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III

Die Prinzessin Friederike bat die Herzogin von Assy mehrmals zu ihrem cercle intime. Da dies nichts half, schickte sie den Kammerherrn Baron Percossini, um ihr freundschaftliche Vorstellungen zu machen. Percossini deutete an, Ihre Königliche Hoheit sei der Meinung, daß die Herzogin sich vom Hofe fernhalte, um dem Thronfolger Versuchungen zu ersparen. Sie wisse ihr für soviel Delikatesse des Herzens unendlichen Dank; doch sei zur Zeit nichts zu fürchten. »Man entzieht Seiner Königlichen Hoheit zeitweilig die geistigen Getränke«, erklärte vertraulich der Kammerherr, »und Seine Königliche Hoheit sind sofort vollkommen inoffensiv.«

Ein anderes Mal erkundigte er sich im Namen der Prinzessin, warum die Herzogin noch niemals zu den Strickabenden bei den Dames du Sacré-Cœur erschienen sei. Es würde so wertvoll sein für sie beide, wenn sie Fühlung miteinander gewinnen würden bei der gemeinsamen Arbeit für das Volk. Percossini setzte skeptisch lächelnd hinzu: »Hiermit meinten Ihre Königliche Hoheit die Suppen und die wollenen Westen.«

Prinz Phili sandte ihr mehrere kläglich lautende Briefe. Er wisse wohl, sie arbeite am Untergang seines Hauses, doch verlange er es gar nicht besser. Wenn sie ihm nur verzeihen wolle!

Der König Nikolaus knüpfte mit der schönen Frondeuse Verhandlungen an, die erfolglos blieben. Er verlieh Pavic und Rustschuk seinen Hausorden. Der Tribun nahm ihn gar nicht an, der Finanzmann schickte ihn nach dreitägigem Seelenkampfe zurück. Sooft ihr Wagen den des Königs kreuzte, begrüßte der alte Herr sie mit nachsichtigem Schmunzeln. Beate Schnaken drückte das Doppelkinn sehr tief in den Spitzenkragen. Ihre Gebärde besagte die herzliche Achtung einer anmutig sich Unterordnenden. Bei einem Konzert des Pablo de Sarasate verließ sie, allen sichtbar, ihren Vorzugsplatz, um ihn der eben eintretenden Herzogin von Assy anzubieten.

Die Gutmütigkeit all dieser Leute erbitterte die Herzogin. Sie wollte Kampf und fühlte sich gelähmt durch das höfliche Wesen von Gegnern, die sich gar nicht wehrten. »Wie lange muß ich euch kitzeln?« fragte sie. »Schließlich will ich euch doch noch wütend sehen! Eure Behaglichkeit widert mich an. So weiche Herren wie ihr dürfen nicht länger ungestört herrschen; es wäre ungerecht. Und sei es nur meine Laune! Ehemals, in Paris, reizte ich den Leopold Tauna so, daß er mich töten wollte. Und ich wußte nicht einmal, wodurch mir das gelang: ich spielte nur. Jetzt will ich auch euch dahin bringen, das ist mein Spiel.« Ihr »Hausjude« hörte manchmal auf, sie zu belustigen, ohne Genugtuung empfing sie die Meldungen von wiederholten Scharmützeln zwischen Bauern und Truppen und von meuternden Regimentern; Pavic' Tiraden machten sie gähnen. Aber dann tauchten aus dem Nebel von Langeweile und Beschränktheit, hinter dem sie versunken waren, die Freunde des Thronfolgerpaares hervor. Sie sah wieder die schwerfälligen Geister sich spreizen und vorsichtig schwanken zwischen Massacres und weiblichen Handarbeiten, und sogleich fühlte sie mit frisch erregtem Blut einen neuen verlockenden Sinn in den Worten Freiheit, Gerechtigkeit, Aufklärung, Wohlstand.

 

Es fanden sich in ihrem Lager die ersten Begeisterten ein, junge Leute aus guten Häusern, die für den Fortschritt schwärmten und für das bleiche, kühne Haupt der Herzogin von Assy. Die ersten Leutnants verrieten ihren Fahneneid und schritten, blaß und entschlossen, zu den kleinen, hochverräterischen Zusammenkünften an der Piazza della Colonna. Allmählich kamen die Klugen, hohe Beamte und Hofleute, denen es nicht länger rätlich schien, ihre Zukunft bedingungslos dem Glücke der Dynastie Koburg anzuvertrauen. War irgendwo im Lande das Militär erfolgreich, so verschwanden mehrere von ihnen.

Früher noch als die Enthusiasten versicherte der Baron Percossini die Herzogin seiner vollständigen Ergebenheit. Jeder Besuch, den er ihr im Auftrage der Prinzessin machte, fügte seinem glatten Treubruche etwas hinzu. Unmerklich, unter lauter obenhin gelispelten Fadheiten, langte er bei Kundschafterdiensten an. Übrigens war die Herzogin sich bewußt, er spioniere ebensogut sie selbst aus wie seine Herrschaft. Er plauderte ihr von den Versuchen vor, die die von ihr Bedrohten endlich zu ihrer Vernichtung unternahmen. Sie erfuhr ohnehin von Freunden an allen Höfen, die Vertreter des Königs Nikolaus führten Klage über sie. Sie erreichten nichts; denn durch ihre eigenen Verbindungen im internationalen Hochadel war die Herzogin besser geschützt als die regierende Familie durch den Willen einiger europäischer Staatsmänner. Die Partei Koburg hatte für sich überall nur die Kabinette, die Partei Assy die Kamarilla. Das Geld Rustschuks wirkte in den fremden Hauptstädten rascher als die aus Zara eintreffenden Depeschen. Auch war der Weltfriede wichtiger als das Schicksal der Nikolaus, Friederike, Philipp, Beate. Von diesen vier erwies Beate sich am stärksten. Sie brach ohne weiteres auf, behufs Gewinnung des Ministers einer Großmacht, der eben in Italien reiste. Es war ein weicher, frommer Herr; fast hätte sie ihn auf die gleiche Weise gerührt wie ehemals den König Nikolaus. Im Augenblick vor seinem Falle besann er sich auf die Pflicht und floh in großen Tagemärschen vor der Verführerin.

Die Herzogin nahm diese Geschichte heiter auf. »Wenn der Mann weniger stark gewesen wäre«, so meinte sie, »was dann? Ich hätte mit dem Fräulein Schnaken in Wettbewerb treten müssen, und alles wäre auf die Frage hinausgekommen: bevorzugt Seine Exzellenz die blonden Haare oder die braunen? Meine Herren, die weibliche Politik ist wenig verwickelt.«

 

Aber die Partei Assy ward stärker und fing an, Fehler zu machen. Der erste war eine jähe Verbesserung der herzoglichen Güterverwaltung. Sie war sinnreich geordnet. Unter einem Generalpächter stand eine Anzahl Pächter, diese verfügten über eine größere Menge Unterpächter, und die einzelnen Unterpächter befehligten ihre Aufseher, die unmittelbar die Bauern beherrschten. Die Aufseher nahmen den Bauern fast den ganzen Erntepreis ab und gaben ihn größtenteils weiter an die Unterpächter, die ihn nach Abzug des ihrigen den Pächtern aushändigten; das meiste davon verabfolgten diese dem Generalpächter. Jeder ernährte also seinen Vorgesetzten, und alle zusammen lebten vom Bauern. Niemand hätte daran Anstoß genommen, nur Rustschuk fand den Generalpächter zu wohlhabend und zu einflußreich: sie hatten sich an der Börse hassen gelernt. Er stachelte mehrere Anhänger der Herzogin gegen das Latifundiensystem auf. Pavic lieh ihnen seine Beredsamkeit. Die Herzogin war freudig überrascht. Eine kraftvolle Handlung machte es ihr möglich, im eigenen Hause die Gerechtigkeit einzuführen. Ein sanguinischer Federstrich beseitigte das ganze Heer der Pächter. Acht Tage darauf brannten überall in Dalmatien die Rebstöcke, die Ölbäume fielen über Nacht in Splitter. Die kleinen Entlassenen stifteten Unruhen auf dem Lande, in den Städten lärmten die größeren. Was ihnen von der Ernte blieb, mußten die Bauern an den Ring der Pächter verschleudern; diese bedrohten die Käufer. Die Einnehmer, die den Gewinnanteil der herzoglichen Kasse eintreiben wollten, wurden mit Steinwürfen und Flintenschüssen empfangen.

