße. Das Mädchen kam dem Fremden ganz weiß und kalt vor von abgestorbenen Schmerzen, die als Leichen in ihrer Brust vergessen waren. Sie ließ davon jeden sehen, was er mochte. Keine Gesellschaft war wichtig genug, ihr etwas zu verbergen.

Im Rücken der Damen und hinter Tamburini und San Bacco, an der langen Wand der Galerie gesellten sich wie auf Balkonplätzen die alten Bilder zu Pavic' undankbaren Hörern. Das Haar in Schläfen und Stirn gestrichen, sann ein junger Mann mit ungleichen Augen zärtlich über den hohen, steifen Fältelkragen hinweg. Ein liebliches, reiches Kind hatte über den Tisch, worauf seine Taschenuhr lag, eine Seifenblase geformt. Sein Papagei floh kreischend, sein Hündchen sprang herzu. Man sah es, der Spitz würde noch Kapriolen machen und der Vogel noch schreien, wenn der Stundenzeiger der Kleinen schon stillgestanden und der bunte Schaum ihrer zehn Jahre geplatzt sein würde. Die todesdüstere Schönheit daneben, in gewellten Haaren, Agraffen und wehenden Schleiern, hielt in Händen ein Sieb. Ihr zugespitzter, üppiger Finger deutete auf den durchlöcherten Behälter wie auf ein Leben, in dem alles vergeblich gewesen wäre und alles bodenlos. Doch Judith, die schmale Jungfrau, trug unter gemmengekrönten Locken das bleiche Antlitz sehr hoch, ohne es je auf ihre starken Hände zu neigen, in denen das Schwert blitzte und der Kopf blutete.

Pavic machte krampfhafte Anstrengungen, sich in der Täuschung zu erhalten, als umringten ihn Bewunderer. Allmählich versiegte seine Rede in der allgemeinen Gleichgültigkeit. Er stotterte, faßte an die feuchte Stirn und verstummte, beschämt und unglücklich. Die alte Fürstin hatte ihn die ganze Zeit mit offenem Munde angestarrt. Kaum war es still, so klappte sie das Gebiß zusammen und sprach von etwas anderem.

Zwei leise Diener mit rasierten, friedevollen Lippen reichten Erfrischungen umher. Die Herzogin und die Blà nahmen Zedernschnee. Der Kardinal tat in sein geeistes Wasser ein Stückchen Zucker, San Bacco und Pavic gossen Rum hinein; die Cucuru trank ihn unverdünnt. Ihre Tochter Vinon schleckte Vanillegefrorenes. Monsignore Tamburini bereitete eine Orangeade, wobei ihm der Fruchtsaft über die Finger tropfte, und bot sie der trübseligen Lilian. Sie streckte achtlos die Hand aus; er zog das Glas zurück und bat verzerrten Mundes und mit der Anmut eines schlecht Gebändigten:

»Aber erst ein freundliches Gesicht machen!«

Sie drehte ihm den Rücken zu, doch traf sie den Blick ihrer Mutter und schrak zusammen. Darauf kehrte sie zu Tamburini zurück, lächelte ihm zu wie eine, die auch das noch tun kann, und goß, als habe sie sich zum Giftbecher entschlossen, das Getränk auf einmal hinab.

Die Cucuru hatte sich einen Teller mit Marmelade belegt. Sie schrie den Aufwärter an: »La bouche!« Mit unerwartetem Ruck senkte sie sich so tief seitwärts, als wollte sie den Kopf unter den Stuhl stecken, sie brach sich mit einem Knacken die Kiefer aus und legte sie in die bereitgehaltene Schale.

»Ihr braucht eure Zähne zum Essen, ich meine nur zum Sprechen. Kauen tue ich mit dem Gaumen!«

So heulte sie, mit plötzlich dumpf und uralt gewordener Stimme, angestrengt hinaus in die Galerie, deren edle Maße den feinen Reden bedächtig wandelnder Geistmenschen erbaut waren.

Der Kardinal unterhielt die Herzogin von Münzen und Kameen. Er zeigte ihr in Kästen, die er herbeitragen ließ, eine Abteilung der seinigen.

»Ich habe niemals erfahren, woher diese da stammt. Man erkennt auf einer Seite eine Weintraube und auf der andern unter den Buchstaben Jota und Sigma eine Amphora.«

Sie rief überrascht:

»Die kenne ich ja! Sie ist von Lissa, meiner schönen Insel. Ich schreibe dem Bischof; Sie werden mir erlauben, Eminenz, Ihnen mehr von diesen Dingen anzubieten.«

»Können Sie das denn noch?« fragte die Cucuru. »Ihre Länder sind Ihnen ja weggenommen.«

»Sie haben recht, ich dachte nicht mehr daran.«

Sie mußte sich besinnen.

»Nun, der Bischof wird mir die Münze aus Gefälligkeit schicken«, meinte sie lächelnd.

»Nein, nein, lassen Sie das lieber!«

Die Greisin war unzufrieden. Sie nahm ihr Gebiß wieder an sich und sprach ohne Murmeln.

»Freund Anton gibt sich viel zuviel mit solchen Dummheiten ab, bestärken Sie ihn nicht darin! Er sinnt nur darauf, sein Geld wegzuwerfen, und nichts hat er übrig für tatkräftige Unternehmungen, wobei Familien reich werden. Haben wir Geld, so haben wir Verpflichtungen!«

Der Kardinal wandte leise ein:

»Alles zu seiner Zeit, liebe Freundin.«

Er achtete nicht weiter auf die alte Dame, die sich bei Monsignore Tamburini eine Bestätigung ihrer Ansicht holte. Er hauchte auf einen geschnittenen Stein und glitt mit zärtlichem Finger darüber hin. Sie schrie höhnisch:

»Wie er putzt! Wie er verliebt ist in den Firlefanz! Freund Anton, Ihr wart immer nur ein Frauchen!«

Tamburini machte sich von neuem an Lilian Cucuru heran:

»Singen Sie doch etwas«, sagte er, und unter dem süßen Schleim, worin er seine Aufforderung einwickelte, grollte etwas Plumpes, wie die Drohung eines Herrn und Besitzers. Sie wand sich, ohne ihn anzusehen. Ihre Mutter rief scharf:

»Du hörst doch, Lilian, man bittet dich zu singen. Wozu bekommst du die teuren Stunden?«

Das Mädchen blickte hilflos auf die Herzogin. Diese fragte:

»Wollen Sie mir eine Freude machen, Prinzessin Lilian?«

Sie erhob sich sofort und ging langsam die Galerie zu Ende. Dort blieb sie stehen und sang irgend etwas. Man sah sie undeutlich. Ihre Stimme huschte ängstlich und wie vom Schatten erstickt durch den Raum. Die schimmernde Figur des Marmorknaben hinter ihr legte einen Finger auf den Mund. Man klatschte; darauf kam sie zurück, müde und ohne eine Spur von Erwärmung in Wangen und Augen.

Es ging auf Mitternacht, die Herzogin brach auf. Sie sollte den Wagen des Kardinals benutzen, und als sie die Länge der Fahrt beklagte, bot sich ihr die Contessa Blà zur Begleitung an.

Die beiden Frauen fuhren die Lungara zu Ende. An der Ecke des Borgo entstiegen dem Hintergrunde flüchtig ein paar Säulen von den Kolonnaden Sankt Peters. Vor den Osterien saß das Volk bei Windlichtern und trank Wein. Einige spielten schreiend Morra.

