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15. Kapitel.
Ein Abendlied.

Als Kinder haben wir's gesungen,
Die Mutter sang's uns fröhlich vor,
Und unsre kleinen Stimmen klangen
In hellem Chor!

Wir wurden groß. Das bunte Leben
Verwischte die Vergangenheit!
Es nahm so viel, es gab nichts wieder,
Denn Zeit ist Leid.

Warum es mir dies Lied genommen,
Das meine Kindheit hell gemacht?
Warum ich es verträumen mußte
In einer Nacht?

Warum es heut nach langen Jahren
An meines Kindes Wiege klingt,
Und fremde Liebe ihm das Höchste
Und Beste bringt?

Warum? Warum? – Ob meine Seele
Die tiefste Wahrheit nie verstand? –
Mein Herz sucht einen sich'ren Hafen,
Mein Herz sucht Land!

»Sag' mal, liebes Kind, was hast du dir eigentlich gedacht?«

Mark Albrecht von Benz stand in der Loggia seiner Frau gegenüber, die, den kleinen Bubi auf dem Arm, ins Neckartal blickte.

Vor einer halben Stunde war er ganz überraschend aus Leipzig gekommen. Auf ihrem gewohnten Platz hatte er sie überrascht. In dem schlichten weißen Kleide, das er so liebte, saß sie, umgeben von ihren Büchern über die Arbeit gebeugt, neben sich das schlafende Kind. Rotes Laubgewind umgab das liebliche Bild. Leise wehten die zarten Ranken des Weinstocks über dem Wiegenbettchen, und ein warmer Südwest spielte mit dem duftigen Haar der jungen Frau. Ab und an sah sie auf, eine tiefe Denkerfalte auf der Stirn. Bubi schlief zum Glück. Eine Störung wäre in diesem Moment höchst unangenehm für sie gewesen, denn es galt eine der schwierigsten, theoretischen Fragen auf medizinischem Gebiet in sich aufzunehmen. Bubis Schlaf war also doppelt kostbar und mußte sorgsam gehütet werden. Bunken hatte überraschend Besuch von ihrer Tochter bekommen und war für ein paar Stunden beurlaubt worden.

Rose wäre in ihrer Arbeit gern weiter gewesen. Sie war in den letzten Tagen häufig gestört worden. Besuche, dringende häusliche Pflichten, Einladungen hatten ihre Tage ausgefüllt. Außerdem hatte Bunken sie seit jenem schlimmen Nachmittag stark in Anspruch genommen. ›Gnä' Frau hier, gnä' Frau da!‹ ging es den ganzen Tag. Beinah schien es Rose, als ob die Alte sie anlernen wollte. Es war doch eigentlich nicht zu glauben, was sich die heutigen Dienstboten alles erlaubten! Bunken hatte dabei eine Art, ihren Willen geltend zu machen, der man schwer entgegentreten konnte. Eine gewisse Mütterlichkeit lag im ganzen Wesen der alten Heidelbergerin, ein unverkennbares Wohlwollen. Selbst wenn sie über die Dummheiten ihrer Gnädigen schalt, leuchtete es mitleidig aus den grauen Augen: ›Armes Ding, woher sollst du's auch wissend?‹ Es kam noch hinzu, daß Rose die tüchtige, zuverlässige Person um jeden Preis zu halten suchte. So machte sie Bunken allerlei Konzessionen, wenn sie auch innerlich oft empört über sie war.

Sie sah auf die Uhr. Sechs.

Mit dem Glockenschlag viertel sieben würde die gewissenhafte Alte mit strahlendem Gesicht und ausgestreckten Armen hereintreten: ›Na, mein Jung?‹

Dann hob sich das dunkle Kinderköpfchen in den Kissen, und der Schelm lachte sie an. Niedlich war das Verhältnis doch! –

Sinnend blickte Frau von Benz auf den kleinen Schläfer.

Drinnen kamen Schritte über den Teppich. Es war doch erst sechs? Die Elektrische hatte sie auch nicht gehört! Und das Zimmermädchen wußte doch, daß sie um diese Zeit nicht unnötig gestört sein wollte. Gespannt horchte sie hinein.

Und dann weiteten sich ihre Pupillen, ihre Hände umfaßten die Stuhllehnen, – auf der Schwelle stand ihr Mann.

»Mark!« rief sie aufspringend.

Und dann standen sie sich gegenüber. Beide mit einer leichten Verlegenheit kämpfend. Denn keines von ihnen hatte ein ganz reines Gewissen.

