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II

Im Gasthause zu Capua fand sie einen eleganten und feurigen jungen Mann, der sich ihr vorstellte: Don Saverio Cucuru.

»Der Sohn meiner alten Freundin, der Fürstin? Kaum glaublich, und so jung? Sie sind jetzt – dreißig? Wie geht es Ihrer Mama?«

»Maman ist gestorben, sie war zu lebenslustig. Herzogin werden sich erinnern, sie wollte durchaus hundert Jahre alt werden, und ihre Geschäfte wurden immer zweifelhafterer Natur: Das muß der eigene Sohn zugeben, wenn er ein anständiger Mensch ist.«

»Ich weiß, es waren Versicherungsgeschäfte – und auch Berichte an den dalmatinischen Gesandten über meine Unternehmungen. Die alte Dame wurde sehr rot und zornig, wenn sie vom Gelde sprach, das die Welt ihr schuldete und das sie sich erobern wollte. Einmal stieß sie nach mir mit dem Krückstock ...«

»Sie ist immer röter und zorniger geworden, je bedenklicher es mit ihren Industrien aussah. Schließlich sollte sie vors Gericht, erlag aber noch rechtzeitig einem Schlaganfall.«

»Die arme Fürstin! Und Ihre Schwestern?«

»Lilian ist eine berühmte Künstlerin.«

»Ah!«

»Vinon hat einen großen Dichter geheiratet. Was wollen Sie, Herzogin, eine Liebesheirat ... Aber Sie selber, Herzogin, Sie haben immer meine Phantasie beschäftigt, ich kann Sie versichern, seit meiner Knabenzeit schon. Welch seltsamer Glücksfall, ich treffe Sie unversehens auf einer abgelegenen Landstraße!«

Es fiel ihr ein: ›Seine eigene Mutter erzählte, daß er von den Frauen lebe – schon damals. Was muß inzwischen Interessantes aus ihm geworden sein!‹ Sie war erfreut und machte ihm den Eindruck einer harmlosen Frau. ›Weiß sie gar nicht‹, dachte er, ›daß man in Neapel von ihr spricht? Auch daß ich mit Schulden gespickt bin, könnte sie sich selbst sagen, und daß ich in dieser Kneipe nicht zu meinem Vergnügen sitze, sondern weil sie vorbeikommen mußte. Niemals hätte ich es für so leicht gehalten, die berühmte Herzogin von Assy an der Nase herumzuführen.‹

Sie speisten zusammen und galoppierten davon in einem bekränzten Wägelchen, mit einem halbbetrunkenen Kutscher, der jauchzte und knallte. Auf dem Pferdehals klingelten die Schellen und spreizte sich die silberne Hand. Ein altes Weib mit entzündeten Augen kam vorbei. »Hat nichts zu sagen!« rief der Prinz aus einer gewagten Geschichte heraus und drehte an den Hornberloques auf seiner Weste. In einem dichten Garten am Wege, der voll später Rosen hing, hielten sie Rast. Zwischen Schlinggewächs stand ein leerer Sockel. Die Herzogin betrachtete ihren Begleiter. Er hatte kosende Mandelaugen. Er war weiß, weiß, und blauschwarz beschattet vom rasierten Bart. Er verstand wollüstige Haltungen wechseln zu lassen mit sehr markigen. Im Klange seiner Stimme ruhte die Frau, die ihm zuhörte, sich aus wie auf Rosen und Mandelblüten.

»Dort oben sollten Sie stehen«, sagte sie plötzlich.

Er hatte sich entkleidet, ehe sie ein Wort hinzufügen konnte, und kletterte hinauf. In der Stellung eines jungen Bacchus, ein Weinblatt hinter dem Ohr, gewann er sofort einen nur auf sich aufmerksamen und an allem unbeteiligten Ausdruck. Der Sockel war seine Welt, er war Marmor und unmenschlich in seiner Vollkommenheit. Die Herzogin betastete, beinahe ohne daran zu denken, seine Haut. Sie fühlte sich an wie erwärmter, geäderter Stein. Auf einmal belebte sich das Bild. Es schwankte gegen ihre Schulter und sank, nach einem gut abgepaßten Sprunge, zusammen mit ihr auf den Rasen.

Nachher lachten sie und fuhren, sehr glücklich, weiter durch den flimmernden Mittag. Die Herzogin dachte nach, wo sie seinesgleichen gesehen habe. Ein abergläubischer und falscher Bandit, durch ein geheimes Türchen in einen blendenden Marmorgott geschlüpft – wer war das? ... Ah! Piselli, Orfeo Piselli, der Geliebte der Blà!

Bis ans Tor wurden sie zwischen Weingärten von schlanken Reben geleitet. Dann wanden sie sich durch die Stadt und ihr krummes Gewimmel von Zerlumpten und schönen Mädchen wie durch einen großen, sehr schmutzigen Käfig, an dessen Gitterstäben Affen Jagd machten auf bunte Vögelchen. Die Herzogin sah es zum erstenmal und unterhielt sich unerwartet gut.

»Was für eine Straße! Sie steigt, steigt, nun kommen gar Treppen! Also verlassen wir den Wagen ... An beiden Seiten der Stufen sind Blumen aufgebaut zum Verkauf, droben flattert bunte Wäsche, zerfetzt und besonnt, quer über den Weg. Der violette Himmel strahlt herein auf Kot, Grimassen, bunten Bettel. Erschreckliche Höhlen öffnen ihre Löcher neben Palästen von altem Pomp ... Der dort an der Ecke der Avenue mit Lavaquadern, ist das unsrer? Ich bin froh! Er ist mit Arabesken überladen, sie sind so schwer, daß die Karyatiden sich abarbeiten unter ihrer Wucht. Daneben bimmelt es auf der tollen, geschweiften Kirche. Es bimmelt ringsumher und zetert und wiehert, es plärrt Gebete, singt Früchte und Schuhbänder aus, es beschwört uns um Geld, flüstert verdächtige Angebote, es stiehlt, steckt uns Blumen ans Kleid, – ich weiß nicht mehr: es betäubt mich ...

Gehen wir also hinein in unsern Palast – durch dieses Portal für Riesen. Auf der Schwelle rekeln sich possierliche Zwerge und duften übel. Warum stoßen Sie sie mit dem Fuß, Saverio? Lassen Sie das Volk! ... Welch ein Durchblick auf Treppen, die in der Höhe sich kreuzen, auf Altane, von Säulengängen gestützt! Hat das einen Sinn? Oder ist es die Laune unbeschäftigter Herren? ... Nein, es hat einen Sinn: sehen Sie, wie plötzlich alles sich füllt! Sie überstürzen sich, sie rutschen die Geländer herab, alle stecken in goldbraunen Livreen. Wir müssen sehr reich sein!

Hier oben – ich erhole mich noch kaum, bedenken Sie, daß ich lange Wochen tief im Lande versteckt war –, hier sieht man auf weiten, polierten Boden zwischen hohen, weißgoldenen Türen nichts als Stuck und Gold, blaue Porzellanvasen, eingelegte Tische, Deckengemälde: wie groß und nichtig! Werfen wir uns in die Brust, bis es schmerzt! Die Herren, die es hier vor uns taten, waren vermutlich geradeso flinke, spaßhafte Tierchen wie ihr Volk und haben sich über das Fürstentum lustig gemacht. Darum in allem diese lächerliche Überlebensgröße: ich fange an, dafür zu schwärmen. Oh! Das ist unser Schlafgemach, mein Lieber? Es ist weitläufig wie ein Schlachtfeld! Rote Seide und Gold, und über dem Bett wird Hagar vertrieben. Und die Wappenblume blüht sogar noch auf der Tür des Nachtkastens!«

Sie lag auf einem steifen Sofa und lachte. Don Saverio kniete, um etwas zu tun, anbetend vor ihr.

»Ich denke nämlich an gewisse einfenstrige Zimmerchen, die ich in Venedig bewohnte. Im Marmorrahmen der niedrigen Tür war ich selbst dargestellt auf Emaillen, griechisch gewandet und mit der Zither ... Es war ein wenig stolzer als dies hier. Aber was liegt nun daran? ... Klingeln Sie, bitte!«

Sofort tollte es herbei, als liefe es auf Händen und Füßen zugleich; an der Spitze ein grinsender, glatter, behender Alter mit grauen Favoris und tiefschwarzen Brauen. Sie sagte:

»Zum Diner will ich eine Hasenpastete haben. Ich will auch Bananen essen und – nun, mir fällt's schon noch ein. Marsch! ... Sie wissen wohl nicht, Saverio, ich habe dort drüben von Polenta und zähen Hühnern gelebt ... Alfonso, noch etwas! Man wird mich benachrichtigen, wenn das Bad geheizt ist. Man soll Parmaveilchen hineinschütten.«

»Die Frau Herzogin wird bedient werden«, riefen sie ihr entgegen nach jedem ihrer Worte, unzählige Male und von allen Seiten, und sie sprangen und verrenkten sich dabei.

»Ich selbst werde die Ehre haben, die Frau Herzogin ins Bad zu geleiten«, verhieß der Intendant und verbeugte sich wie ein Finanzmann. Dabei sah er nach den Augen des Prinzen.

Dann kam er nicht wieder. Sie klingelte; gerade war das Essen fertig. Es gab weder Bananen noch Hasenpastete, und die Gründe dafür deuchten ihr unzureichend; aber alles Aufgetragene war vortrefflich. Später fand sie das Bad stark parfümiert, aber nicht mit Parmaveilchen, hinter ein paar Stufen, gleich in ihrem Schlafzimmer. Sie stieg hinein; es rauschte ein Vorhang: Don Saverio erschien, ganz Marmor.

 

Sie lehnte in der Frühe aus dem Fenster, zwischen den ungeheuren steinernen Launen der Fassade: großen Schnecken, Kinderköpfen, Drachenschnauzen und -schwänzen. Nebenan, auf dem wild geschwungenen Kirchenportal, ritten Posaunenengel. Tauben kamen herbeigeflogen und ließen sich nieder wie in einem Zauberwald voll steinerner Gewächse und Ungeheuer.

Die Straße flitterte und summte in der Morgensonne. Ein junges Mädchen sah herauf, einen großen Korb am Arm mit Wäsche darin. Sie war braun und klein und geschmeidig. Ihr schwarzer Schopf war oben auf dem Kopf zusammengebunden, und sie hatte warme, sanfte Gazellenaugen. ›Ich möchte sie wohl auf das afrikanische Plattnäschen küssen‹, dachte die Herzogin. ›Übrigens kann sie mir als Wäscherin dienen.‹

Sie winkte dem Kinde; es nickte beglückt und hüpfte in den Torweg. Die Herzogin wartete; dann ward sie ungeduldig und befragte ihren Kammerdiener, einen stattlichen Mann von viel Würde. Er hatte nichts gesehen; die Lakaien im Vorzimmer und auf der Treppe ebensowenig. Die Mädchen auf den Galerien, in den verwickelten Korridoren vielleicht? Sie wirbelten lachlustig und singend durcheinander; sie waren so neugierig und beugten sich über die Geländer bei jedem Schritt auf den Treppen. »Nein!« ... Aber der majestätische Portier mit dem rasierten dreifachen Kinn! Er wußte von nichts. Die Herzogin war bestürzt. Konnte ein Mensch, der vor ihren Augen die Schwelle ihres Hauses überschritten hatte, spurlos verschwinden? Prosper, ihr Jäger, machte ein bedeutungsvolles Gesicht und schwieg. Sie vermißte ihre Kammerfrau.

»Wo ist denn die Nana? Ist sie noch nicht zurück?«

»Wird sie je zurückkehren?« meinte Prosper.

»Heute früh hat mich eine andere bedient, ein sehr brauchbares Mädchen. Sie sagte mir, Nana habe sich beurlaubt, um sich Neapel anzusehen – was mich in Erstaunen setzte; denn Nana verfährt anders, wenn sie ausgehen möchte. Wo mag sie sein?«

»Wer weiß es?« erwiderte Prosper. »Wer weiß auch, wo ich selber nun stecken würde, wenn ich nicht einen Revolver in der Tasche trüge.«

»Was sagst du da?«

»Als ich gestern beim Dunkelwerden heimkam, hat mich Cirillo, der Portier, nicht einlassen wollen. Die Frau Herzogin brauche meine Dienste nicht mehr, sagte er. Natürlich lachte ich ihm ins Gesicht und sagte: ich begleite die Frau Herzogin schon seit Dalmatien, wo sie eine Königin war; und das ist sie geblieben, und mich wird sie nicht fortschicken ...«

»Ich werde es nicht tun.«

»Aber gleich umringte mich ein ganzer Haufe dieser Affen und fuchtelte. Ich mußte ihnen die Waffe zeigen.«

»Es ist sehr sonderbar«, sagte sie. Aber vor allem fand sie ihn lustig, den närrischen Strudel der bunten Treppengasse, die sich, ihr zu dienen, bis in ihr Haus ergoß und hoch hinauf über die großartigen Rampen. Die gelenkige, gelbschwarze Wirrnis von Dienern, Zofen und Mägden, Köchen, Grooms, Kutschern und Scheuerjungen machte sie neugierig durch ihre unverschämten Spaße, ihre niedrige Demut und ihre geheimen Ränke. Es war eine neue Art von Volk. Sie erwiderten auf alle ihre Befehle: »Die Herrin wird bedient werden«, und es geschah alles gut, aber anders. Sie lagen auf dem Bauch, und sie streckten ihr, sobald sie wegsah, die Zunge aus. Ihre Kammerfrau stahlen sie ihr. Keiner verriet den andern, sie hingen untereinander zusammen wie Affen im Käfig an ihren Schwänzen. ›Ich bin in das Land der redenden Tiere verschlagen‹, meinte sie.

Sie betrachtete den Prinzen unter den Leuten, die er ihr gemietet hatte. Sie buckelten vor ihm weniger als vor ihr, der Herrin; aber sie blickten aufmerksam nach seinen Augen. Vermutlich belogen sie ihn auch weniger. Sie gab so viel Geld, als er verlangte, und fragte nichts mehr. Sie ergötzte sich, wie einst als Kind in ihrem einsamen Meerschloß, an ihrer zahllosen Dienerschaft. Eine Torte war besonders wohlgeraten. »Der Chef selbst hat sie gemacht«, bemerkte Amedeo, der Kammerdiener.

»Ich will ihm meine Anerkennung aussprechen.«

Prosper hatte am Ende des Saales gestanden. Er verschwand und kam zurück mit einem halbwüchsigen, anmutigen Jungen, der seine Papiermütze abnahm und sich unbefangen verbeugte.

»Ich, gnädigste Frau Herzogin, habe die Torte gebacken«, versetzte er und schnitt eine andere Fratze bei jedem Wort. Auch der Prinz war sichtlich angeregt.

»Was für ein Komiker! Singe einmal etwas!«

»Der Bengel ist überwältigend, ich will ihn heute wieder hören!« sagte sie tags darauf. Prosper ging: der kleine Bäcker war abhanden gekommen. Die Herzogin und der Jäger sahen sich schweigend an. Inzwischen erschien ein großer roter Koch und erklärte, von jeher alle Torten gebacken zu haben. Solch ein Knabe, wie die Frau Herzogin meine, sei nie im Hause gewesen.

»Wer weiß es?« sagte gelassen Don Saverio.

»Ich habe eine Verabredung im Klub«, fügte er hinzu. »Prosper, meinen Mantel.«

Prosper holte ihn, der Prinz verabschiedete sich. Auf einmal stockte er, die Hand im Rock.

»Meine Brieftasche! Sie muß drinnen in der Garderobe herausgefallen sein, seht einmal nach, Prosper ... Wie, sie ist nicht da?«

»Nein, Exzellenz.«

»Das ist sehr sonderbar. Und ich habe sie hineingesteckt, als ich hier eintrat. Prosper hat mir den Mantel abgenommen, Sie haben es bemerkt, Herzogin. Er allein hat ihn in das Kabinett getragen, das nur diesen Eingang hat und das niemand inzwischen betreten hat. Die Tasche liegt also nicht drinnen auf dem Boden? Es ist sehr sonderbar.«

»Exzellenz, ich bin kein Dieb«, sagte der Jäger und unterdrückte sein Zittern. Don Saverio lächelte liebenswürdig.

»Wer sagt das, mein Freund? Es wäre töricht von mir, es zu behaupten, da ich es nicht beweisen kann. Ihr seid ja inzwischen hinausgegangen, um den kleinen Bäcker zu suchen, was Euch vermutlich schon vorher als zwecklos bekannt war. An Eurer Person würde ich daher die Tasche keinesfalls mehr finden, auch wenn Ihr sie genommen hättet – was Ihr natürlich nicht tatet ...«

»Exzellenz werden mir erlauben –!« rief der Jäger und richtete sich stramm auf.

»Ich entlasse dich, Prosper«, sagte die Herzogin und blinzelte ihm zu. Er war sofort beruhigt.

»Komm in mein Zimmer, ich zahle dir deinen Lohn aus, du verläßt noch heute das Haus.«

»Das hätte ich nicht einmal verlangt«, meinte begütigend der Prinz. »Schließlich hat der Mann wohl menschlich gehandelt.«

»Prosper«, sagte sie, allein mit ihm geblieben, »merkst du nicht, daß man dich los sein will? Da hast du Geld, nun geh. Du hast weiter keine Pflichten, als manchmal unter meinen Fenstern vorbeizuspazieren. Deinen Bart wirst du vorher abschneiden.«

»Es wird mir schwer, die Frau Herzogin zu verlassen«, stammelte der Jäger. »Ich weiß nicht, was der Frau Herzogin hier geschieht.«

»Das ist es ja, daß auch ich es nicht weiß. Und ich möchte es wissen. Darum geh, mein Alter.«

Eines Morgens sah sie Don Saverio im Hause gegenüber aus dem Fenster winken.

»Wie kommst du dort hinein?« fragte sie später.

»Es gehört mir, ich habe es von der Stadt erworben.«

»Ah! Auf welche Weise? Du hast noch mehr Schulden gemacht?«

»Keineswegs. Ich habe es für das Geld gekauft, womit man meine Vermittlung bezahlt hat, als du diesen Palast übernahmst. Das Haus zu unserer Rechten habe ich gleichfalls bekommen – tauschweise.«

»Erkläre, bitte.«

»Im Austausch gegen das Haus da drüben!«

»Aus dessen Fenstern du mir zuwinktest? Es ist aber noch immer deins!«

»Und wird meins bleiben. Denn ich hatte den Preis von fünfundzwanzig Lire für den Quadratmeter auf fünfzehn Lire und dann auf drei Lire heruntergedrückt, wovon niemand mehr Trinkgelder bekommen konnte, weder der Bürgermeister noch sonst jemand. Somit verlohnte es sich für die Stadt nicht mehr, von dem Hause Besitz zu ergreifen und die Kosten des Vermietens zu tragen – und man läßt mir beide Häuser.«

Sie dachte: ›Er hat den Geschäftssinn seiner Mutter! Und er rundet seinen Grundbesitz ab, ganz so wie der Bauer, den ich hinter mir gelassen habe.‹

»Ich bewundere dich«, äußerte sie.

»Du hast Grund dazu. Du sollst sehen, wir werden zusammen die größten Grundbesitzer von Neapel. Wir werden spekulieren! Ich baue Kasernen für arme Leute!«

»Willst du Geld?«

»Ich ziehe es vor, wenn du mir Prokura erteilen willst deinem Finanzier Rustschuk gegenüber. Ich habe schon mit ihm gesprochen; er ist seit gestern da; ich bin ihm sehr sympathisch.«

»Wem wärest du nicht sympathisch.«

»Also ich bekomme die Vollmacht?«

»Das doch nicht.«

»Wie? Nicht?«

»Nein.«

»Oh, lassen wir's«, sagte er leichthin. »Es eilt nicht.«

Hin und wieder erbot er sich, beim Anzünden einer Zigarette, zur Abwicklung alles Geschäftlichen, das sie etwa langweile. Sie erklärte, es langweile sie allerdings; sie werde einen Sekretär suchen.

Alsbald stellte sich ein kleiner Magerer bei ihr ein, mit schütteren Haaren in dem gelbsüchtigen Gesicht und von unheimlicher Spaßhaftigkeit. Er trug einen langen, blanken Gehrock, eine weiße Krawatte und abgescheuerte gelbe Schuhe. Er versicherte mit ironischer Unterwürfigkeit, daß er sich allen Diensten gewachsen fühle. Sie schickte ihn weg. Zwei Tage später erschien er nochmals: falls etwa kein anderer sich gemeldet habe –. Es war niemand gekommen. Don Saverio zuckte die Achseln. »Niemand will arbeiten.«

Eines Morgens vernahm sie auf der Treppe, wie drunten ein Mensch, der sich als Sekretär anbot, vom Türsteher abgewiesen ward. Die Stelle sei besetzt, bemerkte Cirillo. Sie befahl, den Bewerber heraufzuschicken. Schließlich kam er; der Portier hatte ihm einige Dialektworte auf den Weg gegeben. Es war ein junger Mann, anständig und ärmlich, vermutlich ein Student. Er blieb auf der Schwelle stehen, blaß und aufgeregt, und erklärte, sich geirrt zu haben. Plötzlich drehte er sich um und verschwand.