»Die arme Lilian sieht aus wie ein Opfer ohne Rettung«, bemerkte die Herzogin. Die Blà erklärte:

»Ein Opfer der mütterlichen Politik. Die Cucuru hat ihr Vermögen verloren. Sie ist überaus geschäftskundig und zieht Wechsel auf die Zukunft ihrer Töchter; aber doch wohl zu hohe Wechsel, es wird nichts übrigbleiben. Haben Sie nie etwas von dem verstorbenen Fürsten gehört?«

»Doch. Er soll das Seinige an Schauspielerinnen verschenkt haben.«

»Man tut ihm unrecht, er gab es ebensogern den Schauspielern. Er war ein heftiger Verehrer des Brettls, und wo immer in Neapel oder im ganzen Königreich ein solches Institut mit Schwierigkeiten kämpfte, da half er aus. In späteren Jahren reiste er selbst mit einer Truppe. Er saß allabendlich im Frack und mit schwarzer Perücke, steif und tiefernst, unter einem schofeln, lärmenden Publikum. Am Schluß stieg er auf die Bühne und verbeugte sich. Die Mimen waren seine Kinder, er verheiratete sie und stattete sie aus, schlichtete ihre Eifersüchteleien und nahm ihnen ihre Liebesbeichten ab. Seine Familie hatte schon bei seinen Lebzeiten nichts. Die Fürstin ist seit vierzig Jahren die Mätresse des Kardinals Burnsheimb.«

»Noch immer?« rief die Herzogin ganz erschrocken.

»Beruhigen Sie sich, Hoheit. Sie haben gehört, was der Kardinal sagte: Alles zu seiner Zeit. Jetzt ist es nicht mehr an der Mutter, für den Unterhalt der Ihrigen zu sorgen: Lilian muß dies tun.«

»Auf dieselbe Art?«

»Schlimmer, finde ich. Denn eine feingeborene Frau sträubt sich auch noch in der letzten Not gegen einen Tamburini.«

Sie ließen das Kastell und die Engelsbrücke hinter sich und rollten durch den Korso Vittorio. Zwischen dem trotzigen Cäsarengrab und den kläglichen Ruinen der unfertigen Straße tanzten in Flatterröcken über den blinkenden Fluß die späten, fleischesfrohen Genien. Aus den scharfen Schatten der Neubauten schlichen unbestimmte Gestalten, mager und faul, hinaus ins Mondlicht. Sie reichten den Dirnen, die ihnen ohne Hut, mit geöffnetem Brusttuch, schlenkernd und wiegend entgegenkamen, die weichen Verbrecherhände und gähnten.

»Wirklich ... Tamburini?« wiederholte die Herzogin. »Er hat den Anstand, den sie in den Sakristeien lernen. Zu Hause muß er gemein sein.«

»Er ist Sohn eines Bauern und ein Bauer mit allen bäuerlichen Eigenschaften. Die stärkste ist der Geiz. Die arme Lilian wird von ihren Sünden nicht satt.«

»Und wozu diese Barbarei, wozu?«

»Vor drei Jahren liebte Lilian den Prinzen Maffa. Ich sage nicht, daß sie nicht auch jetzt liebt. Er brauchte Geld. Nach einer Weile hochmütiger Koketterie hat sie bei der Nachricht von seiner Verlobung den Kopf verloren und sich ihm schriftlich angeboten. Der Brief ist im Klub des Prinzen herumgereicht worden, und die alte Cucuru hat ihre Tochter, um von der armen Jugend zu retten, was zu retten war, dem Tamburini zugeführt.«

»Einem kleinen Priester! Wie genügsam.«

»Auch Monsignore Burnsheimb war ein kleiner Priester, als die Fürstin ihn erhörte. Seitdem ward aus ihm ein Kardinal. Die Mutter hofft, der Purpur werde der Tochter nachfolgen in das Bett ihres Monsignore. Was wollen Sie, an so etwas glaubt man eben. Überdies ist für ein verunglücktes Mädchen das Bett eines Monsignore ein wahres Reinigungsbad. Ich weiß nicht, Frau Herzogin, ob Ihnen diese Anschauung frommer Leute bekannt ist?«

»Ich bin glücklich über diese Anschauung, falls sie der armen kleinen Lilian zugute kommt.«

»Oh, manche sehen ihren Fehltritt schon jetzt als gesühnt an, und in einiger Zeit könnte sie sich standesgemäß verheiraten, wenn ...«

»Wenn sie nicht so traurig wäre, die traurige Prinzessin.«

»Nicht bloß traurig. Zu ihrem Unglück scheint sie Wert zu legen auf Menschenwürde. Ich fürchte fast, sie lebt innerlich in Empörung!«

»Sie weiß wenigstens, warum. Und der Kardinal? Er hat das alles geschehen lassen?«

Ihr Wagen lenkte ein, sie befanden sich bei der Kirche Gesù. Vom Korso her bewegten sich Gruppen heimkehrender Theaterbesucher. Rauschende Frauen näherten ihre geschminkten Gesichter den Schnurrbärten von Stutzern an den Tischen vor den strahlenden Kaffeehäusern. Dem Lachen und Summen die Trottoirs entlang, dem Klappern von Geld und Kristallen, den mutlosen Rufen der Alten und der Kleinen mit Zeitungen und wächsernen Zündstäben gesellten sich ferne Orchesterklänge, als käme ein Nachtvogel herbeigeflattert zu andern.

»Der Kardinal«, sagte die Blà, »er war immer nur ein Frauchen, wie seine Freundin sich ausdrückt. In den Duetten der beiden hat die Cucuru die Männerstimme gehabt. Jetzt ist ausgesungen, er hat sich den Vergewaltigungen durch ihr hartes Organ entzogen. Einzig seine Leidenschaft für teures altes Gerumpel war imstande, ihm dazu Kraft zu verleihen. Nun genießt er seine Selbständigkeit und gibt, mit dem Eigensinn der Schwachen, der alten Freundin nicht einmal das, was er ihr anständigerweise geben müßte.«

»Also ein einfacher Egoist?«

»Kein einfacher: ein feiner, der unter Umständen auch fähig wäre, Gutes zu tun, bloß aus Neugier und ohne an das Gute zu glauben. Wenn man seine weibliche Neugier kitzelte, so könnte er vielleicht sogar Teilnahme fassen für den Freiheitskampf der Völker!«

»Aber die Freiheit lieben ...?«

»Niemals. Sie wird ihm so gleichgültig bleiben wie die Frage, ob es in zwanzig Jahren noch Kirchenfürsten geben wird. Es genügt ihm, daß er selbst einer ist.«

»Dieser alte Mann ist unheimlich eisig. Gehört er nicht zu den böhmischen Burnsheimbs?«

»Er stammt von säbelrasselnden Draufgängern mit Stallduft, vor denen er sich verstecken mußte in seiner Zartheit und Geistigkeit. Ich kann es mir denken, als Jüngling hat er viel geheuchelt, ist scheu geworden und krankhaft eigensüchtig. Das geistliche Gewand nahm er bloß, weil das in jener Umgebung für ein Wesen wie das seinige die einzige Art war, um anerkannt zu werden. Der neue Papst hat ihn recht gern, sie helfen einander beim Dichten von lateinischen Oden auf den Segen der Taubheit oder Episteln über die Bereitung von Radichiosalat. Haben Sie bemerkt, Frau Herzogin, wie er seine Medaillen und Gemmen anschaut? Mit tief beunruhigter Liebe, nicht wahr, und fast mit Neid.«

»Mit Neid?«

»Weil sie ihn überleben werden.«

Nach einer Pause setzte die Blà etwas leiser hinzu:

»Schließlich ist er von uns allen, die heute abend beisammen waren, doch vielleicht der einzige, den man glücklich nennen kann.«

»Sie vergessen Vinon Cucuru!« meinte die Herzogin.