Rose quälte ihr Brief. Mark Albrecht erkannte, daß er seine Frau in der Erregung über ihren Eigenwillen ungerecht beurteilt, daß er Vermutungen Raum gegeben, die ihm jetzt, wo er ihr gegenüberstand, als völlig aus der Luft gegriffen erschienen.

Aber, mein Himmel! Der Gedanke lag doch andererseits so nah! Eine bildschöne, jung verheiratete Frau schreibt ihrem Mann: ›Um meine Studien nicht zu unterbrechen, will ich vorläufig hier bleiben!‹ Das war doch des Pudels Kern. Was konnte sich alles dahinter verbergen. So ganz unberechtigt war sein Mißtrauen doch nicht gewesen. Denn daß eine Frau wie Rose, die noch außerdem Mutter eines reizenden Kindes war, derartig auf ihr wissenschaftliches Studium versessen sein sollte, daß sie alles andere darüber vergaß, war doch kaum denkbar! Nun, diese Sorge schien ja glücklich gehoben! Gerade um diese Zeit hätte er leicht ein Tête-à-Tête stören können. Aber sie saß ruhig bei der Arbeit, das schlafende Kind neben sich. Erleichtert atmete er auf.

»Guten Tag, Rose!« sagte er, während er sie mit unverhohlenem Entzücken betrachtete. Dann zog er sie an sich. Sie hatte das Haupt gesenkt. Seine Lippen streiften ihre Stirn. Beide fühlten: es lag etwas in der Luft.

»Es war eine sehr heiße, staubige Fahrt,« sagte er, sie frei gebend. »Ich will mich erst umziehen!«

Sie nickte stumm. Also nachher kam's! Natürlich. Warum kam er denn sonst überhaupt Knall und Fall angereist? –

Bubi war erwacht, diesmal in gnädigster Stimmung. Er lachte seine schöne, junge Mutter an, als ob sie die alte, runzlige Bunken wäre, ließ sich von ihr aus dem Bettchen nehmen und in der sonnigen Loggia spazieren tragen.

So fand Mark Albrecht, aus dem Ankleidezimmer zurückkehrend, seine Frau. Ein eigentümliches Lächeln huschte um seine Lippen. ›Der Junge nützt dir nichts!‹ schien es zu sagen. ›Du bekommst doch dein Teil!‹

Und dann verlangte er kurz und kategorisch, daß sie den Kleinen in sein Körbchen lege und ihn anhöre.

»Du hast Bubi noch nicht einmal angesehen!« sagte sie, ohne zu bedenken, wie oft er ihr diesen Vorwurf gemacht.

Er antwortete nicht.

Da legte sie das Kind in die Kissen.

Im selben Augenblick erschien Bunken, hocherfreut, den Herrn Doktor wiederzusehen. Aber der hatte heute keine Zeit für die Alte. Er reichte ihr zwar die Hand und nickte ihr freundlich zu, aber das war auch alles. Und die kluge Bunken, die auf den ersten Blick erkannte, daß diese ›Überraschung‹ einen bitteren Beigeschmack hatte, verließ mit ihrem Schützling schleunigst das Zimmer.

Rose war langsam an den Tisch getreten.

»So, nun, bitte, setz dich,« sagte ihr Mann ungeduldig.

Sein Ton reizte sie. Aber sie sagte sich, daß seine Stimmung die Wirkung ihres Briefes war. Hätte sie dieselbe vorausgesehen, würde sie doch anders geschrieben haben. Nun mußte sie sich damit abfinden, und sie tröstete sich, daß sein Zorn schon wieder verfliegen werde, wenn sie nur ruhig bliebe. Aber das war nicht so leicht.

»Nun sag mir, bitte, Rose, was du dir eigentlich denkst! Ich schreibe dir, nachdem ich zwei Monate allein in Leipzig gesessen, du möchtest in vierzehn Tagen nachkommen, und erhalte die Antwort, daß es dir vorläufig noch nicht paßt. Was soll das heißen?«

»Ich habe geschrieben, daß es mir leider in diesem Moment unmöglich sei, meine Studien zu unterbrechen!« entgegnete sie.