Die Herzogin konnte sich nicht genug wundern.

»Das Volk bleibt ein Rätsel. Offenbar ist es gewöhnt, ausgebeutet zu werden, und will keine Gerechtigkeit. Wieviel durfte es früher vom Ertrage seiner Arbeit behalten?«

»Kaum ein Zwanzigstel.«

»Ich überlasse ihm die Hälfte, und es wirft mit Steinen. Was würde es tun, wenn ich ihm das Ganze schenkte?«

Rustschuk lächelte geistvoll:

»Hoheit, das wäre unser aller Tod.«

Bei dem von den weggeschickten Beamten in der Presse erregten Sturm spritzte manches schmutzige Wasser auf. Neugierige Zeitungsmenschen, die, von ihren Rädern mit Kot besprengt, in die Tiefe ihres Wagens danach lugten, welche Boutons sie heute trage, nannten die Herzogin von Assy eine Deklassierte. Ihr Umgang mit Pavic und Rustschuk deklassiere sie. Pavic beging die Ungeschicklichkeit, sie deswegen um Entschuldigung zu bitten. Sie hob die Schultern:

»Welches ist denn meine Klasse?«

Sein eigener Verkehr konnte ihr unmöglich Schande bringen, davon war Pavic überzeugt. Bezüglich ihres Verhältnisses zu Rustschuk stand seine Meinung nicht ganz so fest. Er stellte ihr anheim, einen andern Finanzier zu berufen, zum Beispiel den entlassenen Generalpächter; damit wäre manches wiedergutzumachen. Sie zeigte sich nicht geneigt.

»Ich will alles tun, was ich zum Wohl des Volkes gutfinde. Aber was kümmert es das Volk, mit was für Leuten ich mich umgebe?«

Sie wies auf den hohen, schlanken Hund, der sie gelassen ansah.

»Soll ich mir den Charmant wegnehmen lassen? Ebensowenig darf das Volk verlangen, daß ich meinen Hausjuden abschaffe.«

 

Er sollte sie noch manches kosten. Rustschuk hatte eine Mätresse vom Theater, und diese hegte den Wunsch, ihren rechtmäßigen Gatten, einen beliebten Schauspieler, im Irrenhaus zu sehen. Der Finanzmann wußte dies den Ärzten einleuchtend zu machen. Unglücklicherweise sickerte es einige Zeit später ans Licht, daß der internierte Mime vollständig gesund war. Beate Schnaken, vom Schicksal des Kollegen gerührt, enthüllte ihrem königlichen Freunde alle dunklen Machenschaften. Die Befreiung des Opfers und sein erstes Auftreten auf der Hofbühne ward ein Triumph für sie und für das regierende Haus, eine Niederlage für die Herzogin. Ein antisemitisches Stück wurde aufgeführt, in dem der Zurückgekehrte die Rolle des zwangsweise Geisteskranken spielte. Der Intrigant trug die Maske des Rustschuk, und es fielen böse Andeutungen über eine hohe Dame, die hinter dem allen stecke. Das Volk jubelte fünfzig Abende hintereinander auf vollen Bänken; es war ein umfangreicher Skandal. Beate, die edle Retterin, wurde stürmisch begrüßt bei jeder Ausfahrt. Die Herzogin begegnete überall kalten Blicken, und Rustschuk, der sich nirgends sehen lassen durfte, stellte betrübte Berechnungen darüber an, welche Unsummen nötig sein würden, diese Kälte zu besiegen.

 

Pavic arbeitete wie ein Besessener; doch die Polizei hatte Mut gefaßt, sie schloß ihm den Mund. Er hörte wieder wie ehemals in der Ferne ein Kerkertor knarren. Auch die Soldateska zeigte gewalttätigere Neigungen. Im Winter kam es in der Nähe von Spalato zu einer förmlichen Schlacht. Die Rache der Pächter hatte dort Hungersnot bewirkt. Das wütende Volk ging mit Sensen und Bratspießen dem Militär zu Leibe. Dieses verlor einige fünfzig Mann, aber es tötete oder verwundete die doppelte Anzahl Bauern.

An einem Sonntag kam die Kunde nach Zara. Der Himmel hing düster herunter. Es fuhren fast keine Wagen in den Straßen. Eine schwarz gekleidete Menge schob sich zwischen den Häusern fort und flüsterte nur; man vernahm das Rauschen der Brunnen. Der Scirocco schlich faul, schwül, mutlähmend über den Köpfen hin.

Unversehens, wie nach schweigender Übereinkunft, gelangten alle auf die Piazza della Colonna und blieben dort versammelt, still, traurig und widerspenstig. Plötzlich stand Pavic auf einem umgestürzten Handwagen, mit dem Rücken an der zweitausendjährigen Säule, und begann zu sprechen. Zum zweiten Male seit vielen Wochen begleitete wieder das Murmeln erregbarer Gemüter seine Worte. Er fühlte wieder die Herzen der Seinigen ihn warm umzittern und war glücklich. Da kam im Laufschritt durch die engen Gassen eine Infanteriekolonne daher. Am Eingang des Platzes machte sie halt, pflanzte die Bajonette auf und rückte langsam vor. Das Volk wich zurück, quoll zur Seite auseinander und zerstreute sich in die Straßen. Nur um die Säule herum staute sich ein Haufe, vom Militär eingeschlossen, durch die Rednertribüne behindert. Die hereindringenden Stoßeisen warfen alles um. Eins richtete sich drohend gegen die Brust eines ratlosen Alten. Es war der Vater eines dort unten erschlagenen Kriegers, er sah noch nichts vor den Tränen, die Pavic' Rede ihm in die Augen getrieben hatte. Er schien verloren. Pavic beschwor, die Hände ringend, laut seine Angreifer. Aber er verstand, was die blaß zu ihm erhobenen Gesichter von ihm verlangten. »Rette den Alten!« stand auf allen. Er fuhr zurück: sein Blick hatte den der Herzogin getroffen. Sie lehnte in ihrem Fensterrahmen und sah ihn starr an. Sie öffnete den Mund und schrie Worte, die in einem Angstruf des Volkes untergingen. Pavic kannte dennoch jedes von ihnen: »Spring hinab! Decke den Alten!« so befahl sie. Der Alte lag schon am Boden, mit etwas Blut auf dem zerrissenen Hemd. Pavic, leichenfahl, griff sich ans Herz. Dann drang eine jähe Purpurröte durch seine zarte Haut. Hastig kletterte er von seinem Piedestal, erfaßte den Knaben, der hinter ihm an der Säule kauerte, und verschwand im Portal des Palais Assy.