»Oh, Vinon: ein Mädel, ahnungslos und hochgemut. Bei Tische, in der Pension zu sechs Lire, wo die fürstliche Familie Cucuru der Reklame wegen für fünf Lire wohnen darf, macht sie sich lustig über die Deutschen.«

»Aber San Bacco?«

»Ganz glücklich ist er wahrscheinlich nur bei den parlamentarischen Duellen, von denen er allerdings jährlich zwei oder drei hat. Seine geredete Begeisterung, die Sie kennen, dient ihm nur als Ersatz für die gehauene und gestochene. Zwar liebt er die hohen Ideen und glaubt an sie, denn er ist ja Christ und Ritter. Aber sie müssen ihm auch die Berechtigung geben zu Handlungen, denen es einigermaßen an ... wie soll ich sagen, an bürgerlicher Solidität gebricht.«

»Er ist arm. Wie lebt er eigentlich?«

»Er lebt von Freiheit und Patriotismus. Da er sein Vermögen dem Lande geschenkt hat, so hält er jeden Landsmann für seinen Schuldner. Seit Jahren wohnt er im Hotel Roma, beim Essen umringt ihn immer ein Schwarm von Deputierten, Journalisten, Neugierigen und Leuten, die es nötig haben, sich von dem alten Kämpen ihre Vaterlandsliebe oder ihren Radikalismus bescheinigen zu lassen. Ein einziges Mal hat der Wirt es gewagt, ihm eine Rechnung zu schicken. San Bacco hat ihn rufen lassen. ›Ist das für mich?‹ hat er stirnrunzelnd gefragt. ›Wie, Sie wollen Geld haben von mir ... von mir? Verlange ich denn Geld von Ihnen dafür, daß täglich eine Menge Leute Ihr schlechtes Diner hinunterschluckt, die es nur mir zuliebe tun?‹ Und zorngerötet ist er hinausgegangen, mit Hinterlassung von fünf Lire für den Kellner.«

Die Herzogin sagte, ohne zu lachen:

»Seine Ehre hängt ihm von Gesinnungen ab, nicht von Handlungen. Das ist das Vorrecht einiger.«

»Einiger ... die keine Bürger sind«, sagte die Blà.

Die Umgebung des Forums schlief lichtlos und ohne Geräusche. Die langen Zeiten entrückten diese Steine um Welten aus dem Dasein des ehrsamen Volkes bei Wein und Morraspiel, der schleichenden Geächteten in den Neubauten, der blassen Genießer vor den Kaffeehäusern. Zuweilen wandelte über schattenhafte Tempelstufen eine hagere Säule, in Mondstrahlen gekleidet, dicht vorüber an den Wagenfenstern der Frauen. Am dunkel starrenden Mauerwall des Kolosseums, unter dem Konstantinbogen, weckten die Hufe und die Räder einen Widerhall, so mühsam, als sei er von einem längst verschollenen Echo der verspätete Rest. Dann erstieg der Weg, weiß zwischen den schwarzen Wänden von Klöstern und Zypressen, den Caelius. Die Herzogin lehnte sich tiefer zurück.

»Und Sie selbst? Alles, was ich von Ihnen erfahre, klingt mir offen und vertraulich wie ein Selbstgespräch. Aber wie wollen Sie, daß ich über Sie selbst denke? Was sind Sie, Contessa?«

»Keine Contessa. Mein Vater war ein Franzose und Kapitän bei den päpstlichen Zuaven. Noch nach seinem Tode litt meine Mutter unter seiner verjährten Untreue. Sie war schwach und launisch, und ich ertrug ihre Launen mit einer krankhaften Bereitwilligkeit. Kaum war sie gestorben, so heiratete ich einen schwindsüchtigen Engländer, ich hätte sonst das Leiden in meiner Nähe entbehrt.«

»So gerne leiden Sie?«

»Für jemand zu sorgen und zu dulden, ist mir unglücklicherweise ein Bedürfnis, dessen ich mich schäme.«

»Und Sie selbst, Contessa, Sie möchten nicht in die Arme genommen und getröstet werden?«

»Wenn ich mich nach einer Vergeltung meines Mitleids sehnte, wäre es dann noch etwas wert?«

»Sie haben recht. Und so haben Sie also gelebt?«

»Mein Mann, der Schriftsteller war, konnte wenig mehr arbeiten. Er lehrte mich diesen Erwerb, und ich schrieb als Contessa Blà anfangs Modebriefe, dann Plaudereien, schließlich sogar Politik, ich weiß nicht, warum mit katholischem Anstrich. Man sucht sich seinen Geist nicht immer selbst aus. Der Kardinal fördert gern Talente, er gibt mir jeden Mittwoch eine Portion Gefrorenes oder eine Tasse Tee, und wenn ich darum bäte, würde er mir anstandslos beides gleichzeitig verabfolgen.«

Wie sie ankamen, äußerte die Herzogin lächelnd:

»Wir sprechen miteinander, als ob wir uns liebhätten.«

»Gleich in den ersten Minuten unseres heutigen Abends sind Sie mir lieb geworden«, erwiderte die Blà.

»Wie ist es gekommen?«

»Weil Sie lachten, Herzogin, weil Sie nach allem, was Ihnen begegnet ist, noch lachen konnten über die heuchlerischen, wichtigen Gebärden und Mienen der Bürger.«

»Jetzt verraten Sie mir noch, was Sie mit ›Bürgern‹ meinen.«

»So nenne ich alle, die häßlich empfinden und ihre häßlichen Empfindungen obendrein lügenhaft ausdrücken.«

»Sie wollen mich liebhaben, das macht mir wahre Freude.«

»Hoffentlich wird es Ihnen niemals Kummer machen. Von mir geliebt zu werden, ist ein fragwürdiger Vorzug. Bis jetzt haben eine leidende Grillenfängerin ihn genossen und ein englischer Phthisiker.«

Noch in ihrer Gartenpforte, zwischen den beiden zueinander geneigten Zypressen, wiederholte die Herzogin:

»Wir wollen recht oft einander sehen.«

 

Sie empfing den Besuch des Monsignor Tamburini, der ihr sagte:

»Der Kardinal ist von der Ankunft Eurer Hoheit ganz entzückt.«

»Ich danke Seiner Eminenz aufrichtig.«

»Er unterhält jeden, der zu ihm kommt, von der berückenden Persönlichkeit der Herzogin von Assy. Ja, Herzogin, er ist begeistert von Ihnen und Ihrer Sache.«

»Begeistert?«

»Und wie sollte er es nicht sein? Eine so edle Frau und eine so große Angelegenheit! Die Freiheit eines Volkes! Dafür hegt der Kardinal das wärmste Mitgefühl. Er betet für Sie.«

»Betet?«

»Und auch ich bete«, fügte er hinzu und gab sich Mühe, sein Organ des weltlichen Fettes zu entkleiden.

Sie verstummte. ›Er sagt stärkere Unwahrheiten‹, dachte sie, ›als die Höflichkeit ihm vorschreibt. Warum?‹ Er rechtfertigte sich:

»Die Kirche begünstigt bekanntlich jede Art werktätiger Liebe, und wie viele schöne Gesinnungen treten hier in den Dienst eines unglücklichen, von Tyrannei und Armut darniedergedrückten Volkes. Sie, Frau Herzogin, sind die hehre Liebe selbst. Uneigennützige Gotteskämpfer wie der Marquis von San Bacco tragen das Feuer ihres Mutes herzu. Und darf der christliche Priester fehlen, wo Staatsmänner wie Pavic und Finanzleute wie Rustschuk eine wahrhaft biblische Gesinnung hegen? Sind sie doch klug wie die Schlangen und unschuldig wie die Tauben.«

»Besonders Rustschuk«, meinte sie, ohne das Gesicht zu verziehen.