Er sah sie belustigt an. »Ich will wissen, was du dir denkst! Soll ich mich etwa hier hinsetzen und auf Praxis warten, weil es meiner Frau einfällt, in Heidelberg ihren Doktor zu machen? Was soll es überhaupt heißen, daß es dir unmöglich sei, deine Studien zu unterbrechen.«

»Was das heißen soll?« sagte Rose, durch seinen Ton verletzt. »Es soll heißen, daß ich nicht heute hier und morgen da studieren kann. Kaum bin ich nach der langen Pause nach Bubis Geburt wieder etwas eingearbeitet, so wird von mir verlangt, daß ich alles über den Haufen werfen und von vorne anfangen soll. Außerdem hattest du doch nichts dagegen, daß ich noch etwas hier blieb.«

»Etwas?« rief er. »Die zwei Monate scheinen dir allerdings im Fluge vergangen zu sein! Ich will jetzt nicht weiter darauf eingehen, das viele Reden über Dinge, die anders sind, als sie sein müßten, hat keinen Zweck. Im Gegenteil. Aber eins will ich dir sagen. Ich verlange, daß du jetzt nach Leipzig kommst.«

»Das hättest du mir damals schon sagen können, dann hätte ich gleich in Leipzig belegt. Jetzt wird es November, bis ich ins Kolleg komme. Aber wie du willst!« Sie kämpfte mit den Tränen. Ihre Finger spielten nervös auf der Tischplatte. »Wenn du überhaupt prinzipiell gegen das Studium der verheirateten Frau bist, so hättest du es mir gleich bei der Verlobung sagen müssen,« fuhr sie fort. »Jetzt, wo ich mitten darin stehe, ist es sehr hart für mich, immer mit Vorwürfen überhäuft zu werden!«

»Ich habe dich verkehrt beurteilt, Rose. Hätte ich dies Resultat vorausgesehen, so hätte ich allerdings auf meinem Willen bestanden, oder wäre, ob auch schweren Herzens, zurückgetreten. Denn ich muß gestehen, daß ich schon damals den Dualismus fürchtete, den die Vereinigung von zwei so großen Berufen heraufbeschwören würde. Aber ich baute auf deine Persönlichkeit, deine vornehme Auffassung von Pflichterfüllung, auf das Weib in dir, das sich noch zu voller Reife entwickeln sollte, auf deine Liebe! Vor allem baute ich auf die Zeit, wo du Mutter werden würdest, – ich habe noch nie gehört, daß ein echtes Weib über wissenschaftlichem Studium seines Kindes vergaß.«

»Aber Mark – wann habe ich das getan?«

»Unsere Begriffe von Mutterliebe scheinen allerdings verschieden zu sein,« sagte er kalt. »Die Frau von heute, besonders die Studentin, striche dies Thema ja am liebsten ganz vom Programm; ich kann mich daher nicht wundern, wenn du etwas angesteckt bist!«

»Mark!« rief sie außer sich, »ich finde Bubi reizend …«

»Du findest ihn reizend, solange die alte Bunken für ihn sorgt; hättest du ein unerfahrenes, leichtsinniges Kindermädchen, so möchte ich dich sehen! Aber, wie gesagt, ich bin selbst schuld daran. Ich hätte dir damals gleich entgegentreten sollen!« Er sah sie scharf an, als erwartete er etwas von ihr.

Ein einziges Wort hätte ja alle Hindernisse beseitigt: ›Ich will dir allein gehören, will deinem Kinde eine treue Mutter sein! Ich hab' euch beide ja lieber, als alles auf der Welt!‹ Aber sie sprach dies Wort nicht aus. Er hatte sie zu tief verletzt. Einen Augenblick blitzte der Gedanke in ihr auf: ›Sag' ihm, es sei nicht für immer, nur den Doktor müßt' ich machen!‹ Aber sein eisiger Ton hatte sie bis ins Herz getroffen. Ihr Stolz war verwundet. Außerdem war eins wie das andere. Würde sie ihm sagen: ›Ich will meinen Doktor machen, um dir assistieren zu können,‹ so würde er antworten: ›Du wirst ihn niemals machen, gib dir keine unnütze Mühe!‹ Würde sie dagegen den Doktor endgültig aufgeben, so würde es heißen: ›Was sollte dann die lange Quälerei, das hättest du dir früher überlegen sollen!‹ Das Opfer, das sie damit gebracht hätte, würde er niemals anerkennen. Sie mochte die Sache drehen und wenden, wie sie wollte, sie kam aus der Zwickmühle nicht heraus. Es blieb nur ein Ausweg: sie machte den Doktor. Dann würde er ja wohl endlich einsehen, daß er eine Frau hatte, die nicht nur ihren Wünschen lebte, sondern etwas Tüchtiges im Leben leistete. Etwas, das Hand und Fuß hatte.