Der erste erneuerte seinen Besuch.

»Ich will die Frau Herzogin nicht länger hinhalten und Eurer Hoheit sagen –«

Dabei bückte er sich mit ausgebreiteten Armen bis zur Erde. Sein Gesicht war, als er es wieder aufhob, ganz auseinandergezerrt von boshaftem Vergnügen.

»– daß Eure Hoheit niemals einen andern finden werden als mich. Übrigens habe ich ein Recht auf den Posten.«

»Wie heißen Sie eigentlich, mein Lieber?«

»Muzio, zu dienen, Hoheit. Cavaliere Muzio.«

»Und ein Recht haben Sie, Cavaliere?«

»Weil ich Seiner Exzellenz dem Prinzen den Posten bereits bezahlt habe – jawohl, bezahlt mit zweitausend Lire.«

»Der Prinz läßt sich von meinem Sekretär – das ist überraschend.«

»Was überrascht Eure Hoheit? Ich dachte, Eure Hoheit kennten die Gebräuche? Sonst hätte ich Sie eher aufgeklärt ... Der Prinz und ich haben das Geschäft gemacht, Eure Hoheit können es nicht mehr ändern. Wenn der Prinz es jetzt zuläßt, daß Sie einen andern nehmen, bekommt er's mit der Camorra zu tun.«

Er grinste mit gelben Augen und Zähnen und erschöpfte sich in Zeichen rückhaltloser Ergebenheit.

»Also die Camorra!« sagte sie erstaunt und befriedigt. »Das ist offenbar das Wort, das mir fehlte! ... Aber nun setzen wir uns, Cavaliere. Sie sind mir willkommen, ich behalte Sie. Erzählen Sie also und seien Sie möglichst ehrlich.«

»Möglichst, sagen Hoheit! Bin ich nicht bisher mit Eurer Hoheit von wahrhaft sträflicher Ehrlichkeit gewesen? Sie werden es dem Don Saverio nicht verraten! ...«

Er beschwor sie mit gelben, breiten, zappelnden Fingern. Seine schütteren Barthaare bebten fieberhaft auf all den gelben Fratzen, die unter ihnen sich bildeten und zerflossen.

»Wenn Eure Hoheit dennoch etwas verraten, so bekommt es Ihnen so schlecht wie mir. Don Saverio steht sich so gut mit der Camorra.«

»Das ermöglicht ihm wohl seine Häusergeschäfte? Sie sind eigentümlich glänzend.«

»Auch das. Oh, ich könnte viel erzählen. Das heißt, ich sage nichts – weil es verboten ist. Amtlich darf ich nichts sagen. Ein Extragehalt, das Eure Hoheit mir aussetzen würden, würde mir dagegen außeramtliche Pflichten auferlegen –«

»Denen Sie genügen würden?«

»Peinlich. Ich würde alles zu erfahren wissen, was Eure Hoheit neugierig macht.«

»Da haben Sie hundert Lire. Trachten Sie herauszubringen, wohin der kleine Tortenbäcker geraten ist, den ich vermisse.«

Seine Hand schnappte nach der Banknote.

»Eure Hoheit sind bereits bedient. Denn ich selber habe den hübschen Kleinen ins Hospital gebracht mit zwei gebrochenen Beinen, weil der Chef und die andern ihn vom Küchenbalkon hinabgestürzt hatten. Eure Hoheit hatten dem Kleinen zuviel Gnade erwiesen; es war, mit Verlaub, ein wenig unvorsichtig ...«

»Oh!«

Sie wandte sich ab. Muzio reckte den gelben Hals lang aus und sagte nickend, wie ein schmutziger und weiser Vogel aus der Höhe:

»Das ist das Leben.«

»Sie werden es mir melden, wenn der Knabe geheilt ist; ich sorge für ihn. Erzählen Sie mehr.«

»Ich meine es gut mit Eurer Hoheit. Für hundert Lire habe ich Eurer Hoheit schon genug Schmerz zugefügt.«

Sie entließ ihn. Das nächste Mal berichtete er, der junge Mann, den sie gern statt seiner als Sekretär aufgenommen hätte, sei so plötzlich umgekehrt, weil er Grund gehabt habe, einen jähen Tod zu fürchten. »Er muß herzkrank gewesen sein«, meinte Muzio.

»Wo steckt Nana, meine Kammerfrau?«

»Sie ist gut versorgt und läßt sich Eurer Hoheit empfehlen.«

»Ist sie in Neapel?«

»Und ganz nahe. Eure Hoheit brauchten nur zu befehlen, und Nana würde eintreten. Aber Eure Hoheit werden es nicht tun, weil es der Nana nicht gut bekommen würde ...«

»Also nicht ... Die kleine Wäscherin, der ich gewinkt hatte?«

»Oh, Hoheit werden nicht beanspruchen, daß eine andere Wäscherin ins Haus kommt als die von Cirillo, dem Portier, beschützte. Das ist noch nie geschehen, wohin kämen wir damit. Die kleinen Lieferanten unterstehen dem Cirillo und entrichten ihm ihre Abgaben; die größern haben die Ehre, von Seiner Exzellenz dem Prinzen selbst besteuert zu werden. Auch die Gäste.«

»Meine Gäste?«

»Fällt Eurer Hoheit das auf? Wäre es nicht vielmehr verwunderlich, wenn die Spieler, die an Don Saverios Bakkarattischen gewinnen, ihm von ihrem Gewinn nichts abgäben? Auch sind manche Damen so glücklich, in den Salons Eurer Hoheit die Eroberung dieses oder jenes Engländers zu machen. Don Saverio findet mit Recht, daß sie ihm Dank schulden ...«

 

Am Abend betrachtete sie aufmerksamer als sonst die Gesellschaft, die ihre Säle füllte. Diese Leute strotzten von Brillanten und von Titeln. Die großen Frauen waren sanft, süß, mit einer Neigung, fett zu werden, und einem berechneten Schmachten sehr schwarzer Augen. Die kleinen Männer waren bleich, mager, und warfen sich in die Brust, übermäßig angespannt und lebendig, alle Ermüdungen einer Spiel- und Liebesnacht im Sturm besiegend – und bestimmt, bald nach ihrem vierzigsten Jahre ganz unerwartet und für immer in die Knie zu brechen.

Zwischen ihnen bewegte sich hier und dort ein hölzerner, aber schon gekitzelter Fremder, dem der Ruf seiner Millionen nachschleppte wie ein Kometenschweif. Der Aristokrat, mit dem Mister Williams von Ohio geschmeichelt plauderte, führte ihn zu seiner Frau. Einige Augenblicke später begab er sich ans Büfett, belegte den Teller seiner Frau und prüfte, indes er ausführlich sich selber pflegte, sie und den Fremden mit Seitenblicken ... Die wundervolle Contessa Paradisi sah angstvoll dem Marchese Trontola und dem Lord Tumpell zu, die Ecarté spielten. Sie klappte erleichtert den Fächer zusammen, da Trontola gewann.

Die Herzogin dachte: ›Es geht in diesem Hause zu wie in den Salons einer Kurtisane. Alles ist zu verkaufen, am teuersten die Hausherrin. Ich wüßte gern, welchen Preis Don Saverio für mich selbst verlangen würde.‹

Unter den Spielern saßen mit starrenden Schnurrbärten und kalten Augen, elegant und gefährlich, die Herren Paliojoulai und Tintinovitsch. Ihre harten Gesichter waren noch dichter als früher übersät mit haarscharfen Falten, die Körper dachte man sich noch brauner und verwitterter mit einem grauen Gezottel unter den blendenden Hemden. Man traute diesen Hofleuten, die nicht wußten, ob das Schicksal es ihnen vielleicht dennoch vorbehielt, als Croupiers zu enden, noch fremdartigere Geschichten zu als ehedem.

Der König Philipp küßte ihr die Hand; er sagte mit langsamer, knarrender Stimme und sehr freundlich:

»Grüß Gott, Frau Herzogin, das freut mich aber wirklich, daß wir uns so gesund wiedersehen.«

Und er versank in Brüten. Der König hielt sich schlecht und starrte meistens auf den Boden. Wenn er jemand ansah, war seine Stirn gefaltet und sein Lächeln blaß. Durch seinen steifen und wichtigen Gang machte er den Eindruck eines älteren hohen Beamten mit endgültig abgestumpften Sinnen und gedankenloser Übung im Abkanzeln und Beloben. Er hob noch einmal den Kopf und wies hinaus in die Flucht der Säle, endlos flitternd in der Bühnentäuschung von hundert geschliffenen Spiegeln voll Kerzenlicht, Seiden und weißen Schultern, voll vergoldeten Stucks und gemalter Fleischmassen, voll Blumen und Juwelen, Säulen aus falschem Marmor, hart gleißenden Mosaiken und weichen Augen. Der König versetzte:

»Sehr eine reizende Häuslichkeit, Frau Herzogin, haben's sich da geschaffen, das muß ich schon sagen – und so gemütlich.«

Darauf schien er erschöpft. Rustschuk hinter ihm erklärte der Herzogin:

»Seine Majestät bekommen erst um zwölf Uhr ein Gläschen Portwein zu trinken. Es fehlt noch eine Viertelstunde ... Dann werden Seine Majestät die Nacht hindurch allen Anforderungen gewachsen sein.«

Sie meinte:

»Wenn Sie ihn zu Bett schickten?«

»Wo denken Hoheit hin! Wir sind stolz auf den Erfolg der Entziehungskur, der wir Seine Majestät unterworfen haben.«

»Ah! Keine Wassergläser voll Sekt mit Kognak mehr?«

»Gott behüte! Ein Gläschen Porto um Mitternacht wegen der Anreden an die Gäste; ein Gläschen roten Tischwein zum Mittagessen mit Rücksicht auf die Zuschauer. Früher verabreichten wir auch des Morgens ein Gläschen; dies hat sich aber als unnötig herausgestellt, weil Seine Majestät am Vormittag keine weiteren Obliegenheiten haben, als mit uns Ministern zu arbeiten.«

Rustschuk sagte dies mit dumpfer, sanfter Stimme und der kaum mehr hochmütigen Losgelöstheit von den Dingen, zu der ein Übermaß von Ehren und Erfolgen ihn gereift hatte. Er war scharlachrot und überall betupft mit trockenen weißen Haarbüscheln. Die Last seines Bauches beugte ihn darnieder. Im Gespräch legte er sich mit Anstrengung hintenüber; dabei floß die bewegliche Fettmasse bald nach dieser, bald nach jener Seite; und des Gleichgewichts wegen beschrieb Rustschuk schwebende Gesten mit der linken oder der rechten Hand. Berauschende Düfte umgaben ihn und schienen allen seinen Körperteilen zu entströmen, jedem ein anderer.

»Sie haben sich erstaunlich entwickelt, Exzellenz«, sagte die Herzogin und sah ihm recht tief in die Augen. »Wenn ich bedenke, daß Sie mein Hausjud sind.«

Er lächelte nachsichtig wie über eine Vertraulichkeit aus alter Zeit.

»Drum sind Eure Hoheit nicht Königin geworden«, versetzte er mit gewinnender Offenheit.

»Ich verstehe nicht.«

»Es ist ganz einfach. Als Nikolaus tot war, hätte es mir keine Mühe gemacht, seinen Nachfolger für krank erklären zu lassen – Kinder hat er ja nicht – und Eure Hoheit, die Prätendentin, die letzte vom ältesten einheimischen Geschlechte, aus Venedig herbeizurufen. Sie hätten ohne Widerspruch und unter Jubel den Thron bestiegen. Sie dachten wohl gar nicht daran? Nun sehen Sie, es ist auch bloß das arme dalmatinische Volk auf den Gedanken verfallen; und dem habe ich sagen lassen, Sie wollten nicht. Ah! ich habe mich gehütet, Sie zu rufen. Denn für Sie wäre ich immer nur Ihr Hausjud geblieben – und Sie haben ja recht, warum soll ich's nicht zugeben. Alle andern haben Angst vor mir und können mich darum nicht kennen; ich heuchle weder, noch enthülle ich mich. Warum soll ich mir nicht wenigstens bei Ihnen, Herzogin, den Überfluß eines aufrichtigen Wortes gestatten?« fragte er mit einer Gebärde, großartig in ihrer Gelassenheit.

»Ich sehe es auch nicht ein«, meinte die Herzogin. Rustschuk erwärmte sich. ›Ich spreche gut‹, dachte er und gewann alsbald ein wenig Vorliebe für seine Zuhörerin.

»So habe ich es vorgezogen, an Seiner Majestät die Entziehungskur vorzunehmen. Infolgedessen betrachten mich Seine Majestät als Ihren Wohltäter und überlassen mir, um jede schädliche Anstrengung zu vermeiden, die Regierung des Landes – mir und meiner Frau.«

»Ihrer Frau Gemahlin, geborener Schnaken.«

»Beate Schnaken«, wiederholte er mit Genugtuung.

»Ich gratuliere. Wie wird die Königin Friederike glücklich gewesen sein, daß die bewährte Beate ihrem Hause erhalten blieb!«

»Wir sind alle einig und glücklich. Dies hindert mich jedoch nicht, Herzogin, die Verwaltung von Eurer Hoheit Vermögen als eine Angelegenheit zu behandeln, mindestens so wichtig wie jedes Staatsgeschäft. Hoheit können es nicht wissen, aber ich habe Sie durch großartige Spekulationen erheblich bereichert. Vielleicht werden Hoheit es mir in Zukunft danken können.«

»In welcher Zukunft?«

Der Minister wiegte den Kopf.

»Das Haus Koburg hat keine. Es lebt nur in diesem ebenso hohen wie sympathischen Herrn, der uns nicht hört.«

Und er deutete auf den König. Halb abgewandt und gebückt betrachtete Phili seine Füße.

»An das Haus Koburg hab ich nie geglaubt: drum hab ich mich zu seinem Minister gemacht ... An Sie, Herzogin, glaubte ich zu stark. Sie wären eine unbequeme Herrin geworden, ich war recht froh, als Sie flüchten mußten.«

Er berauschte sich an seiner eigenen Ehrlichkeit. »Bin ich nicht ein moderner Staatsmann?« meinte er für sich. »Wozu lügen.«

»Hoffentlich kehren Sie nie zurück. Sollte aber nach dem Erlöschen des regierenden Hauses der Wille des Volkes – das sich manchmal herausnimmt, einen Willen zu haben – mich dennoch zwingen, Sie zu rufen: zuversichtlich werden Eure Hoheit mich alsdann nach Verdienst zu würdigen wissen.«

»Seien Sie unbesorgt.«

»Wenn Herzogin bedenken, daß alles, was Eure Hoheit für Ihr armes Dalmatien anstrebten und, in weiblicher Gefühlspolitik befangen, natürlich nicht erreichen konnten, von mir auf das glänzendste verwirklicht wurde –«

»Wurde es?«

»Ich habe dem Lande eine Konstitution gegeben und damit die Freiheit, an eine Wahlurne zu treten. Jeder Mann erhält fünf Franken, wählt dafür meinen Kandidaten und beglückwünscht sich zu der Freiheit. Ah! die Freiheit ist teuer, sagte ich es Ihnen nicht voraus? Sie kostet fünf Franken für den Mann. Aber ich werde nicht ruhen; und wenn es mir gelungen ist, die Finanzen noch mehr zu heben, als ich es schon tat, dann führe ich, eine nach der andern, auch die Gerechtigkeit, die Aufklärung und den Wohlstand ein. Eure Hoheit werden sehen: wenn Sie ins Land zurückkehren, werden Sie vollauf befriedigt sein.«

»Wahrscheinlich werde ich dann nur noch einen Wunsch haben, nämlich Sie, Exzellenz, in einem Abteil erster Klasse und mit einer Vergütung von ein paar Millionen über die Grenze abzuschieben.«

»Ho-heit scher-zen.«

»Oder aber Sie in einen Sack genäht ins Meer werfen zu lassen.«

Der Minister machte einen Schritt, der fast ein Sprung war, und schnaufte.

»Es kommt nur darauf an, wie türkisch ich das Land vorfinde«, setzte sie hinzu.

»Eure Hoheit werden doch bedenken, daß ich Ihr Vermögen verdoppelt habe –«

»Und daß Sie die Freiheit erstickt haben und sogar die Sehnsucht nach ihr.«

»Was kann Eurer Hoheit das machen?«

Er plapperte in großer Angst, wieder wie damals zu den unheimlichen Zeiten, als zwei Unteroffiziere, die ihn anpackten, ihn für den dalmatinischen Freiheitskampf verantwortlich machten.

»Eure Hoheit führen hier ein so heiteres Leben. Eure Hoheit sind mit der Liebe beschäftigt. Verzeihung! Man erzählt von Eurer Hoheit so viele famose Geschichten ... Was liegt Ihnen an der dalmatinischen Freiheit? ... Sie haben lange Jahre nur der Kunst gelebt: was ist Ihnen heute die Kunst? Heute sind Sie bei der Liebe. Beachten Eure Hoheit, bitte, wie die Herren dort Sie ansehen; sogar die Damen! Damen und Herren, alle werden hier närrisch. Man fühlt sich gekitzelt, man weiß nicht wie. Die Damen sind unnatürlich heiß, und die Herren lebendiger, als man's sonst ist. Und in allen Ecken nennt man Ihren Namen, will von Ihnen mehr wissen als der Nachbar, berauscht sich am Anblick Ihres Nackens – was haben Sie für einen Nacken bekommen! – und meint schon, Ihren Atem auf den Lippen zu spüren, wenn man einen Ihrer heißen Weine hinübergießt.«

Er wischte sich die Stirn ab und dachte eilig: ›Ich fühle mich ganz weich vor Begeisterung; sollte mir was fehlen?‹ Er tastete nach seinem Puls. ›Oder ist es bloß, weil ich, seit so vielen, vielen Jahren, wieder einmal vor einem Menschen Furcht habe? ... Jawohl, Furcht hab ich, und noch etwas anderes, was ich erst recht nicht haben dürfte, ich, der ich in so einer gefährlichen Haut stecke.‹

Er keuchte wie gepeitscht.

»Sie sind geradezu die Göttin der Liebe! Was kümmert Sie die Kunst. Was kümmert Sie die Freiheit.«

»Soviel, wie sie mich mit zwanzig Jahren kümmerte«, erwiderte sie leise und gütig.

»Die Freiheit ist nur ein Wort, ich aber bin ein Mensch und habe immer dieselbe Seele: nur die Schicksale wechseln und die Zeichen ... Sie können das nicht verstehen, Exzellenz Rustschuk – aber beruhigen Sie sich, haben Sie keine Furcht, hier wird kein Thron verspielt: wir wollen tanzen.«

Sie berührte ihn leicht mit dem Fächer und sagte im Weitergehen:

»Kommen Sie.«

 

Sie streifte an Lilian Cucuru vorbei: »Kommen Sie!«

Lilian ging mit ihr. Sie waren beide höher als die meisten. Man sah ihre Nacken durch das Gedränge schweben und ihre Frisuren: die schwarze, mit Perlen betropfte, neben der tiefroten voll violetter Lichter. Aus einem der gefüllten Säle schob Ismael Iben Pascha sich ihnen nach, im Kreise seiner vier Frauen. Sie waren türkisch gekleidet, ihr Gemahl schritt ernst und stolz. Vinon Cucuru kam mit ihrem Gatten, dem Dichter Jean Guignol, der mit schüchternem Stolz unter seinem fahlblauen Frack eine amarantfarbene Weste zeigte. Die wundervolle Contessa Paradisi war plötzlich halb nackt; sie war aus ihrem ungeheuren Spitzenumhang herausgetreten wie aus Mondschleiern und glitzerte von Steinen, womit ihr Fleisch besät war. Die Herzogin aber trug, ganz ohne Schmuck, ein weißes Gewand, das sich unter der Brust und im Nacken bauschte und von der rechten Hüfte abwärts offenstand – und sie betrat die Schwelle des Ballsaales, wie eben die Musik endete. Die Tänzer wandelten, noch atemlos, an ihr vorbei und betrachteten sie. Hinter ihr reckten sich hundert Köpfe. Dann kam Don Saverio und führte sie in den Reigen. Sie setzte im Gehen eine Hand auf die Hüfte. Bei jedem ihrer Schritte zeigte sich ihr Schenkel in der Öffnung des kurzen Chitons, und von dem licht und grün schillernden Unterkleid knapp eingewickelt, formte er sich, ließ seine Muskeln spielen und schien zu atmen wie ein erstaunliches und lockendes Meergeschöpf, das herbeirollte in einer durchsichtigen Welle. Alle suchten es, verloren es, zogen ihm träumend nach, gewiegt auf erschlaffenden und aufstörenden Takten wie auf einem lauen Meer voll Phosphorglanz.