Rustschuk ward inmitten einer Rotte Zuschauer von zwei grinsenden Unteroffizieren festgehalten. Sein Bauch schlotterte; er wies mit peinvoll zappelnden Gliedern, den harten Hut im Nacken, auf den vorübereilenden Tribunen, plappernd in übermäßiger Angst:

»Der dort hat alles allein getan, glauben Sie mir doch, meine Herren! Ich bin ein schlichter Kaufmann ... Überhaupt habe ich mit der Dame gar nichts zu tun!«

Pavic stieg langsam, gesenkten Hauptes die Treppe hinauf. Ihm war es zumute, als stellte er sich nach einer Schandtat dem Gericht. Der Alte hatte geblutet! Pavic erschauerte tief, sobald er es sich vorstellte. Er gedachte der Herren Paliojoulai und Tintinovitsch, jener durchgeprügelten Eindringlinge. Oh, er hatte es nicht, wie die Herzogin meinte, eigenhändig getan. Er hatte es niemals übers Herz gebracht, ihr zu gestehen, daß sein Diener es gewesen war, ein riesiger Morlak, der die feinen Hofleute windelweich schlug. ›Ja, als sie gingen‹, so dachte Pavic, verloren in einem Bilde des Entsetzens, ›da troff es rot von ihren Stirnen!‹

»Und ich bin doch ein starker Mann!« murmelte er vor der Tür des Boudoirs. Sie kam ihm rasch entgegen. Er sagte unsicher:

»Hoheit, es ist nur ein Opfer zu beklagen.«

»Nein zwei: der Bauer und Sie!«

Er zuckte zusammen und schlug die Augen nieder. Sie stand so bleich, in so schwarzen Haaren und so starr wie an dem Tage, da er sie vergewaltigt hatte als ein empörter Sklave. Heute war sein Gewissen noch schlechter.

»Daß ein Bauer gespießt wird«, versetzte sie, »ist ein belangloser Zufall. Aber meine Sache verlangte, daß Sie ihn retteten.«

»Hoheit, ich bin auch Vater.«

»Oder, wenn Ihnen das näherliegt: Sie lassen sich von der Liebe des Volkes mit Romantik umgeben, aber für einen Bauern, der gespießt wird, rühren Sie keine Hand.«

Er faßte den Knaben, der an seinen Rockschößen hing, und schob ihn ihr unter die Augen.

»Hoheit, ich bin auch Vater.«

»Ach ja, immer das Kind! Sie langweilen mich unsäglich mit dem Kind. Können Sie ihm keine Bonne halten?«

»Ich liebe es sehr ...«

Er fügte nachdenklich, fast verwundert, wie eine Erkenntnis, die ihm im selben Augenblick aufging, die Worte hinzu:

»Gerade das gefällt dem Volk ...«

»Dann wählen Sie zwischen mir und dem Volk!«

»Hoheit! Ich sollte also mein Kind zur Waise machen und ... und ... mich opfern?«

»Ist das nicht selbstverständlich?«

Sie wandte ihm den Rücken. Er rang nach Luft. Kannte sie denn gar kein Erbarmen? Er begann Beteuerungen zu stammeln.

»Mich opfern ... Ja, gewiß, ich opfere mich. Aber muß ich mich von betrunkenen Soldaten zerfleischen lassen? Gibt es kein würdigeres Opfer? Hoheit, ich bringe täglich Opfer des Geistes und des Herzens. Mich und mein Wort hetzen die Gewalten wund. Ich werde noch mit blutenden Augen der Qual meines Volkes zusehen müssen – durch die Gitterfenster des Kerkers. Hoheit, ich saß schon einmal im Kerker ...«

Er wartete vergeblich auf Antwort.

»Wer opfert sich denn gleich mir? Ah! Rustschuk! Frau Herzogin, hören Sie, Rustschuk – wissen Sie, wie ich ihn eben noch getroffen habe? Drunten, zwischen zwei Unteroffizieren – und er verleugnete Sie! Er schob, toll vor Feigheit, alles auf mich, und Sie, Frau Herzogin, verleugnete er laut!«

Sie zuckte die Achseln.

»Rustschuk! Er versteht etwas von Geldsachen. Weiter verlange ich nichts von ihm.«

»Keine Ehre? Man möchte die Leute, mit denen man umgeht, achten können.«

»Ich habe das nicht nötig ... Rustschuk ist wegen des Geldes da. Sie, Herr Doktor, sprechen von Freiheit. Er darf als Wucherer leben, Sie mußten als Freier –«

›Sterben‹, so sprach er in Gedanken zu Ende. Er wagte ihr nicht nachzusehen, wie sie hinausging. Er hatte sich dem Gericht gestellt und war verurteilt.

Draußen fing eine ohnmächtige Sucht nach Wiedervergeltung in ihm zu brüten an. ›Schließlich habe ich sie doch besessen!‹ sagte er sich und ballte die Faust in der Paletottasche. ›Es war falsch, daß ich damals Reue zeigte! Ich hätte sie demütigen sollen, ihr klarmachen, daß das Geschehene besteht und niemals verlorengehen kann! Tut sie nicht, als sei gar nichts vorgefallen?‹

Er machte sich vergeblich Mut: ihm selber war es, als sei gar nichts vorgefallen. Es war ihm unmöglich, sich die Herzogin von Assy noch einmal in seinen Armen zu denken. Und jetzt erst quälte ihn die Lust. Damals war es ein unvorhergesehenes Wagestück gewesen, ein berauschter Tribunenerfolg.

 

Pavic genoß nur halb all das Große, das jetzt eintrat.

Am fünfzehnten Januar ward die Schutzheilige der Diözese Zara durch eine Prozession geehrt. Der Zug bewegte sich vom Dom der heiligen Anastasia durch die lange, gerade Straßenlinie bis zum Sankt-Simons-Platz. Eingebogen auf die Piazza Colonna, machte der Klerus halt, um die Zurückgebliebenen nachrücken zu lassen. Den Mönchen und den geschmückten Schulkindern folgte eine Abteilung Militär. Dahinter gingen städtische Korporationen, und auf ihren Absätzen marschierten wieder Soldaten. In feierlichem Abstände schwankte der Baldachin des Erzbischofs daher; er schritt zwischen zwei Vikaren. Nach ihm kam als Vertreter des Königs Nikolaus Prinz Phili, barhäuptig inmitten seines Hofstaates. Abermals stampften Infanteriereihen das Pflaster. Und eine ungeordnete Menge verstopfte, unablässig nachdrängend, die Zugänge des weiten Platzes.

Man wartete; die Geistlichen hörten auf zu singen. An ihrer geöffneten Terrassentür, abseits von ihren Gästen, stand die Herzogin von Assy. Kaum drei Minuten vergingen, bis alle, so viele ihrer den Raum füllten, den Blick zu ihr erhoben hatten. Zuletzt merkte der Erzbischof, wie es ringsumher still ward, und sah lächelnd hinauf.

Da liefen von dahinten, wo ein letztes Gebetemurmeln versiegte, andere Laute durch die langen Menschensäulen. Es war ein Ruf, der die Bürger und die Krieger ergriff. Sie einigten sich in ihm, ihre Reihen vermischten sich, und sie versprachen sich mit Händen und Augen, keiner wolle ferner seine Söhne hinausschicken, um auf die Väter der andern zu schießen; keiner wolle die Faust gegen den uniformierten Sohn eines Freundes erheben. Die Trauer der jüngsten Ereignisse hatte plötzlich alle der Sache jener Frau zurückgewonnen; sie riefen: »Es lebe die Herzogin von Assy!« Sie riefen es mit Feuer, manche unter Schluchzen.

