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IV

Sie hielt ihr Leben in Händen, die nicht zitterten, sieben Jahre lang. Man kannte sie kaum. Sie war die nächste Vertraute von allem, was in Venedig versteinert oder in unerreichbaren Farben schlief und prangte. Für alles, was umhertastete, kränklich aussah und Eitelkeiten besaß, blieb sie eine Fremde. Ihr enger Kreis umschloß fast immer die gleichen Personen, und keiner davon konnte sich rühmen, einen Zugang offen gefunden zu haben zu ihren Verschwiegenheiten. Sie veranstaltete Feste, ihre Gäste gaben ihr ein Schauspiel. Sie machten ihr das Haus bunt und warm, und zwischen sich und der Herzogin von Assy empfanden sie etwas wie eine erleuchtete Rampe.

Zuweilen aber richtete sie ein herzliches Wort an Weithergekommene, die nächsten Tages weiterreisten.

Sie hatte irgendein junges Mädchen aus dem Norden über den Markusplatz schlendern sehen, selbstbewußt und ahnungslos. Acht Tage darauf fand sie sie an der nämlichen Stelle, verlegenen Gesichts und mit Schritten, die zögerten. Und wieder eine Woche später stand dasselbe Wesen am Ende des Platzes und lächelte nicht mehr. Die Angst vor dem Unfaßlichen legte sich unmerklich auf ihre Miene.

Im Hof des Dogenpalastes, vor der Riesentreppe, traf sie manchmal junge Engländerinnen, drei oder vier. Statt des ärmlichen Reiseführers brachten sie ein kostbares und schweres Buch mit. Sie öffneten den vergoldeten Pergamentdeckel; eine las, und die anderen sahen hinauf zu den Giganten. Die buntseidenen Schals fielen von ihren weißleinenen Sommerhüten über ihre gelben Locken, und da sie anfingen zu fühlen, wurden sie nahezu schön.

Die Herzogin ließ jemand ihnen nachgehen bis an ihr Hotel; dann lud sie sie ein. Mortœil und der alte Dolan machten sich hinterher lustig über die schüchternen Gestalten, die eines Abends schweigsam und mit weitoffenen Augen auf einer Stuhlecke gesessen hatten. Die Herzogin erwiderte:

»Ich kenne nur eine Aristokratie: die der Empfindung. Gemein nenne ich jeden, der häßlich empfindet. Stellen Sie einen Unbekannten vor eine Madonna des Bellini; es wird sich entscheiden, von welchem Stande er ist.«

Bei der Madonna der Frari begegnete sie einst einer jungen Frau mit einem dreizehnjährigen Knaben. Sie war mager und von schlichter Eleganz; auf ihrer durchsichtigen Blässe glühten zwei Flecken zu beiden Seiten des eingesunkenen Nasenrückens. Ihre glänzendschwarzen Haare verdeckten die Hälfte der Ohren; daran hingen große, kleine Brillanten. Ihre Hände waren schmucklos, bleich und zu lang, gleich denen der Heiligen. Gleich diesen klagten sie an. Und sie berührten das Kind wie die gemalte Frau das ihrige, mit ebensolcher Inbrunst und mit so wenig Kraft. Es war, als verlösche über der Fremden das Gold derselben Kuppel, ja, als bedecke der dunkel- und mattblaue Faltenmantel der Madonna auch sie. Je länger sie der Thronenden ins Gesicht starrte, desto ähnlicher ward sie ihr: hochmütig, voll eifersüchtig behüteten Leides, mit einem Munde schmal und eng verschlossen ... Die Herzogin wünschte heftig, er möge für sie sich öffnen ... Der Knabe hatte aschblondes Haar, halblang und in ein paar große Locken hinaufgebogen. Zwischen seinen willkürlichen, kurzen Lippen blitzte ein feuchter, weißer Streif. Sein Mund war vor Kühnheit fast töricht. Seine Blicke eilten, blau und feurig, unter den freudig erstaunten Brauen hindurch wie durch hohe, schmale Triumphbogen. Er war schlank und schmächtig. Eine seiner Hände, mit seltsam dünnen Gelenken, lag zur Faust geballt im Rücken. Eines seiner feinen Beine war vorgestellt, kriegerisch und dennoch gebannt. Er trug einen schwarzsamtenen Flausch mit breit über die Schultern geschlagenem weißem Kragen. Es sah aus wie die Verkleinerung einer alten Künstlertracht. Aber darüber hatte das Kind einen Säbel geschnallt.

Die Herzogin stand hinter ihm. Er wandte sich nach ihr um und betrachtete sie mit scheuem Erstaunen. Dann sah er hastig weg. Er verhielt sich ganz ruhig, mehrere Minuten lang. Nur sein Kopf zuckte ein paarmal zur Seite. Endlich drehte er ihr, rasch und fest, noch einmal das Gesicht zu. Sie las deutlich darauf, daß sie ihm inzwischen zu einem Erlebnis geworden war – vielleicht zu einem wunderbaren. Es ging durch die Knabenaugen wie ein Blitzen von lauter Abenteuern. Sie dachte an San Bacco, wenn er seine edelsten, von aller Weltklugheit verlassenen Augenblicke gehabt hatte. Sie dachte auch der Männer zu Zara, die von den Gefahren in ihrem Dienste manchmal auf einige Stunden frei und schön gemacht worden waren. ›Jene‹, so meinte sie, ›brauchten Revolutionen und Kriege, um sich zu kurzer Begeisterung zu erhitzen. Wieviel lohnender ist es, hinter diesen Knaben zu treten. Er kennt noch gar kein Zurückbleiben hinter den höchsten Hoffnungen. Es scheint, daß er sich erinnert, wozu er geboren ist – sobald ich ihm zulächle.‹ Sie tat es. Er errötete und sah weg. Darauf ging sie hinaus. Die Mutter hing an den Zügen der Madonna und hatte nichts bemerkt.

Die Herzogin sah dieses neue Paar nun fast täglich, bei einem Kunsthändler, in einer Kirche oder auf dem Dampfer im Großen Kanal. Die Mutter trug immer dieselbe abgeschlossene und tiefbeschäftigte Miene. Sie führte den Knaben eng an der Hand, sie ließ ihn nicht einmal los, während sie auf dem Schiffe nebeneinander saßen. Nur zuweilen, wenn das gotische Rätsel oder der maurische Märchentraum eines Palastes überm Wasser vorbeiglitt, richtete sie dorthin einen ihrer magern und spitzen Finger, und sie sagte dem Knaben etwas ins Ohr.

Er wartete jedesmal auf das Erscheinen der Herzogin. Er war unaufmerksam für alle die gemalte und gemeißelte Schönheit, die die Mutter ihm zu verehren gab; so lange, bis er die unerhörte Fremde gefunden hatte. Er begrüßte sie stumm, mit feierlichem Stolz und niemals ohne Erröten.

Einmal, auf einer Fahrt nach dem Lido, entfiel der Herzogin ein Buch. Der Knabe erblaßte heftig; er kämpfte einen anstrengenden Kampf; das bevorstehende Wagnis beschämte ihn, und sein Zögern erst recht. In der Hast verwickelte schließlich sein Fuß sich im Kleide der Mutter. Er kam fast zu spät; einer der Herren, die bei der Herzogin waren, hatte das Buch schon erfaßt. Sie raunte ihm zu: »Lassen Sie!« Dann hob der Knabe es auf. Er glättete die zerdrückten Seiten und hielt die Augen darauf gesenkt. Seine langen Wimpern warfen einen durchbrochenen Schatten auf die weiche Wange. Die Herzogin bemerkte die blaue Ader über seiner dünnen Nasenwurzel, und wie schwach und weiß sein Hals war. Sie nahm das Buch.

»Ich danke dir, mein Lieber«, sagte sie, als gehörte er zu den Freunden in ihrer Begleitung. »Kannst du das lesen?«

Es waren Platens venezianische Sonette. »Ja«, antwortete er und zog aus der Tasche einen andern deutschen Band. Er war bei einer Kapitelüberschrift aufgeschlagen. Der Knabe hielt sie ihr hin; sie las: »Der Freibeuter raubt die Prinzessin. Werden sie zwischen den Kanonen des Kreuzers entkommen?«

Er lief zur Mutter zurück; sie hatte nach ihm gesucht. Sie runzelte die Stirn und faßte seinen Arm sanft und fest. Dann aber sah sie hinüber, seinem Blicke nach. Und plötzlich ließ sie ihr Kind los und machte eine Bewegung mit ihrer sprechenden Hand: »Zu jener Dame darfst du gehen. Geh nur!«

Er ging aber nach vorn, an die Spitze des Dampfers, die leer stand, und setzte sich in den Wind. Die Herzogin sah sein Profil mit kurzer Lippe, leicht aufgeworfener Nase und einer besonnten, runden Locke unter der Kappe, hochgemut und hell in die Sommerluft geschnitten wie in eine große Perle. Es ward ihr leicht, von seiner klaren Stirn alle Einbildungen und Spiele abzulesen, die ihn jetzt davongetragen hatten. ›Er ist Freibeuter‹, so erkannte sie, ›und laviert mit der Prinzessin zwischen den Kanonen des Kreuzers.‹ Dann meinte sie:

›Es könnte sein, daß ich unfreiwillig mitspiele als Prinzessin. Wer kann wissen, zu welchem unwahrscheinlichen Abenteuer er in der Seele eines Knaben wird? Und wahrhaftig, ich möchte fast hingehen und allen Ernstes mitspielen ... Wie dieser Knabe stolz ist! Seine Blicke schießen durch den Sonnenschein gleich Schwalben. Ihrer Zukunft froh, schießen sie über die Lagune, über dieses für immer vom Meere abgeschnittene Stück Wasser.‹

 

Endlich traf sie die beiden bei Jakobus in seinem Atelier am Campo San Polo. Es war gerade niemand weiter da; der Maler machte sie bekannt mit Frau Gina Degrandis und ihrem Sohne Giovanni.

»Wie geht's denn?« fragte die Herzogin den Knaben.

»Wir sind nämlich Freunde«, erklärte sie, und sie bat die Mutter, es zu erlauben. Frau Degrandis war fassungslos beglückt. Sie wollte an die Güte dieser fremden und schönen Frau gar nicht glauben. Sie reichte schüchtern die Hand, sammelte sich im Gespräch nur langsam und verriet durch ihre scheue Anmut eine gedrückte und weltfremde Vergangenheit. ›Wer war doch das?‹ fragte sich die Herzogin schon nach fünf ihrer Worte, und sie stöberte umher unter den Bildern früherer Tage.

Jakobus legte den Arm um den Nacken des Knaben und führte ihn vor eine frische Leinwand. »Paß auf«, sagte er und zeichnete in starken Umrissen ein paar Köpfe herunter.

»Wer ist das?«

»Ich.«

»Und das?«

»Mama.«

Die Mutter stand dahinter, angstvoll lächelnd.

»Ob er Talent hat?«

Jakobus lachte aufgeräumt.

»Bei mir hat er Talent!«

Und er spielte mit der feingliedrigen Hand des Knaben.

»Nino, gib acht«, flüsterte die Mutter, »das ist deine erste Lektion.« .

Ihre Stimme versagte vor geheimer Ehrfurcht. »Ein großer Maler nimmt sich deiner an.«

»Bitte. Wir sind nicht eitel, wie, kleiner Freund?« rief Jakobus, und er warf mit Kohle eine so ausgelassene Fratze hin, daß der Knabe aufjubelte. Die Herzogin betrachtete die Mutter liebevoll und mitleidig. Sie meinte im stillen:

›Wenn dieser junge Johannes nicht aussähe wie einer seiner Florentiner Vettern vor vierhundert Jahren, und wie einer der am offensten blickenden, würde hier dann von seinem Talent die Rede sein? Wie er dasteht mit den Händen auf dem Rücken! Er verlangt gar nicht danach, den Stift in die Hand zu nehmen. Er schaut neugierig und befremdet zu, was der berühmte Maler für Kunststücke macht.‹

Frau Degrandis dachte:

›Wie lieb ist diese Herzogin von Assy – so lieb wie schön! Seit sie da ist, merkt der Meister bei meinem Kinde das Talent. Es ist, als hätte sie es mitgebracht!‹

Der Knabe nickte nach der Herzogin hin.