Ringsum duftete es. Düfte, verborgen im Holz der Möbel, in den Bezügen der Wände, sickerten heraus. Die Frauen, in schlanken, pflanzengleich aufgeblühten und schlangenhaft raschelnden Roben, mischten wie in Kelchen, die sie mit blau geäderter Hand lässig dargeboten hätten, die Düfte aus Haaren, Miedern, Fleisch, Blumen. Von Blumen war der Saal durchkränzt. Sie schwankten von Säule zu Säule, sie neigten sich, bebten mit den Tänzerinnen, deren Schultern sie streiften, und erhitzten sich wie sie.

Die Herzogin blieb in der Mitte, sie drehte sich langsam zwischen vier Säulen, die Oleanderblüten umglühten und umschaukelten. Sie legte weich den Kopf zurück; der schwere Haarknoten stand ihr steil im Nacken, und sie starrte glänzenden Auges in des Prinzen glückliches Gesicht. Er plauderte, lispelnd, in den mild verhaltenen Tönen seiner gewölbten Brust. Sie sagte ihm, sie sei zufrieden, und sie lachte dem Pascha zu. Er schwang sich in methodischer Ausgelassenheit mit Emina, die raste. ›Wir sind wieder beim Erntefest‹, dachte die Herzogin. ›Warum sollte je der Wein zu Ende gehen?‹ Ohne es zu wissen, erhob sie den Arm, als hinge zwischen ihren Fingern eine volle Traube.

Plötzlich reichte ihr aus dem Getümmel heraus Lilian Cucuru die Hand. Sie zogen sich, wie in ein Zelt, unter den halbaufgeschlagenen Gobelin mit Jupiters Liebesgeschichten zurück, der zwischen zwei Säulen hing. Die Herzogin ruhte, den Ellenbogen in Kissen. Lilian stand hoch daneben; ein silbernes Gewebe, knapp, hart, sehr unzugänglich, funkelte an ihren Gliedern. Stark und mattweiß brachen Nacken und Arme aus den engen Öffnungen der steilen Robe, und das Haar leckte mit tief feurigen Zungen nach den Kostbarkeiten ihrer Gestalt.

»Sie sind schön geworden!« sagte die Herzogin. Und da Lilian schwieg:

»Wir sollten uns nicht nebeneinander zeigen. Es ist grausam! Ich glaube, daß viele von denen, die uns ansehen, jetzt aufrichtig unglücklich sind.«

Lilian erwiderte:

»Und viele wahrhaft glücklich, glauben Sie's! Ich habe mich erst in Paris, dann in Rom auf einer Bühne ausgestellt, in Trikot und in elektrischer Beleuchtung.«

»Ich weiß es. Werden Sie's auch in Neapel tun?«

»Das entscheidet Raphael Kalender. Sie sehen ihn dort drüben bei den Frauen des Paschas. Ich habe ihn zu meinem Impresario gemacht, da er mit Blanche de Coquelicot nichts mehr verdiente – und ich verlange von ihm, wo immer er mich ausstellt, nichts weiter, als daß er den jungen Leuten Ermäßigung gewährt. Studenten und Künstler sollten fast gar nichts zahlen.«

»Und Sie meinen die jungen Leute glücklich zu machen?«

»Sehr glücklich. Ich zeige ihnen öffentlich und mit gutem Gewissen eine Schönheit, deren Fälschung sie sonst verstohlen nachschleichen. Ich bin überzeugt, sie fühlen keine andere Begierde, als mich anzusehen; ich bin zu schön.«

›Und zu kalt‹, dachte die Herzogin.

»Unter ihren Blicken reinige ich mich von den scheußlichen Berührungen des scheelen Sünders, dem ich ehemals unterworfen war. Sie haben es mit angesehen, seine Gelüste liefen mir wie etwas Feuchtes, Moderiges über die Haut ... Oh, ich brauche noch täglich ein Bad reiner Bewunderung«, sagte sie und sah, in Abscheu verloren, geradeaus. Darauf lebhaft:

»Und ich erhebe, wenn ich nackt und lichtübergossen auf meinem Theater stehe, einen blendenden, sieghaften Einspruch gegen die ganze Heuchelei meiner Kaste, gegen jeden Unflat und alle Sinnenfeindlichkeit!«

Die Herzogin betrachtete aufmerksam das stolze, kühle Gesicht der andern. Sie meinte, sich selbst sprechen zu hören.

»Sie sind eine Empörte, oh, ich liebe Sie!«

»Sie, die Sie die Freiheit lieben! Sie, die so allein sind!« sagte Lilian. »Sind wir nicht Schwestern?«

»So gut, wie wir jemandes Schwester sein können ... Auch Sie, Lilian, sind sehr allein. Haben Sie, als Sie Jean Guignol liebten, vielleicht geglaubt, die Einsamkeit habe aufgehört?«

»Ich weiß nicht mehr. Wir hatten beide einen schönen Haß auf die guten Sitten. In den Pariser Künstlercafés, wo er mit mir lebte, waren viele wie er. Später ziehen sie die Samtwesten aus und heiraten.«

»Er hat seine noch an, obwohl er Vinons Mann ist.«

»Er ist bedauernswert; er kann sich nicht entschließen, ein ganzer Bürger zu werden. Es war ihm auch damals keinen Augenblick völlig gewiß, daß er mich entführen wolle. Schließlich bin ich's gewesen, die ihn entführt hat, kurz vor dem Tode meiner Mutter. Sie erstickte daran und auch an ihrer bevorstehenden Verhaftung. Tamburini bekam die Gelbsucht.«

Lilian sprach unbewegt und klar von Erinnerungen, die sie abgefertigt hatte. Sie war von Paris nach Rom zurückgekehrt, damit man sie vor Augen haben solle. Und Vinon, dieses Kind, hatte ihr Jean Guignol fortgenommen, der anfing, berühmt zu werden. Warum er ihr folgte und sie heiratete? Aus Ehrgeiz oder aus Furcht. Wußte man das? Seine Jugend war eben zu Ende. Und warum Vinon ihn sich nahm? Aus Neid – und um sich zu rächen für das eigene heuchlerische Dasein und dafür, daß Lilian eine Freie war ... Lilian sagte, das alles bringe sie doppelt in Aufruhr, denn sie spreche zu der Herzogin von Assy –

»– zu ihr, die ich einst unter der Peitsche meiner elenden Mutter betrügen half und für die meine Hand zu unkeusch war: ich durfte sie ihr nicht reichen. Wie hab ich gelitten! Einmal fehlte nicht viel, und alles wäre vor der Zeit herausgebrochen! Sie waren so freiheitssüchtig wie ich, das brachte mich in Aufruhr.«

»Und mich!« sagte die Herzogin. »Ich meine, jahrelang an Ihrer Seite, Lilian, Empörung geatmet zu haben. Ich höre wieder San Baccos Stimme: wie war sie schön! ... Jetzt braust um uns her die Liebe wie eine Schlacht!«

Sie lächelte voll wollüstiger Kampfbegierde wie einstmals, als sie die alten, grämlichen Leute im Königsschloß zu Zara ärgerte und verstörte – und sie horchte, den Fächer bewegend, auf das laute Atmen um sie her, auf das Geseufz und Gegirre. Lauter blasse und heiße Gesichter träumten in den Spiegeln sich selber entgegen, betäubt von dem Schmachten und Aufkreischen der Walzer, die wie aus dem Blute kamen, – und von den Rhythmen des eigenen Leibes. Die wundervolle Contessa Paradisi lag auf der niedrigen Lehne ihres Sitzes, das breite, blasse Gesicht nach oben, mit saugenden Nüstern, pulsenden Lippen, Augen, die männliche Gelüste verschlangen: ein Gesicht wie aus atmenden Blumen jedem bereit gehalten, den es lockte, seine Lippen hineinzusenken. Kreisende Paare, die sich vergaßen, schwellende Frauen, die ruhten und sich darboten, Männer mit der Nase an ihren Corsages: – sie alle warben, hauchten Gewährung und versanken unter zitterndem Schweigen oder aufgeregtem Lachen tief in den Genuß ihrer heimlichen Schauer. Im wirren Kerzenlicht legte ein roter Staub sich auf die Stirnen; und auf die Schultern sanken, langsam, langsam von den Säulen, heiß und trocken die zerfallenden Kränze.

 

Lilian drehte sich im Arm des Lord Tumpell und sah ihm hochmütig und einsam über die Achsel weg. Die Herzogin tanzte, sie wußte schließlich nicht mehr mit wem – und betäubt, ohne ihre Glieder zu fühlen, und mit seltsam singenden Sinnen kreiste sie, kreiste. Auf allen Seiten und von allen Lippen erhob sich, wie ein Echo ihrer schwingenden, rufenden Glieder, ihr Name: zitternd vor Sehnsucht oder hart und prahlerisch oder wollüstig geseufzt oder mit Bangen. König Phili, durch mehrere Gläser Portwein über Gebühr belebt, ging von einer Gruppe zur andern und horchte.

»Was erzählen's denn da von der Frau Herzogin, meine Herren: das überrascht mich aber wirklich ...«

Er rückte, vornübergebeugt, den Kopf hin und her, in sichtlicher Unruhe.

»Ah na!« erklärte er plötzlich »das glab i net. San denn Sie dabei gwesn?«

Die starke Geschichte setzte ihm zu; und um seine Würde zu wahren, entfernte er sich mit dem steifen Schritt eines hohen Beamten. Gleich darauf sank die Herzogin aus einem Wirbel von Tänzen heraus neben ihm nieder. Ihr Begleiter zog sich zurück vor der Majestät. Phili sagte zitternd:

»Schön sind Sie, Frau Herzogin, da gibt's überhaupt gar keinen Zweifel.«

»Eure Majestät haben mir das auch damals gesagt. Aber ich sah ein wenig anders aus, glaube ich.«

»Ja, verändert haben's Ihnen, aber nur zu Ihrem Vorteil, ohne Kompliment.«

»Ich glaube es Ihnen, Majestät.«

Phili suchte, offenen Mundes, nach Worten. Mit einem Entschluß setzte er sich zu ihr, sehr zart.

»Frau Herzogin, haben denn ganz vergessen?«

»Was, Majestät?«

»Daß ich Sie geliebt hab?«

»Gewiß, ich weiß ... als Don Carlos. Ich habe Sie nicht erhört, wie? Verzeihen Sie mir's! Heute verstehe ich nicht, warum ich mir je die Mühe gegeben habe, eine Bitte auszuschlagen ... Was ist Ihnen, Majestät?«

Philis graue Härchen wankten in seinem bleichen Gesicht. Er war heftig erschrocken.

»Beruhigen Sie sich. Sie brauchen nichts nachzuholen, Sie haben höhere Pflichten. Seien wir gute Freunde!«

Sie bot ihm die Hand, er tastete danach.

»Ich kann ja nicht, Frau Herzogin. Gute Freunde: das sagt man wohl. Das sag ich jetzt auch zu allen Weibern, die mich der persönlichen Vorteile wegen gern verführen möchten. Der Rustschuk erlaubt's nicht. Er ist schrecklich streng, noch strenger als der ehemalige Hinnerich, den's weggejagt haben, weil er's mit Ihnen hielt, Frau Herzogin. Der Rustschuk hat mich ja gerettet vor die Jesuiten; sie wollten, ich sollt' hin werden durch meine Laster. Das fehlet noch! I mag ka Weib! Aber bei Ihnen, Frau Herzogin, hat's mich doch gerissen, und ich muß an die alten Zeiten denken und denk mir halt, ich muß doch noch mal glücklich werden. So kann's nicht weitergehn. So ein Leben, so ein elendes! Wissen denn Sie, Herzogin, wie ich elend dran bin? Ich will Ihnen was sagen ...«

Er legte die Händchen bettelnd zusammen und drängte sich an sie, so ängstlich, so schwach, daß sie nur etwas an ihrer Schulter spürte wie eines Taubenflügels Beben.

»Kommen Sie mit mir heim, ich heirate Sie, Sie werden Königin. Das haben Sie doch immer gern gewollt.«

Und demütig, da sie nichts erwiderte:

»Wenn's auch viel zu schad' dafür sind.«

»Und die Königin Friederike?«

»Wird abgeschafft!« rief Phili sofort, beinahe kühn.

»Sie wollen also? Oh, Frau Herzogin, Sie ahnen nicht, was Sie Gutes tun! Was Sie noch aus mir machen können! Ein Mensch werd ich noch, ein Mensch!«

Sie nahm sein Handgelenk und sagte, als riefe sie ihn zur Besinnung:

»Sie wollen mich also nicht hier, wo ich schön und voll Verlangen bin, vierundzwanzig Stunden lang lieben – oder noch weniger – nein, Sie wollen mich zur Königin machen und Ihre Frau – beseitigen?«

»Fort mit ihr! Ich befehle es! Der Rustschuk soll ihr einen Ehebruch nachweisen, dann stecken wir sie in ein Kloster, und fertig is!«

Sie dachte:

›Da der Portwein sich morgen verflüchtigt haben wird –‹

Und sie sagte, zurückgelehnt, warm und traurig:

»Dann reisen wir also bald und – lieben uns ... auf dem Throne.«

Phili sprang zappelnd auf, mit im Glück verwahrlosten Blicken.

»Heute abend bin ich aber wirklich ein König! Der Rustschuk spitzt schon und laßt mich in Ruh ... Wer ist denn eigentlich der Herr von uns zwei?« schrie er streitsüchtig, und gleich darauf albern:

»Sie, Frau Herzogin, wenn man sich da schon maskieren darf und Sie so eine schöne Griechin vorstellen, da möcht ich wohl ein Gewand anlegen wie ein König.«

Sie ließ ihm einen weiten roten Mantel geben, der schleppte. Man beschaffte eine Krone aus vergoldeter Pappe, oben zu einer Lilie geschlossen und besetzt mit bunten Glassteinen. Dann stolzierte der König einher, mit dem Zepter wippend. Rustschuk schob sich auf die Herzogin zu, er murmelte:

»Wenn das nicht ein Jammer ist. Ich habe unrecht getan, den armen Trottel auf dem Thron zu belassen. Ich hätte Sie, Frau Herzogin, kommen lassen sollen. Warum hatte ich Furcht, frage ich mich. Was sind Sie für 'ne Frau! Genial und schön und bestrickend und alles, was man will ...«

Sie sah ihn an. In den erloschenen Augen des Staatsmannes flackerte es unheimlich auf, seine Hände flogen wie die eines Trinkers. Sein Wanst wankte gerade über ihrer Brust.

»Sie haben sich verändert seit vorhin«, bemerkte sie und prüfte mit einem Senkblick voll Hinterhalt sein unter weißen Borsten ganz verzerrtes Gesicht. Rustschuk lallte:

»Ich will es wiedergutmachen, glauben mir Hoheit nur ... Hab ich nicht schon einmal für Sie konspiriert, hab ich nicht schon öfter meinen Souverän verraten und immer doppeltes Spiel gespielt – für Sie? Jetzt will ich mal wieder sehn, was ich machen kann. Ich lasse ihn unmündig erklären, was kostet es mich? Versprechen Sie bloß, daß Sie kommen und mich glücklich machen!«

»Wie lange?« fragte sie ruhig.

»Immer! Sie werden Königin. Wir regieren zusammen, Beate wird abgeschafft. Paßt Ihnen das?«

Sein rollendes Fett schlug ihr fast ins Gesicht. Sie tauchte mit Widerstreben zwei Finger hinein; sogleich stürzte der ganze Mann, hampelnd mit Armen und Beinen, rückwärts in die Polster. Seine Wangen hingen zum Erschrecken tief herab, der Blick war glasig. Rustschuk tastete auf seiner geröteten Stirn umher.

»Soll ich Wasser bringen lassen?« fragte die Herzogin und erhob sich.

»Es geht schon wieder«, sagte er tonlos.

»Sie sind ein mächtiger Herr. Hier gibt es Leute, die sich bei Ihnen zu bedanken haben.«

Sie winkte dem Pascha. Ismael Iben torkelte herbei. Er war betrunken wie bei der Weinlese; seine Frauen geleiteten ihn links und rechts und verhüteten seinen Sturz. Er warf sich ohne Vorbereitung auf den Minister.

»Bruderherz, du mein Wohltäter«, sagte er stotternd, aber mit würdigem Händedruck, »was bist du für ein Mensch! Betrachten Sie ihn, Herzogin, was er für ein Mensch ist! Alles schulde ich dir: mein Leben, mein Vermögen – der Beherrscher der Gläubigen schenkte es mir zurück –, und zum Generalkonsul hat er mich gemacht in Neapel, um deiner Fürsprache willen!«

Darauf kamen ihm Tränen, und er küßte den Staatsmann schallend auf beide Wangen. Emina und Farida ahmten ihm stürmisch nach; sanft und dankbar auch Fatme. Aber Rustschuk starrte unablässig auf die große Melek; sie stand abseits, mit schwarzen Blicken und teilnahmslos. Die Herzogin sagte, leichtsinnig lachend und den Arm auf Meleks Schulter:

»Laß dir von ihm die Hand küssen. Melek! Er ist eine gläubige Natur, er kniet gern vor solchen einfachen Gottheiten, wie du eine bist.«

Melek gewährte ohne Verständnis ihre Hand. Rustschuk klebte seine gefräßigen Lippen darauf.

»Auch die ist meine Frau«, erklärte zwinkernd der Pascha. »Begehrst du sie etwa? Du sollst sie haben. Schulde ich dir doch alles. Gib mir nur eine halbe Million, und du hast sie schon. Was könnte ich dir denn abschlagen. Meine eigene Frau, du darfst für eine arme halbe Million mit ihr tun, was du magst: aber nur das, du verstehst. Dann gibst du sie mir zurück, sie würde sonst unglücklich werden, sie hängt sehr an mir ... Sage, bist du einverstanden?«

»Wie sollte er's nicht sein?« meinte die Herzogin. »Er könnte sich zwar leicht beherrschen, aber er ist so reich. Wozu sich und andern eine Freude versagen.«

Darauf ging sie, um zu tanzen, und lachte dabei noch lange mit offenen, feuchten Lippen und das Lorgnon an den Augen.

Rustschuk, fahl, betupfte sich mit seinem duftenden Tuch.

»Bin ich dumm«, murmelte er. »In meiner gefährlichen Haut begeht man keine solchen Dummheiten. Aber heute nacht verlieren alle den Verstand, und sogar ich. Es ist nichts daran zu ändern, und an allem ist diese Herzogin schuld!«

Er überzeugte sich mit schlechtem Gewissen, daß sie weit entfernt sich umherdrehe.

»Aber eine halbe Million! Ich sollte Prügel haben!«

Er wollte aufspringen, aber gerade erhob Melek einen ihrer mächtigen Arme, um Haar aus den Schläfen zu streichen – und Rustschuk ergab sich.

»Nun?« fragte der Pascha mit schwerer Zunge und neckisch. »Gib mir eine halbe Million, und sofort darfst du mit meiner Frau tun, was du magst. Aber auch nur das«, wiederholte er, hartnäckig aus Weinlaune.

»Pöh!« machte Rustschuk. Er breitete die Arme auf die Rückenlehne seines Sofas und versuchte unbeteiligt auszusehen. »Schicke mir immerhin deine Frau, damit die Sache aus der Welt kommt und ich deine langweilige Redensart nicht mehr höre. Du bist ja betrunken ... Nein nein!« schrie er plötzlich, alle Finger gespreizt, in großer Angst. »Bleib mir vom Leibe! Wenn ich deine Frau will, werd ich's dich schon wissen lassen. Mach ich ein Geschäft, so mach ich's. Mach ich keins, ist es meine Sache. Schau, daß du weiterkommst!«

»Wirst mich schon zurückrufen«, meinte der Pascha aufschluckend und torkelte davon. »Sollst sie kriegen für eine halbe Million. Was könnte ich dir abschlagen? Darfst tun mit ihr, was du magst. Aber auch nur das!«

 

Rustschuk und der Pascha wurden beneidet; sie gingen ihren Gelüsten nach, sprachen sie laut aus, verlangten sehr hohe Summen, beschimpften sich. Jeder wollte sie nachahmen, man streifte noch einige Fesseln ab. Es ward noch ein wenig heißer zwischen den Paaren. Hier und dort zischte eine Feindseligkeit auf.

Vinon Cucuru ließ sich hinter Lorbeergebüsch von dem schönen Marchese Trontola den Nacken küssen. Ihre Schwester Lilian bog im Vorbeigehen die Zweige weg und sagte:

»Legen Sie sich keinen Zwang auf, Felice – meinetwegen nicht. Was Sie dieser Dame tun, zählt nicht.«

»Warum nicht?« fragte Vinon unschuldig.

»Weil es dieser Dame zu viele tun.«

»Ich glaube wirklich, Marquis, sie ist eifersüchtig ... Übrigens haben wir uns noch nicht begrüßt. Gib mir die Hand.«

Lilian ließ die Zweige zurückfallen.