Die Rechte auf der Brüstung des Balkons, sah die Herzogin auf die tausend zurückgebogenen Gesichter hinab, die die Sonne verklärte. Die Banner der Kirchen und Klöster erfüllten die blendende Luft mit dem Prunk ihrer Goldstickereien. Das rotgoldene Zeltdach des Kirchenfürsten stieg wie die Wiege eines Gottes vom blauen Himmel herab. Die Helme blitzten. Zarte Engelsflügel schimmerten an den Schultern kleiner Mädchen, die der Herzogin mit den Fingern Küsse zuwarfen. Das Volk schnellte Arme, Mützen und Liebesschwüre zu ihr in die Höhe; es jauchzte und wogte bunt. Plötzlich flammte ein Degenstahl auf: in der Umgebung des Prinzen hatte ihn jemand gezogen. Gleich darauf grüßten alle Schwerter; es war wie der Flug eines Silbervogels durch das Mittagslicht. Phili selbst sandte Kußhändchen hinauf, gleich den Schulkindern.

Die Herzogin verneigte sich; die Sonnenstrahlen glitten über ihre schmalen Schultern. Die Prozession zog weiter, sie sah ihr zu in einem gelassenen Machtgefühl.

Sie war damals einundzwanzig. Von der Wölbung des schwarzen Haars, das in schwerer Welle zurückgeschlagen war, fiel auf ihre Stirn ein bläulicher Schatten. Im Nacken bogen sich die vollen Flechten. Die Brauen zogen schwache Linien, der Mund lag unbestimmt da, mit leise aufeinandergeschmiegten, blaß gefärbten Lippen. Aber das Kinn und die Biegung der feinen, großen Nase sagten entschiedene Dinge. Der Kopf war farbenarm, doch reich vom Silberzauber des Lichts. Sie hob die breiten Lider: ein fester, stahlblauer Glanz fand den Weg fernher, von großen Meeren.

Pavic zeigte sich hinter ihr, in Frack und weißer Halsbinde, unbeweglich und ein wenig unaufmerksam, als ein Schöpfer, der nicht geruht, merken zu lassen, das alles sei sein Werk. Er zerbiß sich die Lippen und legte zwei Finger an die Nasenwurzel, gegen die Blendung oder gegen den Druck eines trüben Gedankens. Alle Fenster der zwei herrschaftlichen Stockwerke waren von den Freunden der Herzogin besetzt. Rustschuk, von schönen Frauen umringt, verbeugte sich unermüdlich. Er tupfte sich mit dem gelbseidenen Schnupftuch elegant auf den Mund; er zog die Camelia aus seinem Knopfloch und warf sie unter das Volk.

Den ganzen Tag wurden die Salons des Palais Assy nicht leer. Hunderte trieb es heute an, sich der mächtigen Dame ins Gedächtnis zu rufen. Andere hundert waren erst heute von der Notwendigkeit durchdrungen, zu wählen zwischen den Koburg und ihr. Sie bestellte alle auf denselben Abend; sie wollte noch am gleichen Tage bei einem umfassenden Rout die Parade der Ihrigen abnehmen. Es gab eine Überfülle zu tun, sie griff nach dem ersten besten, um ihn auf Botengänge zu schicken. Einmal, als sie das Vorzimmer öffnete, fiel ihr ein riesiger Offizier entgegen. Er verbeugte sich rasselnd.

»Major von Hinnerich!«

Dieser treue, strenge Mensch, der gute Engel des armen Phili! Sie war doch überrascht, ihn hier zu finden. Kam er ehrlichen Herzens? Einen Augenblick zögerte sie. Aber von Hinnerich sah sie mit rotem Gesicht, bärbeißig und zutunlich an. Er strömte Mannentreue aus. Er hatte lange mit sich gekämpft; jetzt war er ihr gewonnen, unverbrüchlich. Sein Glück hatte gewollt, daß seine Begeisterung für die Herzogin von Assy gerade an dem Zeitpunkt durchgebrochen war, wo ihre Sache am günstigsten stand.

 

Empfangsabende wechselten jetzt mit Bällen ab, unablässig. Das Palais Assy lieh allabendlich seinen roten Festglanz der ganzen Stadt. Rustschuk, der früher Revolten bezahlt hatte, kaufte nun dem Volke einen beständigen Freudenrausch. Musik zog durch die bunt beleuchteten Straßen, der Wein floß kostenlos in den Schenken, im Hafen glitten bekränzte, bewimpelte Kähne durch die glückliche Nacht. Niemand konnte sich erinnern, daß die Welt je so schön gewesen wäre; nur ein paar sehr Alte meinten, es sehe aus, als sei die Republik Venedig wiedergekehrt.

Auf der Piazza Colonna lagerte beim Schmause eine dankbare Menge und schaute zu, wie die Wagen der Gäste heranrollten. Über die Stufen des Portals ging immerfort Seidenrauschen und Degenklirren. Prinz Phili trieb sich ohne Begleiter in der Umgegend herum und hielt die Leute an, um tränenden Auges nach den Vergnügungen im Hause seiner Feindin zu fragen. Warum er nicht dabeisein dürfe! Er könne sich ja gar nichts Lieberes denken, als von solch einer Frau depossediert und in den Kerker geworfen zu werden!

Die Freunde der Herzogin trafen, um sich die dalmatinische Revolution anzusehen, aus Paris und Wien ein, als führen sie zu einem Derby oder zu einer Premiere. Sie gerieten in einen Tanzsaal, wo niemand an die nahen Ereignisse zu denken schien. Die Herzogin selbst besann sich zuweilen darauf. Sie spürte dabei denselben leichtfertig prickelnden Vorgeschmack des Triumphs wie sonst, wenn sie eine alte Marquise im Whist besiegte. Sie hatte dann die entscheidende Karte noch einen Augenblick in der Hand behalten und der ratlosen Greisin zugeblinzelt. So blinzelte sie jetzt, des Ausgangs der Dinge gewiß, nach dem Königsschlosse hinüber, wo Nikolaus und Beate, gänzlich vereinsamt, durch die schlecht beleuchteten Säle irrten. In einem Winkel fror Friederike.

 

Bei einem Frühstück in engem Kreise hörte die Herzogin ganz entzückt dem türkischen Gesandten Ismael Iben Pascha zu; der beleibte, lebenslustige Mann plauderte von der Rechtspflege in seinem Lande.

»In Smyrna wird mir ein Schwarzer vorgeführt; er ist wie ein Narr aus einer Moschee herausgesprungen und hat einem zufällig vorübergehenden Europäer ein langes Messer in den Bauch gerannt. Er rollt weiße Augen und schwört, der Prophet habe ihm im Gebete befohlen, den ersten Ungläubigen, der ihm begegne, zu töten. Ich erwidere: ›Und mir befiehlt der Prophet, dich aufhängen zu lassen!‹«

Der Gesandte leerte ein Glas Sekt.

»Was wollen Sie, Hoheit, gegen den Propheten hilft nur der Prophet. Und ein rasches Urteil ist besser als ein weises. Eine arme Frau soll Milch getrunken haben, die ihr nicht gehörte. Ich sage nur: ›Aufschneiden!‹«

Pavic, der an der andern Seite der Tafel saß, ward auf einen kleinen, jungen Lakaien aufmerksam. Die andern schlichen mit Platten und Flaschen geschäftig um den Tisch, jener aber stand ungeschickt da, horchte auf die Gespräche und ließ den Blick nicht vom Gesicht der Herzogin. Aus einer Schüssel, die er schief hielt, tropfte Soße auf den Teppich. »Sie!« raunte der Hausfreund verweisend. Der Diener sah ihn an, und Pavic zuckte heftig zusammen. War das ... das war Prinz Phili! Er wandte sich nach seinen Nachbarn um, keiner hatte etwas bemerkt. Da faßte er den kleinen Lakaien recht fest ins Auge. Gewiß, das waren die hilflosen Bewegungen des Thronfolgers, das waren auch seine Züge, nur die Haare fehlten auf den blassen Wangen. Pavic warf sich plötzlich in die Brust, sein gestärktes Hemd krachte; er hielt sein Glas hin. »Sie!« Und er ließ es von dem jungen Menschen füllen.