»Warum zeichnen Sie nicht auch die Dame?«

»Die habe ich früher gezeichnet«, erwiderte Jakobus.

»La Duchesse Pensée«, sagte Frau Degrandis mit so eifrigem Staunen, als sei die Herzogin selber das Werk von Meisterhand. Die glänzenden Blicke der blassen Frau hängten sich unermüdlich an die geschnitzten Kandelaber, die eingelegten Truhen und die mit Geschichten durchwebten Stoffe, die darauf lagen, schwärzlichrot und tragisch, wie durchtränkt mit dem Blut alter Heldenkönige. Sie rang mit jedem der Bilder, ehe es sie wieder losließ, und eilte zum nächsten, in der fiebernden Sorge, eine Schönheit zu versäumen. Ein Husten befiel sie. Sie erstickte ihn gewaltsam im Taschentuch und kehrte, die Augen noch feucht, zurück zu den gesunden, von keinem Tode bedrohten Dingen. »Bello!« sagte sie, und das Wort umarmte die Welt.

Die Herzogin erfuhr von ihr, daß sie in Venedig keinen Menschen kannte. Sie verkehrte nur mit Kunstwerken, und nur den Freunden zuliebe, die sie unter ihnen besaß, wohnte sie in dieser Stadt.

»Und Sie trachten, von den Bildern und Statuen zu erlangen, daß sie auch Ihrem Sohne gute Freunde werden, nicht wahr, Frau Gina? Nun möchte ich selber mich einschleichen unter diese stillen Freunde. Sie werden beide in mein Haus kommen, versprechen Sie's?«

Gina versprach es. Sie gab sich der neuen Freundin ganz hin, gleich in der ersten Stunde. Die Menschen hatten sie enttäuscht, gestand sie; ihre arme Sehnsucht nach Vertrauen wagte heute zuerst wieder ein Lid zu öffnen.

»Ah! Ich möchte Nino vor ihren Mißhandlungen behüten. Jede seiner Vorstellungen soll ein schönes Bild sein, jeder seiner Gedankengänge soll ins Reich der Kunst münden. Wird es gelingen, glauben Sie's, Herzogin?«

Ohne zu antworten, sah die Herzogin zu, wie der Knabe über des Malers Arm hinweg aus dem Fenster spähte. Seine Augen waren freigemut und allem Leben offen, und sein schwacher Hals durchschlängelt von bläulichen Linien. »Und dann ist er von einer kranken Mutter«, sagte Gina leise.

Die Herzogin betrachtete ihn noch immer. Auf einmal drängte es sie, inständig zu verlangen:

»Gestatten Sie ihm zu leben, zu leben, soviel er kann!«

»Aber warum nicht als Künstler?« setzte sie hinzu. »Nino, nicht wahr, du willst ein Maler werden? Wie wirst du glücklich sein, wenn deine Werke durch die ganze Welt deinen Namen tragen!«

Nino sah sie groß an.

»Ich möchte ihn lieber selbst durch die ganze Welt tragen«, versetzte er und ward rot.

»Und die Unsterblichkeit, mein Lieber, was sagst du zu ihr?«

Der Knabe wippte auf den Absätzen vor Stolz:

»Die fahrenden Ritter sind alle unsterblich.«

»Bravo!« rief Jakobus. »Hier hast du meine Hand. Wir sind beide aus dem Hause Quichotte de la Mancha ... Die Unsterblichkeit!« wiederholte er mit einem Lachen, das vielleicht bitter war. Er legte Ninos Arm in seinen und beugte sich zu ihm hin, in seinem samtenen Renaissancewams mit seidenen Ärmeln. An seinem Hals saß eine weiße Krause und auf seiner Nase eine Brille. Er sah geneigten Hauptes darüber hinweg, hart und prüfend, und immer unbefriedigt. Ein ergrauender Schopf hing ihm tief in die Stirn. Die Herzogin fragte sich überrascht, ob Nino mit vierzig Jahren nicht ähnlich aussehen werde. Sie wünschte es geradezu. Darauf bemerkte sie, daß der Maler und der Knabe die gleiche kurze, willkürliche Oberlippe hatten, und erschrak fast darüber.

Mutter und Kind verabschiedeten sich. Jakobus bat die Herzogin:

»Lassen Sie mich jetzt nicht allein. Sie haben von Unsterblichkeit gesprochen und mich damit an meine Torheiten von ehemals erinnert.«

»Welche Torheiten?« fragte sie und ließ sich nochmals nieder, auf einen wurmstichigen Sessel mit blankgescheuerten Armlehnen und von edlen Formen.

»Vor allem die Torheit, den ungeheuren Traum derer vor vierhundert Jahren weiterträumen zu wollen.«

Er ging vor ihr hin und her.

»Einmal bildete ich mir ein, eine ihrer Empfindungen sei mir in den Pinsel geflossen, damals, als ich die Pallas des Botticelli malte. Jetzt zweifle ich: der eine Augenblick der Größe ist so lange her, ich möchte ihn bestätigt sehen durch einen zweiten.«

»Seien Sie doch stark! Halten Sie sich für unsterblich!«

»Ach! Die Unsterblichkeit ist ja der Lohn für etwas, was noch stärker ist als wir: für ein Werk, das unser Leben überbietet und sich über seinen Gipfel hinwegschwingt. Vielleicht ist es nur eine einzige Statuette, an die wir unsern Namen mit solchem Stolze schreiben, daß er zu funkeln scheint. Viel später nimmt dann eine Frau, die zu empfinden versteht, ein kleines, altes, irgendwo aufgetriebenes Bronzebild zwischen die spitzen Finger, liebkost die schlanken Formen, und ein wenig Staub wegwischend, deckt sie einen schon vergessenen Namen auf und spricht ihn aus. Unter dem Bilde dieser Frau denke ich mir die Unsterblichkeit.«

»Um so besser, wenn Sie zum voraus wissen, wie sie aussieht.«

»Was hilft es mir? Diese Frau, die für alles Schöne empfindet, wird meine arme Statuette nie zwischen den Fingern drehen. Seit ich sie in Rom kennenlernte, ist sie immer fremder und unzugänglicher geworden. Ihre Haut hat sich seitdem mit Silber überzogen wie ein Pfirsich in einem Glas Wasser.

Hinter ihren Augen steht eine stille Flamme. Ihre Schönheit ist reifer geworden und dabei kühler und hat sich beruhigt. Die Flügel ihrer feinen, großen Nase sind weniger bewegt, ihre Lippen sind schärfer umrissen und voller. Sie ist nun ganz die Pallas, als die ich sie zum voraus gemalt habe in dem mittleren ihrer Säle: – ja bloß noch Göttin. In Rom war sie menschlicher.«

»War ich menschlicher?«

»Auch noch in Venedig waren Sie anfangs menschlicher. Ich sollte damals mit einer kostbaren Abenteurerin ein wohlfeiles Erlebnis haben. Ich sträubte mich; Sie rieten mir, es rasch abzutun; Sie fragten mich: ›Lieben Sie mich etwa?‹ ... Ist es wahr, daß Sie so fragten?«

»Allerdings; und Sie haben mich vollkommen beruhigt, indem Sie mir die Geschichte erzählten von der Seele im Park. Sie lieben nur Seelen – ich aber bin ein Bild wie Lady Olympia. Und Bilder lieben Sie nicht; Sie malen sie einfach.«

»Aber Sie, Herzogin, male ich zu oft. Ich gestand es Ihnen schon damals, daß Sie mich immer aufs neue reizen und bedrängen. Schon damals hatte ich meine Zweifel. Jetzt weiß ich längst, Ihr Bild verlangt nicht bloß nach meiner Leinwand ... Ja, es war ein Irrtum, als ich mich vermaß, Sie nicht zu lieben!«

»Das sagen Sie?«

Sie zögerte, betroffen und unzufrieden. Dann versuchte sie zu scherzen.

»Ich bin Ihnen dankbar, daß Sie den Irrtum so lange aufrechterhalten haben. Jetzt habe ich zu Ihrer Belohnung Ihr Geständnis angehört. Ich bin ja neununddreißig, und Sie ...«

»Vierundvierzig. Und Sie meinen, das sei der Moment, um unbesorgt zu reden, weil alles verpaßt sei? Aber Sie bedenken nicht, daß ich seitdem kaum gelebt habe. Ich bin eigentlich noch fünfunddreißig, trotz grauer Haare. Mein Dasein ist seitdem leer geblieben und hat, wenn ich es verraten darf, auf Sie gewartet.«

»Sie vergessen Clelia.«

»Sie werfen mir Clelia vor?« rief er, unwillig und mit Erröten. Sie legte den Kopf auf die Schulter und sah ihm in die Augen, unsicher lächelnd. Er sagte: »Jetzt sind Sie unehrlich! Seien Sie ehrlich, stellen Sie sich nicht, als hielten Sie die alberne Clelia für einen Einwand gegen meine Liebe zu Ihnen!«

»Clelia hat den Herrn von Mortœil doch nur geheiratet, um sich sofort in die Arme ihres berühmten Malers zu werfen.«

»Das ist es. Ich bin ja nur ein Maler für Clelia. Sie stellt sich zwischen mich und die andern Frauen und sagt: ›Da ist er. Wollt ihr etwas von ihm haben, so wendet euch an mich!‹ Sie nutzt mich aus für ihre Machtgier. Sie liebt mich kaum.«

»Man sagt, daß sie eine Auswahl trifft unter den Damen, die sich von Ihnen porträtieren lassen wollen.«

»Ich leugne es nicht. Ich bin schwach geworden, seit ich zu nahe bei Ihnen, Herzogin, lebe – zu schwach von all dem langen, schweigsamen Abwarten. Früher wäre ich mit so einer armen Clelia anders umgesprungen. Jetzt ertrage ich ihre einfältige Tyrannei. Es ist doch immerhin eine Fürsorge, die mir jemand erweist ... Sie regelt meine Arbeitszeit und meine Verkäufe – alles. Sie ist unbändig stolz auf meine Berühmtheit. Nebenbei gesagt, besitze ich höchstens eine zweifelhafte.«

»Frau Degrandis hielt Sie noch soeben ihrem Sohne vor als einen großen Maler.«

»Die sanfte Schwärmerin! Ich bin kein großer Maler. Ich bin ein großer Damenmaler. Das ist etwas anderes ... Ich bin nicht unter den drei oder vier über Europa hin verstreuten Einzigen! Ich gehöre nicht einmal zu der größeren Zahl derer, die der Schwung des Wettbewerbes zuweilen dem Gipfel nähert. Ich bin, weil ich von Ihnen, Herzogin, nicht loskommen konnte, in einer Provinzialstadt zu einem hochbezahlten Spezialisten geworden.«

Er blieb stehen, aufgerichtet in seiner altertümlichen und breiten Tracht, und beschrieb mit der gespreizten Rechten eine zornige und kühne Gebärde im Kreise hin über die Wände.

»Blicken Sie dort entlang! Zwischen den alten Meisterwerken hängen meine eigenen Bilder, und wenn Sie gutwillig sind, finden Sie sie kaum heraus. Und mich selbst, wie ich hier stehe, können Sie nach Belieben mit dem Denkmal des Moretto in Brescia verwechseln oder mit dem des großen Paolo in seiner Heimat. Haha! Und diese Maskerade gibt mir meinen Stil, meinen bewunderten Stil! Ich habe ein eigenes Genre entdeckt, ich nenne es heimlich: die hysterische Renaissance! Moderne Ärmlichkeiten und Perversitäten verkleide und schminke ich mit so überlegener Geschicklichkeit, daß sie an dem vollen Menschentume des goldenen Zeitalters teilzuhaben scheinen. Ihr Elend erregt keinen Widerwillen, sondern Kitzel. Das ist meine Kunst!«

Er redete immer schneidender. Seine kurzen, roten Lippen verzerrten sich. Er genoß die Geißelung, die er sich gab.