»Da sehen Sie's, Trontola. Ist es nicht traurig, wenn Schwestern sich nicht einmal mehr grüßen? Man kann sich hassen – dagegen sage ich nichts, aber man sollte sich doch grüßen. Übrigens hasse ich Lilian nicht, sie besitzt ja keine Überlegenheit ...«

Lilian stand auf einmal hinter dem Gebüsch bei den beiden anderen.

»Keine Überlegenheit? Mein ist die Überlegenheit, die das gute Gewissen gewährt.«

»Das ist einmal etwas Schönes.«

Die Schwestern maßen einander. Lilian stand aufrecht in ihrer metallen blitzenden Schleppe wie in einem Fluß von Dolchen. Vinon ruhte, rotseiden und weich, unter Spitzen die Brüste dargeboten und das Gesicht in milchigen Glanz getaucht wie ein Opal.

»Das ist gerade um soviel schöner«, behauptete Lilian, »wie ein freies Künstlerdasein schöner ist als geheime Laster.«

»Oh, die großen Worte!« sagte Vinon sanft. »Und vor allem ist der nicht der Überlegene, der in Zorn gerät ... Kennen Sie das Buch meiner Schwester, Marquis?«

Trontola wollte ablenken.

»Köstlich, Principessa. Es ist für Feinschmecker. Sie haben ein Talent, die Dinge literarisch möglich zu machen ...«

»Oh, es handelt sich nicht um das Talent«, meinte Vinon.

»Nein, denn du hast keins«, erklärte Lilian.

»Von mir verlangt man auch keins. Talent ist gut für jene, die sich als Menschen nicht durchzusetzen vermögen ... Du hast also nach deiner Flucht aus Rom ein Pamphlet über die römische Gesellschaft geschrieben. Es steht alles darin, was man weiß und nicht sagt: die ausgehaltenen Männer, die verkauften Frauen, die hochgestellten Falschspieler, die Nebeneinnahmen der Würdenträger, die Polizei im Dienst privater Leidenschaften und die vertuschten Verbrechen und die Liebesgeschichten wider die Natur – die ganze Leier.«

Trontola bemerkte, mit dem Ausdruck des Kenners:

»Ihre Frau Schwester, Principessa, hatte eine schöne Handbewegung, als sie das alles hinausschleuderte.«

»Mag sein. Aber geben Sie zu, daß eine Frau, die so etwas veröffentlicht, nicht die überlegene Rolle hat! Sie rächt sich. Die Gesellschaft hat sie verwundet, sie aber kann der Gesellschaft nichts anhaben: man braucht ihr nicht zu glauben, da sie sich ja rächt ... Was hat sie alles über Tamburini verraten; es wird ihn nicht hindern, eines Tages Erzbischof von Neapel zu werden. Sie ist machtlos; es bleibt ihr nichts übrig, als uns zu verachten. Finden Sie das so bewunderswert?«

Trontola rief in wachsender Verlegenheit:

»Ihre Frau Schwester, Principessa, lebt in sehr schöner Einsamkeit!«

»In sehr schöner Einsamkeit!« behauptete Lilian selbst. Und sie wiederholte nochmals, was sie sich tausendmal von ihrem Stolze versichern ließ:

»Ich erhebe, wenn ich nackt und lichtübergossen auf meinem Theater stehe, einen blendenden, sieghaften Einspruch gegen die ganze Heuchelei meiner Kaste, gegen jeden Unflat und alle Sinnenfeindlichkeit!«

»Und zu denken, daß man sich einfach dabei amüsiert«, meinte Vinon.

»Warum hast du mir Jean Guignol genommen?«

»Das ist allerdings die brennende Frage in dieser ganzen Szene.«

»Ich will dir die Antwort geben. Weil du dich rächen wolltest dafür, daß ich gelebt, daß ich es gewagt hatte, zu leben – und daß du es nicht wagtest! Und weil du den Haß unserer Mutter ererbt hast, die mich haßte für alle die reichen Betten, in die ich mich nicht legen ließ. Und den Haß der ganzen Gesellschaft, die mir den Mut meines Lebens neidet. Und weil du selbst an Begierden lange zehren mußt, die ich schnell stille – und heucheln mußt! Oh! all die geheime Scham einer Frau von gutem Ruf! Haben Sie gesehen, Trontola –«

Trontola machte eine mutlose Wendung.

»– wie tückisch sie vorhin den kleinen schmalen Russen behandelt hat, der beinahe weinte? Sie ist so froh, ihn nicht begehren zu müssen. Ihre Begierden sind für sie Qualen ... Aber dann beugen Sie, Marchese, sich über die arme Vinon – und in dem Augenblick ist sie nicht ruhig, die arme Vinon – gar nicht ruhig!«

Trontola lehnte geschmeichelt ab.

»Und doch muß sie sich ruhig halten, gerade jetzt, am Vorabend ihrer Vorstellung bei Hofe! Mitsamt ihrem Manne wird sie vorgestellt werden. Endlich verzeiht man ihr mein Dasein: welch Triumph! Und die Ränke, deren es bedurft hat, um das zu erreichen, und die Küsse und Bisse im Dunkeln, und das Abdanken des letzten Stolzes, und die Langeweile draußen und der Schmutz im Innern ... Der Schmutz – oh, man könnte mir Millionen und königliche Ehren verheißen, ich sage es in aller Herzensoffenheit: ich möchte nicht einen von deinen Atemzügen tun!«

»Hast du nun genug deklamiert?« erkundigte sich Vinon geringschätzig. »Ich glaube dir gern, daß du darauf verzichtest, meinem Beispiel zu folgen. Vor allem, weil du es nicht könntest. Du möchtest wissen, warum ich dir Jean Guignol genommen habe? Weil ich ihn liebte.«

»Du betrügst ihn!«

»Was beweist das dagegen?«

»Ich aber habe ihn nicht betrogen.«

»Weil du weder ihn liebst noch sonst jemand. Deine schöne Einsamkeit, laß dir sagen, ist ein Erzeugnis von Kälte und Selbstsucht.«

»Weil ich mich nicht von Maman und von der ganzen Gesellschaft mißbrauchen lassen wollte?«

»Oh, immer die ganze Gesellschaft. Wenn du doch mit ihr kämpfen wolltest! Ich tue es.«

»Du!«

»Ich! Wer sagt dir, daß ich weniger einsam bin als du? Ich setze mich und meine Begierden durch gegen die Gesellschaft. Sie läßt mir vieles hingehen, weil sie fühlt, ich würde die Zähne zeigen. Oh, ich würde kein Buch schreiben und der Welt ein unschädliches Schauspiel geben!«

Vinon warf sich auf ihrem Polster herum, sie erhitzte sich. Trontola drehte sich hin und her, gepeinigt und in den Sinnen aufgewiegelt durch diesen Ausbruch weiblicher Temperamente.

»Ich würde anonyme Briefe schreiben – und dadurch meinen wehrlosen Feinden lauter Makel zufügen, ohne mir selbst eine einzige Blöße zu geben.«

»Pfui!« sagte Lilian.

Vinon hob ihre weißen Schultern.

»Und du erstickst nicht an soviel Verstellung?« fragte ihre Schwester, angewidert und interessiert.

»Keineswegs. Da ich mich ja ausspreche, jetzt eben – und auf ganz unverbindliche Weise. Ich sage euch noch mehr: Ich werde nächstens den Majestäten vorgestellt werden und habe, abgesehen von denen, die nicht mitzählen, zwei richtige Verhältnisse – davon eins mit dem Sohne der Dame, die mich vorstellen wird.«

Vinon genoß brünstig ihre eigenen Geständnisse, sie berauschte sich an ihrem gefährlichen Spiel.

»Ich erzähle euch das unbesorgt, Trontola und Lilian, meine Freunde. Sagt ihr's weiter, so glaubt euch niemand. Heute nacht wird vieles geredet und getan, wovon morgen niemand etwas wird wissen wollen.«

»Wie ich dich verachte!« rief Lilian aus tiefer Seele.

»Ich erklärte dir schon, daß Verachtung das einzige ist, was dir übrigbleibt. Alles übrige hast du verscherzt. Nur ich bin die richtige Principessa Cucuru – diejenige, die ihre Familie bei Hofe durchsetzt, diejenige, die sich alles erlauben darf und die den berühmten Jean Guignol geheiratet hat. Meine Schwester hat sich bloß von ihm verführen lassen, und sie genügte ihm nur so lange, als er noch ein Zigeuner war ... Nun ist sie allein geblieben in ihrer Schwäche.«

»Ich bin stark!« rief Lilian erbittert.

»Schwach bist du, es ist zu klar. Wenn man nicht imstande ist, seine Leidenschaften oder seine Gelüste der Welt gegenüber zu behaupten, dann empört man sich, flüchtet ins Dickicht, schleudert Verwünschungen, zetert über Heuchelei. Wie leicht ist solch ein Freisinn! Sie besaß ihn schon, Marquis, als sie noch im Bett des Tamburini lag. Maman wollte sie zur Abwechslung einmal in das des Raphael Kalender tragen. Was für eine Sintflut von Ekel brach da über die arme Maman herein! Und schließlich hätte die Stolze sich doch gefügt – ich sagte es ihr schon damals. Heute ist Kalender nicht gerade ihr Liebhaber, aber ihr Ruffian – jawohl, Marquis, Sie müssen das Wort gelten lassen! Sehen Sie dort drüben den kleinen glatzköpfigen Juden mit dem Lord Tumpell verhandeln, dem er bis an die Brust reicht? Bis vier oder halb fünf Uhr werden sie sich über die Summe geeinigt haben. Denn der weißen Lilian Unzugänglichkeit wird durch eins stark beeinträchtigt: durch ihr endloses Geldbedürfnis. Oh, sie hat es nötig, reicher gekleidet zu sein als die reichste unter denen, die sie zu verachten hat. Und sie ergibt sich, unter fortwährender Empörung, allen möglichen Männern, die mir – mir, der Heuchlerin, zu schlecht wären!«

»Sie ist fertig, sie hat allen Unrat ausgespien«, sagte Lilian aufatmend und wandte sich um nach Trontola. Aber er hatte sich zurückgezogen, sehr unzufrieden mit Lilian. Er hatte geglaubt, mit ihr einig zu sein; im selben Augenblick, vielleicht weil er Vinons Nacken geküßt hatte, ließ sie sich von Kalender an Tumpell verkaufen. Er fand sie übertrieben kurz in ihren Entschlüssen. Sie suchte ihn vergeblich und sah enttäuscht aus. Vinon erriet den Zusammenhang und lachte. Darauf entdeckten die Schwestern, daß sie das Zusammensein mit einem Dritten dazu benutzt hatten, sich einmal mitzuteilen, was sie voneinander hielten. Sie wunderten sich, sie hatten es gar nicht beabsichtigt. Allein gelassen, dachten sie nach, was sich noch tun ließe, fanden nichts und versicherten einander durch einen letzten Blick, daß jede froh darüber war, nicht so sein zu müssen wie die andere. Darauf trennten sie sich.

 

Inzwischen tanzte die Herzogin. Sie ließ sich aus einem Arm in den andern gleiten; es war ihr, als entferne sie sich immer weiter wie in das Geflirr der Spiegelwände hinein, wo das Fest tosend und endlos sich verbreitete über rote, wärmezitternde Lande – und überall und durch alles Tosen rauschte, gleich weichen, schweren Seidenfahnen, immer nur ihr eigenes Blut.

Einmal meinte sie, ihr Tänzer sei verschwunden. Sie fühlte sich, losgelöst von allem, dahinwirbeln. Sie hielt den Kopf zurückgeworfen, die Augen fast geschlossen in der Hingabe an eine Raserei und die Arme, weiß und edel unter Schleiern, seitwärts halb erhoben. Der Schenkel drängte sich aus dem Spalt des Gewandes, sie schwebte nur auf einer Fußspitze, erhöht, sie wußte nicht wohin, und im Genuß eines Gottes. So sah sie sich im Spiegel und lächelte einer Erinnerung zu: der Bacchantin, die sie einst, in früher Jugend, eine Nacht hindurch gewesen war, im Jahre des Krieges, zu Paris auf dem Opernball. Jene frühe und unverstandene Maske war der vorweggenommene Widerschein dessen, was heute Wirklichkeit war ... ›Aber ist es heute Wirklichkeit? Wo ist mein Ich? An der Stelle, wo ich gerade stehe, oder in jener Erinnerung, oder dort im Spiegel, oder in welcher Maske und in welchem Traum?‹

Sie bebte von jedem Verlangen, das irgendwo im Saale aufzuckte; jede Wollust, in der irgendein Körper sich dehnte, machte sie stöhnen. Sie wütete mit Lilian der Empörten, sie durchkostete Don Saverios gnädige und starke Siegergelüste. Sie empfand den kläglichen Drang des armen Königs Phili und die namenlose, sterbensbereite Sehnsucht all der jungen Leute ringsum nach ihren Armen und ihrem Munde. Ein wenig Bitterkeit von Rustschuks gequälten Sinnen drang in sie ein, und die ganze Süßigkeit aus den verzückten Gliedern der wundervollen Contessa Paradisi.

Man sprach im Saal von dem Auftritt zwischen Lilian und Vinon. Ein paar Lauscher wiederholten Bruchstücke daraus, Trontola ergänzte sie gefällig. Er berichtete auch der Herzogin. Sie fand sich an einer Säule, unter einem Satyr aus Terrakotta, der Dudelsack trat und Zymbeln schlug, mit Vinon zusammen und sagte:

»Ich liebe Ihre Schwester, Vinon. Aber Sie bewundere ich: Sie wissen, was genießen heißt! Alles muß Ihrer Lust dienen, auch die Mißgunst der Welt. Ich verstehe Sie!«

»Nicht wahr, Herzogin? Ich möchte die Lust nicht, glaube ich, wenn sie nicht soviel Heuchelei kostete!«

»Was aus Ihnen, dem hochgemuten Mädel, werden mußte! Die große Liebhaberin ... Und die Liebhaberinnen, wie Sie und ich, kommen eher zum Genuß als die empörten Freiheitsstürmer, wie Lilian und – ich ... Wissen Sie, daß ich Königin werden soll?«

»Sie erschrecken mich, Herzogin. Werden Sie als Königin gütig vergessen haben, was Sie heute über mich erfahren?«

»Ich werde Sie bitten, die Mätresse meines Mannes zu werden. Es würde mich erleichtern ... Wenn ich nämlich den dalmatinischen Thron als Philis Gemahlin besteige. Ich habe die Wahl und kann es auch als Geliebte des Rustschuk tun. Wozu raten Sie mir?«

»Zum Verhältnis mit Rustschuk. Ich hätte kein Vergnügen an der Macht, wenn sie legitim wäre und keinerlei Trotz kostete und Schliche.«

»Vielleicht. Ich wäre dann eine gekrönte Kurtisane. Was ich durch Revolutionen nicht erzwungen habe, würde ich erspielen im Schlafzimmer.«

Sie durchkostete diese Vorstellung, sie verliebte sich darin. Vinon lachte. Sie streckte lässig zwei Finger nach Trontola aus, der sich auf sie stürzte. Gleichzeitig sagte sie:

»Herzogin, mein Mann.«

Und Jean Guignol verneigte sich.

 

Er hatte das Gesicht eines sanften Fauns mit großer fleischiger Nase, die ein wenig schief stand. In seinem schwarzbraunen Bart flimmerte es rötlich. Seine hellen Brauen erstaunten, hoch oben unter der platten Frisur, und seine sonnigen braunen Augen lachten. Man durchschaute ihn schwer; denn er erschien abwechselnd schüchtern und sehr dünkelhaft, burlesk, voll Sehnsucht, abgefeimt, hilflos.

»Es ist gar zu heiß«, sagte sie zu ihm. »Lassen Sie uns dort drüben Luft schöpfen.«

Sie lehnten sich im Nebensaal an ein geöffnetes Fenster, einige Augenblicke lang, ohne zu sprechen. Es wehte Nordwind, sie erschauerten. Darauf wandte die Herzogin sich um und bemerkte, daß sie allein waren. Jean Guignol starrte sie immerfort an; sie fand seine Frechheit kindlich.

»Wir könnten weiterspazieren«, meinte sie. »Wir haben soviel Raum ...«

»Alles, was Sie wollen, Herzogin«, sagte er ein wenig heiser. »Nur sich nicht nach Ihnen sehnen!«

Sie stutzte, so ehrlich klang es.

»Wäre das so schlimm?« meinte sie, beinahe schmachtend. Er gab ihr den Federkragen um und berührte dabei mit den Fingern ihre Schultern. Sie schmiegte sich hinein, wärmebedürftig und gekitzelt. Sie blinzelte hinüber in den Ballsaal, aus dem es hervorbrach wie eine leuchtende Phosphorwolke. Drinnen lockten lauter Irrwische. Die Reihe der Säle, durch die sie mit dem Dichter ging, lag inmitten aller Lichterbuketts fast dämmerig vor Einsamkeit. Die Herzogin fühlte den Krampf der getanzten Wollust sich lösen, von ihr weichen, zurückkehren in jenen Feuerherd. Sie war müde. Ihr Herz, das gejagt hatte, schlug sehr langsam. Im Hinterkopf und auf dem Scheitel empfand sie den schmerzhaften Reiz einer geheimen Übererregung, die lauerte unter ihrer scheinbaren Schläfrigkeit. Die Nacht würde schlaflos sein, sie wußte es im voraus. Und sie hätte sich gern beruhigen lassen. Sie hätte gern geliebt. Sie dehnte sich vor süßem Verlangen, ernste, zärtliche Worte zu hören, einem Knienden die Hände um das Gesicht zu legen und sich anbeten zu lassen.

»Wäre das so schlimm?«

Und sie lächelte ihm zu über ihre hochgezogene, volle und weiße Schulter.

»Es wäre einfach entsetzlich«, erklärte er entschlossen, die Stirn in Falten.

»Aber warum?« fragte sie, aufrichtig betrübt. »Was für ein Gift könnte ich denn dem eingeben, der gerne bei mir wäre? Glauben Sie, daß ich böse bin?«

»Im Gegenteil«, sagte er unbehaglich, mit kurzem Kopfrücken.

»Aber ich wüßte nicht, wen Sie lieben könnten. Kein Mensch ist imstande, zu bewirken, daß Sie ihn lieben!«

»Es ist gar nicht so schwer«, sagte sie langsam, träumerisch.

Er ward immer steifer.

»Vielleicht lieben Sie also doch einen – einen, der nicht hier ist und –«

»Und?«

»Der Sie ganz versteht?«

Sie erwachte und dachte mit Lächeln an Nino. Was verstand wohl Nino? Aber er liebte sie. Sie äußerte:

»Nur Mut verlange ich.«

Und ihr Lächeln ward völlig rätselhaft, ein wenig frivol, ein wenig süß: er wußte nicht. Plötzlich fragte er:

»Finden Herzogin mich sehr dumm?«

Sie lachte hellauf.

»Ich wundere mich nur immer, wenn jemand, der zynische Bücher schreibt, im Leben so – harmlos ist.«

Seine große Nase sah ganz beschämt aus.

»Seien Sie nur nicht gekränkt, Sie verlieren nichts dadurch. Es ist sogar viel origineller. Zwei junge Prinzessinnen raufen sich fast um Sie – ja wirklich, als ich mit Lilian sprach, habe ich einen Moment in Vinons Augen gesehen, daß sie's nicht mehr aushielt; darauf beschäftigte sie sich mit Trontola. Sie aber streichen umher, etwas zerstreut, und unterhalten schließlich in einem Winkel eine alte Dame.«

»Auch das haben Sie gesehen? Und Sie schienen so hingerissen.«

»Oh, vielleicht scheine ich immer nur ... Aber bleiben wir bei Ihnen. Darf ich aufrichtig sein? Man traut Ihnen, wenn man Sie sieht, Ihre Schicksale nicht zu. Sie haben eine Prinzessin entführt und eine andere geheiratet. Überdies sind Sie der Mann, der mit Versen in diesem Europa, wo niemand mehr Verse liest, Furore gemacht hat wie andere mit – mit –«

»Börsencoups oder Sittlichkeitsprozessen – geradeso. Aber betrachten Sie meine Verse! Es ist nicht nur das ganz unschuldige Fehlen des Schamgefühls, das ihr Heidentum ausmacht. Sie sind heidnisch auch darum, weil sie das Leben, das große Leben und alle seine Götter in fromme Metalle graben, weil sie im Winde, in der Sonne und hinter dem Echo noch jemand ahnen lassen, der dort aufrecht steht, und weil sie zu verstehen geben, daß dieser jemand auch wieder wir selbst sind; – weil sie uns und die mächtige Erde feiern, jedem unserer Schicksale ein schönes Gesicht geben und jede unserer Empfindungen in ihrem eigenen Körper, in ihrem gesunden, feierlichen Körper einherschreiten lassen ... Ich bin sehr groß, Herzogin – ich, der ich dieses Heidentum ausgesprochen habe: denn aus mir sprach die Zeit, die wunderbare, noch sehr unruhige, erst gesunden wollende Frührenaissance, der wir gehören. Die Seltenen, in denen die Zeit sich fühlt – sie fühlen auch mich: Sie, Herzogin, vor allen. Die Massen, die mir Stürme von Beifall und Entrüstung und hundert Auflagen spendeten – sie begrüßen oder beschimpfen in mir einen gewöhnlichen Schweinigel.«

Er unterbrach sich und fragte:

»Langweile ich Sie?«

Sie antwortete nicht. Darauf sagte er innig und mit einem Seufzer:

»Verzeihen Sie, meine Frage war beleidigend. Wenn Sie wüßten – mir wird alles zwei Sekunden zu spät klar ... Nun spreche ich Ihnen also von den Prinzessinnen und sage Ihnen, was Sie schon wissen, daß ich weder ein Verführer noch ein struggle for lifer bin. Ich weiß selbst nicht, wie mir das alles geschehen konnte. Ich erlebe von allem nur den Widerschein. Ich stehe an einem Brunnen, zwischen zwei Statuen. Die eine ist versunken in die Betrachtung ihrer selbst und lauscht auf sich; die andere späht in die Welt. Beide spiegeln sich, und ich prüfe sie im Wasser, wo sie ein wenig unklarer sind, ein wenig reiner, ein wenig ahnungsvoller.«

»Sie dichten Ihr Leben?«

»Ja ... Manches ist allerdings Wirklichkeit. So glaube ich, daß Vinon mich liebt. Ich glaube fest, daß sie ausschließlich mich liebt und daß ihre Koketterie nur die andern betrügt, nicht mich.«

Dies sagte er sehr stolz. Die Herzogin fand ihn rührend.