Kurz darauf war der Lakai verschwunden. Pavic ward nachträglich von Zweifeln befallen, die ihm keine Ruhe ließen. Er mußte mit irgend jemand über die Sache reden. Man lachte ihn aus: Prinz Phili als Bedienter! Ob er denn an Gesichtstäuschungen leide. Aber Pavic wollte vom Thronfolger bei Tische bedient worden sein; er war nicht geneigt, sich dies nehmen zu lassen. Am nächsten Tage glaubte es die halbe Stadt. Man erfuhr auch, daß der König Nikolaus die Geduld verloren und seinen Erben geohrfeigt habe. Phili blieb geraume Zeit unsichtbar. Als er wieder zum Vorschein kam, war sein Bart noch sehr kurz.

Die Geschichte ward viel zu stark gefunden, sie brachte manchen zur jähen Erkenntnis der Lage. Das Spiel, das die Herzogin und ihre Leute mit der bewährten Dynastie Koburg, mit dem ehrwürdigen König Nikolaus trieben, galt nun als unwürdig. Viele verließen die Partei Assy.

 

Sodann folgte der Zwischenfall mit dem jungen Brabanzine. Dieser achtzehnjährige Edelmann hatte gerade die klösterliche Erziehungsanstalt verlassen und saß in einer Vorstellung von Frou-Frou. Beate Schnaken betrat ihre Loge: das Geschick des Jünglings war entschieden. Er suchte sie auf und stammelte zu ihren Füßen seine erste, ungeschickte Begierde. Beates reifes Herz trank dankbar dieses seltene Elixier; doch konnte sie unmöglich einem jugendlichen Stürmer zuliebe von ihren langjährigen Grundsätzen abweichen. Innerhalb der Landesgrenzen durfte nichts vorkommen. Sie verständigte hiervon ihren Verehrer mit dem Hinzufügen, zu einer Reise ins Ausland lasse ihr die Politik keine Zeit.

Zwei Tage später ertrank der arme Brabanzine bei einer Bootfahrt. Gleichzeitig erhielt Beate Schnaken von ihm einen Brief, den sie im ersten Schmerz ihrer Umgebung zu lesen gab. Dieses beklagenswerte Ereignis brachte es erst wieder allen zum Bewußtsein, wie sympathisch Beate sei. Am Grabe ihres unglücklichen Liebhabers wurde sie von seiner Mutter in die Arme geschlossen. Sie trug dabei einen großen schwarzen Kreppschleier, und die Musik spielte etwas aus einer Oper. Die gemeinsamen Tränen der beiden Frauen, der Mutter des jungen Mannes und der Geliebten, um deretwillen er gestorben war, kamen jedermann unsäglich rührend vor. Sie gewannen der Dynastie Koburg unzählige Neigungen zurück.

Die Herzogin begriff Beate vollkommen; nur die Mutter war ihr unverständlich. Sie zog sich innerlich fremd und feindlich zurück von solcher melodramatischen Seelengüte, bei der mit dem Zorn auch der Stolz abdankte und bei der den Toten ein Unrecht geschah. Sie sprach es aus und wurde für neidisch gehalten.

Indessen war sie der Meinung, ihr Glück sei über solche Wechselfälle längst hinausgewachsen. Es beunruhigte sie gar nicht, wenn sie unzufriedene Gesichter im Volke sah. Sie nahm sich vor, ihm gelegentlich in aller Freundlichkeit die Wahrheit zu sagen.

 

Ende Mai verbrachte sie einige Morgenstunden im Harem des Paschas, bei Madame Fatme, seiner Gemahlin, an der sie ein oft befremdetes und oft verwandtes Wohlgefallen fand. Fatme war ein Kind, das in Pariser Toiletten mit sich selbst wie mit einer Puppe spielte: in ihrem innersten Bewußtsein behielt sie immer weite, seidene Beinkleider an. Sie träumte scheu und lüstern von allen Männern, denen sie in der Gesellschaft begegnete, und hielt alle frei einhergehenden Frauen für Hetären. Sie war überaus volkstümlich gesinnt und kannte unter Menschen keine Abstände. Ein türkischer Bettler hockte am Wege, wo die Herzogin von Assy und Prinzessin Fatme vorüberkamen. Er aß eine Schüssel Bohnen und sagte grüßend sein gewohntes heimisches »Sei mein Gast!«. Die Prinzessin hatte Hunger, das Gericht duftete nach gutem Öl. Sie ließ es sich reichen und führte den Löffel des Bettlers an den Mund. Sie legte keinen großen Wert auf Menschenleben und hielt es für wichtiger, daß ein jeder zu seiner Unterhaltung alles tue, was er könne. Sie erzählte ihrer Freundin:

»In Smyrna hatte mein Mann eine Menge kleiner Mamelucken, die im Palast aufwuchsen. Und auf der Balustrade unseres Balkons standen große Marmorkugeln. Manchmal ließ der Pascha die Mamelucken auf den Balkon kommen und maß sie. Wer niedriger war als die Marmorkugeln, bekam ein Goldstück. War aber einer höher, dann: – Kopf ab.«

Sie zwitscherte hell.

»Das Spiel hatte mein Mann selbst erfunden.«

Die Herzogin blieb ernst. Sie sann, und sie fand nicht, ob solch gleichgültiges Hantieren mit dem Tode scheußlich sei oder groß.

Es war warm. Die beiden Damen saßen in Wolken von süßem Rauch auf niedrigen Diwans, drei alabasterne Stufen über dem Parkett. Das Zimmer hatte kein Fenster, die Tür stand offen auf den grell besonnten Hof hinaus; es hingen Rosenranken davor, die der Eintretende zurückschlagen mußte. Draußen schlichen fettig schwarze Mohren, rote Binden um die Lenden, über die Marmorplatten. Sklavinnen, weißer als die Säulen, hinter denen sie vorbeiwandelten, und in mattfarbenen Seiden sich wiegend, trugen auf den Köpfen bronzene Schalen, an deren Rand sie eine Hand legten. Der gestreckte Arm schimmerte mit gewölbten Muskeln. In den Achselhöhlen glitzerte es goldig. Eine von ihnen brachte auf Schalen aus Lapislazuli Seker Lokoum und Rachat Lokoum, köstliche »Bissen der Ruhe«, die auf die Zunge, wo sie schmolzen, einen milden Vorgeschmack des Paradieses legten. Eine andere hinterließ, auf rosigen Zehen rasch durch das Zimmer gleitend, wundersame Wohlgerüche; sie schienen aus ihren Fingerspitzen zu sprühen.

Die Herzogin befand sich wohl in diesem vergessenen Winkel, wo Farben, die wie in künstlicher Sonne standen, und tanzmäßig abgemessene Bewegungen sich traumselig vermischten. ›Wenn draußen nicht so vieles zu tun wäre!‹ dachte sie plötzlich. Ihre Freundin seufzte.