»Rustschuk ist ein hochbedeutender Mann! Wir verfolgen seine Tätigkeit seit langem. Das Übergewicht, das ihm seine Geschicklichkeit unter den Kapitalisten des südöstlichen Europa verschafft hat, beschäftigt uns.«

»Also so wichtig ist mein Hausjud?«

»Hoheit! Ohne ihn oder gar gegen ihn ist in Dalmatien nichts auszurichten. Bedenken Sie, all das Geld!«

Er wiederholte aus vollen Backen:

»All das Geld! ... Wer wirken und herrschen will unter den Menschen, braucht Mut, Klugheit und Geld: diese drei. Das Geld ist aber das höchste unter ihnen.«

»Monsignore, jetzt vergessen Sie die Liebe!«

›Eben war er ehrlich‹, sagte sie sich und hörte ihn wieder süß werden. Er schwelgte in den seelischen Reizen einer großen Dame, die, noch im jugendlichen Alter, den Eitelkeiten der Welt den Rücken wendet.

»Standen Sie nicht in der Fülle alles Glanzes, den eine vornehme Geburt, Reichtum, Schönheit und Anmut verleihen? Sie aber, Frau Herzogin, erachteten das alles für nichts. Noch in sehr jugendlichem Alter entsagten Sie und wurden Mutter, Trösterin und Fürsprecherin der Witwen, Verlassenen, Waisen und Bedrückten, der Darbenden und Hilflosen ... Speiserin und Stillerin der Hungernden und Dürstenden, Schwester der Siechen ...«

Er nannte alle Zustände des menschlichen Elends, die ihm einfielen, und alle evangelischen Tugenden, zu denen sie Gelegenheit gaben. Seine Finger mit quadratischen Nägeln hoben und senkten sich nachzählend auf seinem schwarzen Gewande. Endlich hatte er seine Gefühle genügend aufgemuntert, um auszurufen:

»Am Krankenbett der Menschheit stehen Sie, Frau Herzogin, als dienende Magd, in der Glorie christlicher Demut!« Sie fand sich angewidert:

»Ich bin weniger demütig, als Sie glauben. Auch handle ich ohne Vorschrift, also unfromm.«

Er sah sie an, mit offenem Munde und stockendem Verständnis. Doch faßte er sich gleich.

»Daher Ihre Prüfungen!« erklärte er triumphierend.

»Sie tun viel Lobenswertes, ich leugne es nicht. Aber Sie tun es ohne den rechten Glauben. Und Gott sieht auf das Herz allein. Erkennen Sie dies, solange es noch Zeit ist!«

Staunend hörte sie ihn in einen barschen, landläufigen Predigerton verfallen.

›Er ist ein Bauer‹, bemerkte sie im stillen. ›Man kratze den Prälaten, und zum Vorschein kommt ein Landpfarrer.‹

»Noch hat er Sie nicht verworfen, denn er ist überaus langmütig. Verbannung, Armut, Verlassenheit sind seine sanften Lockungen, daß Sie ihm folgen sollen. Folgen Sie ihm! Unterwerfen Sie sich der Gnade! Tun Sie es schon aus Klugheit! Sie sollen sehen, wie Ihnen dann alles gelingt! Ein wie reicher Lohn winkt Ihnen alsdann!«

Sie warf dazwischen:

»Wer hat ein Recht, mich zu belohnen?«

Doch überhörte er es. Er sang jetzt und wimmerte und warb in der schulmäßigen Abstufung und unter der mimischen Begleitung, die ihn für seinen Beruf gelehrt war. Sie kannte Tamburini kaum noch. Seine Augen rollten aus schiefem Kopf verdreht und weiß zur Decke. Seinem sehr irdischen, noch kürzlich mit guten, gehaltvollen Speisen angefüllten Leibe entstieg eine völlig unvorhergesehene Verzückung. Auf die Dauer erfaßte sie bei seinem Anblick eine Art Scham und etwas wie Verschüchterung. Sie folgte seinen Blicken: dort oben hing eine Muttergottes, ältlich, mit grellblauem, weit ausgebreitetem Mantel. Fromme Frauen und Heilige knieten verkleinert darunter, gleich untergekrochenen Küchlein.

»Sub tuum praesidium refugimus!« rief Tamburini aus, und die Herzogin mußte zugeben, er habe die begleitenden Umstände für sich. Die häßliche dunkelgrüne Tapete mit ihrem leisen Weihrauchduft, die schwarzen, vom Gebrauch geglätteten Möbel, die zusammengestoßen nur noch gedämpft rumpelten – alle die dumpfen Erinnerungen in den geschlossenen Zimmerchen dieser Priesterwohnung berechtigten seine Aufführung. ›Er ist an seinem Platze‹, sagte sie sich. ›Ich weniger.‹

Er fühlte dasselbe. Seine Hände trafen ganz von selbst die Gegenstände, über die sie bei Andachtsübungen hinzugleiten pflegten. Über einem Betschemel hing ein Rosenkranz. Tamburini ließ sich nieder, beinahe unbewußt. Seine Finger legten sich ineinander, das lange Kleid schleppte hinter ihm. Ohne seiner Rede weiter zu folgen, betrachtete die Herzogin ihn mit neu angeregter Teilnahme. Er erinnerte sie an das Bild manches jesuitischen Heiligen, der steif aufgepufft und starkknochig himmlischen Gesichten unterlag. Das gallige, muskulöse Antlitz des Glückseligen deutete auf einen tüchtigen Verwalter und Geschäftsmann, einen hohen Ordensbeamten, der Übung besaß im harten Umspringen mit Menschen und im Handhaben großer Gelder. In freien Stunden unterhielt er sich manchmal, so. wie man ihn gemalt hatte, mit schönen, reichentwickelten Engeln. Sie schwebten über dem Erdboden, doch mit Mühe, denn ihre Reize waren derb und sinnlich. Der Heilige erfreute sich dieser Sendlinge seines Paradieses mit Ernst und Zurückhaltung. Seine frommen Hände tasteten nicht einmal nach dem Untersten, Beleibtesten. Nur feuchteten sich die gen Himmel fliehenden Blicke, und die Lippe fiel wulstig aufs Kinn.

Die Herzogin gab, in der Lebhaftigkeit ihrer Einbildung, einer seltsamen Versuchung nach. Plötzlich trat sie vor den Knienden hin; sie erhob einen gerundeten Arm, sie streckte einen Fuß nach hinten, gleich dem größten der Engel auf jenen Altartafeln, und sie lächelte. Sogleich verzerrte Tamburini den Mund, ganz so wie am Abend, als er Lilian Cucuru den Orangensaft anbot, der über seine Finger geronnen war. Diese Wirkung genügte ihr. Sie ließ ihn, laut auflachend, allein.

Nach Verlauf von drei Minuten kehrte sie ins Zimmer zurück und sagte:

»Wenn es Ihnen recht ist, Monsignore, so teilen wir uns jetzt als vernünftige Menschen mit, was wir voneinander wollen.«

Er stand ein wenig betreten da, doch im Grunde nicht unzufrieden mit dem Ausgang der Sache. Der Versuch, die Herzogin von Assy für den Glauben zu gewinnen, mußte gemacht werden. Daß er aussichtslos sei, daran hatte der kluge Priester kaum gezweifelt. Er hatte einfach einer Gewissenspflicht genügt. Nun durfte er, endgültig beruhigt, zu sachlichen Verhandlungen schreiten, die seinem Geschmack und Wesen besser entsprachen als ekstatische Bekehrungsversuche. Er bot ihr in schlichten Worten für die dalmatinische Staatsumwälzung die Bundesgenossenschaft der Kirche an.

»Endlich erkenne ich Sie wieder, Monsignore«, entgegnete sie. »Sie sind ja ein viel zu starker Mensch, als daß Sie ein überzeugender Bußprediger sein könnten. Ich bitte Sie: mit einem römischen Profil spricht man nicht von Gnade und Jenseits.«

Er verbeugte sich, merklich geschmeichelt. Sie saßen sich höflich gegenüber, und Tamburini erklärte ihr, sie habe ihre Unternehmungen romantisch, also falsch begonnen. Es gelte nun, sie nüchternen Sinnes fortzuführen. Die Kirche sei wesentlich praktisch, überstürzte Wagnisse lehne sie ab. Der Tropfen Öl, der jeden Sonntag von der Kanzel fließe, der bereite ein fernes, doch sicheres Feuerbad vor.