Und mit der ihr eigenen Energie klammerte sie sich an ihre alte Lieblingsidee, ohne sie den bestehenden Verhältnissen anzupassen. Nur sehr großzügig veranlagten Naturen gelingt es in immer wiederkehrenden Kämpfen, frei von Eigensinn und Prinzipienreiterei zu bleiben und nicht in einseitiges Urteilen und Handeln zu verfallen. So ehrlich und wahrheitsliebend Rose war, den Überblick über die Gesamtsituation hatte sie im Eifer des Gefechts verloren. Das einzige Mittel für eine friedliche Lösung erschien ihr immer wieder nur der ›Doktor‹. Und wenn ihr heute ein ganz Unparteiischer geraten hätte, ihre Taktik zu ändern, sie hätte die Achseln gezuckt und erwidert: ›Es muß sein!‹

Blaß, mit zusammengepreßten Lippen saß sie ihrem Manne gegenüber.

»Ich habe mein Wort noch nie gebrochen und werde es auch jetzt halten,« begann er aufs neue. »Da ich dir damals dein Studium zugestanden habe, streiche ich es auch heute nicht vom Programm. Aber ich mache eine Klausel. Sie erschien mir damals so selbstverständlich, daß ich sie nicht erwähnte. Dies ist aber mittlerweile nötig geworden. Ich muß verlangen, Rose, daß du deine Pflichten als Gattin und Mutter deinem Studium bedingungslos voranstellst. Das kann und muß einer Frau, die Mann und Kind liebt, gelingen. Versagt ihre Kraft, so gibt sie ihr Studium auf, zumal, wenn sie pekuniär nicht darauf angewiesen ist.« Wieder sah er sie mit durchdringendem Blick an.

Konnte sie nicht zu ihm kommen und sagen: ›Vergib mir!‹?

War er zu hart gewesen?

»Du wirst ja selber über kurz oder lang einsehen, daß ein wissenschaftliches Studium unter den obwaltenden Umständen zuletzt auf eine Spielerei hinausläuft,« sagte er freundlicher. »Es erfordert den vollen Einsatz der Persönlichkeit, und die verheiratete Frau kann sich nur mit der Hälfte beteiligen. Es tut einem wirklich leid um die schöne Zeit, sie könnte besser angewendet werden.«

»So! Vielleicht trägt meine vielgeschmähte Arbeit doch noch goldene Früchte. Und wenn's nur die eine wäre, daß du mich als selbständige Persönlichkeit, als Menschen, der etwas leistet, etwas geworden ist, anerkennen und achten lerntest!« Sie strich sich seufzend mit der Hand über die heiße Stirn.

Er schüttelte den Kopf.

»Rose, komm mal her,« sagte er. Und als sie zögernd auf ihn zutrat, faßte er die kalten Hände der jungen Frau.

»Ich bin vorher wohl etwas schroff und heftig gewesen! Wenn man aber das Vorhergegangene bedenkt, so ist es vielleicht verständlich! Versetze dich, bitte, einmal in meine Lage. Ich habe Frau und Kind und habe sie doch nicht. Das geht nicht so weiter!«

»Ich komme ja mit,« sagte sie apathisch.

»Natürlich kommst du mit. Aber, – das ist's doch nicht allein. Wir sollen unser Leben lang zusammen wandern und es soll ein glückliches Zusammenleben sein, nicht wahr? Wenn's dann nur gleichgültig heißt: ›Ich komme ja mit!‹ so hat's ein Ende mit der frischen, frohen Kameradschaft. Eine Ehe ohne ein festes, starkes Grundpostulat kann nicht bestehen!«

Sie nickte stumm. »Ja, du hast ganz recht. Ich will mir Mühe geben.«

»Es wird nicht immer leicht für dich sein,« fuhr er fort. »Aber du hast dir selbst die doppelte Last aufgebürdet. Ich will sie dir, wie gesagt, nicht gewaltsam abnehmen. Du sollst den Dualismus selbst erkennen, aber ich fürchte, du wirst Reugeld zahlen müssen.«

Rose sah schweigend vor sich nieder.

»Und dann noch eins. Im Hause muß vieles anders werden. Die Dienstboten in Sachsen lassen sich nicht so viel gefallen, wie die Süddeutschen. Du mußt den Haushalt übersichtlicher einteilen, jedes Mädchen muß seine bestimmte Arbeit haben. Dies Durcheinander, das bis jetzt bei uns herrschte, macht die Gesellschaft konfus und aufsässig. Hoffentlich kommt Bunken mit, es wäre schlimm für Bubi, wenn sie streikte. Aber ich fürchte, eine alte Heidelbergerin bekommt Heimweh, wenn sie nicht alle Tage die Schloßruine und den Neckar sieht. – So, mein Schatz, mehr will ich über die Sache nicht sagen. Wir haben es beide verkehrt angefangen, du mit deinem Eigensinn und ich mit meiner Ungeduld!«

Er zog sie neben sich auf den Fenstersitz. »Nicht wahr, wir wollen's von jetzt an besser machen?«

Und dann schlang er den Arm um sie und küßte sie.