»Ich fülle alle Hintergrunde mit einem braunen Gold. Die Gestalten treten hinaus in ein künstliches Licht. Etwas Altmeisterliches, sagt man, liegt über ihnen. Ich schwindele Perlmutterglanz auf ihre zerstörten oder mißratenen Gesichter und auf ihre Gewänder, die so erborgt sind wie die meinigen –«

»Oder wie die dort«, setzte er hinzu, schmerzlich, mit einem Aufschrei – und brach ab.

Der Vorhang zum Nebenzimmer hatte sich geteilt, ganz langsam, und ein Kind war lautlos eingetreten, ein kleines Mädchen, in schwerer, gepuffter Robe aus weißem Damast, mit Spitzen auf Schultern und Armen, großen Perlen an Hals und Handgelenken und einem runden, bestickten Häubchen hinten auf dem hellen Kopf. Sie stand vor der braunen Gardine; und aus der Höhe des unten verhangenen Fensters wurde die Kleine übergossen wie mit Perlmutterglanz. Sie legte die schwach-weißen Händchen fein zusammen über dem Magen. In die weißblonden, seidenen Haare eingebettet, ruhte das weiche Gesicht seltsam grau. Der Mund aber war dick und rot. Und die großen dunklen Augen des kleinen Geschöpfes sahen gelassen und ohne Liebe zu irgend jemand geradeaus.

»Aber das ist ja ein Bild von Ihnen!« rief die Herzogin, »und eins, das alle Welt kennt ... Bist du die kleine Linda?« fragte sie.

Das Kind trippelte zu ihr hin, es stand vor ihren Knien, immer in derselben süßen und unbefangenen Haltung. Die Herzogin küßte es neben das Auge; es bewegte keine Miene.

»Bist du die kleine Linda?«

»Ich bin das Fräulein von Halm«, erklärte es mit feiner, hoher Stimme. Jakobus lachte zärtlich und erregt.

»Wiener Höflichkeitsadel. Aber sie nimmt ihn ernst. Sie bildet sich auf meine Größe womöglich noch mehr ein als Clelia. Ihre Mutter ist anders ...«

Er sah voraus, daß die Herzogin eine Frage tun würde und redete rasch weiter.

»Bin ich nicht sehr gütig, daß ich dieses Kind bei meiner Frau gelassen habe, als wir uns trennten – dieses Kind! Ich sehe es jedes Jahr nur ein paar Tage, wenn ich nach Wien komme. Dieses Jahr aber habe ich sie mir auf Besuch herschicken lassen; denn dieses Jahr fahre ich nicht zu meiner Frau – nein, dieses Jahr gewiß nicht! ... Was für spitze, rosige Nägelchen!« murmelte er und beugte sich über die ineinandergeschmiegten Händchen. »Poliert und mit Glanzlichtern! Jaja ...«

Er nahm einen Stuhl der Herzogin gegenüber, stützte sein Kinn ganz vorsichtig auf die Schulter des kleinen Mädchens und sprach über sie hinweg der Herzogin ins Gesicht.

»Sonst geht ja nun alles im Geleise, mit glatten Kompromissen und Geldverdienen. Aber jedes Jahr einmal hält mir dieses Gesichtel hier eine stumme Predigt. Es erinnert mich an die Zeit, da ich den unterbrochenen Traum des einen alten Meisters zu Ende träumte. Jetzt äffe ich den anderen ihre Marotten nach und darf nichts wissen von ihrer Seele ... Oh, wenn ich so das Zittern dieser kühlen seidenen Härchen an meiner Stirn spüre –«

Und er umfaßte von hinten beide Arme der Kleinen.

»– dann erfüllt mich plötzlich ein aufrührerischer Haß gegen die geschlechtslosen Versucherinnen, die sich von mir zu wirklichen Weibern umlügen lassen – gegen die kupferblonden Snobdamen, denen ich verzehrende Seitenblicke einübe – gegen die schwüläugigen Neugierigen, die mein Pinsel mit Brandmalen großartigen Lasters aufputzt ...«

Seine Hände preßten die Arme der Kleinen mittlerweile zu stark. Sie krümmte sich ein wenig, gab aber keinen Laut von sich. Plötzlich ließ er sie los und sprang auf.

»Die ganze gemalte Halbwelt kranker und künstlicher Weiber sammelt sich von allen Ecken Europas her vor meiner Tür! Sie gieren nach ihrem Maler und haben Angst vor ihm. Sie kommen schamhaft, unsicher, lüstern. Im Grunde möchten sie sich gleich entkleiden. Meine Leinwand ist ihnen wie ein Bettuch, auf das sie sich nackt hinstrecken sollen. Und ich, ich sorge dafür, daß ihre Gesichter vor Blässe und Weichheit zerfließen, üppig zurückgebogen in die blonden Locken, um die ich schwarze Kohlenränder lege, nachdem die Farben getrocknet sind. Und die Augen mache ich schwarz und das eine Lid ein wenig tiefer geschlossen und mit etwas müderen Falten. Ihre Schönheit, die ganz Europa kitzelt, sie lebt von dem Betruge meiner Kunst. Jede von ihnen weiß das und fürchtet nichts so sehr wie meine Verachtung. Ihre Eitelkeit verlangt, daß ich auch noch mich selbst täusche. Sie ertragen es nicht, aus meinem Atelier zu verschwinden, einfach als abgetane Modelle. Sie wollen etwas von sich selbst in meinem Blute hinterlassen. Jede hat, ah, das empört mich am meisten, jede einzelne hat die blöde Unverschämtheit, von mir geliebt sein zu wollen, von mir, der ich doch überhaupt nur darum ein Damenmaler geworden bin, weil eine einzige, eine einzige mir nichts anderes mehr erlaubt, weil sie mich zwingt, mein ganzes Leben lang auf sie zu warten, in jedem Wasser und in jedem Stück Glas ihr Spiegelbild aufzufangen und immer, immer zu warten, ob sie selbst kommt!«

»Aber das ist ja ein Ausbruch!« murmelte die Herzogin. »Besinnen Sie sich doch!«

Sie saß ohne Bewegung. Das Kind nahm die Händchen auseinander, es sah sich nach dem Vater um und kehrte zu der Dame zurück, kühl erstaunt: »Warum bewundert ihr mich denn nicht?« Die Herzogin bemerkte, daß die Kleine vor ihr aufgestellt war wie eine Schutzwehr gegen den Mann. Mit einer Liebkosung schob sie sie beiseite.

»Ich bin bequem«, sagte sie, »ich habe keine Lust, beleidigt zu sein. Ich will es also nicht als Ausbruch ansehen, sondern als einfache Abschweifung. Wovon sprachen Sie eigentlich? Davon, daß Sie ein Damenmaler sind?«

Er fuhr sich über die Stirn und stammelte:

»Jawohl ... ganz recht ... ein Damenmaler, das heißt eine Art männlicher Kurtisane ... Hören Sie, dabei besinne ich mich auf die Geschichte einer längst verstorbenen Freudenspenderin. Im schönsten Augenblick ihrer Jugend, als sie noch keusch war, hatte sie einen vornehmen Mann gekannt, den sie nie mehr vergessen konnte. Da er ganz verloren schien, zog sie in die Hauptstadt und fing an, für große Summen sich allen hinzugeben. Sie ward berühmt, die reichen Reisenden der ganzen Welt, zu deren Sehenswürdigkeiten auch die Frauen zählten, führte ihr Weg durch ihr Schlafzimmer. Sie meinte, schließlich müßte doch auch der eine kommen. Aber er kam nie. Und dafür rächte sie sich an den andern, die sie mit ausgesuchter Grausamkeit, Tücke und Habgier behandelte.«

»Das ist ganz hübsch«, meinte die Herzogin und zuckte die Achseln. »Aber sie hätte bedenken sollen, daß der vornehme Mann natürlich nicht zu Kurtisanen ging. Früher, im schönsten Augenblick ihrer Jugend, als sie noch keusch war – das war etwas anderes.«

Nino, der Knabe, fiel ihr ein, und sie mußte im stillen fortfahren:

›Als Sie, mein Lieber, noch aussahen wie Nino.‹ Ihr Gedanke machte sie unzufrieden; sie sprach weiter, herbe und offen:

»Natürlich wußte ich es, daß Sie mich lieben – seit sieben Jahren schon wußte ich es. Ihre Verteidigung hat mich damals keineswegs beruhigt. Ich habe Ihnen erlaubt, in meiner Nähe zu bleiben, weil ich Sie gebrauchte, weil ich meiner selbst versichert war und Sie für geradeso vernünftig hielt wie mich. Niemand kennt besser als Sie die ganze kunstreiche Weihe, deren ich zu meinem Glücke bedarf. Sie haben mich ja selber unter der Gestalt einer reifen und ruhigen Pallas an eine Saaldecke versetzt, noch bevor ich darauf ein Anrecht hatte. Jetzt, sagen Sie, habe ich die Göttin in Wirklichkeit eingeholt ... Und jetzt werden Sie mich doch nicht wieder anders sehen wollen? ... Als Venus gar?« fragte sie, gelassen lächelnd.

»Als Venus gar ...«, wiederholte er lautlos. Plötzlich schoß ihm eine Blutwelle in die Stirn. Er verbarg seine Röte im Rücken des kleinen Mädchens. Er umschlang sie von hinten und führte sie langsam durch den ganzen Raum bis vor eine gewölbte Truhe. Er öffnete die kleine Schatulle aus Elfenbein und Kupfer, die darauf stand, und senkte die schwachen Hände seines Kindes hinein. Es hob sie, ernsthaft und lässig, wieder heraus, ganz beladen mit Gehängen, von Perlen überrieselt und blitzend im Feuer bunter Steinchen. Jakobus richtete sich auf und sah seinem Spiele zu, dem matten und kostbaren Spiele des kalten, lieblichen Kindes in Damast und Spitzen, das so schwer trug an seinem verschollenen und im Namen der Kunst zurückbeschworenen Prunk. Seine Wallung hatte sich beruhigt, er wandte sich und sagte:

»Wissen Sie wohl, wie mir dies Kind vorkommt? Wie die sieben Jahre, die hinter uns liegen. Ist es nicht das Kind dieser sieben Jahre? Ich meine, insofern es etwas künstlich ist und luftdicht abgeschlossen, insofern es in sich selbst ruht, zwecklos und ohne viel Ansprüche an die Zukunft.«

Er hatte leise gesprochen und schwieg nun, bedrückt und mürrisch. Er dachte:

›Und dabei habe ich es nicht einmal von dir.‹

Die Herzogin dachte verwundert:

›Aber es ist nicht von mir.‹

Nach einer Weile erhob sie sich.

»Ich höre Stimmen im Vorzimmer. Man wartet darauf, daß ich gehe.«

Aus Furcht, ihr einen unvorteilhaften Eindruck zu lassen, begann er ein munteres Geplauder.

»Schauen Sie sich doch auch einmal die Kassette an; die kleine Linda bittet sie, Herzogin, daß Sie ihren Schatz bewundern. Da, die Ketterln und die Ringerln und die Broschen und all der teure Tand; – die schönen Damen haben's hergeschenkt, daß der Papa sie noch schöner malen soll, als sie eh schon sind. Gelt? Die kleine Linda stellt ihren Kasten her wie einen Opferstock.«

Die Herzogin lachte. Er erzählte noch:

»Der riesige Smaragd ist von Lady Olympia. Und hier, das Armband mit den Opalen, kommt von der Lilian Cucuru, die ist ja jetzt beim Theater ...«

Dann öffnete er ihr die Tür, und sogleich spazierte, mit kalten, pflichttreuen Gesichtern, eine Familie von Fremden herein, beim Erledigen von Sehenswürdigkeiten begriffen. Hinterher kam der Diener und überbrachte dem Maler eine Karte. Jakobus sagte:

»Frau Claire Pimbusch aus Berlin. Aha, das ist die Dame, die ich malen soll. Sie kommt nur meinetwegen nach Venedig. Den Preis haben wir schon abgemacht – alles in Ordnung ... Ich stehe der Dame zu Diensten.«

Feierlich, mit übertrieben hochmütiger Miene, geleitete er die Herzogin an mehreren Besuchern vorbei, durch das Schau-Atelier, wo er niemals arbeitete – einen weiten Raum mit hoher, flachgewölbter und altgolden kassettierter Decke und mit verschlissener Seide an den Wänden, die verschwanden unter alten Bildern, tief leuchtenden oder gebräunten; mit einer gedämpften Pracht von Teppichen, auf deren Arabesken geschnitzte Tische wuchteten unter den steifen Falten brokatener Überwürfe, und Marmorkonsolen auf goldenen Füßen und voll geschwärzter, verschlossen blickender Porträtbüsten.