»Noch besser, es wird alles milde und unvermerkt verlaufen. Ich wundere mich, daß es Eurer Hoheit bisher entgehen konnte, wie unwiderstehlich die Teilnahme der niederen Geistlichkeit Ihre Sache machen muß. Das Volk ist mit kleinen Abbaten durchsetzt, es sind seine Söhne, Brüder, Vettern und Schwäger. Jede größere Familie hat einen und ordnet sich ihm unter bei allem, was nicht Ernte oder Vieh ist. Überlassen Sie uns die Propaganda, Frau Herzogin, und nach einigen Jahren wird der Wille Ihres Volkes so klar sein und so zwingend, daß der jetzige Monarch den vom Marquis San Bacco erwähnten Reisesack ungebeten wieder zur Hand nimmt.«

Schließlich erklärte sie sich mit allem einverstanden.

»Es erübrigt nur, uns über unsere Forderungen zu einigen. Ich brauche gegen meine Feinde die Hilfe der Kirche. Und Sie, was brauchen Sie?«

Er sah aus, als wüßte er nichts.

»Ihre Bekehrung, Hoheit ... wäre zu schön gewesen«, fügte er rasch hinzu, angesichts ihres spöttischen Blickes.

»Wir würden uns begnügen mit der des Barons Rustschuk.«

»Rustschuks Bekehrung! Ist er Ihnen unbekehrt noch nicht grotesk genug?«

»Unterschätzen Sie ihn nicht. Wir halten ihn für den Berufenen, im Osten das katholische Kapital zu organisieren gegen ...«

»Gegen?«

»Gegen die Juden ... Das wäre eine seiner würdige Aufgabe.«

»Allerdings«, meinte sie. »Und das ist alles, was Sie verlangen?«

Er redete lange, um sie zu überzeugen, daß das alles sei, und sie glaubte ihm nicht ungern. Es belustigte sie beträchtlich, am Horizont ihrer Zukunftspläne als den begehrtesten, ansehnlichsten Gegenstand ihren alten, treuen Hausjuden heraufsteigen zu sehen, mit weich schüttelndem Bauch und aufgeblättertem, rotem Gesicht. Noch als Tamburini sich verabschiedete, wiederholte sie:

»Jawohl, er muß bekehrt werden. Sooft er auch schon getauft ist – bekehrt ist er nicht. Und er muß bekehrt werden.«

»Es wäre ein großes Glück – für ihn und uns. Ich verehre den Herrn von Rustschuk hoch, sehr hoch. All das Geld ... All das Geld!«

Und Tamburini entfernte sich mit vollen Backen.

 

Die Herzogin schuldete der Fürstin Cucuru einen Besuch. Die Blà ging mit. Als sie in der Pension Dominici, Via Quattro Fontane, erschienen, schrie die Cucuru über die Köpfe der achtungsvoll verstummenden Gäste hinweg:

»Sagen Sie der Herzogin von Assy, daß ich bei Tische sitze und sie zu warten bitte.«

Die beiden Damen betraten den vom Speisezimmer durch einen schmutzigbraunen Vorhang getrennten Salon. Er war voll von Plüschmöbeln, deren Lehnen durch die Arme und die Rücken ungezählter Fremdlinge hart und fuchsig gescheuert waren, und von Teppichen mit widerspenstig nach oben gerollten Ecken. Von der Decke hingen Festons, an den Wänden die Bildnisse des Wirtes und seiner Gattin. Vor Spiegeln in den Winkeln standen auf Konsolen aus grünem Blech gedrungene, neckische Biskuitfiguren, inmitten von Papierblumen, und trugen in vergoldeten Körbchen Rosen aus Seife. Alle diese Gegenstände schützte dicker Staub.

Aus dem Nebenzimmer drang der Duft billiger Fette. Man hörte Bestecke klappern und das Kichern von Vinon Cucuru. Die Mutter heulte der angewidert von ihrem Teller wegsehenden Lilian zu, sie solle sich pflegen. Tüchtig essen und täglich auf geordnete Verdauung halten, das sei die ganze Lebensweisheit.

»Ich habe die kranken Knie und kann mir keine Bewegung machen. Aber ich trinke mein Vichywasser und verdaue ganz prächtig!«

Sie versenkte sich in die liebevolle Beschreibung ihrer körperlichen Verrichtungen und kaute dabei unablässig, keuchend und nach Luft schnappend. Sie goß glucksend ein Glas Wein hinab, die Wangen der Greisin erblühten rosig unter ihrem weißen Scheitel. Sie faltete die Hände in gestrickten Halbhandschuhen über dem unförmlich vorgestreckten Bauche und genoß einen Augenblick der Abspannung und des Friedens. Dann nahte der fettige Kellner mit einem frischen Gericht, und die Begierde nach möglichst langer Erhaltung zwang die Lebenslustige zu neuer angestrengter Arbeit. Jeder Zugwind, der den braunen Vorhang aufflattern ließ, enthüllte den Besuchern nebenan das scheußliche Bild der sich nährenden Alten.

Eine Magd zeigte sich in der Tür.

»Carlotta!« schrie die Fürstin, »hast du den Rosenkranz gebetet? Gleich tust du es, sonst sage ich deinem Beichtvater, daß du heute nacht wieder den Joseph in deinem Zimmer gehabt hast!«

Die Magd verschwand.

Endlich befahl sie: »La bouche!« Das Gebiß knackte, der Kautschukkolben ihres Stockes stieß auf den Boden.

»Meine Leute!« rief sie den Bediensteten der Pension zu, »ihr kocht recht ordentlich, ich habe gut gegessen!«

Sie ging auf die Herzogin los und wiederholte:

»Man wird hier satt. Gesteh es, Lilian, man wird satt.«

»Schon vom Ansehen!« erklärte Lilian.

Stöhnend fiel die Greisin in einen Sessel.

»Machen Sie sich nichts aus dem Trödel hier in dem Lokal. Ich mache mir auch nichts daraus. Da, schaut die Reiterfigur auf dem Tischchen nicht aus wie schwere Bronze? Und nun stoß ich sie um, paßt auf, mit einem einzigen Finger stoß ich sie um. Das ist kein Kunststück, es ist ja hohle Pappe! Ich pfeife drauf! Unsereiner, nicht wahr, Herzogin, nimmt in die elendeste Bude doch immer die große Welt mit.«

›Auch ins Bett des Tamburini?‹ dachten die Blà und die Herzogin gleichzeitig. Sie sahen sich an und errieten einander. Vinon lachte, und Lilian blickte, voll leidenden Hochmutes, über das ganze Zimmer hinweg, worin sie nur dem winzigen Stück eines Stuhlrandes und dem schmalen Raum unter ihren Füßen die Berührung mit ihrer Person gestattete. Die Greisin stampfte mit dem Krückstock.

»Aber ich gedenke hier durchaus nicht mein Leben zu beschließen. Einen Palast will ich mir noch erobern durch meine Tätigkeit, und reich und groß soll meine Familie wieder werden. Ich arbeite, und meine Kinder lohnen es mir mit Undank. Mein Sohn, der in Neapel ich weiß nicht wie lebt, kommt und macht mir Szenen und wirft mir meine Geschäfte vor. Kümmere ich mich etwa um die seinigen? Ich glaube fast, er läßt die Frauen zahlen!«

Sie greinte halberstickt.

»Und niemals unterstützt er davon die Seinigen!«

»Und Ihre Geschäfte?« fragte die Herzogin.

