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9. Kapitel.
Generalkonfusion?

Leben steht niemals tat Wachstum still,
Leben hat immer ein ewiges Ziel!
Leben, das Tod und Verwesung erstrebt,
Das nie zum Lichte die Flügel erhebt,
Hat die Weltgeschichte noch nicht erlebt.

Die Morgensonne schien in den kleinen Salon, wo Frieda und Rose Händler beim Kaffee saßen.

Fräulein Sigrid Alchhusen, die Frühaufsteherin, die schon vor mehreren Stunden gefrühstückt hatte, war herübergekommen, um den beiden Studentinnen Gesellschaft zu leisten und über den gestrigen Vortrag mit ihnen zu sprechen.

Ein etwas linkisches, älteres Mädchen, in welchem man auf den ersten Blick die Lehrerin erkannte, war die vierte im Bunde. Fräulein Meyer. Sigrid Alchhusen hatte sich der Neuen mit rührender Gutmütigkeit angenommen. Die Folge davon war, daß jene sich wie ein Verhängnis an ihre Sohlen heftete.

»Das wird Ihnen bald über werden,« hatte Rose gesagt. »Wenn sie sich wenigstens ordentlich frisieren und die Hände waschen wollte!«

»Tut sie das nicht? Ich muß offen gestehen, ich bemerke so etwas bei meiner Kurzsichtigkeit selten. Sie mögen sehr recht haben!«

»Ich habe tiefste Hoftrauer konstatiert,« sagte Rose.

»Man muß ihr das beibringen,« erwiderte die Juristin. »Es gibt Menschen, die einfach keinen Sinn für dergleichen Dinge haben.«

»Hören Sie, Sigrid, warum Sie Jura studieren, weiß ich wirklich nicht. Sie sollten lieber Missionsärztin werden, oder Vorsteherin an irgendeinem Asyl.«

Die Große zuckte die Achseln. »Sie meinen, die Juristin dürfe das Herz nicht mitsprechen lassen? Ich denke doch!« Und das Herz sprach weiter und weiter mit. – –

»Es geht uns ja nichts an,« hatte Rose Händler vor kaum zehn Minuten zu ihrer Schwester gesagt, »aber Sigrid Alchhusen soll sich nicht einbilden, daß ich mich länger mit der Meyer abgebe. Dazu habe ich weder Zeit noch Lust. Sie paßt absolut nicht in unsern Kreis, jeder Versuch, ihr freundlich zu begegnen, scheitert an ihrem prätentiösen, unausstehlichen Wesen! Mag sie sich ein anderes Quartier suchen!«

»Rose, sei doch nicht so scharf, das arme Geschöpf ist verbittert! Wer weiß, was sie schon für Erfahrungen hinter sich hat! Wenn du so häßlich wärst, würdest du sicherlich nicht anders sein.«

Rose lachte. »Ja, sie ist mordsgarstig!« Sie reckte die feine Gestalt. »Tauschen möchte ich ja nicht gerade.«

»Siehst du wohl.«

»Ja, du hast recht, wie immer. Ich werde mich bessern.«

Im selben Augenblick klangen Stimmen. Es klopfte, und ohne ein Herein abzuwarten, stand Sigrid Alchhusen mit ihrer ›Hofdame‹, wie die Studentinnen die Lehrerin nannten, auf der Schwelle.

»Dürfen wir?« und sie setzte sich zu den Schwestern.

»Die Damen gestatten!« wisperte Fräulein Meyer, und Rose schwang sich sofort zu ungeahnter Liebenswürdigkeit auf und rückte der Neuen einen Korbsessel an den Tisch.

»Ich wußte, daß Sie heute erst spät ins Kolleg gehen,« begann Fräulein Alchhusen. »Darum kam ich herüber. Beim Kaffee arbeiten Sie ja doch nicht, und es schwatzt sich so nett dabei. Wie gefiel Ihnen der Vortrag?«

Rose lachte ihr hell ins Gesicht. »Auf die Frage hab ich nur gewartet. Denn so eingebildet sind wir denn doch nicht, daß wir Ihr plötzliches Erscheinen unseren persönlichen Reizen zuschreiben!«

»Bravo, das hat gesessen!« rief die Große. »Ich könnte Ihnen darauf ein Wort wie › fishing for compliments‹ erwidern, aber das würde meiner vornehmen Erziehung widersprechen. Ich bescheide mich also. Und nun zur Sache, sonst werden wir nicht fertig. Hat Ihnen der Vortrag gefallen?«

Rose lehnte sich im Stuhl zurück. »Die Frage ist nicht so einfach mit Ja und Rein zu beantworten. Aufbau, Dialektik, Sprache suchten ja ihresgleichen, aber im übrigen?« Sie zuckte die Achseln. »Sie dürfen nicht vergessen, daß Geheimrat Schnitzler seine siebenundfünfzig Jahre älter ist als ich.«

Fräulein Alchhusen blickte ihrem Gegenüber fest ins Auge: »Das tut hier nichts zur Sache.«