Sie durchschritten die schwarz und marmorn umrahmte Pforte des Gemaches, das schwer und bezaubert von Andenken alter Erhabenheit, ablehnend gegen alle moderne Gutmütigkeit, den fern herbeigezogenen Gästen eine verstummende, scheue Vorstellung aufzwang von der märchenhaften, nicht einzuschätzenden und darum beinahe furchtbaren Persönlichkeit, der sie sich nahten: von dem großen Maler.

Beim Abschied fragte die Herzogin unvermittelt:

»Sollen wir unsere sieben Jahre genau heute als abgeschlossen ansehen? Wie kommen wir eigentlich dazu? Ja, es muß ein Gedenktag sein ...«

»Nicht wahr?« antwortete er rasch. »Auch Sie haben die Empfindung. Ich hatte sie die ganze Zeit; auch das trug dazu bei, mich ungebührlich aufzureizen«, setzte er hinzu. – »Und eben, während wir durch das Wartezimmer gingen, ist es mir eingefallen.«

»Was?«

»Daß heute vor sieben Jahren Properzia starb.«

Sie sah ihm in die Augen, starr und ganz befangen in einem Grauen. Dann versetzte sie: »Das hätten Sie mir nicht sagen sollen«, – und ging.

Wie sie im Kanal ihre Gondel bestieg, langte Frau von Mortœil in der ihrigen an. Sie begrüßten sich flüchtig. Clelia erkannte deutlich den seltsamen Aufruhr in den klaren Zügen der Herzogin. Sofort empörte sie sich innerlich: ›Man verläßt den großen Mann, der mir gehört, nicht mit solcher Miene. Ich verbiete es!‹ Aber ihre feindselige Regung verbarg sich rasch hinter der träumerischen Lieblichkeit ihres Gesichts.

Die Herzogin fuhr nach Hause, ganz voll Angst.

›Wird denn dein Andenken niemals mild und beglückend werden? Soll ich immer an dich, die ich liebte, denken müssen wie an eine Bedrängerin, ja, wie an eine Feindin? Du verrietest die Kunst und starbst durch Liebe. Ich weiß es, und ich weiß mich stark genug, dir nicht nachzufolgen. Warum deutest du, nach so langer Zeit, nun doch wieder schrecklich auf meinen Weg?‹

Bei der Ankunft bemerkte sie, daß sie wieder einmal mit einer Toten gesprochen habe, unablässig und mit Leidenschaft. ›Wie damals zu Rom‹, sagte sie sich, neu erschrocken, ›als ich meiner armen Bice ihren Verrat vorhielt, die ganze Nacht hindurch. Und am Morgen erfuhr ich, sie sei tot. Sie starb wie Properzia.‹

In diese Gedanken verloren, war sie bis ans Ende ihrer Kabinette gegangen. Plötzlich blieb sie stehen, verhaltenen Atems, die Hände auf der Brust. Sie sah etwas: sie meinte, es sei seit langer Zeit verschwunden gewesen, vielleicht seit sieben Jahren. Nun richtete es sich wieder auf, da hinten, am Rande der toten Lagune: die riesenhafte Drohung der weißen Frau, die sich erdolchte.

 

Am Abend versammelten sich die Freunde in dem Kabinett der Pallas. Die Herzogin plauderte mit Frau Gina Degrandis von venezianischen Morgenden und von dem Licht, das zu früher Stunde auf dem und jenem Engelskopf lag. Nino ging umher, artig, eine Hand auf dem Rücken. Aber auf dem Kamin entdeckte er zwei lange Stäbe aus Elfenbein; jeder trug oben das Gesicht eines Schalksnarren, in eine spitze Kappe gebunden, grinsend und mißförmig. Der Knabe hob sich auf die Fußspitzen und langte danach. San Bacco griff ihm in die nach oben gebogenen großen Locken; er drängte seinen Kopf nach hinten, sah ihm in die Augen und lachte. Er betastete seine Armmuskeln, ließ seine Hand durch die eigene gleiten und gab ihm einen der Stäbe. Den andern nahm er selbst.

»Kannst du fechten?« fragte er, und drang mit seiner Waffe auf den Knaben ein.

»Ich werde es können«, sagte der Knabe; seine Augen leuchteten. »Sicher kann ich es ... seinerzeit.«

»Warum nicht gleich?«

»Gleich?«

Er lächelte; einen Augenblick sah man ihn zweifeln und träumen. Dann versetzte er fest:

»Wenn Sie meinen, gleich.«

»Faß den Narrenkopf an!« rief San Bacco. »So biegst du den Arm, so streckst du ihn und parierst. Ich habe eine Finte gemacht, oben auf der Brust. Du parierst Hochquart, so – jetzt nimmst du das Florett weg und triffst mich in den Bauch. So ...«

Nino folgte seinem Lehrer, ernst und glücklich.

Die Herzogin sah Jakobus abseits von den andern, schweigsam und mürrisch. ›Properzias Todestag – er wird es mir immer wiederholen, sooft ich ihn ansehe, daß heute Properzias Todestag ist‹, sagte sie sich und überwand ein Kältegefühl.

Siebelind und Clelia saßen beieinander, ohne sich viel zu sagen. Der Graf Dolan und sein Schwiegersohn de Mortœil lagen gelangweilt in Sesseln. Die Beine des Alten waren auf Schemel gebettet. Er war kreideweiß, unglaublich zusammengeschrumpft in seinen weiten Kleidern und verriet keine Regung mehr außer im unermüdlichen Stechen der schwarzen Pupillen unter den gesenkten, faltigen Lidern.

Neben ihm auf einem Tischchen zog ein grotesker Held aus Elfenbein mit Wanst und Lorbeerkranz prahlerisch sein langes Schwert. Er blähte sich auf seinem viel zu großen bronzenen Sockel, der geschmückt war mit Szenen aus Ritterromanen und mit den verjährten, gravitätischen Lettern der Inschrift. Die Rechte des alten Dolan spannte sich um den Sockel. Zuweilen verriet sie ihren geheimen Krampf durch das leise Klappern ihrer Nägel; sie hämmerten eilig und spitz auf der metallenen Inschrift. Sie lautete links: Aspeto – Tempo und rechts: Amor. Und Siebelind, der hinüberschielte, sagte sich, mit leidender Bosheit, daß dem schon halb erstarrten und noch unersättlichen Greise zum Warten keine Zeit und von der Liebe nicht einmal mehr das Wort bleibe.

Mortœil rekelte sich, mit beabsichtigter Schwerfälligkeit, und betrachtete seine Fingernägel. Er sagte:

»Mein Gott, lieber Papa, die Figur wird Ihnen die gute Herzogin wohl überlassen. Aber, offen gestanden, ist mir Ihr Gelüste unverständlich. Die Arbeit mag schön sein, nur fehlt der gute Geschmack. Ich gestehe, daß ich die Abwesenheit des guten Geschmacks nicht aushalte. Ich möchte das nicht in meinem Zimmer stehen haben ... Was meinen Sie?« fragte er, denn der Alte zischte etwas Unverständliches. Endlich begriff er.

»Hüten Sie sich, den Mund zu öffnen, sobald es schöne Sachen gilt!«

»Warum sollte ich schweigen«, erwiderte er. »Ich bin hier, scheint es, der einzige mit kritischem Sinn Begabte – der einzige Literat ...«

Er blinzelte hochmütig auf den Alten hinab, der die Augen geschlossen hatte; er murmelte: »Es ist nicht der Mühe wert« – und kehrte zurück zu seinen Fingernägeln. Manchmal sah er spöttisch umher, als begegne er zum voraus einem möglichen Angriff. Plötzlich verfolgte er es mit einer Miene voll bösartiger Arroganz, wie San Bacco die Füße seines Schülers stützte: er stellte sie eigenhändig auf ihren richtigen Platz am Boden. Mortœil beugte sich zu seiner Frau und zu Siebelind; er sagte halblaut:

»Finden Sie nicht, daß der alte Herr dort drüben einen ganz sonderbaren Zug um den Mund hat, wenn er den Jungen bei den hübschen Beinen anfaßt?«

San Bacco hatte nichts gehört. Clelia wendete ihrem Manne mit einem Ruck die Schultern zu. Siebelind errötete und ließ gequält die Augen umherirren. Mortœil wollte sich Zustimmung bei seinem Schwiegervater holen, aber aus den Lidern des kaltes Greises, unter die all sein Leben sich zurückgezogen hatte, schoß eine Verachtung hervor, spitz und hart. Mortœil schrak zurück.

»Ich bin alt geworden«, sagte gerade San Bacco zu der Herzogin, die ihm zusah. »So viele Jahre parlamentarischer Fechterkünste, und niemals ein richtiger Stoß wie der da ... Brav, mein Junge – immer um dich hauen. Irgend etwas trifft man immer. Ich war schon lange nicht mehr so jung.«

Und er machte einen elastischen Sprung, um dem Angriff des Knaben auszuweichen. Die Herzogin lächelte ihm zu.

»Was machen Ihnen Ihre sechzig Jahre!«

»Sechzig? Dann würde ich mir auf den Sprung nichts einbilden. Ich bin nicht weit von siebzig.«

»Bilden Sie sich dennoch nichts ein! Dort kommt die Jugend in Person. Sind Sie es denn wirklich – Lady Olympia?«

»Ich bin es, süße Herzogin, sieben Jahre älter.«

»Jünger«, sagte San Bacco mit einem Handkuß.

»Nach so langer Trennung«, setzte die Herzogin hinzu. »Das vorige Mal, Sie erinnern sich?«

Sie lachte erregt.

»Sie kamen eigens zu meinem Feste; ich weiß nicht mehr, woher Sie kamen. Und diesmal kommen Sie ...«

Sie war im Begriff zu sagen: »Weil Properzia sieben Jahre tot ist.« Sie besann sich: ›Will ich mich denn ganz beherrschen lassen von dieser Erinnerung?‹

»Kommen Sie – woher?« fragte sie.

»Von Zypern, aus Skandinavien, aus Spanien – beinahe überallher!« erklärte Lady Olympia. Sie umarmte und küßte die Herzogin. Sie begrüßte Dolan und Siebelind. Die Herzogin stellte ihr Gina und ihren Sohn vor. Sie schüttelte Jakobus kräftig die Hand, mit einer fröhlichen Erinnerung in ihren vor Glück glänzenden blauen Augen. Noch immer brach ihre gesunde Röte unter dem Puder hervor. Noch immer ging sie in einer Wolke von Duft und Verlockungen.

Mortœil erhob sich erst, als sie die Runde gemacht hatte. Er führte ihre Hand an seine Lippen und sah ihr darüber hinweg in die Augen, mit neckischem Einverständnis. Dann warf er das Monokel ins Auge und sagte:

»Sieben Jahre, Mylady – was hat Ihre Schönheit inzwischen alles von uns verlangt! Wir armen Männer! Unsere Anbetung ist es, aus deren Armen Sie wieder um soviel jünger hervorgegangen sind ...«

Sie betrachtete ihn erstaunt. Er sprach seine poetischen Sätze mit kalter Unverschämtheit.

»Vollgesogen«, setzte er noch hinzu, »mit griechischer Süßigkeit, nordischer Kraft und spanischem Feuer.«

»Kann sein«, entgegnete sie gelassen und hob die Achseln. »Aber nicht für Sie.«

Und sie ließ ihn stehen.

»Ist der Herr immer so geistreich?« fragte sie laut genug. »Herzogin, wer ist es denn eigentlich?«

›Ein betrogener Gatte‹, hätte die Herzogin fast geantwortet.

Sie mißbilligte in diesem Augenblick alles, was Lady Olympia tat und sagte. Mortœil flößte ihr Teilnahme ein, aber sie bedauerte es.