»Fatme ist recht unglücklich. Ihre Sehnsucht wird nie gestillt.«

»Was für eine Sehnsucht, kleine Fatme?«

Die Türkin raunte ihr ins Ohr:

»Neulich habe ich einen Mann hier gehabt!«

»Nicht möglich. Wen denn?«

»Zwar nur Prinz Phili. Weil er gerade keinen Bart hatte, weißt du. Ich hatte ihn angezogen wie ein schönes Mädchen. Ich dachte an den Pascha und erstickte fast vor Vergnügen. Aber, nun natürlich – er hat versagt. Endlich ein Mann im Harem, und da versagt er!«

»Phili hat ... versagt?«

»Ganz und gar.«

»Wie schade. Also ein anderes Mal. Hast du es denn durchaus nötig, deinen Mann zu betrügen?«

»Er hat ja behauptet, im Harem würde es mir nie gelingen. Muß mich das nicht kränken? Und er selbst gibt das, was mir gehört, allen Sklavinnen. Ah! Ich gewöhne es ihm noch ab. Sieh dir einmal die große Blonde an, dort drüben bei der Palme. Sie ist neu, sie gefällt dem Pascha. Vorgestern nachts will er zu ihr, er schämt sich und schleicht im Dunkeln. An der Ecke des langen Ganges, wo sie alle schlafen, passe ich ihm auf und setze ihn, mit einem Stoß, gerade in den Brunnen hinein. Er prustet und schreit. Als die Eunuchen mit Lichtern kommen, bin ich längst in meinem Bett. Und ihm, du begreifst wohl, war alle Lust vergangen.«

Die Herzogin stellte sich den hilflosen Mann vor, auf dessen liebeglühenden Wanst der Springquell niederplätscherte. Sie lachte schallend, unerschöpflich.

»Früher waren wir nicht so harmlos«, erklärte Fatme. »Wir duschten nicht, sondern gaben Gift. Kennst du die Alte, die im Hofe sitzt?«

Eine flitterbunt behangene Alte kauerte gekrümmt in der Sonne, die gelben Füße über einem silbernen Kohlenbecken. Sie wackelte beängstigend mit einem entfleischten, enthaarten Schädel, von dem der Unterkiefer herunterklappte.

»Das war die große Suleika, des Paschas Mutter. Wie viele Nebenbuhlerinnen hat sie wohl vergiftet, damit sie ein Kind bekommen und ihr Kind Pascha werden konnte! Und ob sie Männer im Harem gehabt hat! Keiner hat etwas verraten, denn am Morgen schlug sie ihm den Kopf ab.«

»Immer den Kopf ab«, sagte achselzuckend die Herzogin und verabschiedete sich.

Wie sie am Gemüsemarkt vorbeifuhr, war eben ein Mörder abgeführt worden. Das Volk stand in dichten Gruppen umher und erzählte sich, was geschehen war. »Der Bäcker zahlt ihm seinen Lohn aus. ›Zwei Franken zehn‹, sagt er. ›Ich soll doch zwei Franken fünfzehn haben?‹ – ›Nein, zwei Franken zehn‹, sagt der Bäcker. Da zieht er seinen Revolver und schießt den Meister mausetot.«

Die Pferde der Herzogin mußten im Schritt gehen. Man reckte die Hälse nach ihr. Einige zogen die Mützen, aber andere machten augenfällig kehrt. »Schreit doch Hoch!« rief ein biederer Arbeiter. Ein paar Leute schrien, aber die meisten schwiegen mürrisch. Ein breiter Morlak, dem möglichenfalls die geschenkten Mittagessen nicht gut bekommen waren, sagte langsam und laut: »Der Teufel hole dich, Mütterchen!«

›Ich will doch einmal sehen‹, dachte sie und ließ den Wagen halten. Einen Augenblick mußte sie sich besinnen. Sie kam aus einem farbenreichen Stilleben, wo unter Wollustseufzern und Dolchklirren Befehle ergingen an schöngewandete Sklaven. Unmittelbar darauf wollte sie ein Gewühl abgerissenen Packs die Freiheit lehren und es mitreißen zu einer Staatsumwälzung. In Haar und Kleidern noch die Düfte des Harems und seine Träume noch in den Augen, begann sie ihre Volksrede.

»Ich habe gehört«, sagte sie über die Köpfe der Hörer weg und mit leichtem Widerstreben, »daß ihr jetzt manchmal unzufrieden mit mir seid. Ihr habt aber nicht das geringste Recht dazu ...«

»Nein, gewiß nicht«, lallte ein Betrunkener und schwenkte eine Flasche. Seine Nachbarn feixten. Die Herzogin sprach weiter:

»Man meint es gut mit euch. Ich werde euch immer nur geben, was für euch paßt. Ob sonst etwas vorgeht, ob junge Herren ertrinken oder andere sich die Bärte abschneiden, darum solltet ihr euch nicht kümmern, dieweil euch das gar nichts angeht. Laßt euch doch ruhig führen, nachzudenken braucht ihr überhaupt nicht.«

Aus den angrenzenden Gassen liefen Neugierige herbei, der Platz füllte sich. Die städtisch angezogenen jungen Leute grinsten. Die Begeisterten klatschten in die Hände und verstärkten dadurch das Murren der Übelwollenden. Zum Glück waren in der Menge viele von Pavic' Getreuen und manche, die im Solde Rustschuks standen. Auf allen Punkten des Marktes erhob sich, pflichtgetreu und aus voller Kehle, ihr Geschrei:

»Wir lieben dich! Lebe lange!«

Die Herzogin begann nochmals, ungeduldig, doch nicht unfreundlich.

»Übrigens verzeihe ich dem Volke, wenn es sich unsinnig benimmt. Ich weiß ja, Dummheit, Aberglaube und Trägheit sind an allem schuld. Was kann zum Beispiel jener, der den Bäcker umbrachte, für seine Tat? Man muß euch erziehen ...«

Sie kam nicht weiter. Die Entrüstung des moralisch empfindenden Volkes brach los.

»Ein Mörder! Was ein Mörder dafür kann?! Du weißt gewiß nicht, was du redest!«

Die vom Lande brüllten fassungslos durcheinander. Die Schlingel aus der Stadt stießen schrille Pfiffe aus. Die bezahlten Beifallspender waren verstummt, überall herrschte Ehrlichkeit. Vor beiden Türen des Wagens stauten sich Haufen drohender Gestalten, die die Finger ausstreckten:

»Da seht die an, was ihr nur einfällt, der Vornehmen!«

Von ihren Kissen herab blickte die Herzogin umher, sehr erstaunt. Vorne fuchtelten zwei Erbitterte mit blanken Äxten, gerade über den Köpfen der Pferde. Die Tiere scheuten; der Kutscher hieb auf sie ein. Er meinte es gut mit seiner Herrin und entführte sie im Galopp.

 

Am Nachmittage zogen johlende Scharen auf die Piazza Colonna. Vor dem Palais Assy vollführte die gebildete Jugend, unterstützt von den unteren Ständen, eine Katzenmusik. Die Herzogin erfuhr, daß im Schlosse und bei der Partei Koburg eitel Freude wohne. Sie machte eine zornige Regung durch und beschloß, der ganzen Sache ein eiliges Ende zu bereiten. Das Glück sollte sich nicht nochmals wenden, wie zur Zeit der Pächterunruhen und des Lärms um den internierten Schauspieler. Sie berief die Ihrigen auf denselben Abend und empfing, wieder vollkommen wohlgelaunt, die Erschreckten im langen Spitzenhemd. Vor Vergnügen über die gelungene Maskerade vergaß sie ganz, daß ihr Mißerfolg sie ohne weiteres mit Verrätern umgab und daß er den Machthabern Mut machen mußte zu einem Schlage gegen sie. Noch in der Nacht sollte der Staatsstreich geschehen; statt dessen fand die Nacht sie, mit Mühe der Verhaftung entgangen, weit draußen im Meer.