»Doch! er ist unmodern, und ich bin modern.«

»Ich glaube, Sie urteilen nicht ganz objektiv,« sagte Sigrid Alchhusen ruhig. »Der moderne Mensch kämpft um die Wahrheit. Hat er sie gefunden, so ist sein Ziel erreicht. Denn die Wahrheit enthält immer eine Gewißheit. Und ich meine, eine feste, sichere Gewißheit war's, auf die Geheimrat Schnitzler die Zukunft unseres Volkes und sein eignes Leben gründete. Man kann doch nicht sagen, das sei unmodern, und wenn es so wäre, – unmoderne Gewißheit ist mir doch tausendmal lieber als moderne Ungewißheit.«

Rose saß etwas in der Enge. Das ging ihr öfter so mit Sigrid Alchhusen. Ihre ruhige Überlegenheit reizte die temperamentvolle Rose, und nach wenig Augenblicken war der schönste Streit im Gange.

Frieda hörte gewöhnlich still zu. Sie liebte es nicht, sich in Wortgefechte zu mischen. Rose dagegen fand es hochinteressant, ihre geistige Kraft im Kampf mit der gewandten Gegnerin zu messen. Daß die Große sie heute in Gegenwart Fräulein Meyers gleich beim ersten Gang auf Matt setzte, war ihr unangenehm. Aber sie faßte sich rasch.

»Wer sagt denn, daß ich in Ungewißheit lebe?« fragte sie.

»Ich,« entgegnete die Juristin. »Übrigens haben Sie selbst mir gegenüber oft zugegeben, daß der Monismus eine Weltanschauung ohne Hoffnung und Ziel ist.«

»Das habe ich nicht,« rief Rose mit glühenden Wangen. »Nennen Sie das Aufgehen der Persönlichkeit im großen Ganzen zum Heil der Völker etwa Hoffnungs- und Ziellosigkeit?«

»Wenn das Ziel Welterlösung heißt, nein. Wenn sich aber zum Schluß Gott der Herr mit allem, was er geschaffen hat, einfach in Wohlgefallen auflöst, so erscheint mir dies, abgesehen von dem Unsinnigen eines solchen Abschlusses, eine Beleidigung des Schöpfers. Von Hoffnung und Ziel ist keine Rede. Die Monisten lassen Gott ja allergnädigst irgendwo ein Winkelchen, bis er im Unbewußten versinkt, – ich bin nur auf die Gesichter neugierig, wenn die Sache nachher nicht ganz programmäßig verläuft.«

Rose war leichenblaß geworden. Sie sah nach der Uhr.

»Ich fordere Sie,« sagte sie, sich zu einem lustigen Ton zwingend. »Wir sind heute abend zu Hause. Wollen Sie bei uns Tee trinken? Frieda, bitte, sei mein Sekundant.«

Ihre Hand zitterte, während sie sich ein Brötchen strich.

Frieda aber sagte nur: »Wie kann ich dein Sekundant sein!«

»Gut, so schlagen wir uns alleine!«

»Vielleicht darf ich meine Dienste anbieten!« mischte sich Fräulein Meyer ein. Ihr Gesicht war undurchdringlich. Rose behauptete, als sie später mit Frieda allein war, es sei überhaupt kein ›Gesicht‹ gewesen.

Sie blickte die Sprecherin daher auch ziemlich entgeistert an und blieb ihr die Antwort schuldig.

»Ich glaube, Ihr Standpunkt ist auch der meine,« fuhr die Lehrerin etwas spitz fort. »Ich bin Monistin.«

Rose zuckte die Achseln. »Damit ist doch noch lange nicht gesagt, daß wir uns verstehen,« sagte sie kühl.

Frieda gab der Schwester einen Wink, aber sie war für nichts mehr zu haben. In ihrer raschen Art erhöh sie sich und schenkte sich die zweite Tasse Kaffee ein.

Fräulein Meyer aber setzte ihr Hofdamengesicht auf und behandelte ihre Gegnerin, als ob sie Luft wäre.

»Ich fand die Idee, einen derartigen Vortrag vor der Jugend beiderlei Geschlechts zu halten, überhaupt etwas gewagt,« wandte sie sich an Sigrid Alchhusen.

»Wieso?« fragte diese erstaunt.

»Nun, die heikelsten Dinge wurden mit einer Selbstverständlichkeit erwähnt, als gehörten sie zur Tagesordnung!«

»Das tun sie leider auch,« unterbrach sie Fräulein Alchhusen.

»Wie der Respekt zwischen Mann und Weib bestehen soll, wenn so etwas öffentlich verhandelt wird, ist mir schleierhaft,« erklärte Amalie Meyer.