Still ließ sie's geschehen. Ohne Abwehr, ohne Entgegenkommen.

Er sah sie fragend an. »Rose!« sagte er leise.

Das war der alte Ton.

Und es zog ihr durchs Herz: ›Es ist doch groß von ihm, daß er dir deinen Brief so schnell verziehen hat!‹

Eine leise, mahnende Stimme aber bat: ›Gib den Doktor auf! Sag's ihm, es ist der rechte Augenblick! Dann wird dein Garten grünen und blühen, dann springen alle Knospen!‹

Das war die Liebe. Groß und königlich stand sie vor ihr. Alles Kleinliche, Alltägliche wich vor ihr zurück.

Und ein Frauenherz brannte.

Aber eine andere Stimme ward laut. Klar und metallisch war ihr Ton. ›Wahre dir das Recht der Persönlichkeit,‹ sprach sie. Das war der Verstand. Und seine Warnung fand Gehör. Die Leidenschaft verflog – –

»Rose!« klang's ein zweites Mal durch die dämmernde Stille.

Da legte die junge Frau das Haupt an die Brust ihres Mannes. Ganz weich und warm ward's ihr ums Herz. Das war ja ihr Platz, wo sie ausruhen durfte zu aller Zeit, ihre Heimat! Wie hatte sie's nur vergessen können!

Sie schmiegte sich fester an den Geliebten. Und dann schlang sie plötzlich beide Arme um seinen Hals und küßte ihn.

Er hielt sie fest umfaßt. »Rose, meine Rose!«

Wie lange hatte sie das nicht gehört! Mit strahlenden Augen sah sie ihn an.

Und die Liebe stand still daneben. ›Sag's ihm!‹ – –

Aber der Verstand warnte: ›Tu's nicht!‹

Und sie schwieg. – – –

Er wollte seinen Jungen sehen.

Rose schalt. »Jetzt schläft er. Und Bunken empfängt uns mit einem Donnerwetter. Vorher, als er wachte, hattest du keine Augen für ihn.«

»Das hatte ich auch nicht!« Er stand auf. »Komm!«

Und ganz leise traten die beiden in das Kinderzimmer.

In dem matt erleuchteten Raum saß die alte Frau neben dem verschleierten Wiegenbettchen und strickte.

Die Gnädige traf zwar ein nicht mißzuverstehender Blick, aber dabei blieb's. Bunken lüftete sogar eigenhändig die Mullgardine, damit der Herr Doktor den kleinen Schläfer betrachten könne. Nur gesprochen durfte nicht werden.

Wie ein frischer, rosiger Pfirsich lag das schöne, kräftige Kind im tiefen, ruhigen Schlaf der ersten Jugend. Kein Ton ging durchs Zimmer. Draußen schwirrten verspätete Spatzen im Laub des wilden Weins, sonst war alles still.

Unten träumte der kleine Stadtgarten zwischen efeuumsponnenen Mauern, alte Nußbäume breiteten ihre Zweige um das Dach und der Zauber der Herbstnacht wehte über die dunklen Berge. Feierlich stieg der Mond herauf.

Bald würde er alle Gassen und Gäßchen der feinen, ehrenreichen Stadt mit seinem Silberglanz umspinnen, bald würde unten der Strom funkeln, als seien tausend Sternschnuppen niedergegangen und in der Tiefe versunken.

Aber noch lag Alt-Heidelbergs Schönheit im Dunkeln – ein Schleier verhüllte die Vergangenheit – – –

Von den Türmen schlug es elf.

»Wir wollen zu Bett gehen,« sagte Doktor von Benz zu seiner Frau.

Sie erhob sich.

»Wie still es hier ist,« fügte er hinzu. »Das ist in Leipzig anders.«

»Das schadet nichts,« sagte sie freundlich.

Er sah sie glücklich an. Der gute Wille war da.

»Bubi scheint aufgewacht zu sein,« sagte sie, zum Kinderzimmer hinüberlauschend, »Bunken singt!«

Langsam wanderten sie über den Flur.

›Breit aus die Flügel beide,
O Jesu, meine Freude,
Und nimm dein Küchlein ein;
Will Satan mich verschlingen,
So laß die Englein singen:
Dies Kind soll unverletzet sein!‹

summte drinnen die alte Stimme.

Benz verhielt den Schritt.

Einen Augenblick standen beide still und lauschten.