»Lilian dagegen«, sagte er, »ist kalt. Ich habe mir nie eingebildet, ihr etwas zu sein. Aber ich wollte sie erleben um eines schönen Verses willen! Ich entführte sie – oh, ich will ehrlich sein –, weil sie eine Prinzessin und schön und in ihrem Unglück mir erreichbar war. Wir sind jämmerlich, wir Männer, wir wagen nur das Erreichbare ... Als ich sie hatte, merkte ich allmählich, daß sie mein Weib war. Sie war eine Empörte, sie war in Empörung gegen die Welt, die ihr einen Tamburini aufgezwungen hatte. Ich war ein Zigeuner voll unwissenden, schönen Hasses! Sie hatte Schmach und Flucht hinter sich und überhob sich jeder sittlichen Verpflichtung – denn sie betrog auch mich sehr anstandslos –: kurz, sie war außermoralisch gleich mir, denn ich könnte von mir die beschämendsten Dinge erzählen. Ah! wir waren füreinander bestimmt. Sie, die wild Gemachte, fühlte meine kaum erst hörbaren Verse. Sie war eine Prinzessin und arm, wie ich selber arm und ein Dichter war ...«

»Sie lieben sie noch!«

»Und dann, als Vinon mich ihr genommen hatte und sie ganz einsam war – ihr Buch, dieses wundervolle Buch, das sie hingeschleudert hat wie eine schöne, dicke, gefleckte Schlange, zwischen sich und die Welt, so unbedenklich, so furchtlos, so frei ...«

»Sie lieben sie noch!« wiederholte die Herzogin entzückt.

Er besann sich und ward ganz klein:

»Nein. Denn sie verachtet mich.«

»Aber Sie, Sie!«

»Sie hören es, ich werde verachtet ... Ich bin ja wie ein Kind, ich gehöre dem, der mich gut behandelt. Drum bleib ich bei Vinon; das ist ein liebes Mädel. Wenn ich Lilian sehe – sie weicht mir nicht einmal aus, sie ist so stolz, sie ist eine solche Künstlerin! –, dann möchte ich nur noch weinen bei dem Gedanken, was ich für ein Bürger bin!«

»Also lieben Sie sie.«

»Liebe ich denn Sie selbst, Herzogin? Das wäre weit kitzliger. Ah! dann müßte ich nicht bloß verzagen, weil ich Bürger bin. Dann dürfte ich mich ruhig aufhängen, weil ich kein Don Juan und kein Rienzo bin, kein Kunstwerk und kein großer Künstler, kein Jesus, kein blondes Kind, kein alter Clown, kein Heliogabal, kein Puck, kein Don Saverio und nicht einmal immer ein Jean Guignol ... Denn das alles, Herzogin alles das brauchen Sie!«

Sie blieb stehen, in großem Erstaunen. Es war in einer langen Spiegelgalerie, zwischen Gold und Kristallen, und sie hörte ihre Schritte verhallen. Im Spiegel sah sie ihres Begleiters bewegliche Grimassen, seine spaßhafte Wehmut – und daß er zitterte vor heimlicher Spannung darauf, ihr auf eine wenig anzügliche Weise Dinge zu sagen, die er schon lange umhertrug, wog, zuspitzte. Er sah im Spiegel ihr Lächeln und gestand.

»Wozu Listen! Ich ergebe mich. Ja, Herzogin, ich habe mich mit Ihnen beschäftigt, schon vor vielen Jahren. Ich habe die mondänen Chroniken gelesen, habe umhergehorcht, geraten und geformt ... Ja, ich bin einer von denen, die von Ihnen Stoff zu Träumen empfangen haben: – ich bin einer der vielen. Eine Frau wie Sie wird für einen jungen Mann in der Einöde einer geschäftigen Stadt und eines hochgelegenen Zimmers zu einer Gefährtin. In der Zeitung findet er manchmal Ihren Namen: er erblickt ihn in goldenen Lettern, und sein Traum verfolgt Ihre goldenen Fußtapfen bis an märchenferne Gestade, in üppige Blumenstädte, von Genüssen rauschend, auf liebestrunkene Meere oder zu alten, übergewaltigen Meisterwerken und unter die geistigen, alles verstehenden Menschen, die wir als Jünglinge irgendwo draußen vermuten und deren Nichtvorhandensein wir nur widerstrebend begreifen ...«

»War ich Ihre Muse?« fragte sie. »Sie wollen mir schmeicheln, aber Sie wissen nicht –«

»Oh, schmeicheln! Wozu schmeicheln, wenn man selber zu eingebildet ist, um gut beurteilt werden zu wollen! ... Unter Ihrem Bilde, Herzogin, sah ich seit zehn, zwölf Jahren meine jungen Heidinnen, meine zerbrechlichen Tanagrafigürchen – schon damals, als sie noch ungekannt in meiner Dachkammer standen. Ich wußte von Ihnen als von der großen Freiheitsdurstigen. Dann waren Sie eines Tages die unmögliche Schönheitssüchtige. Sie sind seitdem die Wollüstige geworden, die in meinen Büchern wimmert und kreischt und der ich meinen Ruhm verdanke.«

Dies deklamierte er, unerbittlich, mit steifer Geste.

»Nun sehe ich Ihnen täglich ins Gesicht und finde täglich ein anderes. Sie sind sehr gütig, Sie sind frivol, Sie sind grausam und achtlos, oder übermütig, von reiner Heiterkeit oder weich bis zur Wehmut. Sie erschrecken tödlich den Rustschuk aus der reinen Höhe Ihres unsterblichen Freiheitstraumes. Sie stacheln und verhöhnen ihn, den armen König Phili trösten und verschonen Sie. Sie sind der leichte Geist, der mit diesen armen, wahllosen Leibern spielt ... Plötzlich schluchzen Sie mitten im wollüstigsten Walzer wie ein gedankenloser Akkord ... Mit Lilian fühlen Sie Empörung, mit Vinon Lust. Sie sind Vinon und Lilian und alles übrige. Ich habe Ihnen schon gesagt, was alles man sein müßte, um Ihnen zu genügen ... Betrachten Sie sich in den Spiegeln – zählen Sie sich!«

Die Spiegel sandten sich hundertfältig ihr Bild zu. Von vorn oder mit schimmerndem Nacken, sinnenden Auges oder lächelnd oder in nachdenklicher Dämmerung oder blaß und kalt oder übersprüht von Freude und Kerzenschein oder als vergehendes Phantom, wanderte und verschwand unter wechselndem Licht sie selbst – immer sie selbst – in die gläserne Tiefe.

Sie gedachte still, ein wenig traurig, der Bacchantin von einst.

»Ich hab mich vorhin schon einmal wiedererkannt«, sagte sie. »Wie ich vor langer Zeit eine Nacht hindurch gewesen war ... Schauen Sie dort zuhinterst, klein, unter den goldenen Kränzen der Tür: das ist Chloe, die nach Daphnis ruft.«

»Das kommt aus Ihrer Kindheit wieder?«

»Ja.«

»Ein Spiel. Sie sind ein Spiel, das täglich neu ist. Sie sind die unerwartete Stimmung, die unverhoffte Empfindung, die in ihrem gesunden, feierlichen Körper einherschreitet. Ihre Kleider sogar sind Seele! Die Heidin, die jeden Morgen neugeboren erwacht, mit neuer Sonne in den Augen, und von der vorigen Dämmerung nichts mehr weiß! ... In dieser Minute sind Sie ganz Geist und für ein paar Atemzüge so gestimmt wie die rein geistigen Menschen, von denen jener Jüngling träumte, ihr Leben lang gestimmt sind. Oh, es ist gut, daß Sie gleich wieder anders sein werden! Wenn es bliebe wie jetzt – als ständen Sie mit der Pastellkreide in der Hand und zeichneten mir Bilder, und ich sagte Ihnen Gedichte, und in den Austausch der Geister ließen Sie gerade genug weiblichen Zauber fließen, um dem Manne, der Sie fühlt, Genie zu geben: oh, das wäre gefährlich! Man würde Sie am Ende lieben!«

›Vor einer halben Stunde‹, dachte sie, ›hat es mich danach verlangt, von ihm geliebt zu werden.‹

Sie sagte unzufrieden:

»Sie haben unter allen meinen Stimmungen eine vergessen: eine sehr natürliche.«

»Ach, wirklich?«

Sie sah ihn im Spiegel an. Er war elegant, weltgewandt, herausfordernd in seinem mattblauen Frack, seinem hohen Kragen, seiner amarantfarbenen Weste. Aber sein Faunsgesicht lugte hilflos hervor hinter den Stämmen eines Waldes oder aus der hochgelegenen Kammer, von der er gesprochen hatte.

Sie wandte sich zurück, den Weg, den sie gekommen waren. Er blieb an ihrer Schulter und fragte, fassungslos erschreckt durch ihre Laune:

»Darf ich Ihnen ein andermal weitererzählen, was ich in meinem Brunnen sehe, in dem Brunnen mit den zwei Statuen? Ich sehe in Brunnen und Spiegel immer Sie!«

Jakobus hatte gesagt:

»Ihnen an jedes Wasser folgen und zu jedem Stück Glas.«

›Er hat Ähnlichkeit mit Jakobus, nicht bloß in diesem Wort. Er langweilt mich.‹

Der Ballsaal tat sich brennend und wogend vor ihnen auf. Ein paar verspätete Spieler aus den Zimmern des trente et quarante strichen darauf zu wie geblendete Insekten.

Jean Guignol bat sanft:

»Darf ich ein leiser, gehorsamer, ein zärtlicher Deuter Ihrer Seele sein?«

Sie erwiderte:

»Es ist zwecklos, zu deuten. Es gibt soviel zu erleben.«

 

Sie schickte ihn fort mit ihrem Umhang.

Sogleich trat hinter einer Säule ein Herr hervor und begrüßte sie.

»Herr Tintinovitsch?«

Der Hofmann arbeitete mit seinem verwitterten Gesicht, als hätte er Nüsse zu knacken.

»Hier, Herzogin, fühlt man, wozu man geboren ist!«

»Und wozu, mein Lieber?«

»Ich habe schon viele Weiber gehabt, ich habe in Minen gearbeitet und in Paris auf den Sofas der Spiellokale geschlafen. Ich bin jetzt Graf und sehr reich. Für Sie bin ich entschlossen, noch mehr zu tun!« rief er kraftvoll.

»Sie sagen wenigstens, was Sie meinen. Also?«

»Da drinnen, in Ihrem Ballsaal, und als ich Sie tanzen sah, hab ich mir gesagt: Graf, dein Leben ist verfehlt, wenn du die Herzogin nicht bekommst. Du willst sie mit dir nehmen, keiner soll sie mehr zu sehen kriegen. Du machst sie zur Königin von Dalmatien dafür, daß sie dich heiratet. Den König beseitigst du, deine Frau gleichfalls, den Rustschuk stampfest du zu Brei. Alle springen über die Klinge, die dir im Wege sind. Und sie wird Königin, und du besitzest sie – immer.«

»Ich danke Ihnen«, entgegnete sie. »Ich möchte vorher noch einen Walzer tanzen.«

Tintinovitsch blieb zurück, ziemlich verdutzt.

Aber an der Schwelle sprang ihr Paliojoulai entgegen.

»Hat er Sie beleidigt durch seine Zudringlichkeit, der Schuft? Er wird sich Ihnen noch lästiger machen, ich kenne ihn. Befehlen Sie, Herzogin, so verschwindet er in dieser selben Nacht! Glauben Sie an meine ehrlichen Absichten, ich bin eine sehr bedeutende Persönlichkeit ...«

»Und Sie werden Ihren König, seinen Minister, Ihre Frau und alle, alle umbringen, die Sie hindern, mich zu heiraten, mich ganz für sich allein zu haben – immer. Das alles, weil Sie sich heute nacht ein wenig angeregt fühlen. Ich danke Ihnen für die gute Absicht.«

Darauf tanzte sie – und in den Augen und dem Stammeln aller jungen Leute, deren Arme ihr Mieder betasteten, erkannte sie dieselbe Sehnsucht, verhalten oder bitter oder trotzig, sie zu rauben, sie einzuschließen, zu besitzen – immer. ›Nicht einer ist fähig, mich zu lieben in dieser Stunde, wo ich schön und liebesbegierig bin, und ohne an das Morgen zu denken, wo ich eine Fremde sein werde. Jean Guignol, der alle meine Regungen zergliedert, hat die eine nicht gespürt – oder nicht spüren wollen –, die ihm selbst galt. Im Grunde hatte er vielleicht Furcht – wie die andern alle ... Aber er möchte mir immer, immer zu Füßen liegen, wie Tintinovitsch und Paliojoulai es möchten, und Phili und Rustschuk und alle anderen. Oh, ich werde manchen von ihnen genießen – vielleicht den, der jetzt eben über meiner Brust atmet. Aber es wird nur sein, als führte ich einen Strauß an die Lippen. Kein Mensch antwortet mir. Hinter dem Echo stehe wieder ich selbst: sagt mein Dichter. In allen Spiegeln, hundertfältig bis in die gläserne Tiefe, tanze ich – immer ich – ganz, ganz allein.‹

Die Luft des riesigen Saales war schal, säuerlich und heiß. Die Walzer wimmerten fieberhafter und matter. Am Boden raschelten lauter trockene Blumen. Das Geräusch der schleifenden Füße klang trostlos. Hinter den Vorhängen sickerte Tageslicht herein; hier und dort sah eine Frau im Spiegel sich gelb und verschwand. Rustschuk sagte zu Ismael Iben Pascha: »Damit ich Ihre Redensart nicht mehr höre« – und zog sich mit Melek zurück. Vinon war bereits in der Garderobe. Der Marchese Trontola drehte sich zwischen den Türen umher, in der Erwartung des günstigen Augenblicks. Auf einmal entschlüpfte er, mit einem schiefen Blick auf das weinerliche Gesicht der wundervollen Contessa Paradisi. Sie tröstete sich mit Mister Williams von Ohio. Lilian wechselte ein paar Worte mit Raphael Kalender. Dann verließ sie, weiß und sehr hochmütig, den Raum, ohne den Lord Tumpell zu beachten, der sich an ihrem Wege verneigte. Er folgte ihr, gelassen und sehr hochmütig. Dort hinten verhandelte Don Saverio geschäftlich mit einigen Herren, die am Spieltisch glücklich gewesen waren. Die Grafen Tintinovitsch und Paliojoulai begegneten sich, als die letzten, am Ausgange. Sie wollten feindselig aneinander vorbei; dann machten sie kehrt, murmelten »Armer Freund« und schüttelten sich die gelenkigen Hände. Nebenan erschallte weibliches Gelächter – und gleich darauf vertrugen sich die Hofleute um zwei schlanke, geschminkte Blondinen, deren Wagen verlorengegangen war.

Die vereinsamten Säle und ihren Glanz voll Bühnentäuschung durchmaß in Purpurmantel, Papierkrone und mit wippendem Zepter unermüdlich der König Phili. Er versuchte von Zeit zu Zeit eine herrische Gebärde und sagte, mit den Händen in der Luft:

»Nun, wo sind's denn hingeraten, Herr von Rustschuk? Am End' sind Sie jetzt darüber aufgeklärt, wer von uns zwei der König ist? Einer ist Herr!« behauptete er, kühn aufgereckt.

Aber die Diener löschten die Kerzen. Der König sah den Schatten sein Reich verschlingen und bewegte sich, seufzend und über seine Schleppe stolpernd, in einem immer engern Lichtkreise. Zum Schluß ward er von der Fahlheit des Morgens aus dem Hause gedrängt, an gähnenden Lakaien vorbei. Niemand gab acht auf ihn.

Die Herzogin stand auf dem Balkon ihres Zimmers; sie sah den König im Frühlicht auf der leeren Gasse. Vornübergebeugt, mit dem steifen Schritt eines hohen Beamten und sichtlich verängstet, trippelte er in seinem wehmütigen Prunk den Treppenweg hinab. Er deuchte ihr das Ende des Festes. Sie gedachte der ungenützten Wollust, die sie selber auf ihren Lippen, ihren Brüsten, ihrem gleitenden Schenkel durch die Säle getragen hatte; der ungenützten Wollust – und sah hinter dieser Majestät drein, nach der kein Bedarf war.

Sie schickte ihm einen Diener nach: der König hätte sich sonst verirrt. Der Mann ging gelangweilt zwei Schritte voraus; dann kam Phili, und dann ein Bäckerjunge, den das Schauspiel anzog. Einer, der Holz trug, gesellte sich hinzu. Nach ihm fand ein Mädchen sich ein mit Gemüsekörben und eins mit leeren Händen, einer roten Jacke und den Spuren der Nacht im Gesicht. Sie gingen alle mit, wortlos, und traten leise auf. Ihre Mienen waren kaum spöttisch und beinahe schüchtern. In dieser seltsamen Gestalt sahen sie etwas Großes, das, sie wußten nicht warum, auf die Gasse geraten war, als Narr, und unter ihresgleichen. Die beiden Burschen hoben die Schleppe des Königs Phili vom Boden. So bog der Zug um die Ecke.

 

Den Cavaliere Muzio beauftragte sie, herauszubringen, wieviel Don Saverio in der vergangenen Nacht verdient habe. Muzio wußte es schon. Der Prinz hatte selbst nicht gespielt; aber seine Tantiemen von Damen und Gewinnern betrugen fünfundfünfzigtausend Lire.

»Und zu diesem glänzenden Geschäft«, bemerkte der Sekretär, »kommen die Einnahmen aus dem Nebenhause, wo Seine Exzellenz ein nicht weniger glänzendes betreiben.«

»Was für eins?«

»Oh, auch daran nehmen Damen und Herren teil – sehr warm sogar. Es ist gewissermaßen eine Dependance des Hauses Eurer Hoheit.«

»Ich will es mir anschauen.«

»Ich rate Eurer Hoheit ab. Sie würden den Prinzen erzürnen. Auch würden Eure Hoheit selber zu – erstaunt sein.«

»Also sagen Sie, was dort vorgeht.«

»Eure Hoheit zahlen mir hundert Lire, und vieles verrate ich dafür. Aber da auch Don Saverio mir zuweilen hundert Lire verehrt, muß es etwas geben, was ich nicht verrate.«

Und er grinste gelb.

Als Don Saverio sich spät am Abend zeigte, trällernd, mattweiß, geschmeidig und angetrunken, hatte er gefochten, eine Unterredung an der Börse gehabt und mit Freundinnen seiner Schwester Lilian ein Kabarett besucht. Sein Frack stand von der Brust ab, so dick war er mit Banknoten vollgestopft. Er ließ sich nieder und aß Konfekt. Er flößte der Herzogin ein wegwerfendes und auf Vorsicht bedachtes Wohlgefallen ein, wie ein schönes, gelbes, wildriechendes Tier, das sich außerhalb des Käfigs spreizen durfte.

Sie küßte ihn; darauf zog er eine Liste aus der Tasche.