»Ah! Geschäfte! Unternehmungen! Bewegung! Ich will hundert Jahre alt werden! Ich werde eine Pension gründen, oh, ein bißchen feiner als diese hier. Fünfhundert Zimmer, Preis mit Verpflegung nur vier Lire, und dabei hochfein. So mache ich alle andern tot! Glauben Sie's mir?«

»Es scheint ...«

»Haha! Alle andern mache ich tot! Und werde hundert Jahre alt! Nur fehlt mir das Geld, um etwas anzufangen, und mit wieviel Niedertracht muß ich kämpfen, bis ich welches bekomme! Ich will Ihnen mein Geschäft mit der Versicherung erzählen. So eine Versicherung, hab ich gedacht, ist eine wunderschöne Sache. Man versichert sich recht hoch, dann veräußert man die Police und hat Geld, eine Pension zu gründen. Ich bin schon vierundsechzig, aber man nennt mir eine Gesellschaft, die statutengemäß bis zu fünfundsechzig aufnimmt. Der Arzt dieser Gesellschaft untersucht mich, ich sage ihm noch, er soll in seinen Bericht schreiben: ›Diese Dame wird hundert Jahre alt werden‹, und er tut es auch.«

»Herzlichen Glückwunsch.«

»Danke. Aber jetzt kommt die Niedertracht. Sie sollen selber sehen. Vinon, geh und hole meine Geschäftsmappe!«

Das junge Mädchen brachte ein hoch angeschwollenes schwarzes Portefeuille.

»Da sind die Briefe des Agenten und die Abschrift des ärztlichen Berichtes und alles übrige. Nun lassen die Leute mich sechs Wochen warten, und dann, würden Sie's für möglich halten, schreibt man mir, ich sei zu alt!«

»Das ist beleidigend«, bemerkte die Blà. »Sie können die Gesellschaft verklagen, Fürstin.«

»Wenn ihnen vierundsechzig zuviel ist, warum sagen sie erst, daß sie Personen bis zu fünfundsechzig aufnehmen? Oder ob ...«

Die Stimme der Greisin zitterte plötzlich.

»Oder ob sie doch eine Krankheit in mir entdeckt haben? Was meinen Sie dazu, Herzogin?«

»Das ist unwahrscheinlich, bei Ihrer Lebenskraft.«

»Nicht wahr? Ach was, ich bin ja gesünder als Sie! Mit Seiner Hilfe!«

Sie schielte nach oben und murmelte, sich bekreuzigend, etwas Unverständliches.

Die Pensionäre, die den Salon betreten wollten, wichen beim Anblick der fürstlichen Gesellschaft scheu von der Schwelle zurück. Nur ein junger Mann drang, zwischen den Zähnen pfeifend, ein und verbeugte sich leicht. Vinon hob unverschämt ihr Lorgnon vor die Augen, Lilian übersah ihn, und die Cucuru rief schallend: »Guten Tag, mein Sohn!« Darauf nahm er drüben Platz und langte nach einer Zeitung. Zwei Finger am Bärtchen, sah er mit einem zerstreuten Senkblick seiner weichen, schwarzen Augen nach der Herzogin aus; dann nach der Blà, und dann unentschieden hin und her zwischen beiden Damen. Schließlich überzeugte er sich, prüfend geneigten Hauptes, von der Lage seiner übergeschlagenen Beine und dem Sitz seiner zur Hälfte mattgelben, zur anderen Hälfte schwarz lackierten Schuhe. Er war der elegante Herr der Pension, der im Klub speiste und mit dem wohlfeilen Frühstück des Hauses Dominici nur nach Nächten vorliebnahm, in denen er schlechte Karten gehabt hatte. Er ward von den Gästen bewundert, die allein reisenden Engländerinnen schwärmten für ihn. Vinon Cucuru behandelte ihn mit gewollter Verachtung, doch gelang es ihr nicht, über ihn zu lachen.

Ihre Mutter schlug die Herzogin auf die Knie.

»Übrigens, Herzogin, haben wir zwei sehr viel Ähnlichkeit miteinander! Beide kein Geld, und beide aus den höchsten Kreisen. Mein Vermögen hat der Fürst, mein armer Mann, an die Komödianten verschenkt, na und auch mit Ihnen ist Komödie gespielt worden. Eine Revolution, ist das keine Komödie? Haha! Wie sind Sie nur darauf verfallen? Wozu dient so etwas?«

»Zur geselligen Unterhaltung, Fürstin«, sagte die Herzogin und lächelte der Blà zu, die es nicht bemerkte. Ihre Lippen waren leise geöffnet, sie hing mit fieberndem Ausdruck an der Gestalt des Fremden. Er wandte ihr zu bequemer Betrachtung sein Profil zu. Es war ein griechisches Profil, mit bläulich schwarzen, seidenen Haaren auf Wangen und Kinn. Auch die Herzogin hielt ihn für einen schönen Mann, einen von den sehr südlichen, auf deren Händen und Gesicht trotz aller Beräucherung durch Zigarettendampf, Absinthdünste und heiße menschliche Ausströmungen in Spiel- und Weiberhäusern doch unverwüstlich ein Rest liegenbleibt von dem durchsichtigen Marmorglanz der auf ihrer Heimaterde erwachsenen Götter. Aber konnte solche bezaubernde und leere Maske, dargeboten in selbstgefälligen Allerweltsposen, eine Frau, klug, fein und spöttisch wie die Blà, in krampfhaftes Schweigen versenken?

»Eine teure Unterhaltung!« schrie die Cucuru. »Endet damit, daß Ihre Partner Ihnen alle Taschen ausleeren und Ihnen die Tür vor der Nase zumachen. Plötzlich sehen Sie sich im Freien – und lachen noch?«

Die alte Dame ward von Wut bemeistert.

»Wie können Sie noch lachen bei solchen Schurkenstreichen. Ah! Die Schurken! Mit mir sollten sie's zu tun haben, anstatt mit einem Dämchen! Was ich für einen Lärm machen wollte und was für ein Leben! Leben! Bewegung! Hetzen wollte ich sie, die Diebe meines Geldes! Der Himmel sollte sie verschütten und die Erde sie verschlingen! Ich werde es nicht dulden, Herzogin, daß Sie sich beruhigen! Statt Ihrer werde ich selbst den Räubern auf den Buckel springen, sie kratzen und ihren Klauen entreißen, was ich bekommen kann. Haha, verlassen Sie sich darauf, ich werde etwas bekommen! Ich werde ...«

Plötzlich stürzte Pavic ins Zimmer, rosig gefärbt und fast verjüngt. Er rief aufgeregt:

»Etwas Wichtiges, Hoheit. Endlich finde ich Sie. Ein großes Glück für uns, eine sichere Aussicht ... Ja so, Piselli, woher kommen denn Sie?«

Der elegante junge Mann trat mit ausgestreckter Hand auf ihn zu. Pavic hatte ihn auf dem Korso kennengelernt, in irgendeinem Kaffeehause, unter den Genossen des müßigen Lebens, zu dem er jetzt selber verurteilt war. Er stellte ihn der Herzogin vor:

»Herr Orfeo Piselli, ein Kollege, ein ausgezeichneter Advokat ... und auch ein Patriot.«

Während Piselli seine geschmeidigen Verbeugungen machte, überstürzte Pavic seine Worte.

»Ich komme nämlich von San Bacco, ich habe mit ihm eine Konferenz gehabt, er läßt Ihnen offiziell sagen, Frau Herzogin, daß er bereit ist, mit tausend Garibaldianern in Dalmatien einzufallen. Der Erfolg ist gar nicht zweifelhaft. Alles ist gerüstet, die Tausend warten bloß auf das Zeichen. Wir müssen noch Schiffe mieten, dann kann es losgehen. Nehmen Sie an, Hoheit, nehmen Sie an! Diesmal ist der Sieg unser ... Lauter erprobte Helden ...«

Er redete um so nachdrücklicher, je ungläubiger die Mienen seiner Hörerinnen wurden. Noch stand er unter dem Sturzbad von Begeisterung, das erst eben, ganz frisch, von einem ritterlichen Schwärmer über ihn ausgeschüttet war. Er fühlte es noch sprudeln, er wollte begeistert sein – und insgeheim bangte ihm dennoch schon vor der Ernüchterung. Piselli fiel ihm ins Wort, säuselnd, mit einschmeichelndem Bariton.