Mark Albrecht strich sich über die Stirn. »Hör' mal, Rose, das geht aber eigentlich nicht!«

Rose wurde verlegen. »Ich mochte es ihr nicht sagen, außerdem fürchte ich, wir wären sie los!«

»Meinst du?«

Sie nickte. »Ich möchte es nicht erleben, wenn sie erführe, daß Bubi nicht getauft ist.«

»Ja, aber …«

»Findest du, daß es Heuchelei ist? Wir singen es ja nicht!«

»Aber sie singt es über unserem Kinde.«

Sie schwieg.

Langsam folgte sie ihm in das Schlafzimmer. Der Mond stand über dem Neckar und überflutete mit seinem Silberglanz das schöne, stille Tal. Schweigend blickte Rose in die Herbstnacht hinaus.

›Dies Kind soll unverletzet sein!‹ klang es vom anderen Zimmer herüber.

»Weißt du, der Vers erinnert mich auch so an meine Kindheit,« begann sie aufs neue. »Mutter ließ ihn uns abends beten.« Es lag etwas im Ton ihrer Stimme, das ihn aufmerken ließ, das er noch nie wahrgenommen.

Da fuhr sie fort: »Bubi versteht es ja auch noch nicht. Warum sollen wir die Alte kränken? Wenn er größer wäre, so wäre es etwas anderes. Bunken hat das Lied schon öfter gesungen, und ich habe mich jedesmal gefragt, ob ich es ihr verbieten sollte, aber dann sagte ich mir: Alles ist im Fluß. Wenn Bubi lesen kann, ist unsere Weltanschauung gewiß schon wieder verändert. Denn sie ist ja noch gar nicht fertig.

Ich hatte vorgestern abend ein Gespräch mit Frieda über den Monismus. Das heißt, sie fing davon an. Wir kamen auf Kausalität und Willensfreiheit zu sprechen, und ich muß doch sagen, in dem Punkt verstehe ich die Philosophie des Unbewußten nicht! Wir sprachen ja schon einmal darüber. Damals schienst du nicht darauf eingehen zu wollen.«

»Ich wollte dich nicht aufregen.«

»Das dachte ich mir. Aber ich merkte recht gut, daß du auch deine Zweifel hattest. Oder irre ich?«

»Zweifel? Das wäre zu viel gesagt. Ich sagte dir damals schon, daß unsere Weltanschauung Schwankungen unterworfen ist. Natürlich stehen die Grundpostulate fest. Aber im übrigen muß man mit Variationen rechnen. Sie brauchen uns jedoch keineswegs zu beunruhigen. Sie sind das natürliche Ergebnis einer täglich unermüdlich forschenden Wissenschaft.«

»Aber, Mark, diese Frage berührt die Grundpostulate sehr stark,« rief die junge Frau. »Laß uns einmal die Konsequenzen ziehen. Frieda hatte ganz recht, wenn sie diese Seite der Hypothese unhaltbar nannte.«

»Was wissen Damen davon? Sie ist doch nicht philosophisch gebildet.«

»Sie hat zwei Semester Philosophie studiert. Außerdem hat hier der gesunde Menschenverstand zu entscheiden. Als moderner Mensch fordere ich unbedingte Willensfreiheit. Die Handlungsweise des Monisten dagegen ist unfrei. Nichts wird in unseren Tagen stärker betont, als Willensfreiheit und Persönlichkeit. In dem Augenblick aber, wo wir verantwortlich gemacht werden, sind wir die schwachen, geschobenen, unfreien Kreaturen des Unbewußten, durch die Kausalität regiert. Damit fällt im letzten Grunde nicht nur jede Verantwortung, sondern auch die Sittlichkeit fort Nach der Hartmannschen Theorie hast du nicht das Recht, mir den geringsten Vorwurf über meine Handlungsweise zu machen. Ich bin ja gar nicht dafür verantwortlich. Denn ich tue nicht meinen Willen, sondern bin ein Spielball der Kausalität. Ich will nicht – ich muß. Daneben habe ich aber vollständige Willensfreiheit und bin eine selbständige, in sich abgeschlossene Persönlichkeit. Ist das nicht ein heilloser Unsinn? – Und das ist nur die eine Seite der Hypothese. Ich begreife mich ja selbst nicht, daß mir der phantastische Gottesbegriff des Unbewußten genügt hat, man ist eben oft wie mit Blindheit geschlagen!«

Sie seufzte. Auf der schönen Stirn lagerte tiefer Ernst. Um ihren Mund zuckte es.