›Verdient er denn sein Schicksal nicht?‹ rief sie sich zu, mit Unwillen. ›Er, der Properzia sterben ließ. Ich kann ihn nicht bemitleiden – ich müßte denn eifersüchtig sein auf Clelia. Solch Gedanke – hätte ich ihn gestern überhaupt fassen können? Nein, Clelia und Jakobus haben recht, sie mögen einander gehören! ...‹

›Du hast recht!‹ wünschte sie Clelia zu beteuern – und fürchtete, ihr Zittern zu verraten. Sie winkte ihr, aber als die junge Frau bei ihr saß, wußte sie ihr kaum mehr ein Wort zu sagen. ›Wenn sie mehr wäre als herrschsüchtig!‹ dachte sie und sah sie traurig an. ›Wenn sie ihn wenigstens liebte!‹

Siebelind gesellte sich mit unverstelltem Hinken zu Lady Olympia. Er flüsterte:

»Sie haben nicht gehört, was Madame de Mortœil ihrem Liebhaber, dem Herrn Jakobus Halm, soeben im Vorbeigehen zugeraunt hat: ›der Arme‹ – damit meint sie ihren Mann –, ›der Arme! Ich hätte ihm den kleinen Zwischenfall so sehr gegönnt. Er langweilt sich so bei mir.‹ ... Ist das nicht hübsch?«

»Oh! Die kleine Frau hätte gewünscht, daß ich ihren Mann ein wenig aufheitere. Hält sie mich denn für die gute Fee der Familie? Sagen Sie, warum ist Mortœil so heruntergekommen?«

»Heruntergekommen, das ist das Wort. Da sehen Sie, Mylady, was aus einem eleganten Manne wird, wenn er sich verheiratet. Sie wissen, er hat es aus Snobismus getan. Nun ist er eingerostet in seinem Palast am Großen Kanal und sehnt sich nach seinen Pariser Junggesellentagen und sogar nach dem Verbauern auf einem bretonischen Jagdschloß. Seine Frau läßt ihn gähnen, sie entschlüpft alle Tage zu ihrem großen Maler, sie badet sich frisch in dem Unerwarteten und dem Außermoralischen der vergoldeten Bohème ... Mortœil weiß es ganz genau –«

»Oh! Er weiß es?«

»Zweifeln Sie nicht, er macht sich gar keine Illusionen. Aber er hat schon als Clelias Verlobter erklärt, daß er erhaben sei über das Vorurteil, das den betrogenen Gatten der Welt zur Verspottung ausliefere. Daran erinnert er sich und erkünstelt die Unbefangenheit des Weisen. In Wirklichkeit ist all sein Skeptizismus beim Teufel. Ich kenne ihn: er ist innerlich bitter, gedrückt, unsauber. Er nennt sich im stillen: ›der Gatte‹ und sucht – wie Sie bemerkt haben, Mylady – den Ton dieses Salons zu verschlechtern. Zugleich werden die Riten seiner Eleganz zu lauter Verschrobenheiten. Sehen Sie, er knipst Stäubchen von seinem Anzug und erzählt dabei etwas Unanständiges. Er treibt einen pedantischen Kultus mit seinen galanten Erinnerungen. Er ist ein gutes Beispiel dafür, daß für den über alles erhabenen Zweifler, für den Literaten hohen Stils, nichts so naheliegt, wie ein Trottel zu werden. Die Zwischenstufen überspringt er. Er heiratet und wird Trottel ... Nur sein Snobismus bleibt und überlebt sogar seine Würde. Er könnte am Ende mit Jakobus Streit anfangen; man hat wohl einen Moment der Unbeherrschtheit. Aber dann müßte er das Haus der Herzogin von Assy meiden, das Haus der größten Dame Venedigs. Und so seien Sie überzeugt, Mylady, er wird sich stets zu beherrschen wissen.«

»Oh!« machte Lady Olympia bloß, und Siebelind dachte: ›Sie ist von rührender Einfalt.‹ Er stand ein wenig gebückt vor der prachtvollen Frau, wehmütigen und hinterhältigen Gesichts, und strich sich mit seiner leidenden Hand langsam über die Hüfte.

»Vor allen hat er nicht den Mut seiner neuen Lage, dieser ehemalige Glückliche. Er fürchtet sich vor mir, der ich ein Unglücklicher von Natur und Beruf bin. Er hegt ein Grauen davor, in meiner Gesellschaft gesehen, mit mir zusammen genannt zu werden. Ich habe ihn schon in Todesangst versetzt, dadurch, daß ich ihn scherzhaft ›Herr Kollege‹ genannt habe. Es war mir ein seltener Genuß.«

Im stillen fügte er hinzu:

›Und was ist es erst für ein Genuß, du schöne, dumme Pute, dir das alles zu erzählen – Kompromittierendes über mich selbst auszuplaudern, wenn der Hörer so geistesarm ist, daß er sein Recht, mich zu verachten, nicht einmal durchschaut.‹

»Ich glaube, Sie sprechen jetzt von sich selbst?« fragte Lady Olympia. »Mein Lieber, Sie sind unglaublich geistreich. Wie seltsam, daß mir das heute zum erstenmal auffällt. Ich muß Sie früher wenig gesehen haben.«

»Kann sein. Ich entferne mich nämlich gern aus dem Bereich des bloß Sinnlichen ... Sie verstehen mich nicht, Mylady? Ich bin ein Gegner der Unsittlichkeit.«

Er legte den Finger auf das Abzeichen seines Vereins.

»Oh, das ist ganz überflüssig«, meinte Lady Olympia. »Wer ist denn unsittlich? Man schont sich zu sehr.«

»Sobald sich etwas zeigt, was auf unser Geschlecht abzielt – und jede schöne Frau zielt auf unser Geschlecht ab –«

Er verbeugte sich.

»– werde ich von einer unsäglichen Schamhaftigkeit befallen. Sie macht mich stolz und quält mich.«

»Das ist wirklich merkwürdig. Sie sind ein Original. Sie würden mich also gar nicht haben wollen?«

Er dachte nochmals: ›Wie ist sie dumm!‹ Er sagte:

»Nicht lieber als eine andere.«

»Nicht bloß ein Original – auch ein unverschämtes sind Sie!«

»Ich möchte nämlich alle haben«, wisperte er und schlug die Augen nieder – »weil ich noch keine gehabt habe.«

»Keine? Unglaublich!«

»Abgesehen von denen, die nicht mitzählen.«

»Und dann sind Sie so unverschämt? Merken Sie es sich: man begehrt mich!«

»Ich nicht. Es tut mir leid. Wenn ich überhaupt in Betracht käme – ich komme eben nicht in Betracht –, würde ich nur eine begehren, ein stolzes, auf ihre entsetzliche Reinheit unmenschlich stolzes, wunderbar abgründiges Geschöpf, das daran stirbt, wenn einer es begehrt, und das uns in seiner Wehrlosigkeit besiegt, weil es stirbt ...«

»Weil es ... Jetzt verstehe ich Sie, glaube ich, nicht mehr ganz, aber Sie machen mich schrecklich neugierig.«

»Worauf, Mylady?«

»Auf Sie selbst, auf Ihre Person. Ich will Sie gründlich kennenlernen. Betrachten Sie sich als –«

»Ich betrachte mich als gar nichts, Mylady«, warf er dazwischen und hüpfte vor Schreck zur Seite.

›Das ist ihr Ton‹, sagte er sich leise, ›wenn sie einen haben will ...‹ und gleich darauf: ›Weißt du denn nichts Besseres zu tun, du trauriger Gauch, als dir einzubilden, man wolle dich haben? Du verdienst ...!‹

»Sie gefallen mir«, versetzte die große Frau und betrachtete ihn fest und mit halbgeschlossenen Augen. »Wie konnte ich Sie nur übersehen! Sie sind ungewöhnlich – nicht schön, nein, aber ungewöhnlich – ein sehr schlauer Kerl und fast ein Dichter ...«

›Nun höre einmal‹, rief er sich selbst zu, in höchster Hast, mit Fieber. ›Du verdienst die Peitsche, wenn du es noch eine Sekunde lang für möglich hältst, dieses Weib begehre dich ...‹

Inzwischen redete er und wand sich dabei vor Qual.

»Ich bin gar nichts, ich versichere Sie, auch kein Dichter, höchstens ein Problem, ja, mir selbst ein Problem, mit der Feuerzange anzufassen, mir selbst schauerlich, ekelhaft und heilig. Es ist meine Manie, mich verstehen zu müssen. Nie kann ich mich unschuldig der Welt hingeben, sosehr ich ihr zugetan bin. Aber verstehen – verstehen darf ich auch sie: das ist meine Art, mich ihrer zu bemächtigen – eine armselige Art, wie Sie sehen, und eine, die mich selber peinigt ...«

»Wirklich, Sie gefallen mir, mein Kleiner«, hörte er Lady Olympia sagen. Es gab keinen Zweifel, da sie »mein Kleiner« sagte. Er ergab sich. Er trocknete den Schweiß von seiner Stirn, verbeugte sich und verließ sie.

»Auf baldiges Wiedersehen«, rief sie ihm nach.

Er irrte umher, erst auf der Terrasse, dann in den angrenzenden Zimmern. Er sah Jakobus sich in die Ecke eines leeren Gemaches drücken und stürzte auf ihn los.

›Ich bin geliebt, ich bin geliebt!‹ wollte er ihm zuschreien. ›Lady Olympia liebt mich, eine schöne, hohe Frau liebt mich! Ich gehöre nicht länger zu den Verschmähten, Übersehenen!‹

Er verschluckte es, faßte Jakobus bei einem Knopf und überstürzte seine Worte.

»Mortœil, ah, der gehört nun dazu, zu denen, die sich verachten! Die Rollen sind vertauscht, mein Bester, haben Sie bemerkt, wie Lady Olympia ihn abfallen ließ? Nicht wahr, was für eine stolze, noble Frau! Oh, ich glaube nicht die Hälfte der gemeinen Klatschereien, die über sie umgehen. Was sage ich – nicht ein Hundertstel – gar nichts glaube ich!«

»Das steht Ihnen ja frei«, meinte Jakobus – »obwohl – aber was haben Sie denn?«

Siebelind hatte hektisch rote Wangen, sein Haar war ganz feucht, seine Blicke flackerten.

»Ich bin geliebt, Freund!« – und er blies seinen heißen Atem dem andern ins Gesicht. »Ich bin geliebt von der schönsten, der reizendsten und reinsten Frau, von Lady Olympia.«

»Also auch«, sagte Jakobus.

»Wieso auch? Sie irren, Olympia hat nie jemand geliebt als mich. Oh, ich täusche mich nicht!«

»Wenn Sie meinen«, versetzte Jakobus ganz erstarrt.

Siebelind wollte sich täuschen, das übermenschliche, plötzlich entdeckte Bedürfnis durchbrach alle seine Dämme: sich einmal im Leben zu täuschen, rosig zu sehen, zu glauben, zu feiern und zu preisen.

»Überhaupt!« rief er, »nicht nur Lady Olympia – alle Frauen, alle sind besser, als Sie meinen!«

Er fühlte sich streitsüchtig und wohl aufgelegt, für die Güte der Welt zum Messer zu greifen.

»Sie, mein Bester, Sie sind ein sehr wirklichkeitsfroher Herr und geben sich nur manchmal der poetischen Wirkung zuliebe für einen geprellten Ritter aus vom Hause la Mancha. Und trotz Ihrer Berechnungen sind Sie so unschuldig, ein halbes Kind – ein unbewußter Verführer; das ist das Schlimme. Sie haben so Ihre gutgläubige Art, die Frauen in eine poetische Weltanschauung einzuwickeln, bis sie sich selber für Göttinnen halten. Aber von jeder einzelnen glauben Sie ohne weitere Beweise das Anzüglichste. Ich, mein Bester, mache es gerade umgekehrt. Ich gestehe, ich habe über die Kehrseite vom Leben all dieser Schönen, Glücklichen hier und da meine Zweifel geäußert, aber jede einzelne ist mir unantastbar. Was glauben Sie wohl, ich bin ein besserer Mensch als Sie! Oh, ich bin sehr froh. Lady Olympia liebt nur mich, und alles übrige ist Verleumdung.«

Jakobus dachte: ›Was für eine ungesunde Begeisterung!‹ Er fragte:

»Und Clelia?«

Siebelind stampfte auf.