»Diesmal, Herzogin, gehört der Sieg Ihnen! Nehmen Sie an, ich kann es kaum erwarten, – ah, was spreche ich von mir; die ganze idealistische Jugend kann es kaum erwarten. Wir alle wollen den großen Kampf mitkämpfen, Herzogin, für ein Lächeln von Ihnen. Wenn Sie wüßten, wie unser aller Herzen für Sie schlagen, und wie sie geblutet haben bei Ihrem Unglück! Jetzt endlich naht die große Stunde, jetzt endlich verbündet sich Ihre Hoheit und Anmut mit unserer Begeisterung und unserer Kraft. Der unwiderstehliche Zauber des Namens der Tausend von Marsala wird vor Ihren Fahnen hergehen, als ein Schicksal, dem alle sich beugen. Sie siegen ... und wir ... wir ...«

Er ließ seinen glücklichen Blick unter den Damen kreisen. Es lag ihm fern, sein Organ anzustrengen. Nur ganz oberflächlich spielte er mit dem ausschweifenden Gefühl, das in des Tribunen Stimme sich überschlagen hatte, und ließ ruhigen Mutes merken, es sei ein Spiel. »Ich führe mich Ihnen vor«, schien er zu sagen. »Meine Damen, ist das nicht genug?«

Die Herzogin erlaubte ihm, mit seinen Wohlklängen fertig zu werden; sie fand ihn angenehm vor Augen zu haben. ›Er ist ein wohlgeratener Mensch‹, dachte sie, ›und hat recht, wenn er mit sich zufrieden ist.‹ Wegen des Planes, den man ihr vortrug, hatte sie keine Bedenken. Sie fragte achselzuckend die Blà um Rat. Doch ihre Freundin kam nicht los von Piselli. Sie sah aus, als verursache sein Anblick ihr einen körperlichen Schmerz, der sie beselige.

Aber die Cucuru brach los; ihre Stirn war schon lange gerötet.

»Hört ihr endlich auf mit eurem Unsinn? Mit euren tausend lächerlichen roten Hemden wollt ihr ein Königreich erobern, das Soldaten hat? Ihr meint wohl, es gehe überall wie in Neapel: alle Welt bestochen und alles im voraus abgemacht, Kanonen mit Blumen gefüllt und mit Knallbonbons, und von den Mauern reichen schöne Mädchen den Stürmenden die Hände. Nicht wahr, so denkt ihr's euch? So denkt ein Narr wie San Bacco sich das Leben. Auch einer, den die Komödie all sein Geld gekostet hat. Patriotismus und Freiheit, welch alberne Komödientitel!«

Sie stieß, außer sich bei dem Gedanken an all das für Ideale verschwendete Geld, mit der Krücke nach der Herzogin, die zusammenschrak.

»Geht ihr nur mit euren tausend Hampelmännern nach Dalmatien! Nichts wird dabei herauskommen, nichts, als daß man euch auch nur noch euer letztes Geld wegnimmt, falls ihr noch ein letztes habt! Und nichts werdet ihr wiederbekommen, gar nichts, gar nichts, gar nichts!«

Plötzlich saß sie da wie gelähmt. Der Mund blieb offen stehen, die Zunge lag dick aufgerollt zwischen den Zähnen. Sie hatte mitten im Sprechen eine Eingebung gehabt, die sie überwältigte. Nach einer Weile ängstlichen Wartens sah man die alte Dame das Gebiß schließen und sinnend vor sich hin murmeln.

Die Herzogin und die Blà verabschiedeten sich. Piselli hatte wieder zu sprechen begonnen. Er rühmte seine Beziehungen zu der vornehmen Jugend und nannte die stolzesten Namen.

»Alle diese Herren sehe ich täglich im Klub. Mit vielen habe ich schon von Ihrer Sache gesprochen, Herzogin. Ich kann unendlich viel für Sie tun. Die Damen kennen sicher den Prinzen Maffa. Das ist mein Freund ...«

Bei der Erwähnung dieses Namens hörte man ein dumpfes Aufstöhnen. Lilian Cucuru entfernte sich ohne ein Wort. Piselli ließ sich dadurch nicht stören. Jede Wirkung seiner Persönlichkeit war ihm recht; nur wirken mußte sie. Er ging mit Pavic hinter den beiden Frauen her. Draußen atmete er im Nacken der Blà und redete nur für sie. Der Instinkt des berufsmäßigen schönen Mannes hatte ihm längst gesagt, wo das Weib sei.

Sie faßte sich. Sie lächelte ihm über die Schulter zu, ihre Augen bekamen einen künstlichen Glanz, wie von Atropintropfen. Sie gab ihren Geist zum besten, und Piselli wand sich vor Bewunderung.

»Contessa, ich habe Ihre Gedichte gelesen. Welch Schmelz, welch Blütenstaub! Ach, die Gefühle! Wer kennt nicht Ihre ›Schwarzen Rosen‹? Sie sind eine Berühmtheit, Contessa. Ein Verehrer mehr oder weniger, der Ihnen einige Minuten raubt, was macht Ihnen das! Ich darf Sie besuchen, Contessa? Sie gestatten es?«

Die Herzogin sagte:

»Ich weiß nicht, die Cucuru hat etwas Pittoreskes, von gemeiner Ängstlichkeit ist sie weit entfernt. Möglichenfalls wäre sie zu manchen ungewöhnlichen Handlungen fähig. Sie sagt mir beinahe zu.«

Kaum war die Haustür hinter den Besuchern geschlossen, so wurden Lilian und Vinon von der Mutter in das Wohnzimmer der Familie geschoben. Sie riegelte ab und humpelte in die Mitte des Gemachs. Ihre Gestalt verbreiterte sich seltsam nach unten; ihr Fett hatte die Neigung, in gewellten Klumpen herabzurutschen, von den Wangen auf den Hals, vom Hals auf den Busen, vom Busen auf den Bauch und vom Bauch auf die Beine. Den Stock entlang, an dem die Alte sich aufrecht erhielt, wollte es scheinbar hinabfließen, um auf dem Boden einen Brei zu bilden. So stand die Fürstin, schnaufend und heiter äugelnd, vor ihren hohen blonden Töchtern.

»Was ist denn?« fragte Lilian kurz.

»Kinder, ich habe ein neues Geschäft!«

Vinon jubelte hell auf:

»Maman hat ein Geschäft!«

Lilian erklärte verächtlich:

»Maman, du machst dich lächerlich. Eben erst hat dich eine Versicherungsgesellschaft zum besten gehalten, und du bist noch nicht zufrieden?«

»Die Schurken von der Versicherung, mit denen bin ich fertig. Sie werden es übrigens bereuen. Jetzt bin ich in der Lage, wichtige politische Dienste zu leisten, die man mir hoch bezahlen wird. Davon errichte ich dann eine Pension.«

»Und wirst hundert Jahre alt. Kennen wir.«

»Hört doch nur zu, Kinderchen, ich bitte euch. Vorhin meinte ich, daß bei dem unsinnigen Geschwätz von ihrem Einfall in Dalmatien gar nichts herauskäme. Aber es kommt doch etwas heraus, das habe ich gleich darauf gemerkt. Ich werde nämlich von dem Plane des Narren San Bacco Seine Exzellenz den dalmatinischen Gesandten in Kenntnis setzen.