Er blickte sie sinnend an. »Rose, ich glaube, du nimmst die Sache zu tragisch. Deine Befürchtung, daß die Grundpostulate der modernen Weltanschauung schwankende seien, scheint mir durchaus unbegründet. Es handelt sich hier im Gegenteil um eine fest fundamentierte Wissenschaft. Natürlich sind ihre verschiedenen Abarten Schwankungen unterworfen. Aber der Wurzelstock bleibt. Der Philosoph stößt überall auf die transzendente Kausalität, ob er die physische oder die psychische Welt untersucht, immer wieder ist es jenes unbewußte, zielstrebige Wirken, das ihm als Ursache alles Geschehens begegnet, – im Denken, im Gefühl, in Sprache und Kunst, in der Liebe der Geschlechter, in der Geschichte, überall finden wir die Spuren der das Universum bis ins kleinste beherrschenden Kausalität. Das ist das Große an unserer Weltanschauung!«

»Du sprichst immer von der Weltanschauung,« warf sie ein. »Ich hörte neulich, es gäbe fast ein Schock.«

»Nun ja, Kind, das sind die Abarten. Die beiden großen Antipoden, Materialismus und Idealismus, welche die Identitätslehre als dritte zu vereinigen sucht, kennst du. Alles, was sich sonst noch Weltanschauung nennt, ist im letzten Grunde mit ihnen identisch, baut sich auf ihnen auf. Einige irrelevante Abschweifungen ändern an der Hauptsache gar nichts. Ich finde es nicht richtig, daß Frieda Zweifel in dir zu erwecken suchte. Jeder muß glauben, was er für richtig hält!«

»Und wenn ich überzeugt bin, daß der andere einen Irrweg geht? – Ich kann mir nicht helfen, Mark, da stimmt etwas nicht! Wenn ich bedingungslos den Kausalitätsgesetzen unterworfen bin, so bin ich keine freie Persönlichkeit. Beides kann meines Erachtens nicht nebeneinander bestehen. Ist mein Wille frei, so bin ich verantwortlich – schiebt mich die Kausalität, bin ich's nicht, so fällt überhaupt jedes sittliche Moment hin.«

Hastig trat sie vor den Spiegel und löste ihr Haar. In langen seidenen Wellen fiel es über ihre Schultern herab.

»Man weiß wirklich nicht mehr, was man glauben soll,« sagte sie erregt.

Er trat zu ihr. »Beruhige dich doch,« bat er. »Die Frage ist eine tief wissenschaftliche und läßt sich nicht an einem Abend erschöpfen. Ich gebe zu, daß da Schwierigkeiten liegen, aber wir dürfen auch nicht vergessen, daß wir beide keine Philosophen sind. Eins jedoch steht fest: das große Ziel ist das Untergehen der Persönlichkeit im Unpersönlichen, Unbewußten. Ist das nicht das höchste Persönlichkeitsideal? Das Untergehen des Individuums in Gott? Selbstbehauptung wandelt sich in Selbstentsagung, – meines Erachtens gibt es kein schöneres Persönlichkeitsideal! – Es ist für den Laien schwer, diesen gewaltigen Gedankengängen zu folgen, zumal für eine Frau. Denn entgeht einem auch nur die leiseste Verschiebung des Weltbildes, so ist die Beunruhigung da. Wir wollen uns diesen Winter jedenfalls eingehender wie bisher mit den Einzelheiten der monistischen Fragen beschäftigen. Auch an guten Vorträgen über das Thema fehlt es in Leipzig nicht. Wir haben dort alles, was wir brauchen. Im übrigen hoffe ich, beruhigt dich meine Erklärung!«

Er bog ihren Kopf zurück und sah ihr in die Augen.

Sie zuckte die Achseln. Durch ihre Seele zog's: ›Er spricht gegen seine Überzeugung!‹ Und die Zweifel blieben bestehen.

Gab's denn nichts Festes, Gewisses auf Erden? Das Christentum eine historische Unmöglichkeit, – und die Monismen?

Ob die alte Bunken es doch besser hatte? Ohne sich um Wissenschaft und Forschung zu kümmern, sang sie drüben an Bubis Wiege: ›Breit' aus die Flügel beide!‹ Glücklicher war sie jedenfalls in ihrem Kinderglauben, es fragte sich nur, was Wahrheit war.

Eine Träne glänzte ihr im Auge.

»Nun?« fragte er leise.

Sie schwieg.

»Was quält dich noch, Liebling?«

Da sagte sie's ihm. »Wenn der Monismus ein Irrlicht wäre …«

»Rose!« rief er außer sich.