»Auch Clelia ist eine hochanständige Frau, Sie werden es nicht leugnen.«

»Allerdings nicht«, sagte Jakobus tonlos.

»Ich verstehe schon, wie Sie es meinen«, rief Siebelind immer gereizter. »Was kann aber die arme Frau dafür! Erst vorhin war ich Zeuge, wie sie die edelste Verachtung ihrem abscheulichen Gatten bezeigte, weil er sich zu der Verdächtigung verstieg, daß San Bacco an dem Knaben dort seine greisenhafte Lust habe. Sie ist hochanständig. Aber sie steht unter dem Banne ich weiß nicht welcher Verführung! ... Übrigens, gestehen Sie es endlich, Sie halten, trotz Ihrer poetischen Floskeln, alle Frauen einfach für –«

»Für das, was Sie wissen«, ergänzte Jakobus.

Siebelind besann sich einen Augenblick. Dann erkundigte er sich leise und hinterhältig, die Brauen hinaufgezogen:

»Auch die Herzogin?«

»Auch die Herzogin!« stieß der Maler hervor. Er ward auf einmal tiefrot, drehte sich um und ging.

Wie er in das nächste Zimmer einbog, ergriff Lady Olympia seinen Arm. Sie führte ihn durch die Säle und sprach ihm von den angenehmen Erinnerungen, die sie beide verbanden.

»Jaja«, wiederholte er zerstreut. »Wir haben uns damals recht angenehm unterhalten.«

»Wir sollten von vorne anfangen«, meinte sie. »Dies ist wieder geradeso ein Abend. Die Lagune scheint herein. Hier hört man wieder von nichts flüstern als von Liebe.«

Schließlich erklärte sie, ihre Gondel warte.

Er machte Ausflüchte, widerwillig und beschäftigt mit erbitterten Gedanken. Er beschimpfte sich selbst:

›Was hast du von der Herzogin behauptet, du Elender? Was hast du vor dem Narren für eine wahnwitzige Frechheit behauptet über sie? Und warum? Um dich zu rühmen! Weil du ihr heute früh eine Menge Dinge gesagt hast, die du besser für dich behalten hättest, die sie überdies schon wußte – und die du ihr in einem neuen Augenblick verminderter Zurechnungsfähigkeit dennoch wiederholen wirst.‹

»Oh, ich fühle das!« so seufzte er ganz laut. Und Lady Olympia, die seine Gefühle sich selber zugute schrieb, zog ihn fort.

›Nun betrüge ich auch noch den armen Siebelind, ihn, der mich vor ekstatischer Glückseligkeit mit »Freund« angesprochen hat! Alles ist lächerlich und kläglich.‹

Und er gefiel sich darin, die Schwermut der eigenen hoffnungslosen Wünsche noch zu verdüstern durch den Gedanken an die Bitterkeiten der andern.

 

Die Herzogin stand allein und abgewandt in der Terrassentür. Sie wollte nichts mehr sehen von dem gesunkenen Gatten, noch von der Geliebten, die ohnmächtig ihrem Maler nachsah, wie er mit der Abenteurerin verschwand, noch von dem blinden Dritten, den schwitzend und hinkend sein irres Glück durch die leeren Kabinette scheuchte.

Da hörte sie hinter sich San Baccos Stimme:

»Herzogin, Sie sind wunderschön. Unsere Pallas ist noch immer schöner geworden. Wie war das möglich? Je älter ich wurde, desto höher ist meine Zärtlichkeit für Sie gewachsen. Sie hat sich bereichert um die ganze Liebe, die ich sonst in Waffengängen für die Freiheit ausgab.«

Sie sah regungslos geradeaus.

»Ich hätte nicht geglaubt, daß ich Sie noch tiefer würde lieben können, Herzogin«, sagte er. »Heute ist es aber dennoch geschehen, in dem Augenblick, wo ich einen Freund bekommen habe.«

Und da sie schwieg:

»Ich habe nämlich heute abend – und gerade in Ihrem Hause und wie aus Ihren Händen, Herzogin, einen Freund bekommen, dem in meiner schönsten Jugend, scheint mir, keiner geglichen hatte. Nicht wahr, Nino? Oh, Leute wie wir fühlen das schon beim Händedruck. Und erst beim Fechten! Beim Fechten kommt gleich heraus, ob man treulos ist oder gutgläubig; auch ob man sich vergessen kann, zeigt sich, und draufgehen für eine Sache: sei es bloß dem Ruhm zuliebe oder weil sie so schön ist, die Frau Herzogin von Assy. Nicht wahr, Nino, sie ist schön?«

Es entstand eine Pause. Darauf sprach eine jugendliche Stimme klar und zitternd:

»Ja, sie ist schön.«

Die Herzogin wandte sich langsam um und lächelte ihnen beiden zu. Sie wußte, San Bacco sagte ihr kein zärtliches Wort, das er nicht zuvor gerade so kindlich und wahr empfunden hätte wie der dreizehnjährige Gefährte die seinigen. Sie standen umschlungen vor ihr. Der Greis hielt die Hand im Nacken des Knaben und der Ephebe seinen Arm um die Hüfte des Mentors.

»Ich bin Ihnen dankbar«, sagte sie und mußte abbrechen. Dann beendete sie:

»Sie wissen nicht, ich brauche Sie, gerade heute ...« Sofort spannte sich seine Haltung, seine Stimme ward hell und befehlshaberisch.

»Sie brauchen mich? Aber verspricht es Ihnen nicht unser alter Pakt, wann immer Sie mich rufen mögen –«

»Still, still. Ich brauchte Ihre guten Worte. Es ist schon in Ordnung. Sagen Sie mir noch mehr: was bin ich Ihnen, und was ist Ihnen Nino?«

»Die Begegnung mit einem Freunde erfrischt meine Liebe zu meiner Herrin. Mein Blick sucht Sie, Herzogin, und bleibt liegen auf dem Schimmer über Ihrem Haar: und zugleich fühle ich, daß auch ein Freund mir gehört. Was macht es, daß er ein Kind ist. Wenn ich ihn früher, auf der großen Abenteurerfahrt meines Lebens gehabt hätte, wo soviel gehungert, triumphiert, geknirscht, geblutet wurde – wie, Nino? wir wären das Freundespaar gewesen, das das letzte Glas Wein verschüttet, weil keiner es dem andern wegtrinken will, das umschlungen das Kapitol ersteigt, das an einer Kugel stirbt, weil nur ein Herz zu treffen war ... Es ist merkwürdig, ich weiß nicht, warum ich heute abend erregt bin und schwärme. Es ist ja nichts geschehen.«

›Nein, noch nicht‹, dachte die Herzogin.

Sie erschauerte leicht in der süßen Abendluft; sie empfing sie, geneigten Hauptes, gegen ihre Stirn. Dabei fühlte sie, zugleich mit den Worten des Alten, die Blicke des Knaben auf sich niederfallen, bewundernd und grenzenlos ergeben. Sie trafen sie auf Gesicht und Hände und überallhin auf ihre Gestalt, sanft und anmutig und ein wenig einschläfernd, wie das Plätschern eines kleinen Brunnens. Sie fühlte dunkel die Verführung dieser lieblichen Berührungen, dieser Worte, dieser Blicke – und widerstand ihr nicht. San Bacco versetzte:

»Aber zwischen Nino und mir, zwischen den besten Freunden, liegt das ganze Leben.«

Sie meinte, wie in einem Traum, diese Worte seien die tiefsten, die San Bacco noch gesprochen habe.

»Mindestens das Alter, wo die Dinge möglich sind«, setzte er hinzu.

»Welche Dinge?«

»Alle. Wo alles möglich ist. Eben das Mannesalter.«

Und darauf erschien ihr der Mann, ihrem inneren Blick zeigte sich der Mann Jakobus, er, dessen Kunst Wirklichkeit und Dauer allen Dingen gab, allen herrlichen und reichen, die dieser Greis wohl einmal erlebt hatte und die dieser Knabe vielleicht erträumte.

Sie starrte in den Abend hinaus, der vor den Silberspiegel der Lagune langsame Schleier hing. Er wob auch Bilder hinein: ungewiß fingen sie an und grau, aber sie wurden bunt und stark. Die Herzogin hatte gerade vor Augen das Denkmal der Frau, die sich erdolchte. Doch sah sie hindurch und erkannte nichts als jene Bilder, die wogten und warben. Es waren mit strotzenden, ineinander verfleischten Gliedern, singendem und wütendem Blut und dem Lächeln, das in tiefe Schauer versank, alle die Bilder des angrenzenden Saales, des Saales der Venus. Er warf den Widerschein seiner trunkenen Üppigkeiten hinaus in den Abend, als eine Fata Morgana, versengend und bannend.

Die Herzogin hielt den Atem an, in Grauen und Verlangen. Ohne es zu wissen, tat sie einen Schritt vorwärts.

 

Gina blieb zurück in ihrem Sessel am Kamin und sah zu, wie ihr Kind seine Hand in die der Herzogin legte. ›Das ist, als ob ich's erträumt hätte‹, dachte sie. ›Nun darf ich ein wenig ausruhen.‹ Sie schloß die großen, dunkel glänzenden Augen, und sofort breitete sich Stille über das Gesicht mit der leichten und ängstlichen Rötung zu beiden Seiten des eingesunkenen Nasenrückens. Das Fieber, das sie zwischen allen Schönheiten hin und her trieb und sie zwang, mit den vollkommenen Dingen zu ringen, bevor sie sie wieder losließen – sie fühlte es kaum noch. Es schlief wohl ein in den Augen jener Pallas, wo tief und stetig die Sehnsucht brannte. Gina verschränkte die Finger über den Knien. Ihre mageren Schultern zogen sich nach vorn; die schwarzen Spitzen ihres Kragens fielen ein wenig ausgehöhlt herab über die schmale Büste. Sie seufzte; sie sagte sich: ›Wir sind glücklich‹ – und meinte auch die Herzogin.

Im Winkel drüben saß Clelia, zwischen ihrem Vater, der die Augen geschlossen hielt, und ihrem Manne, der sie anblinzelte.

›Er verhöhnt mich‹, bemerkte sie im stillen, ›weil mir Jakobus heute abend entführt worden ist von jener andern.‹

›Du irrst dich‹, meinte sie dann und lächelte Mortœil schweigend in die Augen. ›Ich leide nicht so, wie du meinst, und nicht aus dem Grunde. Mein Gott, Jakobus hintergeht mich mit den meisten der Frauen, die er malt: warum nicht auch mit Lady Olympia. Das macht mich bloß noch ein bißchen müder ... Ich leide aber mehr, als du Armer glaubst, weil ich alles in ein falsch berechnetes Geschäft gesteckt habe, das nun nichts mehr abwirft. Der Maler Jakobus, mußt du wissen, hat mir nichts gehalten von dem, was er versprach, damals, als sein Stern aufging und als ich mich zu seiner Herrin aufwarf. Er kam mir damals vor wie ein fahrender Eroberer, voll Streit und Brand, über die Maßen machtgierig und ruhmestoll. Ich wollte den Ruhm mit ihm teilen und die Macht für ihn ausüben. Ich hätte aus seinem Genie ein ungeheures Heiligtum gemacht und es unerbittlich ausgebeutet inmitten der Banden von Anbetern, Schülern, Geschäftemachern, von Schuldnern und Gläubigern, von Preßleuten und Frauen, nochmals Frauen, und von Neidhämmeln und all denen mit aufgerissenen Mündern. Wieviel Schall und Dunst vermag ein Genie seiner Art über Europa zu verbreiten! Wie viele Kanäle kann es zu sich herleiten, durch die Geld und Ehre aus den fernsten Ländern herbeifließt!