»Hier habe ich die Namen von würdigen Leuten, die sich um städtische Beamtenstellen bewerben. Unterschreibe das, meine Liebe. Man gibt etwas auf deine Empfehlung, und es ist allen geholfen.«

»Auch dir?«

»Wieso mir? Vor allem der Kommune, der wir tüchtige Beamten zuführen. Zum Lohn gibt sie uns noch zwei Grundstücke.«

»Sie ist erstaunlich freigebig, die Kommune.«

»Was willst du! Wir sind Personen, auf die man Rücksicht nimmt.«

Sie dachte nach. ›Die Bewerber‹, meinte sie im stillen, ›geben ihm Trinkgelder. Er gibt den Vertretern der Kommune Trinkgelder. Dafür kriegt er die Häuser nahezu umsonst. Aber die Trinkgelder läßt er mich zahlen, und die Häuser behält er.‹

Sie schüttelte den Kopf.

»Deine Geschäfte werden zu verwickelt. Ich folge dir nicht, du erinnerst mich an deine selige Mutter.«

»Ach was. Maman bildete sich ein, ihrem verlorenen Gelde bis in die Taschen der andern nachlaufen zu müssen. Ich habe gesündere Anschauungen: ich bin überzeugt, das Geld der andern läuft so oder so in meine Taschen. Aber ihr Frauen gleicht euch alle; in Geldsachen seid ihr ausschweifend oder mutlos. Die besonnene Kraft fehlt euch ... Du magst nichts mit meinen Listen zu tun haben, wie? Ich verstehe das. Immerfort ihren Namen hinschreiben, das muß sie ja langweilen, so ein Weibchen. Auch verlange ich's nicht. Gib mir nur Prokura. Da habe ich schon das Papier, fix und fertig. Der Notar hat zum voraus unterzeichnet ...«

Sie nahm das Blatt und drückte es ihm, während er noch sprach, vors Gesicht. Seine Nasenspitze stach hindurch. Er lachte melodisch:

»Welch gelungener Scherz!«

Er küßte ihren Hals. Sie erwiderte es; sie fand ihn sehr schön, wenn er geldgierig war.

Beim Auftauchen, aus einer Umarmung sagte er zu ihr, die noch die Augen geschlossen hielt:

»Um es nicht zu vergessen: die Prokura – da, das Loch kleben wir zu, es macht nichts ... Wie, du willst nicht? Das wundert mich wirklich.«

Er brachte sich vor dem Trumeau in Ordnung, ein wenig ungehalten.

»Du wirst dich besinnen. Übrigens mache ich dich darauf aufmerksam, daß du schlecht aussiehst. Man wird etwas für dich tun müssen. Wir werden die Festlichkeiten unterbrechen.«

»Und die Prokura?« fragte er am folgenden Morgen, ganz obenhin, beim Eintreten in ihr Zimmer. Sie lag in der Sonne, vor dem Diwan, mit der Brust in den Kissen und die Lippen auf dem Gesicht eines schönen Mädchens. Seit gestern lebte sie in Sehnsucht nach jener kleinen Wäscherin mit den Gazellenaugen und dem afrikanischen Plattnäschen. Muzio hatte es geholt und dazu gegrinst: »Aber Hoheit dürfen ihm keine Wäsche geben.« Sie gab ihm keine Wäsche.

»Wie hübsch!« sagte Don Saverio. »Also die Prokura?«

»Du langweilst mich.«

»Das da bringen wir hinaus«, bestimmte er sofort. Er riß die Kleine an sich und schob sie aus der Tür.

»Du bist blaß, meine Liebe, und plötzlich wirst du rot. Deine Hand ist einmal kalt, was ist dir denn?«

»Nichts Ungewöhnliches.«

Sie fand ihn nicht berechtigt, sich um die Vorgänge in ihrem Körper zu kümmern. Es waren lauter Armseligkeiten, die ihrem kritischen Lebensalter angehörten. Sie wechselten täglich: Schmerzen, bald da, bald dort; Beängstigungen, aus beliebiger Richtung, wie der Wind. Sie äußerte:

»Ich wundere mich über dich. Habe doch die Güte, mich allein zu lassen.«

»Gereizt scheinst du auch. Es wäre lieblos, dich allein zu lassen.«

Er rief aus der Tür.

»Doktor, kommen Sie herein! ... Du bist exzentrisch, meine Liebe. Auch siehst du erschrecklich schlecht aus. Doktor Giaquinto wird dich untersuchen. Recht genau, Doktor!«

»Sie werden mir doch den Gefallen tun zu verschwinden?« bat sie, sehr freundlich, und erhob sich.

Der Arzt war ein kleiner magerer Greis, in gelbem Anzug, mit gefärbtem Schnurrbärtchen und zappelnd vor Jugendlichkeit. Er betupfte mit schmeichelnden Fingerspitzen sein lila Seidenhemd. Plötzlich, mit einem kleinen Gewaltstreich, versuchte er das Handgelenk der Herzogin zu fassen.

»Mein Puls geht in diesem Augenblick zu rasch«, erklärte sie und spielte mit der kleinen Kugel aus Jaspis, verschlossen mit goldenem Bügel, die der Prinz ihr hinschob, sooft er die Prokura erwähnte.

›Ein wenig Fieber habe ich möglichenfalls. Meine Hand ist nicht ganz sicher. Vielleicht ließe sie diese Tintenkugel, die sich immerhin öffnen könnte, auf Ihr schönes Hemd fallen. Wie schade wäre es!‹

Der Greis machte einen Sprung.

»Das Fieber ist festgestellt bei Ihrer Hoheit«, plapperte er, »Ihre Hoheit haben eine vollkommene Ruhe nötig. Schatten, verschlossene Fenster ...«

»Höre zu, meine Liebe«, sagte der Prinz. »Ich selber merke mir jedes Wort.«

»Keine Ausfahrten, keine Besuche, mit einem Wort: eine versperrte Haustür«, versetzte der Doktor.

»Eine versperrte Haustür«, wiederholte Don Saverio. »Das ist wohl das Wesentliche.«

»Es scheint mir auch«, meinte sie, überrascht und belebt. Es geschahen ja Abenteuer.

Ihr Geliebter und der Arzt zogen sich auf den Fußspitzen zurück. Von Stund an schlich die Dienerschaft unhörbar durch Gänge und Gemächer. Die Herzogin lauschte manchmal, ein wenig beängstigt. Nichts war mehr zu hören von dem närrischen Wirrwarr der redenden Tiere, die sangen, die Treppengeländer hinabtollten, logen, wedelten und einander äffisch an den Schwänzen hingen. Sie sah nichts von ihnen als hier und da an einer dunkeln Wand entlang eine zage Gestalt, die zusammenschrak, wenn man sie anrief, und die bleichen Gesichts etwas flüsterte. Die elektrischen Klingeln rasselten dumpf; sie waren mit Wolle umwickelt.

»Soll das lange währen?« fragte sie Muzio.

»Pst!« machte der Cavaliere, heftig erschreckt, und sprang in den Winkel. Sie lachte laut auf, darauf fiel er lang auf den Teppich.

Sie ließ Cirillo, den Türhüter, kommen und sagte ihm ihren bestimmten Wunsch, auszufahren.

»Du wirst nicht töricht genug sein, mein Freund, mich zu erzürnen. Was erwartest du von dem Prinzen. Du weißt wohl, daß er dich nur mit meinem Gelde belohnen kann ... Hier hast du tausend Lire.«

Cirillo verneigte sich, daß sein dreifaches Kinn fast am Boden schleppte. Als er in die Höhe kam, war er noch so ruhig und majestätisch wie zuvor.

»Ich verspreche dir also fünfzigtausend Lire. Willst du, so schreib ich ein Papier.«

Cirillos Knie knickten ein wenig ein, nur ganz leicht und nur eine Sekunde. Er drückte flüchtig die Augen zu, dann schien es wieder gut.

»Du willst nicht? Also geh.«

Am Abend beschied sie ihn nochmals zu sich. Es dauerte länger, bis er kam.

»Hunderttausend«, sagte sie bloß.

Der feiste, betreßte Mensch brach in die Knie.

»Gnade!« ächzte er. »Fügen Eure Hoheit nichts mehr hinzu! Ich würde es tun!«

Er raffte sich auf und stolperte hinaus.

Ihr Erbarmen währte nicht lange; dann rief sie ihn zurück. Aber statt seiner erschien Muzio mit einer vorwurfsvollen Grimasse.

»Warum versuchen Eure Hoheit den schwachen Menschen? Er ist nur Fleisch. Warum wenden Eure Hoheit sich nicht an mich, der ich Geist und Wille bin? Ich hätte Eurer Hoheit mit ruhiger Würde zu verstehen gegeben, daß Sie auch für hunderttausend Lire nicht ausfahren können, weil Ihre Gesundheit es verbietet ... Auch würden Sie vermutlich nicht wiederkommen.«

»Muzio, Sie sollen zweihunderttausend haben.«

»Das ist ein Vermögen!« sagte er voll aufrichtiger Bewunderung. »Aber« – und er ließ die erhobenen Achseln jäh sinken – »ich müßte es in Amerika verzehren. Und es ist fraglich, ob ich unerstochen bis dorthin gelangte. Hier in Neapel finde ich immer zu leben; ich bin mäßig und anhänglich an die Heimat.«

»Schade«, meinte sie und entließ ihn. Sie war im Grunde fast beglückt durch die Festigkeit ihres Gefängnisses und durch das, was man mit ihr wagte.

Am Morgen, wenn die Treppengasse sang und fütterte, lag sie wieder am Fenster zwischen den steinernen Launen der Fassade. Neben ihr bimmelte es im violetten Himmel von der tollen, geschweiften Kirche. Die Engelchen auf den Schnecken ritten vor ihr her – ins Fabelland.

Auf der Gasse saß in einem Kreise von Wißbegierigen ein Somnambule mit verbundenen Augen, schwarz und elend, und prophezeite Glück. Barfüßige Kerle in roter wollener Zipfelmütze schrien Meerfrüchte aus, schleimige, knorplige Geschöpfe, nackt oder in Schalen. Die Gesichter der Mädchen sprenkelte die Sonne, ihre Tücher leuchteten. Aus den Pfannen eines fliegenden Kochs rauchte der Duft gebackener Reisrollen. Kupferne Kessel, ausgespannte Wäsche rauschten und funkelten im Winde.

Ein Alter in Lumpen und Bartstoppeln drehte drüben einen kleinen, schlechten Leierkasten. Niemand hörte unter all dem Lärm seine schwachen Töne. Schließlich stellte ein kleiner Knabe sich vor ihn hin und sang die falschen Noten des Armen mit. Der Alte ließ den Schwengel los, er ergriff den Knaben im Rücken, gutmütig und mit überraschender Kraft, und setzte ihn sich auf die Schulter.

›Wen habe ich so mit Kindern umgehen sehen?‹ dachte die Herzogin. ›Prosper!‹

Er sah sie fest an und erwartungsvoll. Sie lächelte. Darauf ging er bis unter ihr Fenster. Der Knabe stellte sich aufrecht hin, er hielt sich am Kopf des Alten und reckte die Hand aus. Die Herzogin schrieb ein paar Worte, wickelte Banknoten in das Papier und ließ es sorgsam fallen. Der Knabe fing es und schob es in den Hals des Alten. Sie trat zurück.

›Es wäre eigentlich zu früh, wollte man mich schon befreien‹, dachte sie. ›Aber ich möchte wissen, was daraus nun entsteht.‹

Und sie war gespannt, wie als Kind in ihrem Garten, wenn Daphnis sie verlassen hatte und sie sich auf die unvorhergesehenen Einfälle des nächsten Tages freute.

Aber schon gegen Abend kam Muzio.

»Hoheit, ein neuer Mangel an Vertrauen! Wodurch habe ich ihn verschuldet? Sollte es denn wahr sein, daß die Großen keine geraden Diener dulden?«

Er richtete sich edel auf, sein blankes Röckchen krachte in den Nähten.

»Hätten Eure Hoheit mich der Frage gewürdigt, ob wir die Polizei in unsere Sachen mischen sollen, so hätte ich, wahr wie immer, wo lügen ohnehin unnütz wäre, Eurer Hoheit geantwortet: die Polizei würde unsere Sachen nur verwickeln. Denn sie würde nichts tun wollen und müßte doch so tun, als ob sie etwas tun wollte ... Aber ach, Eure Hoheit haben mich dieser Frage nicht gewürdigt. Statt meiner haben Sie einen andern ausgesandt, einen fremden, uns verdächtigen Menschen, den die Polizisten natürlich gleich festgehalten haben. Ein Glück, daß sie nur mich von dem Vorfall in Kenntnis setzten und nicht auch Seine Exzellenz, den Prinzen. Ich habe die Behörde um Schweigen ersucht. Seine Exzellenz würde durch die wenig liebevolle Handlungsweise Eurer Hoheit einen geradezu gefährlichen Kummer erleiden.«

»Das hätte mir von Herzen leid getan«, erwiderte die Herzogin. »Ich will es also das nächste Mal besser anstellen, so daß es gelingt. Dann muß Seine Exzellenz eilen, sich in Sicherheit zu bringen, und hat kaum noch Zeit, um mich zu weinen.«

Muzio sagte:

»Ich werde es für ihn tun: für den Unglücklichen, der eine solche Frau besaß. Denn es ist ein Unglück, Hoheit, Sie zu besitzen, wenn man Sie eines Tages verlieren soll.«

 

Sie bekam nicht einmal Zeitungen; es hieß, man wolle ihr die Aufregungen ersparen, die sie mitbrächten. Aber die Karten der Besucher wurden ihr vorgelegt. Es war jeden Abend ein ganzer Stoß voll von Namen, die sie kaum kannte: die Besucher ihrer Feste, diejenigen, die sich ihr empfahlen, und andere, von denen sie eine Nacht lang begehrt worden war. Sie dachte an die elegante Stunde des Korso und an das bewimpelte Meer und empfand ein wenig zornige Sehnsucht. Dann besann sie sich lächelnd darauf, daß wahrscheinlich um dieser Sehnsucht willen Don Saverio ihr die Karten reichen ließ.

Er selbst zeigte sich nicht, schon acht Tage.

Sie spazierte viele Stunden lang in dem gespreizten Garten voll theatralischer Hydraulik. Aber der bockbeinige Liebhaber stand der formenreichen Nymphe ohnmächtig gegenüber: das Wasser sprang nicht mehr. Jenseits der hohen Lorbeermauern sah sie ein Stück vom Nachbarhause. Tagsüber lag es unbelebt. ›Wozu benutzt Saverio es?‹ dachte sie. Gegen Abend flogen die Läden auf. Dann entstand dort Licht, Gelächter, festliches Hin und Her.

In einer kalten und stillen Nacht sah die Herzogin hinauf. Droben, hinter einer erleuchteten Scheibe, stand eine Frau in rotem Samt, ausgeschnitten, weiß von Puder. Auf einmal floß Mondschein über die Herzogin. Die dort oben riß das Fenster auf und breitete die Arme aus.

»Nana!«

Die ehemalige Kammerfrau machte trostlose Zeichen nach hinten, wo es klingelte und im Schatten goldig flirrte. Sie legte die Finger aufs Herz und an die Lippen. Die Herzogin bedeutete ihr, dies habe nichts zu sagen. Sie begann zu ahnen, welches glänzende Geschäft ihr Geliebter nebenan betreibe.

Endlich kam er.

»Guten Morgen, schöne Herrin. Du siehst schon viel besser aus. Die Langeweile hat dir gutgetan, ich bin sicher, du gibst mir jetzt Prokura.«

»Wir werden sehen.«

Sie zog ihn in ihre Arme. Er war blendend, siegesgewiß, ein göttlicher Henker.

»Hier ist Papier und Feder. Nachher die Belohnung für die kleine Frau.«

»Ah! Du glaubst, ich muß für deine Liebe zahlen? Du forderst mein Ehrgefühl heraus!«

Sie lachte ihm leise und hart gerade in den Mund hinein. Er rötete sich und zerrte an den Spitzen vor ihrer Brust. Sie ließ ihn lange kämpfen. Sie erwiderte seine feindseligen Küsse, und bei jedem von ihnen dachte sie an eine seiner Schurkereien: an eine Erpressung, eine körperliche Gewalttat, eine gebrandschatzte Frau. Sie hatte wütende Lust, ihn zu fragen: ›Nimmst du auch von deiner Schwester Lilian etwas, wenn sie auf unsern Festen Geld verdient!‹ Aber sie schwieg. ›Er soll sich für den Überlegenen halten! Er glaubt mich umstellt zu haben mit Gesindel und mich wehrlos einzufangen in seinen Lügen, seinem Häuserschwindel, seinen Bestechungen, seinen Wuchergeschäften, seinen Weiberverkäufen. Er hält mich für das Wild und sich für den Jäger, der Arme. Welch einziger Genuß, ihn ganz zu überschauen, ihn umherzappeln zu lassen von einer Schlauheit zur andern und ihn zur Hergabe seiner Liebe zu zwingen – ohne Ersatz! Ah! der Kampf um das Werk mit Jakobus war matt, verglichen mit der Lust, diesen da zur Strecke zu bringen!«

Don Saverio unterlag. Er unterlag mehrmals. Darauf entfernte er sich in übler Stimmung.

Schon am Abend war er wieder da. Sie lag müde und schmachtend, der Träumerei näher als dem Streite. Er trat nackt aus seiner Garderobe; sie zitterte vor ihm. Er war unerbittlich, sie hatte plötzlich gar keine Waffen. Er sprach gar nicht von der Prokura. Seine Eitelkeit überwog, er dachte an nichts weiter, als sich stark zu zeigen. Er nahm sie roh. Seine weißen Hände verteilten nervige Zärtlichkeiten an alle ihre Glieder. Sie fühlte sich schwach, sie begriff, daß sie eine Unklugheit begehen werde, aber es lag ihr nichts an Klugheit.

»Gib mir den Schlüssel!« bat sie.

»Jetzt, in der Nacht?«

»Ich will aufs Land, ans Meer, frei sein.«

»So unterschreib!«

»Nein! Aber ich werde aus dem Fenster schreien!«

»Man soll es vergittern. Unterschreib!«

Seine Liebkosungen fingen an, ein wenig peinvoll zu werden.

»Nein!«

Er sang, plastisch zurückgeworfen in die Kissen, die Kehle nach oben und den Arm gerundet, mit berauschendem Tenor die Arie des Fra Diavolo.

Als er schlief, saß sie daneben, mit dem Kinn in der Hand, die Brüste umflossen von ihren schwarzen Haaren, und sagte sich:

›Einmal werde ich's vielleicht tun.‹

Sie spürte in der Ferne die Versuchung, ihn zu töten.

›Liebe ich ihn denn? Oder warum verfalle ich auf solche Gedanken? Liebe ich ihn denn?‹

»Ich bin verloren!« murmelte sie, vor sich hinstarrend, im Morgengrau. »Oh, wer sagte das, ehemals, geradeso?

Die Blà! Sie hat es mir gebeichtet. An einem Punkte wußte sie plötzlich, wie es enden würde mit ihr und Piselli!«

Ein Buch von Jean Guignol lag auf dem Nachttisch: sie ließ im halben Licht die Augen über ein paar Verse gleiten, die sie auswendig wußte. Auf einmal sah sie auf und lächelte.

»Er hat unverkennbare Verwandtschaft mit Piselli. Aber die Blà und ich – oh, Bice, dir war es arger Ernst. Ich, ich spiele ja nur ...«

Sie saß schon im gläsernen Saal unter den Palmen und frühstückte und las. Don Saverio zeigte sich, gut ausgeruht; sie beachtete ihn wenig.

»Du scheinst gar keine Furcht mehr zu haben«, äußerte er schließlich, gekränkt.

»Du langweilst mich einfach.«

»Aber die Prokura! ... Nun gut, ich gebe dir zwei Tage Zeit.«

»Du, mir!« sagte sie nachdenklich hinter ihm her. Sie mußte sich besinnen, mit welchem Recht er sich eigentlich so wichtig gebärde.

Tags darauf war sie stürmisch, begehrlich, zerstörerisch. Nach einer Stunde gab er sich besiegt. Inmitten ihres Triumphes sah sie sich um.

»Was habe ich dir bei unserem Einzuge gesagt? Unser weitläufiges Schlafgemach erinnere an ein Schlachtfeld! Habe ich gut prophezeit? ...«

Sie entfesselte ihn aufs neue. Er lag endlich zerbrochen, keuchend, mit geschwollenen Augenlidern. Sie beugte sich über ihn.

»Willst du die Prokura? Ich gebe sie dir, mein Geliebter.«

»Was täte ich damit?« flüsterte er versagend. Sie genoß dieses Wort minutenlang. Dann sagte sie sanft:

»Schau einmal, über unserm Bett wird Hagar vertrieben. Es ist die Prokura, sie weint, du jagst sie in die Wüste.«

Er schlief lange. Nach dem Diner, als sie Zigaretten rauchte, geschnittene Steine betrachtete und einer Jünglingsstimme zuhörte, die drunten sang, stürzte er herein, halb angekleidet. »Eben fällt es mir wieder ein. Du hast mir die Prokura versprochen. Da, das Papier.«

»Ich danke Ihnen, mein Lieber. Ich brauche es nicht.«

»Wie? Ich habe aber doch nicht geträumt?«

»Durchaus nicht. Obwohl Ihr Geist nicht übermäßig wach war. Aber ich habe sie Ihnen versprochen.«

»Und –«

»In jenem Augenblick würde ich sie Ihnen vielleicht sogar gegeben haben: wer weiß.«

»Es ist schrecklich –«

Er griff nach seiner Stirn, die perlte.