Was meint ihr, daß das Geschäft einbringen kann?«

»Ein nettes Geschäft«, meinte Lilian. »Maman, deine Industrien werden immer ordinärer.«

»Das habe ich davon«, so greinte die Cucuru. »Ich opfere mich für sie, und so danken sie's mir. Euch muß man zu eurem Glücke zwingen, ihr Kindchen ... Und ich zwing euch!« schrie sie, aufstampfend, hochrot, wild und boshaft. »Ich leg euch noch in die Betten von steinreichen Männern und erobere mir all das Geld, das die Gauner mir nicht geben wollen, und mache unser Haus groß und lebe ... lebe.«

»Maman, deine Lebenslust ist nachgerade widerlich«, sagte Lilian, weiß und kalt. Sie entschädigte sich in der Vertraulichkeit solcher Unterredungen für alle Vergewaltigungen, die sie draußen erfuhr.

»Deine Geschäfte werden dich vor Gericht führen, so endest du.«

Die Alte keifte dagegen.

»Und wo wirst denn du enden, du schlechte Tochter? In einem Hause, das ich gar nicht nennen will!«

Lilian ging ins Schlafzimmer und schlug die Tür zu.

»Du bist besser als deine Schwester«, sagte die Cucuru zu Vinon. »Geh, Töchterchen, zur Wirtin und bitte sie um einen großen Bogen weißen Papiers und um Tinte; die unsrige ist eingetrocknet. So ist es recht, setze dich an den Tisch, wir schreiben dem Gesandten. Als ob das nicht ein ausgezeichnetes Geschäft wäre; was will denn jene? Was gehört alles dazu, damit einem so etwas einfällt, und wieviel Arbeit habe ich nun davon! Ah, Unternehmungen! Bewegung! Leben! Sie werden mir Geld geben müssen, die Schurken, für meine Nachrichten, und ich werde etwas zurückgeholt haben von dem, was sie der armen Herzogin gestohlen haben ... der armen, törichten Herzogin«, wiederholte sie schadenfroh und weinerlich.

Vinon ordnete ihr Schreibgerät vor sich auf dem Tische, sie zog Linien, sauber und genau, und begann dem Diktat der Mutter zu folgen.

»Wir schreiben Französisch, meine Vinon, das ist die Diplomatensprache. Nimm dein Wörterbuch zur Hand.«

Die junge Prinzessin schlug Vokabeln nach, die Ellenbogen auf dem Tische, ernst und vertieft wie ein Schulmädchen.

»Das ist einmal eine Arbeit«, stöhnte die Fürstin, »mir brummt schon mein Kopf. Ich brauche eine Anregung. Lilian, mein Kind, reiche mir die Schachtel mit den Zigaretten.«

Das Schlafzimmer war, da die Damen es spät verlassen hatten, noch nicht aufgeräumt. Lilian kehrte in den Salon zurück; es gehörte ihr kein dritter Raum. Sie hob einen alten Morgenrock auf, dessen Saum herabhing, und durchkostete eine lange Weile, mit untätigen Händen, die Erniedrigung, diesen Fetzen ausbessern zu müssen. Dann machte sie sich daran.

Die Alte stieß zwischen den Sätzen, die sie Vinon vorsagte, Rauchwolken aus und trällerte dabei im scharfen Diskant, kurzluftig und heiter, Bruchstücke einer Arie. Endlich war sie fertig, sie faltete die Hände und warf den Kopf in den Nacken.

»Wenn du mein neues Geschäft nur segnen wolltest! Ohne deinen Segen schlägt es natürlich wieder fehl. Ach was, du wirst es segnen.«

»Kinderchen!« rief sie und sprang auf. »Wir wollen meine Madonna bitten, meine schöne Madonna!«

Sie wälzte sich zur Tür, die sie aufstieß.

»Meine Leute! Kommt alle herein, ihr müßt mit mir beten,« damit meine Madonna mein neues Geschäft in ihren Schutz nimmt.«

Der fettige Kellner, Carlotta und Joseph der Arbeitsmann, die Köchin und die Scheuerfrau drängten hinter der Fürstin her in das Schlafgemach. Lilian wandte sich ab, händeringend. Vinon lachte. Die Cucuru ließ sich auf die Knie nieder vor einer großen, glatt und süß gemalten Madonna, ihrer Hausgöttin, die ihr durch alle Schiffbrüche ihres Lebens und bis in das Haus Dominici treu geblieben war. Inmitten von abgelegten Strümpfen, von Puderbüchsen, Waschschüsseln mit ausgekämmten Haaren und von nicht mehr frischen Peignoirs knieten die Bediensteten der Pension. Sie ließen Rosenkränze durch schwarze Finger gleiten und plärrten mit zuversichtlichen Stimmen nach, was die Fürstin im Litaneienton ihnen vorbetete.

 

Am nächsten Mittwoch des Kardinals kam der garibaldinische Eroberungsplan zur Sprache. San Bacco selbst vertrat ihn mit Feuer. Die Cucuru lachte schallend und fuhr wieder die mit Blumen und Knallbonbons gefüllten Kanonen auf. Monsignor Tamburini sagte mit der fetten Stimme der Wirklichkeit, man müsse sich für eins entscheiden: mit Hilfe der Kirche langsam Boden zu erkämpfen oder aber mit einem Schlage alles gewinnen zu wollen und wahrscheinlich alles zu verlieren – nach Art grauer Jünglinge. Darauf schnaubte San Bacco dem Priester zu, nur das Kleid, das er anhabe, schütze ihn vor einer Züchtigung. Tamburini sah sich, leicht beunruhigt, nach zustimmenden Gesichtern um. Schließlich gab die Blà ihm recht. Sie widerriet ihrer Freundin ein übereiltes Abenteuer. Die Herzogin fragte enttäuscht: »Warum haben Sie neulich geschwiegen?« Die Blà dachte an Piselli, sie errötete schwach. Die Herzogin erinnerte sich: Sie hatte ja Besseres zu tun ...

Der Abend verlief flau. Die Cucuru erzählte, albern wiehernd, der Herzogin, sie habe jetzt ein neues, sicheres Geschäft; es werde ihr viel Geld einbringen.

»Nächstens eröffne ich meine Pension. Kommen Sie zu mir, Herzogin, es kostet nur vier Lire, das werden Sie doch bezahlen können. Und dafür will ich Sie nähren! So fett sollen Sie werden wie ich selber.«

Die folgende Versammlung fiel aus. Ereignislos gingen die Wochen hin. Die Herzogin fuhr Korso mit der Blà. Wenn sie beim Konzert auf dem Monte Pincio in einer Reihe glänzender Gefährte hielten, besuchten Pavic und Piselli, in schönem Anzuge wetteifernd, sie am Wagenschlage. Prinz Maffa und seine aristokratischen Klubfreunde ließen sich vorstellen. San Bacco grüßte aus einem Kreise offizieller Persönlichkeiten heraus die verbannte Herzogin von Assy.

Nach einem sanften Musikstück schlenderte in der stillen, warmen Septemberdämmerung die ganze Gesellschaft zu Fuße die Ripetta entlang. Monsignor Tamburini stieß zu ihr.

»Ein Gelato zu einer Kantilene von Rossini, was wollen wir denn mehr?« fragte die Blà, süß erschauernd. Piselli ging neben ihr. Sie fügte träumerisch hinzu:

»Zum Konspirieren braucht man soviel Geld.«

Pavic wiederholte trübe:

»Soviel Geld.«

Tamburini bestätigte hart und habsüchtig:

»Geld.«

Lüstern und weich sprach Piselli es nach:

»Geld.«

San Bacco, der erhabene Bettler, der im Namen des Ideals alles umsonst hatte, ließ das Wort verächtlich fallen:

»Geld.«

Befremdet, als hörte sie zum ersten Male davon reden, sagte die Herzogin:

»Geld.«


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