Und damals glaubte ich an ihn: hätte das nicht helfen müssen? Meinen Ehrgeiz sprach ich ihm damals nicht mit so gemessenen Worten aus, sondern mit glühenden Küssen. Ich liebte ihn nicht gerade, ich weiß es wohl. Aber habe ich es ihm nicht eingeredet? Welch ein Sturm, als ich mich, kaum verheiratet, in seine Arme warf!

Und nun hat er in all den Jahren Venedig kaum verlassen. Sein Ruhm beschert mir keinen Rausch, weder von Machtgefühl noch von Glanz; denn er lebt nur bei dreihundert reichen Damen mit vertrackten Nerven: traurigen Personnagen am Ende.

Warum muß das so sein? Ich weiß es. Ich sehe es und koste es. Weil er die Herzogin von Assy liebt! Sie hält ihn fest in dieser in Lagunen erstickten Provinzstadt! Sie erlaubt ihm nichts weiter zu schaffen als Nichtigkeiten, damit er immerfort in Anbetung vor ihr liegenbleiben kann! Er malt nur sie. Nur wenn er wieder einmal – zum fünfzigsten Male – einen neuen, nie wiederkehrenden Augenblick ihrer Schönheit auf seiner Leinwand feiert und unsterblich macht, vollführt er eine der Taten, die er ehemals verhieß.

Wie ich leide – darum, weil sie alles ist und ich nichts! Und weil ich es ihr nicht einmal anrechnen darf, denn sie hat es nicht gewollt. Seine Begehrlichkeit flößt ihr Kälte ein, und seine Ekstasen befremden sie. Ich kann mir denken, was sie zusammen für Krisen durchmachen. Und auch das, daß sie ihn nicht erhört, verdenke ich ihr – sosehr ich sie auch hasse, weil er sie liebt!

Darum‹, und sie lächelte wieder ihrem Gatten schweigend in die Augen, ›ist es gut, daß die Abenteurerin ihn von hier entführt hat. Er war zu unstet, ich sah ihm schlechtes Gewissen an, ja Haß gegen sich selbst und – gegen seine Geliebte. Einige Stunden in Lady Olympias Armen, und er wird besiegt sein, ermattet, fieberfrei und nicht mehr imstande, diese Herzogin zu hassen ... Auch nicht mehr, sie zu lieben ... Bin ich nicht schon sehr bescheiden geworden und demütig, daß ich mich bei einer Lady Olympia bedanke?‹

Und sie betrachtete Mortœil, als ob sie ihn fragte. Er ward verlegen. Clelia sonnte sich nicht mehr, wie früher, in den Augen der Bewunderer. Ihre Züge waren klüger und schärfer. Mancher, in dessen Gesicht sie forschte, entzog sich ihrem Blick. Aber plötzlich bog sie den Kopf zurück, daß das Abendlicht voll und weich darüber hinfloß, und zwischen den wundervollen Haarmassen lag es noch einmal in goldblonden Märchenträumen und wie auf Blumenwiesen im Frühling.

Es kamen Diener mit Kerzen und Erfrischungen. Der alte Dolan rief, ohne die Lider zu heben:

»Clelia!«

Sie beugte sich über ihn. Er flüsterte:

»Clelia, Töchterchen, erobere mir von deinem Jakobus eine Reprise seines jüngsten Porträts der Herzogin. Es ist ein Meisterwerk, ich will es haben.«

»Ja, Papa ... Sage mir, ob du leidest, du zitterst so sehr.«

»Es ist nur, weil ich's haben will ... Nötige ihn doch zu arbeiten! Er arbeitet zuwenig ... Nütze ihn doch aus – für uns beide.«

Sie sagte: »Ja, Papa«, und dachte: ›Was willst du denn noch, da du stirbst? Und was soll ich denn noch selber?‹

»Kämpfe mit ihm!«

»Verlaß dich drauf, Papa, er gehorcht mir.«

»Nein, nein –«

Der Alte ballte seine faltigen Fäuste.

»Kämpfe mit ihm, bis seine Werke riesengroß werden und ihn erschlagen! Du ahnst nicht, was wir aus ihnen herauspressen können, aus unsern Künstlern. Unbändige Schöpfungen, für die kein Sterblicher genug Blut und Nerven übrig hat. Sie sträuben sich, denn sie fühlen, daß sie all ihr Leben dabei ausspeien. Aber wir zwingen sie, wir kämpfen mit ihnen: so kämpfte ich mit Properzia.«

Die Herzogin ging vorüber, Nino an der Hand. Sie gab ihm einen Sorbet.

»Properzia?« fragte sie, aufgeschreckt. »Wird hier von Properzia gesprochen?«

Mortœil richtete sich auf und erklärte:

»Wir erinnern uns der guten Properzia mit Vergnügen. Es war doch eine riesig angeregte Zeit.«

»Was war es?« erkundigte Clelia sich von oben herab.

»Angeregt, meine Liebe. Properzia hatte etwas, was den Literaten kitzelt. Die Unbewußtheit des Genies ward bei ihr verdoppelt durch die volkstümlichen Triebe ihrer Geburt. Ich gestehe, daß ich an der Heldin meines Stückes – Sie erinnern sich, Herzogin, die Verkörperung der großen Leidenschaft –, daß ich damals an ihr vorübergehend gezweifelt habe. Die Natur hat zuweilen etwas Überwältigendes.«

»Sie waren also überwältigt?« fragte die Herzogin. »Man sah es Ihnen gar nicht an.«

Er erhob sich, warf das Glas ins Auge und machte ein paar Schritte im Genuß seiner Persönlichkeit, aber mit steifgewordenen Beinen.

»Ich ließ mich auch keineswegs überwältigen. Die Versuchung lag nahe genug, meine ich nur. Nun, mein Grundsatz ist es, immer den kritischen Sinn frei und rege zu erhalten, alles gleich zu überblicken und zu Phrasen zu verarbeiten.«

Er befand sich inzwischen drüben bei der Terrassentür und neben San Bacco. Der alte Dolan öffnete plötzlich die Augen, soweit die schweren Lider sich heben ließen. Er wälzte seinen Kopf auf den Kissen bis zu Clelia hin und zischte an ihren Hals, mit wilden Anstrengungen: »Betrüge ihn, Töchterchen! Er verdient es nicht besser. Hat er nicht verlangt, der Elende, hier mein herrischer Dickwanst aus Elfenbein solle dem guten Geschmack unterworfen werden, dem guten Geschmack eines Parisers, seiner Niedlichkeit und seiner Angst vor Ausschweifungen. Betrüge ihn! Ich habe zu spät gemerkt, daß er eine kleine Chanteuse der Bianca Cappello vorzieht. Er würde sich vor ihr fürchten! Soll ich dir sagen, was er am ehrlichsten wünscht? Daß du mager bleibst! Nur nicht großartig werden, die Mittelmäßigkeit überragen und gegen den guten Geschmack verstoßen. Betrüge ihn! Mir wäre lieber, du hättest den Herrn von Siebelind geheiratet, obwohl er eine Karnevalsmaske ist. Er haßt die schönen Dinge. Das ist doch etwas. Er hat ein konträres Kunstempfinden, aber mein Schwiegersohn hat gar keins, er hat nichts als ein geläufiges literarisches Urteil und deckt es wie ein großes Zeitungsblatt gleichmäßig über alle Schönheiten – sogar über den Koloß Properzia! ...«

»Ich will Ihnen sagen«, äußerte gerade Herr von Mortœil, »wie ein geborener Literat das Leben behandelt ...«

Er lehnte, mit eingezogenem Bauch, beinahe so schlank wie früher, und sehr hochmütig, an einem der Pfeiler, zwischen denen die Dämmerung leise hereinlugte. Er kreuzte die Beine, nahm die lange, weiche Spitze seines Schnurrbartes einen Augenblick nachdenklich zwischen zwei Finger und erzählte:

»Ich hatte in meiner Jugend in Paris eine hübsche Geliebte, ein Bürgermädchen aus geachteter Familie. Nach dreijährigem Liebesverhältnis war ich ihrer überdrüssig. Sie merkte es und nahm den Antrag eines wohlhabenden älteren Mannes an, der sie für vollkommen unberührt hielt. Anfangs erlaubte ich ihr die Heirat, da sie mir ja durchaus gleichgültig war. Dann besann ich mich und verbot sie ihr. Sie bestand darauf, und ich warnte sie. Die Unglückliche blieb dabei, mir ungehorsam sein zu wollen.

Nun also! Unmittelbar vor der Abfahrt zur Trauung trete ich in den Salon ihres Elternhauses, unter die braven Leute, die dort versammelt sind. Sie können sich vorstellen: unmögliche Fräcke neben Ballroben voller Schleifen. Der Bräutigam trägt Brillen und Favoris wie ein Notar ... Ich beachte niemand, ich gehe gerade auf das Mädchen los, küsse es auf die Stirn und sage vernehmlich: ›Bonjour, bébé, comment ça va?‹«

Mortœils Vortrag hatte erst gestockt, dann ward er freier, und die unvorhergesehene Schlußwirkung kam mit meisterlicher Schärfe heraus. Er erläuterte sie durch kurze und elegante Handbewegungen.

»Allgemeiner Aufruhr, Ohnmacht der Braut, Flucht der Hochzeitsgäste, sofortige Aufhebung der Verlobung: Sie sehen das von hier aus, meine Damen. Ich füge hinzu, daß das Mädchen einen armen Coiffeur geheiratet hat. Sie sitzt in einer einzigen Stube in einem fünften Stockwerk und langweilt sich ... Beachten Sie, bitte, daß mir nichts daran lag, ob sie damals den wohlhabenden Bürger nahm oder nicht – ich habe den Auftritt einzig herbeigeführt, um seine Wirkung auf eine feierliche Traugesellschaft zu studieren. Ich brauchte das für eine meiner literarischen Arbeiten, aus der dann doch nichts geworden ist.«

Er meinte, auf den Gesichtern der Herzogin und der Frau Degrandis den Eindruck seiner Anekdote zu lesen und verbeugte sich leicht.

Gleichzeitig vernahm er hinter seiner Schulter eine zornig erregte Stimme:

»Sie scheinen gar nicht zu ahnen, mein Herr, was Sie da getan haben?«

»Bitte?« machte Mortœil und drehte sich um. San Bacco stand vor ihm und bot einen Anblick wie bei großen Gelegenheiten. Er hatte die Arme hoch auf der Brust übereinandergelegt. Sein Gehrock war in der Taille zugeknöpft und stand oben offen. Das Kinnbärtchen bebte, der weiße Schopf wirbelte von der schmalen Stirn in die Höhe, die Augen blitzten blau und hart gleich Türkisen. Die Haltung des jungen Mannes paßte sich der des Alten sofort an. Sie zeigte nur noch gemessene Feindseligkeit. Er fragte:

»Und was hätte ich nach Ihrer Meinung getan, mein Herr?«

»Was Sie damals einem wehrlosen Mädchen angetan haben, das entzieht sich meiner Beurteilung. Heute aber, mein Herr, haben Sie durch die Erzählung einer niedrigen Handlung diesen Salon herabsetzen wollen. Merken Sie sich, daß ich das nicht dulden werde!«

»Und Sie, mein Herr, merken Sie sich, daß ich keine Befehle von Ihnen zu empfangen habe.«

»Sie werden mir das Recht, Ihnen diesen zu geben, anders streitig machen müssen als mit Worten.«

»Das werde ich. Sie, mein Herr, sind, wenn ich genau unterrichtet bin, ein ehemaliger Pirat, und Ihre Handlungen, für die ›niedrig‹ eine beschönigende Bezeichnung wäre, verweisen Sie auf die Galeere – nicht in dieses Haus.«

»Glücklicherweise bin ich hier, und imstande, Sie zu züchtigen!«

San Bacco schnaubte; er stürzte vor. Der andere fing seinen Arm ab. Er war sehr blaß geworden. Sie maßen sich schweigend, beide ein wenig kurzatmig. Dann sagte Mortœil:

»Sie werden von mir hören, mein Herr«, – und sie trennten sich.