»Sie zittern, Freund. Sie werden nervös und müssen sich schonen. Ich werde den guten Doktor Giaquinto kommen lassen, dessen Ratschläge mir so nützlich gewesen sind.«

»Aber Sie haben versprochen!«

»Beruhigen Sie sich, ich leugne ja nicht.«

»Und was man versprochen hat –«

Er wiederholte immerfort, indes sie die Achseln zuckte:

»Wenn man doch versprochen hat!«

Er begriff sie nicht; sie entrüstete ihn aufrichtig.

 

Sie saß, eines Morgens, mit einer Karte in der Hand, die sie unter einem Haufen von anderen, jüngst abgegebenen hervorgezogen hatte. Sie rollte sie zwischen den Fingern und dachte dabei an den Charakter ihres Sekretärs. Als er kam, gab sie ihm das Billett. Er las:

»Lady Olympia Ragg.«

Darauf starrte er sie an, angestrengt forschend.

»Ich bitte Sie, Muzio, ich bitte Sie ganz einfach, diese Dame aufzusuchen. Niemand wird je erfahren, daß Sie es getan haben. Sie sagen ihr nur, ich sei wieder gesund und wünsche auszufahren, wozu ich sie um ihre Hilfe ersuche. Lady Olympia wird fragen, was sie tun könne. Dann werden Sie sie einladen, mit Ihnen zu diesem Herrn zu gehen.«

Sie reichte ihm einen offenen Brief. Muzio erblickte die Adresse des englischen Konsuls, Mister Wolcott. Darauf sah die Herzogin zum erstenmal, seit sie ihn kannte, aus seinem Gesicht allen Spott verschwinden. Er neigte sich tief und rückhaltlos.

»Hoheit, Sie sind bewunderungswürdig. Ich werde alles tun, um Ihnen zu dienen, aus reiner Bewunderung ...«

Er legte die Hand aufs Herz.

»... und weil man einer Frau von solchen Eingebungen wohl oder übel ihren Willen lassen muß. Es würde nichts nützen.«

Sie rief lebhaft und erfreut:

»Es würde nichts nützen: ganz dasselbe sagte ich mir vorhin und meinte meinen Kampf mit Ihnen. Er ist mir nicht unsympathisch, der Muzio, so sagte ich mir. Er hat eine uneigennützige Lust an der Intrige. Er wird mich nicht so bald entkommen lassen, er wird sich im Erfinden von Listen mit mir messen, solange ich's aushalte. Er ist wirklich geschickt: ich glaube, er wird meine Anschläge immer wieder durchkreuzen. Es nützt nichts, ich muß ihn ins Vertrauen ziehen, das Spiel würde sonst ewig dauern. Sobald ich ihm sage: Cavaliere, ohne Sie bin ich hilflos – verachtet er mich milde und läßt mich laufen.«

Sie lächelte. Er wehrte ab, unter Beteuerungen.

»Sodann die Geldfrage, sagte ich mir, die kommt bei Muzio lange nachher ... Aber es versteht sich, daß ich sie nicht vergessen werde.«

Er winkte vornehm.

Zur Stunde des Dejeuners saß sie allein und wartete, angenehm gespannt. Amedeo hatte zu seiner Verwunderung drei Gedecke auflegen müssen. ›Wird es ohne Gewalttat verlaufen?‹ meinte sie. ›Cirillo verfügt über ziemliche Körperkräfte.‹

Es schlug eins. Im Vorzimmer erklangen gelassene Stimmen. Die Türflügel gingen lautlos auf. Lady Olympia trat ein, nur wenig eiliger als sonst:

»Süße Herzogin, ich bin entzückt.«

Ein untersetzter Herr mit fuchsiger Perücke, rötliche Favoris in dem rötlichen Gesicht, zog die Hände aus den Hosentaschen.

»Mister Wolcott«, sagt Lady Olympia. »Und hier ist mein Sohn. Komm, Houston!«

»Sir Houston, es freut mich ... Amedeo, ein viertes Kuvert.«

Amedeo schien beglückt. Die Lakaien überschlugen sich vor Diensteifer. Draußen versuchte eine Zofe einen kleinen Triller. Plötzlich schrillten die Klingeln wieder so scharf wie früher.

Man bedauerte die Krankheit der Herzogin auf italienisch, dann unterhielt man sich auf englisch von der Camorra. Sir Houston hörte zu und aß stark. Er war blond, jung, roch frisch und hatte große, wohlgebildete Gliedmaßen.

»Eure Hoheit könnten mit Mylady und mir das Haus verlassen und nicht wiederkommen«, sagte Wolcott. »Aber der Prinz würde sich nicht für geschlagen halten. Vorher muß man ihn hoffnungslos bloßstellen.«

»Davon lebt einer hier in Neapel, vom Bloßgestelltwerden«, warf Lady Olympia hin, höchst verächtlich. »Wie sollte man ihn sonst fürchten?«

»Aber vor anständigen Leuten«, behauptete der Konsul. »Die Gauner werden ihn dann verleugnen. Seine Exzellenz muß für einige Zeit verschwinden, und die Frau Herzogin wird endgültig von seinen Ansprüchen befreit sein.«

»Wo sind die anständigen Leute?«

»Es gibt einige. Ich werde sie zusammensuchen. Ferner die ganze Kolonie.«

»Für heute abend!« rief die Herzogin.

»Es wird zwar schwerhalten. Aber ich mache es. Ich gehe persönlich zu allen Leuten und stelle ihnen ungewöhnliche Dinge in Aussicht.«

»Und mit Recht, Mister Wolcott; denn es wird ganz lustig werden. Da, ich mache Ihnen noch die Liste meiner Freunde ...

Alfonso!« befahl sie. »Meine Gäste bleiben hier. Lassen Sie Zimmer herrichten.«

Der Intendant verbeugte sich in großer Hast und verschwand. Nach einer Weile rief sie ihn zurück:

»Zeigen Sie den Herrschaften ihre Zimmer.«

»Zimmer?« fragte er.

»Alfonso, heute macht ihr keine Scherze mehr, verstehst du? Ihr wartet ab, was ich für welche mache.«

»Und Seine Exzellenz?« rief der glatte Alte in der Fistel und begann zu zappeln. »Wie kann ich Zimmer geben? Von diesem Frühstück werden Seine Exzellenz nichts erfahren. Wenn Eure Hoheit sich etwa aus dem Hause entfernen sollten, so wird niemand wissen, wie es geschehen konnte. Das Tor steht offen. Cirillo, der Türhüter, liegt zu Bett, er hat Rheumatismus; was wollen Seine Exzellenz dabei tun ... Aber Zimmer – wie kann ich Zimmer an Gäste vergeben in diesem Hause, wo eine Grabesruhe herrschen muß, da ja Eure Hoheit schwer krank sind.«

»Heute abend, mein Guter, werden zweihundert Leute kommen. Du kannst Seiner Exzellenz sagen, daß du niemand siehst: dich blind stellen, das ist das gescheiteste. Vielleicht hält Seine Exzellenz die zweihundert dann für eine Sinnestäuschung. Nun also die Zimmer.«

»Hoheit, ich kann nicht!«

Er krümmte sich, sprang umher, schnitt Fratzen und wimmerte.

Sir Houston hatte noch kein Wort gesprochen. Er betrachtete neugierig und reglos den Alten in seinem Frack und seinen Kniehosen wie ein boshaftes Tier, das sich unnütz abarbeitete. Unvermutet machte er, ohne seine Ruhe zu verlieren, einen Schritt vorwärts und stieß dem Intendanten die Faust unter die Nase. »Die Zimmer!« sagte er auf englisch. Alfonso rollte unter einen Tisch; man sah ihm verwundert nach. Er kam wieder zum Vorschein, die Hand am Gesicht; ihrer Höhlung enttropfte es schwärzlich. Er verneigte sich sehr tief, erst vor Sir Houston, dann vor der Herzogin, und ging.

»Sie sind sehr brauchbar«, erklärte die Herzogin dem jungen Manne. »Ich gedenke, Sie heute abend noch zu verwenden.«

Er zog sich, ganz allein, ins Billardzimmer zurück. Der Konsul ging aus. Lady Olympia sagte zu ihrer Freundin:

»Süße Herzogin, ich bin zufrieden. Sie haben bereits angefangen, aus meinen Ratschlägen Vorteil zu ziehen. Sie lassen die Männer in ihren Dichtungen fiebern, nicht wahr, und nehmen sich die Wirklichkeit, die so einfach ist. Macht sie nicht viel Vergnügen, die Wirklichkeit? ... Nur eins erübrigt Ihnen zu lernen: zur rechten Zeit abbrechen. Ich verlange ja nicht, daß Sie sich, gleich mir, grundsätzlich mit einer einzigen Nacht begnügen: ich glaube, es gehört eine gewisse Keuschheit dazu – doch lassen wir das ... Nur zur rechten Zeit abbrechen! Dann wäre Ihnen diese abscheuliche Geschichte nicht passiert.«

»Es wäre schade, wenn ich um das Erlebnis gekommen wäre. Es gehört zu mir, es macht mich glücklich!«

»Wenn Sie meinen. Aber Ihr armer kleiner Sekretär war in Tränen aufgelöst.«

»Muzio?«

»Er vergoß seine Seele. Er lag auf den Knien und flehte für seine Herrin. Er habe zu ihrer Rettung schon alles versucht; ich sei seine letzte Hoffnung. Er habe sich an die Polizei gewendet: sie stehe mit dem schrecklichen Don Saverio im Bunde. Er sei bei den fremden Ärzten umhergelaufen; keiner wolle seine Sicherheit wagen und feststellen, die Herzogin von Assy sei gesund. Man werde Sie so lange mißhandeln und hungern lassen, bis Sie alle ihre Habe dem Prinzen ausgeliefert haben ... Um so besser für Sie, mein Liebling, wenn Sie das zum Lachen stimmt.«

»Muzio entzückt mich!« seufzte die Herzogin.

Sie lag und lachte bis zum Ersticken.

Sie wurden unterbrochen durch die Ankunft des Hausherrn. Sie fanden ihn sehr sanft, von vorwurfsvoller Zärtlichkeit, ein wenig besorgt wegen der Möglichkeit, die Herzogin könnte mit der großen Festlichkeit des heutigen Abends ihren Kräften zuviel zumuten. Lady Olympia ging hinaus; er stützte ein Knie auf die Chaiselongue seiner Freundin und brachte ihr den ernsten Marmor seines Gesichts ganz nahe, wehmütig, und so, als sagte er:

»Konntest du denn vergessen, wie schön er ist!«

Sie küßte ihn flüchtig, wie eine bewunderungswürdige Sache, an der man niemals gleichgültig vorübergeht. Darauf ward er stürmisch, aber sie wies ihn ab.

»Hörst du nicht, daß alles im Hause in Bewegung ist? Wir haben bis heute abend unglaublich viel zu tun ... Alfonso! Gennaro! Amedeo!«

Sie gab Aufträge.

»Aus diesem Zimmer, mein Freund, müssen wir sofort hinaus. Ich bin vier Wochen lang krank gelegen, keiner hat einen Schritt tun dürfen, meiner Ruhe wegen. Du kannst dir denken, daß alles ein wenig vernachlässigt aussieht.«

Im Hintergrunde rannte es durcheinander, mit Teppichen, Porzellan, Silberzeug. Alfonso stöhnte aus stark geschwollener Nase.

»Wir werden vielleicht allesamt zugrunde gehen bei der Arbeit. Aber Hoheit, getan wird sie!«

»Ich helfe mit«, erklärte der Prinz in plötzlicher Begeisterung. Sie sah ihn unterworfen, mit seiner Strafe einverstanden und um eine Belobigung betteln.

»So ist's recht, mein Freund. Ziehen Sie Ihren Rock aus.«

Er tat es. Sie begab sich ins Palmenhaus zu Lady Olympia. Durch die Glasscheiben erblickten sie Don Saverio, wie er, einen Tellerstapel in den Armen, an den Spiegeln der langen Säle vorbeilief.

»Er läuft«, sagte Lady Olympia. »Er hofft kaum noch, die entfliehenden Millionen einzuholen. Aber er läuft, damit Sie ihn betrachten, süße Herzogin, wie einen prächtigen Wettläufer. Denn er liebt Sie – oh! vielleicht erst seit heute: jetzt aber haben Sie ihn verliebt gemacht.«

Die Herzogin nickte, ernst und befriedigt; sie wußte es.

»Und wenn er erst ahnte, was ihm bevorsteht – «, äußerte sie fast mitleidig.

»Heute abend?«

»Ja.«

»Und was denn?«

Sie hob die Schultern, lachlustig.

»Ich weiß es selbst noch nicht – drum freue ich mich darauf.«

 

Um Mitternacht war das weite Haus gefüllt. Die Stimmen der Ausländer tönten aus allen Gruppen. Und überall, breit und nachlässig oder in aufgeregten Nasenlauten oder guttural oder meckernd, unterhielten sich die Fremden von dem neuesten Abenteuer der Hausherrin. Die Neapolitaner warteten ab; ihre Handbewegungen schwuren, daß sie ohne Meinung seien.

Die Herzogin ging zwischen Lady Olympia und Mister Wolcott an den Spieltischen vorbei. Sie winkte, plauderte und hinterließ geblendete Blicke. Dieses Fest nach langer Einsamkeit und zum Lohn für ihre Stärke erhöhte ihre Sinne, machte ihren Geist rasch und glänzend; es heftete ihr Flügel an und trug sie fort, durch die Luft, in der schon Frühling war, sie wußte nicht, wohin. Don Saverio fiel ihr erst wieder ein, als sie ihn ganz still und artig bei einer Partie Pikett sitzen sah mit Mister Williams von Ohio. Der Konsul sagte eben:

»Es ist kein Zweifel, dieser Trontola betrügt.«

»Unerhört!« stieß Lady Olympia hervor.

»Süße Lady«, erwiderte die Herzogin, »Sie sind, was solche zarten Dinge angeht, eine Puritanerin: ich weiß es. Aber unerhört sind nur Sie. Trontola wäre erst unerhört, wenn er nicht betröge. Meinen Sie, daß Gicco-Giletti es sich versagt, oder Tintinovitsch? Er plündert gerade einen kleinen Snob aus Berlin; der ist sehr stolz, daß ein dalmatinischer Graf sein Geld nimmt.«

Lady Olympia fragte angewidert, aber neugierig:

»Sie haben da recht hübsche Kenntnisse, süße Herzogin ...«

»Die habe ich vom Cavaliere Muzio, meinem Sekretär, der Ihnen so gut gefällt.«

»Und wie machen es die Gauner?«

»Oh, auf mannigfache Weise. Zum Beispiel: hinter dem, den sie betrügen, steht ihr Vertrauter und erklärt ihnen durch Zeichen seine Karten. Oder er hält etwas Blankes in den Händen, worin die Karten sich spiegeln: eine silberne Zigarettendose oder – oder –«

Sie lachte auf:

»Schauen Sie einmal, ist mein Kammerdiener Amedeo nicht eigentlich eine sehr komische Figur? Ein byzantinischer Würdenträger, in seiner dummen Feierlichkeit! ...«

Man sah hin. Amedeo stand mächtig und voll goldener Tressen seinem Herrn, dem Prinzen Cucuru, gegenüber, hinter Mister Williams von Ohio, und drehte auf seiner Hüfte ein großes, spiegelndes Tablett. Der Amerikaner leerte ein Glas Wein, das Amedeo ihm gereicht hatte. Darauf sagte er laut und schnarrend sechs Blatt an und vier As.

»Wie deutlich sich Mister Williams' Karten im Tablett des braven Amedeo ablesen lassen«, äußerte die Herzogin. Mister Wolcott erwiderte:

»Ich sehe nichts.«

»Ich auch nicht«, versetzte Lady Olympia.

»Tun Sie sich keinen Zwang an, Mister Wolcott. Es ist Ihnen unangenehm, so etwas in meinem Hause sehen zu müssen. Aber es macht nichts ... Sie haben es also gesehen. Und ich bitte Sie, dafür zu sorgen, daß noch einige andere es sehen.«

Sehr angeregt verließ sie ihre Freunde. Sie suchte Sir Houston. Er spazierte gerade mit schlenkernden Händen, ungeschlacht und in Unkenntnis über die eigenen Vorzüge, an einer duftenden Reihe fleischiger Brünetten vorbei, die ihn lorgnettierten. Die Herzogin redete ihn an.

»Sir Houston, ich habe Ihnen gesagt, daß ich Sie heute abend verwenden würde. Gehen Sie, bitte, sogleich hinüber zu Don Saverio Cucuru – er spielt Pikett mit Mister Williams von Ohio – und erklären Sie ihm weithin vernehmlich, daß er betrügt.«

Sir Houston starrte hin, offenen Mundes.

»Wie macht er's denn?«

»Es ist zu verwickelt, ich erkläre es Ihnen später. Gehen Sie jetzt nur. Sagen Sie auf alle seine Einwendungen immer wieder möglichst laut: ›Sie haben betrogen.‹ Man wird Sie unterstützen, Sir Houston, verlassen Sie sich auf mich ...«

»Wenn Herzogin es so wollen.«

Damit ging er. Er pflanzte sich vor Don Saverio auf und schrie:

»Sie betrügen.«

Der Prinz sah auf, höchst verwundert.

»Sie irren sich, mein Herr.«

»Ich irre mich nicht«, brüllte Sir Houston. »Sie betrügen jenen Ehrenmann dort – so wahr Sie ein Schurke sind!«

Ein ehrlicher Zorn kam über ihn und erhöhte seine Farbe. Gedämpft und mit erzwungenem Lächeln versetzte Don Saverio:

»Nehmen Sie Vernunft an. Sie sehen, ich beherrsche mich zur Vermeidung eines unnötigen Skandals. Später stehe ich Ihnen zur Verfügung. Aber Ihre Behauptung ist reiner Unsinn. Ich bin ja im Verlieren, überzeugen Sie sich doch! Mein Gegner, Mister Williams, hat eben erst mit Ansagen allein neunzig gemacht ...«

»Sie haben betrogen!«

Es stand schon ein Kreis schweigsamer Zuschauer um sie her. Auch Mister Williams betrachtete sich als unbeteiligten Gast und zündete sichtlich interessiert eine Zigarre an. Don Saverio erhob sich kalt.

»Der Herr ist seiner nicht mächtig; es ist der Wein ... Wollen Sie nicht freiwillig dieser Szene ein Ende machen?« fragte er Sir Houston.

»Nur hübsch zureden!« bemerkte langsam und freundlich der König Phili.

»Sie haben betrogen!«

Der Konsul Mister Wolcott zeigte dem Lord Tumpell das blitzende Tablett des Kammerdieners. Es entstand ein Gemurmel. Der Prinz ward unruhig:

»Amedeo!«

Der starke Mensch näherte sich dem widerspenstigen Fremden. Im nächsten Augenblick hatte er die beiden Fäuste Sir Houstons im Gesicht und taumelte rückwärts. Sir Houston sah aus wie ein rohes Beefsteak. Die Zuschauer meinten, er müsse auch so riechen. Die Frauen sagten:

»Was für ein sympathischer junger Mann!«

»Der Kammerdiener hat vielleicht ohne Auftrag gehandelt«, murmelte Lord Tumpell. Mister Wolcott zuckte die Achseln, und noch andere zuckten sie unter Geraune. Der Prinz verstand nicht, seine Augen wurden böse.

»Ich bin außerstande, dies länger als schlechten Scherz zu behandeln. Ich verlange Genugtuung.«

Sir Houston hatte bereits seine Handgelenke entblößt. Er stürzte nach vorn; aber Don Saverio vollführte eine geschmeidige Wendung. Sir Houston polterte gegen den Kartentisch, der umfiel. Mister Williams von Ohio stand gelassen auf und klopfte sich Asche vom Ärmel. Es herrschte völlige Stille; dann sagte langsam und freundlich der König Phili:

»Dös san Gschichten.«

Einige lachten, andere machten zweifelhafte Gesichter. Lady Olympia hatte im Hintergrunde das Urteil abgegeben, es sei eine Schande, wenn in einem Hause wie diesem solche Sachen geschähen. Mehrere Fremde wiederholten es in Idiomen, die man nicht verstand. Die Neapolitaner warteten ab und spähten nach dem Gesicht der Herzogin; sie verweilte am Eingang des Saales. Manche fingen an, die Lage zu erfassen. Der Marchese Trontola war der erste, der sich entschied.