Ihr Tag hatte im Harem begonnen und in einer Volksrede gegipfelt; sie beschloß ihn auf dem Hinterdeck einer schwerfälligen Segelbarke, allein und flüchtig. Zu ihren Füßen öffnete sich eine Luke über der Küche und dem Schlafraum des Schiffers; ein übler Geruch stieg heraus. Vorne auf einer Taurolle saß Pavic und hielt seinen Knaben umschlungen. Beim Einsteigen hatte sie zu ihm gesagt, lachend und mit leiser Geringschätzung:

»Sie wissen, Herr Doktor, Opfer verlange ich von Ihnen nicht mehr. Sie dürfen dableiben.«

Er hatte sie groß und innig angeschaut:

»Wohin Sie gehen, Hoheit, dahin gehe ich.«

Er liebte sie, er litt unter ihrem Schicksal, und er war in großer Angst für die eigene Person. Nach dem Verschwinden seiner Beschützerin würde ihm selbst der Garaus gemacht werden, das wußte er. Nun gab er sich, hinter der aufgespannten Leinwand, die ihm ihre Gestalt verbarg, peinlichen Gedanken darüber hin, was für ein Gesicht sie wohl mache? Was sollte jetzt aus ihnen beiden werden? Wenn sie am Morgen einsam und verloren in der Weite einander wiedersahen, als was für Menschen würden sie sich begrüßen? ›Ich bin doch ihr Geliebter‹, sagte Pavic sich, ohne daran zu glauben.

Aber es konnte sein, daß die Verbannung ihren Hochmut brach! ›O gewiß, sie wird noch demütig werden gleich uns Armen! Was ihr und mir zustößt, ist heilsam‹, so überlegte er, ergeben in die Fügung. ›Und dann ... und dann ...‹ Aus der Verstörtheit des plötzlich ganz Entgleisten richtete sich eine neue stürmische Hoffnung auf. ›Dann bin ich ihr wieder, was ich ihr früher war! Alle haben mich angestaunt als Helden, nur sie tat es niemals mehr, seit ich damals ... nicht starb. Ah! Jetzt bin ich gerächt! Zu mir wird sie sich flüchten in der Fremde, unter den Verächtern. Denn sie werden sie, die Gestürzte, verachten ... Wer weiß, vielleicht lernt sie die Armut kennen ...‹

Pavic begann, damit sie ihm gehören könne, für seine Herrin das äußerste Elend herbeizusehnen.

Plötzlich meinte er sie rufen zu hören. Er sprang mit der Eile seines schlechten Gewissens von seinem Sitze auf, stolperte über eine Kette und schlug hin, die Beine in der Luft. Sein rechter Fuß stieß heftig gegen den am Bootrand schlummernden Knaben. Pavic raffte sich entsetzt vom Boden auf: das Kind war verschwunden. Der Vater wollte es nicht glauben, er tastete, auf den Knien rutschend, in der Dunkelheit umher. Dann richtete er sich steif empor und stieß einen rauhen Schrei aus. Der Schiffer lief herbei, er reffte die Segel. Sie ruderten gemeinsam zurück und suchten. Sie ließen Laternen über Bord; die blutigen Lichter glitten die Wand hinab und herauf, wie rotgeweinte Augen, die nichts fanden.

Die Herzogin sagte ihm kein Wort. Er schlich zurück hinter das wieder aufgespannte Segel. Die Luft der Mainacht trug ihr seine zerrissenen Klagelaute zu, und sie wußte nicht, wovon es sie jetzt fröstelte, vom Winde oder von seinem Schluchzen. Sie hatte nur einen leichten Ballumhang über den nackten Schultern. Der Morlak, der die Barke lenkte, legte ihr seinen weiten Mantel um. Die Nacht verging ihr in peinvoller Schläfrigkeit; jedesmal im Augenblick des Einschlummerns schrak sie empor.

Einmal, als sie die Augen öffnete, hatte das Meer die Finsternis durchbrochen, von der es gebannt gehalten war. Eine graue Schlange, krümmte es sich um sie her und wollte sie ersticken. Sie stieß, mit einem leisen Wehruf, den Alp von sich. Aber ein neuer Schauder ergriff sie; das Kind fiel ihr ein, sie fühlte, wie es hinter ihr im Wasser trieb und den Kopf mit toten Augen nach ihr ausreckte. ›Was will es von mir?‹ dachte sie. Da hörte sie sich selbst sagen: »Sie wissen, Herr Doktor, Opfer verlange ich von Ihnen nicht mehr.«

»Was für ein Unsinn!« flüsterte sie sich zu. »Habe ich ihm denn zugemutet, sein Kind ins Wasser zu stoßen?«

Sie wandte sich hastig um; es schwamm wirklich, in der beginnenden Helligkeit, ein Wesen ihrem Fahrzeuge nach, ein Delphin, der heiter grunzte wie ein Schwein. Unversehens schoß er, schnell und kraftvoll, dem Boote voraus, in den Kreis der Genossen, die umherspielten in den Morgenwellen. Vom Horizont, wo noch die Angstblässe der Nacht hing, sickerten rosige Tropfen als eine Erlösung in das Meer. Es glättete sich und ward durchsichtig. Der Blick tauchte in geahnte Gärten hinab, wo an Pfaden von bunten Muscheln Korallenbäume die bleichroten Äste ausbreiteten und farbenreiche Fungusarten aufblühten inmitten von Tang und Algen.

Nun war der halbe Himmel vom roten Licht überspült. Die Herzogin dachte:

›Wo die Sonne aufgeht, liegt das Land, das ich verlassen habe. Dieser Frühwind kommt dorther, er riecht nach Salz, nach Fischen, nach Uferschlamm, mir scheint, er riecht auch nach dem Moos der Klippen und nach ihrer Einsamkeit. Ich spüre dies Wehen und muß an unabsehbare Steinfelder denken, mit weißen Straßen ohne Ende, an denen nur bestaubte Kakteen wachsen.‹

»Diese Luft sollte der Atem eines freien Landes sein«, sagte sie, tiefernst, vor sich hin.

Das Meer gewann eine azurne Färbung, dann eine ultramarine, und aus dem abgründigen Blau quirlte weißer Schaum herauf, wie ein Zeichen geheimer Erregungen.

›Gestern abend beim Einsteigen habe ich noch gelacht. Warum jetzt nicht mehr? Was ist geschehen? Das Kind ... Oh, das Kind ist nur ein Zeichen für ... etwas, was vorgeht. Bin ich es noch selbst, die erst vor wenigen Stunden in galanter Kostümierung den Staatsstreich einleiten wollte? Wo sind nun die Gesichter, deren Verblüffung mich belustigte! Ich reizte die Armseligen und freute mich, wenn sie boshaft wurden. Ich weiß nicht einmal, ob ich Feste gab, um eine Revolution anzuzetteln, oder ob ich durch Verschwörung und Umsturz meine Geselligkeit beleben wollte. Das prickelnde Hin und Her glücklicher und unglücklicher Zufälle erhielt mich munter. In das grämliche Stilleben der alten grotesken Leute im Königsschloß warf ich mit Faschingslaune die Wörter Freiheit, Gerechtigkeit, Aufklärung, Wohlstand. Es war, als tanzte ich noch in Paris und habe mir eine neue Mode ausgedacht. Soll jetzt etwas Dauerhaftes daraus werden oder gar etwas Tragisches?‹

Sie wehrte ihren Gedanken und sann doch unablässig über zurückgelassenen Bildern. Ein junger Hirt, mit stumm leuchtenden Augen unter der niedrigen, blassen Stirn, stand, die Arme über seinem Stabe gekreuzt, unter dem epischen Himmel, unbeweglich inmitten eines sich drehenden Kreises von Ziegen und Schafen. Ihre Köpfe beunruhigten seltsam, sie erinnerten an heidnische Mythen. Ein junges Weib, bedeckt mit verhärtetem Schmutz, der die Lüste der fremden Beherrscher abwehren sollte von ihrem Leibe, gab ihrem Kinde ein Messer in die Hand. Sie lehrte es den Angriff auf einen magern Hund, der die Zähne fletschte.