Die schmerzliche Verdrossenheit des Gemachs, in das die Lagune eine erste Mahnung sommerlicher Fäulnis sandte, zerstob im gleichen Augenblick wie vor einer Fanfare. Die Kerzen schienen aufzublitzen und heller zu brennen. Die Herzogin erfreute sich an San Baccos Kampfbereitschaft; sie erzitterte für die Minute von dem gleichen Zorn wie er. Clelia erhob sich, sobald Mortœil auf sie zutrat, und sie sah aus, als sei sie stolz auf ihn. Sie fühlte, man hatte vergessen, daß er ein betrogener Gatte war, der sich nicht anders rächte als durch prahlerische Herzensroheiten. Man sah nur, daß der Zusammenstoß mit einem alten Duellanten ihn kalt fand und tapfer.

Herr und Frau von Mortœil nahmen Abschied von der Hausherrin und von Frau Degrandis. Der alte Dolan richtete sich mühselig auf und schlürfte zwischen seinen Kindern bis zur Tür. Dort warteten die Diener, die ihn in seine Gondel tragen sollten. Er wendete sich zuvor noch einmal um nach der Herzogin, seine gekniffenen Lippen lächelten zweideutig, er schien zu sagen: ›Was nützen solche Kindereien? Es bleibt, wie es war.‹ Und auf einmal fiel sie zurück in die ängstliche Stimmung dieses Abends. Sie holte San Bacco ein, der aufgeräumt und beweglich durch die Zimmer schweifte. Sie faßte ihn bei beiden Händen.

»Mortœil wird Sie um Entschuldigung bitten. Er gehorcht mir, verlassen Sie sich darauf. Versprechen Sie mir, daß Sie sich nicht schlagen wollen!«

Und ehe er ein Wort hervorgebracht hatte:

»Mein lieber Freund!«

San Bacco wand sich unter ihren Fingern, enttäuscht und eingeschüchtert.

»Bestehen Sie nicht darauf«, stotterte er endlich. »Herzogin, ich fühle, daß ich nachgeben würde. Aber es wäre meine erste Nachgiebigkeit in solcher Sache, und für den Rest meines Lebens hätte ich daran zu tragen!«

Sie schämte sich plötzlich, sie ließ ihn los.

»Sie haben recht. Es war eine falsche Regung von mir.«

»Sehen Sie wohl!« rief er. Er sprang ausgelassen zur Seite, rieb sich die Hände, warf die Arme.

»Noch einmal! Es ist das dreiunddreißigste. Töricht, darauf stolz zu sein, wie? Aber ich kann nicht anders. Und noch etwas, das mich freut. Er hat mich ärgern wollen, nicht wahr, und hat mich Pirat genannt. Warum hat er mir nicht auch meine Jahre vorgeworfen? Solch witziges Kerlchen verfällt auf mancherlei. Er hätte sagen können: ›Wenn nicht der Respekt vor dem Alter, mein Herr, mich zurückhielte‹, und so weiter, man kennt das ja. Nun, darauf ist er gar nicht verfallen! Und deswegen bin ich ihm schon kaum noch böse. Ich werde mich aus reiner Herzenslust mit ihm schlagen!«

Da stieß er mit Nino zusammen. Der Knabe zitterte vor geheimer Begeisterung. Seine Blicke kamen aus den hohen Bogen der Brauen hervor wie junge Gladiatoren; er bat leise und fest:

»Nehmen Sie mich mit!«

»Warum nicht?«

»Nein, nein! Er soll nicht!« rief Gina, aber San Baccos Lachen übertönte ihre schwache Stimme.

»Nun müssen wir uns üben!« befahl er. »Komm, da hast du dein Florett.«

Und er gab ihm wieder den Stab aus Elfenbein. Sie fochten.

»Drauf los!« kommandierte San Bacco. »Andere würden dir sagen: Abwarten, herankommen lassen; ich sage: drauf los!«

»Er soll nicht«, wiederholte Gina noch einmal leiser. Aber gleich darauf sagte sie, ausbrechend:

»Wie schön! Wie kommt es nur, daß zwei Menschen, die mit dem Fuß nach vorn ausfallen, den linken Arm rückwärts strecken und den rechten nach vorn und ein paar Stäbe kreuzen – so kühn aussehen und so edel!«

Die Herzogin sagte:

»Wissen Sie wohl, was das für Stäbe sind? Es sind die Zepter alter Hofnarren. Zwei jener winzigen Geschöpfe, die über Treppchen mit ganz flachen Stufen in ihre niedrigen Kämmerchen schlüpften, und die sich für ihr kränkliches, mißachtetes Dasein an den Edlen, Großen hier und da rächen durften durch ein boshaftes Wortspiel – zwei von ihnen haben einander vielleicht geprügelt mit diesen Stäben. Aber jetzt –«

Sie vollendete ernst, und Gina hörte Leidenschaft heraus:

»Aber jetzt geschieht damit etwas Schönes, wie Sie sagen, Frau Gina – etwas Kühnes und Edles!«

›Nein, ich will nicht mehr an Properzia denken‹, rief sie sich innerlich zu. ›Den ganzen Abend habe ich ihre Hand über mir gefühlt. Habe ich nicht beinahe Verdacht geschöpft gegen mich selbst? Jetzt will ich neben dieser sanften Schwärmerin sitzen und glücklich sein wie sie.‹

»Frau Gina, es wird mir immer gewisser, ich habe Sie früher schon einmal gesehen – nein, gehört. Es ist Ihre Stimme, die ich kenne. Es kommen mir immer wieder halbe Worte in den Sinn ... warten Sie ... Nein, ich vergesse sie wieder.«

»Ich weiß nicht«, erwiderte Gina ... »Ich habe ja wohl mit keinem Menschen gesprochen.«

»Ach doch, besinnen Sie sich, es war eine Nacht, fast wie diese, scheint mir, etwas bewegt, etwas schwül und angstvoll – denn ich gestehe Ihnen, ich bin ein wenig ängstlich erregt durch dieses Duell ... auch noch durch andere Dinge ... Genug, wenn ich nur wüßte ... Liebe Frau Gina –«

Sie ergriff Ginas Hand.

»Sie sind glücklich.«

»Ja. Aber ich war es sonst nicht: – wenn Sie mich früher gekannt haben, werden Sie es wissen.«

Sie dachte:

›Was ist dieser schönen Frau? Sie zittert. Ihr Gesicht sollte uns allen wie eine Sonne sein, und jetzt sehe ich zu, wie es leidet, und muß sie bedauern. Was kann ich ihr Besänftigendes sagen?‹

»Hören Sie, Herzogin. Das Schicksal ist einfach und gerecht, glauben Sie das nur. Ich danke ihm meine Rettung. Ich war in der Gegend von Ancona an einen Gutsbesitzer verheiratet, einen Landbaron, der sich betrank, mein Vermögen verspielte, mir die Mägde vorzog. Er mißhandelte mich in der Zeit, als ich ihm ein Kind geben sollte. Und ich starb vor Angst und Ekel bei dem Gedanken, das Kind könne ihm ähneln. Ich stellte mich krank, um nicht mehr sein gerötetes Gesicht sehen zu müssen, mit den Borsten, den gekniffenen Lippen, der niedrigen Stirn voller Gewaltsamkeit. Auf welchen schöneren Zügen konnte ich mein Auge ruhen lassen? Es gab an unserm kahlen Ort nur eine einzige schöne Sache, eine kleine Kirche, hundert Schritte von unserm Wohnhaus. Ihre Mauern waren bedeckt mit Stukkaturen, lauter kleinen lachenden Genien. Auch ein Bild war da, ein Knabe in goldenen Locken und langem pfirsichrotem Gewande. Er hielt die linke Hand hinter sich, zwei Frauen in Lichtgelb und Blaßgrün hin. Mit silberner Ampel leuchtete seine Rechte ihnen voran, durch den in Finsternis versteckten Garten ... Was haben Sie, Herzogin?«

»Nichts. Mir ist jetzt viel wohler. Ich danke Ihnen.«

Sie wußte auf einmal, wer Gina war.

»Erzählen Sie weiter, bitte.«

»Jenem Knaben zuliebe ward ich fromm und versäumte keine Messe. Ich kam auch nachts. Die Tür des Kirchleins –«

»Mit den geschnitzten Engelsköpfen«, ergänzte die Herzogin.

»Stand angelehnt«, sagte Gina, an ihre Erinnerung verloren. »Ich glitt hinein, ich zog unter meinem Mantel eine kleine Laterne heraus und stellte sie auf die Balustrade vor der Kapelle, worin er seines dunklen Weges zog. Ich öffnete in Angst und Erwartung den Blender, und das schmale Licht traf sein Gesicht und seine großen, aufwärts gebogenen Locken. Ich kniete vor ihm, stundenlang. Ich ließ mich durchdringen, tief und ganz, von seinen Zügen. So süß und mutig, wie sein Gesicht war, fühlte ich's nachher, wenn ich vor Tagesdämmern heimschlich, in meinem Innern ...

Mein Mann, der ein seiner Rasse fremdes Kind heranwachsen sah, schöpfte Verdacht. Ein Dienstbote verriet ihm meine nächtlichen Abwesenheiten. Er peinigte mich, und ich schwieg. Er hätte die Wahrheit nie entdeckt; ein Bild anzusehen, war er ja nicht imstande. Schließlich beargwöhnte er einen Kumpanen und kam, betrunken, in einer Schlägerei um.«

»Haben Sie ihm verziehen?« fragte die Herzogin.

»Ich habe ihm verziehen und bedauere ihn nicht.«

»Getroffen!« rief San Bacco wieder einmal, und:

»Stehenbleiben! Man springt nicht mehr fort, sage ich dir, wenn man dorthin getroffen ist!«

Der Greis und der Knabe ließen ein letztes Mal die Narrenzepter gegeneinander klappern. Die Herzogin sah ihnen schweigend zu und mit zärtlicher Bewegung. Sie kamen zu ihr, Arm in Arm. Die Terrassentür war jetzt verhangen, der Raum geschlossen, voll warmen Lichts und behütet von der großen Pallas. Die Herzogin fühlte sich eingehegt und tief beruhigt von dem Glück dieser drei. Das der blassen Gina war still und schwärmerisch, und das der Fechter glänzend und außer Atem.

Das Diner war bereit, und sie gingen hinüber.

»Zuerst kam die Dorfmauer«, sagte unvermittelt die Herzogin. »Es war ein Passionsweg darauf gemalt. Wo sie aufhörte, stand die kleine achteckige Kirche, ein Stück abseits von ihrem hohen Glockenturme, dahinter erschloß sich eine lange, blühende Laube von Linden und Kastanien. Zwischen den Blättern hindurch spielten Lichter des aufgehenden Mondes über den Weg, und an seinem Ende stand das weiße Haus.«

»Was ist das?« murmelte Gina. »Woher kennen Sie das?«

»Gleich ...«

Sie sprach hastiger:

»Ich folgte dem stummen, vom Monde gebannten Baumgange, bis vor das weiße Haus. Die Flügel ragten rechteckig vor, der Hauptbau, breit und einstöckig, streckte sich im grauen Hintergrunde; eine blendende Rampe führte flach und langsam darauf zu. Ein Fenster flammte rot auf in einem dreieckigen Schlagschatten. Es ward geöffnet, eine Frau sagte mir mit verschleierter Stimme etwas so Gütiges –«

»Das waren Sie! Oh, das waren Sie!« murmelte Gina und sah dabei geradeaus.

»Es war eine meiner Schicksalsnächte«, sagte die Herzogin. »Flucht und gehobenes Empfinden hatten mich zu Ihnen getragen, Frau Gina, und in der Dunkelheit merkte ich, ich nahm Freunde mit ... Sagen Sie mir nur eins.«

»Und was?«

»Der Knabe und die beiden Frauen: ich fühlte gleich, ich sei die eine; nun weiß ich, die andere sind Sie. Aber wohin leuchtet uns seine schwache Ampel? Was liegt hinter der Finsternis?«

»Die Kunst!« antwortete Gina; ihre Stimme war schwer von Inbrunst. Sie sah ihrer Freundin in die Augen. Die Herzogin lächelte; ihr Lächeln war so stolz, daß Gina nicht entdeckte, wie es schmerzlich war.

»Ich hoffe es – von ganzer Seele!«

 


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