»Es ist eine Schande«, wiederholte er, »ein wahrer Skandal.« Und halblaut: »Ich werde für seine Ausschließung aus dem Klub sorgen.«

Sir Houston war von einer Gruppe von Landsleuten umringt und fortgezogen. Ganz allein und sehr bleich stand Don Saverio dem Gedränge gegenüber, dessen Feindseligkeit er fühlte. Er machte ein paar aufgeregte Handbewegungen. Plötzlich, von dem Bewußtsein überwältigt, daß alles unnütz sei, pfiff er durch die Zähne und drehte sich um.

Man sah ihm nach. Auf einmal stiegen von allen Seiten lärmende Meinungen auf. Trontola unterrichtete auf französisch alle Welt ganz genau darüber, wie der Betrug sich zugetragen habe. Mister Williams von Ohio hörte aufmerksam zu. Unvermutet nahm er die Zigarre aus dem Mundwinkel und bemerkte:

»Ich hatte ja gewonnen.«

Zwanzig Stimmen riefen ihm entgegen:

»Sie müssen sich irren!«

Der Amerikaner hob die Schultern. Er erwiderte nichts, aus Achtung vor dem Volkswillen, und rauchte weiter. Der Graf Tintinovitsch behauptete, mit den Armen in der Luft, solcher Vorfall sei unmöglich in einem guten Hause. Er werde es sich überlegen, ob er wiederkomme. Aber seine Strenge fand man übertrieben. Man schien sich im Gegenteil sehr wohlzufühlen; nur daß mancher, der eben noch eine ausgeartete Munterkeit bekundet hatte, plötzlich verschwand. Dreiviertel Stunden später waren alle fort.

Lady Olympia und der Konsul wünschten der Herzogin eine gute Nacht und begaben sich in ihre Zimmer. Die Herzogin hatte das ihrige betreten, da wisperte es an der Tür:

»Eure Hoheit verzeihen meine Kühnheit ...«

»Muzio? Was führt Sie her?«

»Eure Hoheit haben Seine Exzellenz den Prinzen sehr gekränkt.«

»Das täte mir leid.«

»Es ist nicht deswegen. Aber Seine Exzellenz werden vielleicht den Wunsch hegen, sich zu rächen. Auch ist die Dienerschaft sehr böse auf Eure Hoheit. Es ging ihr gut in diesem Hause, das wird nun wohl aufhören.«

»Möglichenfalls.«

»Unter diesen Umständen sollte Eure Hoheit diese Nacht lieber im Hotel schlafen.«

»Daran ist doch nicht zu denken. Es ist gleich drei.«

»Aber Alfonso und Amedeo sind noch auf. Sie kühlen ihre geschwollenen Nasen und verbeulten Augen unter Segenswünschen auf jenen Engländer. Eine Menge Diener und Mägde sind um sie her und schreien. Die Weiber sind in bemerkenswerter Aufregung ...«

»Sagen Sie den Leuten, wenn mich ihr Geschrei stört, werde ich ihnen meine schlaflose Nacht vom Lohn abziehen. Gehen Sie nur, Muzio. Übrigens danke ich Ihnen.«

»Es war meine Pflicht, Hoheit.«

Als Muzio fort war, ging sie mit einer Kerze bis an Sir Houstons Tür. Er öffnete sogleich, er war noch im Frack und lud zwei Revolver.

»Für die Camorra«, sagte er, sichtlich auf alles vorbereitet.

»Ganz recht«, entgegnete die Herzogin. »Kommen Sie nur in mein Zimmer, da ist es am nötigsten.«

Er sah es ein und kam. Sie setzte ihn ins Vorzimmer; ihre Kammerfrau machte ihm Tee und stellte Rum hin. Die Herzogin legte sich hinter dem breiten Vorhang, der die beiden Räume trennte, auf ihr Bett. Sie war in einem Schlafrock aus weißen Spitzen.

Im Augenblick des Entschlummerns hörte sie draußen ein ganz leises Geräusch, wie Kinderschritte, und kam seitdem nie wieder dem Schlafe nahe. Von Sir Houston hatte sie noch gar nichts gemerkt; sie nahm an, er sei eingenickt. Da krachte ein Schuß: sie war sofort an der Tür. Er hatte hindurchgeschossen. Sie durchspähte, den Leuchter am Ende des gestreckten Armes, schmal und biegsam in ihren langen Spitzen, den winkligen Gang. Hinter ihr warf Sir Houston, einen Revolver in jeder Hand, seinen gelassenen Schatten. An den Wänden hin huschte etwas Leichtes, Dunkles.

»Nicht schießen!« rief die Herzogin eben noch rechtzeitig. Es war Muzio. Sie zog ihn eigenhändig ins Zimmer; er war fahl, seine Fratzen überstürzten sich, er zitterte.

»Was hatten Sie denn um Gottes willen dort draußen umherzuschleichen?«

Er wußte nicht, es konnte ja etwas geschehen. Die Leute waren so boshaft, er kannte sie. Der Engländer schlief vielleicht ... Muzio lallte vor Furcht. Seine Skepsis war dahin: die Skepsis des alten Neapolitaners, den so viele Fallstricke auf allen Seiten von Jugend auf dazu erzogen hatten, immer nur den Schritt zu tun, den man nicht erwartete. Er lispelte wie ein Kind, ganz harmlos und offen. Er war ja wirklich besorgt um sie, die Frau Herzogin durfte es glauben. Sie hatte ihn gewonnen, weil sie sich heute nacht sehr stark zeigte. Das mit dem Falschspiel des Prinzen hätte er gewünscht, selber erfunden zu haben: es war seiner würdig. Er bat sie inständig, an seine Treue zu glauben. Er sehe wohl ein, es sei schwer, ihm etwas zu glauben ...

»Alles!« sagte sie und gab ihm die Hand. Sie war beglückt durch dieses redliche Gefühl einer Minute. Muzio mußte sich zu ihr und Sir Houston setzen und Tee trinken. Er erzählte plappernd und ohne Zurückhaltung allerlei Geschichten, die es ein paar Stunden später bereuen hieß. Sir Houston lauschte ihm angestrengt und vergeblich. Dann zog Muzio sich zurück unter Verbeugungen und Schwüren und mit einem sanft spöttischen Seitenblick auf den schönen jungen Engländer.

Die Herzogin blieb sitzen, ihrem Beschützer gegenüber. Sie wiederholte auf seine Bitte alles, was Muzio verraten hatte. Er hörte sie an, gespannt und kalt, nicht anders als einen Jagdgenossen in Nubien, der den Löwen gesehen hatte. Er nahm sich vor, mit der Camorra noch viele Abenteuer zu bestehen. Er war ihr schon begegnet. Auf eine Droschke, die er gemietet hatte, stieg neben den Kutscher ein anderer Kerl und war nicht zu vertreiben. Es mußte ein Camorrist sein ... Die Herzogin betrachtete den jungen Mann mit einem Lächeln, ruhig und gütig. Ihre Spitzen knisterten leise im Takt ihres Atems. Das Gemach war lau und das blaßviolette Licht gedämpft. Man fühlte das Haus schlafen inmitten der schlafenden Stadt. Hinter dem leichtgeöffneten Vorhang schimmerte, mit Perlmutterglanz in den Falten, ein Stück Linnen von ihrem Bett, leicht in Unordnung ... Ferner kannte Sir Houston einen Kellner, der ihm verdächtig schien. Er verhandelte über jeden Gast mit einem gewissen Individuum.

»Sie dürfen rauchen«, sagte die Herzogin. Er zündete die hölzerne Pfeife an. Um sieben Uhr erklärte sie:

»Nun ist entschieden keine Gefahr mehr.«

Sir Houston stand auf. Er hatte ziemlich viel Rum genossen, seine Stirn war rot. Beim Abschied sah er zum erstenmal ihr Lächeln und fand, daß sie plötzlich merkwürdig reizvoll sei. Er vergaß, die Hand zu ergreifen, die sie ihm hinhielt; er stand, starrte sie an und entdeckte ganz allmählich, daß er, den Kopf voller Räubergeschichten, die halbe Nacht im Schlafzimmer einer sehr schönen Frau verbracht habe. Es fiel ihm auch ein, daß sie äußerst freie Sitten haben sollte. Er ward ganz feucht und stammelte etwas Schamhaftes.

»Lassen Sie es sich nicht gereuen, Sir Houston«, sagte die Herzogin und schob ihn sanft hinaus.

»Ihre Mama hätte es nicht gern gesehen, wissen Sie.«

 

Lady Olympia und Mister Wolcott erschienen um neun und hatten prächtig geschlafen. Die Herzogin frühstückte mit ihnen; Sir Houston zeigte sich nicht. Sie erklärte, aufs Land fahren zu wollen. Zwanzig Hände arbeiteten in Hast an ihrem Gepäck. Der Wagen stand schon drunten, da trat mit einem riesigen Veilchenstrauß Don Saverio ein.

»Sie hatten mich wohl nicht mehr erwartet?« fragte er unterwürfig.

»Im Gegenteil. Gehen wir da hinein; wir sind allein ... Ich wußte, Sie würden kommen –«

»Um Ihnen zu sagen, Herzogin, daß ich nicht falsch gespielt habe. Ich habe es ... wirklich ... nicht getan. Fragen Sie Mister Williams, er hat gewonnen. Ich ... habe nicht ... betrogen!«

»Sie geben sich zuviel Mühe. Niemand ist mehr davon überzeugt als ich.«

Er ließ den Strauß fallen.

»Aber dann – nein, das ist mir zuviel, solch eine Frau kenne ich überhaupt noch nicht!«

Er biß sich stark auf die Lippen. Sie sahen tiefpurpurn aus, so bleich war er. Seine Blicke flackerten haltlos vor Wut.

»Was soll man mit einer solchen Frau denn tun?«

›Es hat nichts zu sagen‹, dachte die Herzogin. ›Er wird mich nicht töten. Ich kenne ihn jetzt.‹

»Heben Sie die Blumen auf«, befahl sie ruhig und sah ihn an. »So ... Geben Sie sie mir. Ich danke Ihnen ... Im übrigen: das ist der Krieg, nicht wahr? Wären Sie anders mit mir verfahren?«

»Ich kann sagen: ja«, antwortete er entrüstet und stolz. Sie lächelte; wie kurz waren seine bedrohlichen Wallungen!

»Ich glaube kaum«, meinte sie.

»Aber ich liebe Sie ja. Alles, was ich gegen Sie unternahm, geschah, um Sie festzuhalten«, versicherte er, und das Bewußtsein der eigenen Redlichkeit besänftigte ihn. »Sie aber haben nur darum so heimtückisch gehandelt, um mich abzuschütteln. Wenn Sie sich von mir zu trennen wünschten, warum sagten Sie mir nicht einfach mit Ihrer ruhigen, klangvollen Stimme, die mich immer so beglückt hat: ›Mein Freund, meine Liebe zu Ihnen ist erloschen ...‹?«

»Mein Freund, meine Liebe zu Ihnen ist erloschen«, wiederholte sie ausdrucksvoll. Hinter ihren Worten hörte er ihr Lachen rieseln.

»Mit Ihnen ist nicht ernsthaft zu reden«, erklärte er. Er machte ein paar Schritte, die Stirn in Falten und ohne den rechten Mut, nochmals auszubrechen.

»Im Gegenteil. Wir wollen recht ernsthaft reden«, versetzte sie und trat vor ihn hin. »Ich werfe es Ihnen vor, verstehen Sie, ich werfe es Ihnen vor, daß Sie sich haben überlisten lassen. Aber Sie sind ein armseliger Verliebter, nichts weiter. Vorher waren Sie stark, zuweilen bewunderte ich Sie.«

»Sie lieben die starken Männer?« fragte er mit prompter Eitelkeit.

»Nein. Nicht besonders. Aber an Ihnen war schlechterdings nichts zu rühmen als Ihre Unbedenklichkeit. Sie gefielen mir, solange Sie bloß geldgierig waren. Das Gefühl hat Sie mir verdorben ... Verstehen Sie denn nicht? Ich hatte einen Moment, wo ich dachte: ›Ich bin verloren!‹ Ich hielt Sie für den Piselli, der die arme Blà getötet hat. Dann überlegte ich, daß ich ja keine Blà bin. Und Sie ließen mich bald genug merken, daß Sie ebensowenig ein Piselli sind. Sie sind geldgierig, aber wollüstigen Schwächen unterworfen. Die Zusammenstellung gefiel mir nicht: ich verachtete Sie ... Jawohl, das mußten Sie hören ... So einer tötet nicht, sagte ich mir ... Nun, lassen Sie's gut sein, die Hauptschuld liegt an mir, weil ich eben keine Blà bin, die geneigt ist, sich töten zu lassen. Es ist am Ende verzeihlich, daß Sie mich nicht getötet haben. Da –«

Sie reichte ihm die Hand. Er hielt den Kopf gesenkt, schmollend wie ein gescholtener Knabe.

»Unser Krieg ist zu Ende, nicht wahr? Jetzt dürfen wir uns Aufklärungen geben. Wissen Sie, was mich zuletzt gereizt hat? Ihre Artigkeit am Spieltisch. Sie fühlten sich beobachtet, Sie hatten Furcht vor mir, Sie waren vorsichtig! Mich aber hätte es gewonnen, wenn Sie falsch gespielt hätten! Oh, ich hätte trotzdem mit Ihnen gebrochen; aber ich hätte es achtungsvoll getan ... Warum spielten Sie nicht falsch? Sie haben es oft genug getan?«

»Aber nicht heute nacht«, versicherte er hartnäckig und gekränkt.

»Ich weiß, ich weiß. Lassen wir das.«

»Nein, ich verstehe Sie ja«, äußerte er kleinlaut. »Sie wollen, daß man für Sie kämpft, gefährliche Dinge begeht ...«

Er belebte sich.

»Aber ich war ja dabei, Sie zu den größten, kühnsten Geschäften zu benutzen. Warum ließen Sie mich nicht gewähren? Was hätte ich aus Ihnen gemacht!«

»Jetzt entdecken Sie Ihr Herz!«

»Ich wollte Ihr Geld? Ich will es nicht mehr. Hätten Sie alles verloren! Sie würden unter meinen Händen eine große Kurtisane werden; Sie verdienten Millionen ... Ja, ich habe schon von Frauen gelebt, aber ohne rechten Gewinn. Für Sie wollte ich Schätze erobern!«

»Mit dem, was ich verdienen würde?«

»Ich würde Banken gründen, Feenpaläste bauen, ungeheure Vergnügungslokale errichten und noch andere Häuser, die ich nicht nennen will und die sehr viel einbringen ...«

»Ich weiß, Sie hatten schon damit begonnen.«

»Und dieser Turm von Unternehmungen, Reichtümern, Leben – Leben: er sollte auf nichts anderm ruhen als auf Ihrer Schönheit, ja, einzig auf Ihrem Leibe stände er!«

Sie sah bewundernd zu, wie seine Phantasie ihn berauschte. Er lehnte an einem Tischchen aus Ebenholz. Sie stellte sich an die andere Seite und legte ihre Hand neben die seinige auf den dunkeln Spiegel.

»Ich würde aus Ihnen die teuerste Frau machen, die je gelebt hat! Wäre das nicht stolz, wäre es nicht groß?« rief er, dicht an ihrem Gesicht.

»Gewiß«, erwiderte sie.

»Der Glanz Ihres Namens, Ihrer Vergangenheit, Ihres Geistes: alles würde in sehr hohen Ziffern berechnet werden. Ich würde kolossal reich werden – reicher, als sich ahnen läßt. Es ist überhaupt unglaublich!«

»Ich kann mir denken. Und ich?«

»Oh, Sie – Sie sollten es gut haben. Wenn Sie alt und nicht mehr zu brauchen wären, würde ich Ihnen sogar eine genügende Pension aussetzen!«

»Ah!« machte sie, und ihre Lippen blieben offen vor Begeisterung. Plötzlich sah er ihre Hand aus dem dunkeln Spiegel aufflattern wie eine weiße Taube. Im nächsten Augenblick fühlte er ihren Arm um seinen Hals. Er griff nach ihr.

»Du bleibst bei mir! Du kannst gar nicht anders!«

»Oh, ich kann schon anders.«

Sie machte sich rasch los und legte am Trumeau ihren Schleier vor.

»Aber durch das Wort von der genügenden Pension hast du mich davon überzeugt, daß die Bekanntschaft mit dir der Mühe wert war.«

»Also bleib! Verdiene mir Geld!«

»Du vergißt, ich bin reich.«

»Ach ja!«

Er erfaßte mit beiden Händen seinen Kopf.

»Dieser Rustschuk! Solch ein Schurke! Es gibt niemand, den er nicht betröge; aber mit dir verfährt er ehrlich. Wollte er doch mit dem Deinigen durchgehen! Wärest du arm!«

»Es ist ein schöner Traum.«

»Aber du mußt reich sein: welch dummer Zufall!«

»Oh – Zufall. Glaube mir, mein Freund: Geld ist ebenso Bestimmung wie alles übrige. Wer zur Vollendung seiner Persönlichkeit Geld nötig hatte, ist noch niemals arm gewesen. Eine arme Herzogin von Assy ist keine Möglichkeit, die sich ausdenken läßt. Wenn sie ihr Geld verlöre, dann – hätte sie nie existiert ... Du begreifst nicht? Dafür bist du Du ... Und mit dieser Philosophie, Don Saverio, lassen Sie uns unser Zusammenleben abschließen, das immerhin mehr – tätig war als nachdenklich.«

Sie nickte ihm zu, er wußte nicht, ob sie spotte – und sie ging hinaus. Er mußte sich erst besinnen.

An der Tür wartete Prosper, der verschwundene Jäger, in seiner Livree, die Brust heraus, den Hut an der Hüfte. Er sah aus, als wäre ihm nie etwas Unerwartetes zugestoßen und als lebte er nur in dieser Minute und für die Tür, die er aufriß vor seiner Herrin. Die Herzogin ging an ihm vorbei, mit einer ganz leichten Wendung des Kopfes und einem halben Blick über den Alten hin: »Ich weiß ...«

Der Konsul verabschiedete sich am Wagenschlag. Lady Olympia saß neben ihrer Freundin, sie begleitete sie bis ans Stadttor. Die letzten Koffer wurden auf das zweite Fuhrwerk geladen; da trippelte geräuschlos, im schwarzen Kleidchen, ein schwarzes Spitzentuch um den Kopf, blaß und mit gesenkten Lidern, Nana herbei, die geraubte Kammerfrau. Sie murmelte Entschuldigungen.

»Es macht nichts«, erklärte die Herzogin. »Wie hat es dir gefallen?«

»Frau Herzogin werden doch nicht glauben? ... Ich war nur zur Bedienung der Damen da, die im Hause verkehrten – oh, Damen der besten Gesellschaft mit Herren aus ihren Kreisen. Die Herren zahlten alles sehr teuer, obwohl alles schlecht war, sogar die Betten. Frau Lilian Cucuru kam oft und bekam erschrecklich viel Geld.«

Durch einen kleinen Senkblick überzeugte sich Nana, daß sie bei ihren Zuhörerinnen Erfolg hatte.

»Von der Frau Contessa Paradisi könnte ich Geschichten erzählen«, verhieß sie noch.

»Ich werde sie bitten, sie mir selbst zu erzählen«, sagte die Herzogin. »Du kannst mitfahren, auf dem zweiten Wagen ... Aber ihr andern bleibt da.«

Der ehrfürchtige und hinterhältige Schwarm der goldbraunen Betreßten regte durch seine Lebendigkeit die Pferde auf. Die Mägde, untersetzt und großbusig, schlugen sich auf die Hüften. Sie zeigten ihre weißen Gebisse in den warmen Gesichtern, unter dem Turm schwarzer Haare. Die großen blanken Ringe schaukelten in ihren Ohren. Ein magerer Groom bewegte seine ganze, quittengelbe Kopfhaut. Mehrere schlugen immerfort Purzelbaum. Denn alle hatten die Taschen voll Geld.

Don Saverio stürzte aus dem Hause, mit dem Veilchenstrauß.

»Ich danke Ihnen«, sagte die Herzogin, aufrichtig erfreut über alles, was sie sah.

»Es wird Frühling!«

Der Prinz versetzte leichthin:

»Es ist seltsam, Herzogin, aber es kommt mir so vor, als hätte ich mich gewissermaßen zu entschuldigen wegen mancher Dinge, die zwischen uns vorgefallen sind ... Das Ungewöhnliche der Lage ist mir erst vor fünf Minuten aufgegangen; Sie werden verzeihen. Unsereiner, nicht wahr, Herzogin, nimmt in die fragwürdigsten Verhältnisse doch immer die große Welt mit.«

›Wie seine Mutter sie in die Pension Dominici mitnahm‹, dachte sie, und sie erwiderte gemessen seinen formvollendeten Gruß.

Der Wagen begann zu rollen über das glatte, harte Pflaster der schönen Avenue. Aus der Tiefe heraus tollte, sang, bimmelte, witzelte, stank und strahlte die Treppengasse. Sie schrie: »Hoch!«

 


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