Die Herzogin murmelte in brennendem Gedenken:

»Das war stolz und voll tiefen Sinnes! Wie lange ist es schon her, daß ich es sah! Ich habe doch in derselben Liebe gebebt wie jene in Benkowaz unter dem lodernden Wort des Tribunen, und in demselben Haß wie die Alte mit dem Schädel ihres Sohnes. Konnte ich es vergessen? Dies Volk ist stark und schön!«

In ihren Ziegenfellen standen sie, übriggebliebene Bildsäulen aus heroischen Zeiten, neben Haufen von Knoblauch und Oliven, bei riesigen gebauchten Krügen aus Ton, unter großen friedlichen Tieren. Sie waren selbst fast Tier – und fast Halbgott! Vergessene Profile tauchten vor ihr auf, gerade, scharfe Nasen, Münder mit Leidenszügen, lange schwarze Locken. Sie sah ihnen zu wie einst, da sie als weißes Kind von den Klippen vor Schloß Assy hinabschaute zu den Barken, auf denen unbekannte Wesen grüßend an ihr vorüberzogen.

»Ah! Es sind mir keine Schatten mehr wie damals! Ich kenne jetzt ihre Stimmen, ihren Geruch, ihre Sehnen, ihr Blut! Die hageren, feierlichen Gestalten, die zu meinen Fenstern heraufstarrten, ihre Gebärden, von Pavic' Rede entfesselt, ihr tierischer Jubel bei den geschenkten Gelagen, die drohende Wut ihrer beschränkten Geister, erst gestern um meinen Wagen her! Ihre Anbetung und ihre Mordlust, beides gilt mir gleich viel, beides ist stark und schön!«

»Über Schönheit und Stärke ein Reich der Freiheit aufzurichten: welch ein Traum!«

Fernher von dem Lande, das ihm gehörte, flog dieser Traum ihr nach, auf dem Rücken des Windes, der nach seiner Küste roch. Er holte sie ein und faßte sie mit Gewalt. Sie glühte unter seinen stürmischen Werbungen, ganz allein mit ihm am Rande ihrer einsamen Barke, auf einem verlassen leuchtenden Meere. Der braune Faltenmantel des Armen fiel von ihren zuckenden Schultern. An die schimmernde Rundung ihrer Perlmuschel geschmiegt, ein kostbares Geschöpf der Tiefe, nackt, feucht und duftend lag sie in den Armen eines Gottes.

 

Pavic kam zum Vorschein, mit geschwollenen Augen. Er trug Brot und Speck herbei; der Schiffer teilte mit ihnen. Der Sturm begann die Wellen mit Schaum zu krönen; sie sahen sie grün und klar heranrollen gleich Blöcken von Smaragd. Gegen Abend trat Ruhe ein. Die Sonne ging als Riesenscheibe mit grellem Glänze unter; die Welt verschwand unter einer Purpurdecke. Allmählich streiften Schatten darüber hin, graue Nebelfiguren, Rauchsäulen auf der Trümmerstätte eines verbrannten Tages. In der Dunkelheit begegneten sie heimkehrenden Fischerbooten. Und endlich landeten sie.

»Wo sind wir?« fragte die Herzogin.

Pavic verlangte Auskunft von dem Morlaken.

»Ein Stückchen unterhalb Ancona«, erklärte er mit mutloser Handbewegung.

»Wir brauchen ein Fuhrwerk«, sagte er sodann. »Jetzt, um zehn Uhr abends, und in die Stadt dürfen wir uns nicht getrauen.«

»Warum nicht?« meinte sie.

»Hoheit, wir sind politische Flüchtlinge.«

Sie standen ratlos am Strande. Schließlich geleitete der Schiffer sie eine Stunde ins Land hinein. Die Herzogin verlor im Sande ihre Tanzschuhe; Pavic zog sie ihr schweigend wieder an. Sie wanderten an einer Dorfmauer hin; es war ein Passionsweg darauf gemalt. Wo sie aufhörte, stand eine kleine achteckige Kirche, ein Stück abseits von ihrem hohen Glockenturm. Dahinter erschloß sich eine lange, blühende Laube von Linden und Kastanien. Pavic und der Führer durchmaßen sie langsam. Zwischen den Blättern hindurch spielten Lichter des aufgehenden Mondes über den Weg und zeigten ihnen an seinem Ende ein weißes Haus.

Die Herzogin sah ihnen nach, aus dem Schatten der Kirche. In dem ragenden Marmorportal lehnte eine niedrige hölzerne Pforte, mit hochgeschnitzten Engelsköpfen darauf, leise geöffnet. Die Herzogin trat ein. Sie erblickte auf den acht inneren Wandflächen, deren vier sich zu Kapellen vertieften, lauter kleine Genien. Sie streckten die Köpfe aus den schweren Falten steinerner Vorhänge, sie schlugen Akanthusblätter zurück und entstiegen Blütenkelchen. Sie hielten einander umschlungen, sie klatschten in die Grübchenhände, lachten mit vollen Gesichtern und sperrten herzhafte Münder auf: der enge Raum war erfüllt von ihren Geisterstimmchen. Die Liebkosung des Mondscheins lockte ein Lächeln auf die kalkgepuderte Miene des einen, es löste einem andern die kurzen üppigen Glieder, daß er sie heimlich und zaghaft aus der Mauer hob, hinaus in das Leben der Nacht.

Von oben, aus einer Öffnung in der Kuppel, fielen scharfe weiße Strahlen auf das Bild eines Knaben in goldenen Locken und langem pfirsichrotem Gewande. Er hielt die linke Hand hinter sich zwei Frauen in Lichtgelb und Blaßgrün hin. Mit silberner Ampel leuchtete seine Rechte ihnen voran durch den in Finsternis versteckten Garten. Der Herzogin war es, als sei sie es selbst, der dieser schlanke, ernste und noch ganz freie Knabe ihr ungestüm erträumtes Reich erhellen wolle. Ihr Traum, zufrieden damit, sie im Sturm bezwungen zu haben, durchsonnte sie nun mit stiller Kraft; sein geglättetes Gesicht aber trug dieser Knabe.

»Aber wir sind zwei, vor denen er einhergeht«, so fragte sie sich. »Wer ist der andere?«

Die Züge der beiden Frauen lagen tief im Dunkel.

Sie ging hinaus, bedächtigen Schrittes, und folgte nun auch dem stummen, vom Monde gebannten Baumgang, bis vor das weiße Haus. Der Hauptbau, breit und einstöckig, streckte sich im grauen Hintergrunde; eine blendende Rampe führte flach und langsam auf ihn zu. An einem der rechteckig vorragenden Flügel standen Pavic und sein Begleiter, sie verhandelten fruchtlos. Ein wütender Mensch fluchte über die Ruhestörung und drohte mit den Hunden: ihr Gebell übertönte sein Schreien.

Als die Herzogin auf die Bildfläche trat, brach aller Lärm ab. In dem dreieckigen Schlagschatten zwischen Mittelfront und linkem Pavillon flammte rot ein Fenster auf. Es ward geöffnet, eine Frau sagte verschleiert und so gütig, daß man gern ihre Hand berührt hätte:

»Sie sind nicht umsonst gekommen, das Fuhrwerk steht gleich bereit.«

Die Herzogin rief selbst ihren Dank hinauf zu der Unbekannten. Sie warteten; der Wagen rollte um das Haus. Die Herzogin und Pavic stiegen ein. Die Stimme der Frau wünschte ihnen eine glückliche Fahrt. Sie kamen an der kleinen Kirche vorbei; die Herzogin fühlte sich voll Zuversicht, fast glücklich. Sie meinte, von diesem zufälligen Orte, dessen Tagesbild sie nicht kannte, an den eine Stunde der Nacht, der Flucht, des gehobenen Empfindens sie getragen hatte, nehme sie Freunde mit. Sie gedachte des Knaben mit silberner Ampel:

›Du gehst vor uns her. Aber wer ist die andere?‹

 


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