Sie zuckte nervös die Achseln. »Ich habe oft das Gefühl, daß ich mich durch schöne Worte berauschen ließ! Man mag die Frage drehen, wie man will, da stimmt etwas nicht, und gerade in der Hauptsache. Ich kann aber nicht etwas glauben, was sich selbst widerspricht, es wundert mich nur, daß ich mich so lange täuschen ließ! Deine Erklärung vom Untergehen der Persönlichkeit in Gott ändert gar nichts, die Schwierigkeit bleibt genau dieselbe. Denn wenn ich verantwortlich bin, werde ich auch zur Verantwortung gezogen. Die Sache stimmt nicht, Mark.«

»Ehe du das Persönlichkeitsideal nicht richtig auffaßt, können wir uns allerdings nicht verständigen,« erwiderte er. »Du mußt großzügiger denken, Rose! Was dir schwach und klein und dekadent erscheint, ist gerade unsere Stärke. Der Determinismus ist die höchste Form der Selbstentsagung, das Untergehen in Gott das höchste Persönlichkeitsideal. Wenn du alles verdrehst und im verkehrten Lichte ansiehst, so entsteht natürlich ein falsches Bild.«

»Ich verdrehe nichts. Ich sehe die Sache an, wie sie ist!«

»Du vergißt aber, daß du ein Laie und eine Frau bist!«

»Laien und Frauen haben gerade so gut das Recht, sich ein Urteil zu bilden, wie andere Leute. Du bist außerdem auch kein Philosoph!«

»Das habe ich auch nie behauptet.«

Sie zuckte die Achseln. »Du tust doch so, als ob du alles wüßtest!«

»Liebe Rose, es wäre schlimm, wenn ich die Grundpostulate meiner eigenen Weltanschauung nicht kennte. Wenn du sie dir verschieben läßt, so kann ich nichts dafür. Ich will zu deiner Entschuldigung annehmen, daß du überarbeitet bist. Es ist hohe Zeit, daß ich dich wieder unter Augen habe! Und nun wollen wir zu Bett gehen und nicht mehr von der Sache reden.«

Er küßte sie.

Mit niedergeschlagenen Augen stand sie vor ihm. Seine Hand strich sanft über ihr duftiges Haar. –

Ihre Worte hatten ihn hellhörig gemacht, schon damals im Frühjahr, – er konnte es nicht leugnen. Und doch – es war das Urteil einer Frau, Laienauffassung. Subjektiv aufgefaßt, schien sie nicht ganz unberechtigt. Ob sie sich einer objektiven Untersuchung den neuen und allerneusten wissenschaftlichen Ergebnissen gegenüber halten würde? Jedenfalls mußte er der Sache auf den Grund gehen. Denn eins konnte er nicht leugnen: eine restlose Beantwortung der Frage gab es nicht. Er hatte sie darum auch Rose schuldig bleiben müssen. Die Frage nach Sittlichkeit und Verantwortlichkeit blieb übrig. Der Monismus tötete mit der Willensfreiheit die Persönlichkeit, man mochte das Untergehen im Unbewußten noch so ideal auffassen. »Da stimmt etwas nicht,« hatte sie gesagt – »Ja, wenn du alles verdrehst!« hatte er erwidert.

Verdrehst? – –

Draußen schlug es Mitternacht. Der Mond war hinter die Wolken getreten, in tiefem Dunkel lagen die Berge. Leise tropfte es auf Busch und Baum. Ein linder Abendregen ging über dem Neckartal nieder.

Rose schloß die Vorhänge.

»Wie kühl es geworden ist!«

»Es gewitterte heute nachmittag in den Bergen,« sagte ihr Mann.

Dann war alles still.

Nur der Regen rauschte auf den Dächern.

Das Licht erlosch.

In wachem Traum lag das junge Weib. Jede Fiber war gestrafft, und die hastenden Sinne fanden keine Ruhe.

Ihres Herzens Kleinodien waren in Gefahr. Der Zweifel raunte: ›Es sind ephemere Werte, Schein und Trugs!‹ und entrollte ein düsteres Gemälde vor der zitternden Seele: das Sterben der Antike.

Das feine, goldgewirkte Gewand der Göttin der Vernunft war in der eisigen Atmosphäre des Todes verblaßt, – der schärfer und schärfer sichtenden Sonde des gesunden Menschenverstandes, dem heißen Drängen der in Sturm und Not immer lauter einen starken Schutz fordernden Seele hielt die Antike nicht stand. Zerrissen lag der Schleier der großen Königin am Wege.

Die Zeit kam vorüber. Ihr Blick ruhte kalt auf den Überresten verklungener Herrlichkeit.

›Groß ist die Diana der Epheser!‹ murmelte sie spottend und zog ihre Straße.

Mit brennendem Blick sah das Weib der gewaltigen Frauengestalt nach, wie sie, die Hand über die Augen gebreitet, mit festen, zielbewußten Schritten über die Berge wanderte, der Sonne entgegen.


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