»Der akademischen Jugend sind derartige Themata außerhalb des Hörsaals leider nicht fremd,« erwiderte die Juristin. »So traurig es ist, daß man überhaupt damit zu rechnen hat, so liegen hier doch starke Unterschiede in den Motiven der Behandlung vor. Auf der Straße berauscht sich die dekadent gewordene Jugend an diesen Dingen; der Hörsaal öffnet sich einer pflichtgemäßen, sachlichen Warnung, die meines Erachtend in diesem Falle sehr fein und dezent ausgesprochen wurde. Unsere Zeit hat zu wenig Rückgrat. Man erreicht nur noch etwas durch messerscharfe Wahrheit und reinliche Scheidung.«

Fräulein Meyers himmelblaue Augen wurden immer größer. »Aber mein Gott, halten Sie denn die ganze Auffassung nicht für furchtbar übertrieben? Ich habe nie gehört, daß es auf diesem Gebiet so schlimm bei uns aussähe!«

Um die Mundwinkel der anderen zuckte der Spott: »Buxtehude macht darin vielleicht eine Ausnahme! Dann wäre es allerdings ein vorbildliches Städtchen!«

»Ich bin nicht aus Buxtehude,« rief die Lehrerin gereizt, »mein Vater war Kantor auf einem adligen Majorat in der Nähe. Wir haben aber natürlich nur auf den Gütern verkehrt.«

›Das merkt man,‹ dachte Rose, behielt ihre Ansicht aber wohlweislich für sich.

»Nehmen Sie es bitte nicht übel,« sagte Fräulein Alchhusen mit dem ehrbarsten Gesicht von der Welt, »ich habe Ihnen absolut nicht zu nahe treten wollen. Buxtehude soll noch echt altertümlichen Kleinstadtzauber an sich tragen, wie z. B. auch Teterow. Es ist doch nur ein Segen, wenn diese kleinen Orte in manchem hinter den Großstädten zurück sind.«

»Was meinen Sie damit?«

»Mein Himmel, das ist doch klar! Also kurz gesagt: ich meine nächtliche Zustände, wie z. B. in Berlin-Friedrichstraße.«

»Soweit sind wir allerdings, Gott sei Dank, noch nicht,« sagte die Pädagogin scharf. »Verzeihen Sie den häßlichen Zwischenfall, Fräulein Händler,« wandte sie sich dann an Frieda, »ich bedaure das Intermezzo aufrichtig, fühle mich aber unschuldig!«

Mit einem giftigen Blick auf Rose und Fräulein Alchhusen verließ sie würdevoll das Zimmer. –

»Es wird aber Zeit, daß Sie die gründlich auf den Schwung bringen, Sigrid,« rief Rose, als sich kaum die Tür hinter der Gekränkten geschlossen hatte.

»Ach, es ist ein unglückliches Geschöpf!«

»Sie haben wohl schon moralische Anwandlungen wegen Buxtehude?«

Die Große lachte. »Nein, das mußte sie hören, – aber trotzdem, sie tut mir leid!«

»Sie hat wohl eine Generalbeichte vor Ihnen abgelegt?«

»Ja, etwas Ähnliches.«

»Ich finde Lehrerinnen unausstehlich,« sagte Rose, indem sie sich erhob und den Kaffeetisch abzuräumen begann.

»Du kennst ja auch ausgerechnet drei,« warf Frieda ein.

»Ich meine die Type. Das, was man im Kolleg und auf der Straße sieht. Die paar, die ich persönlich kenne, find mir außerdem höchst unsympathisch!«

»Deshalb dürfen Sie aber nicht das Kind mit dem Bade ausschütten,« sagte Sigrid. »Ich kenne sehr nette Lehrerinnen, allerdings jüngere Mädchen als Fräulein Meyer, die daher vielleicht nicht so empfindlich und altjüngferlich find. Sie müssen auch bedenken, daß das arme Wesen viel Schweres durchgemacht hat.«

Es klopfte.

»Nanu!« sagte Rose, ihre Tassen eilig zusammensetzend, »wer beglückt uns denn zu dieser Stunde?«

Frieda rief: »Herein!«

In der offenen Tür standen Benz und Doktor Wenden. Ihre Gesichter waren tiefernst.

»Geheimrat Schnitzler ist diese Nacht gestorben,« sagte der junge Arzt, Frieda die Hand reichend. »Wir dachten, es würde Ihnen lieb sein, es gleich zu erfahren. Frau Korallus haben wir benachrichtigt. Sie will sofort zu der Tochter hinübergehen.«

Er schwieg. Aus den klaren, offenen Zügen sprach tiefempfundene, ehrliche Trauer. Wie ein Sohn war er bei Schnitzlers, mit denen sein Vater in engen freundschaftlichen Beziehungen gestanden, aus- und eingegangen.

Benz stand still daneben. Er war sehr blaß. Der Ernst in dem schönen, männlichen Gesicht machte dasselbe besonders sympathisch.

Die jungen Kommilitoninnen waren tief erschüttert.

»Hat ein Schlaganfall das Ende herbeigeführt?« fragte Frieda, als die Herren Platz genommen.

»Wahrscheinlich,« meinte Wenden. »Ich war einen Augenblick bei Fräulein Schnitzler. Sie hatte mich rufen lassen. Ihres Vaters Wesen und Aussehen haben sie schon gestern abend beunruhigt. Sie meinte, der Vortrag habe ihn sehr erregt. Das letzte Wort, das sie von ihm gehört, scheint diese Annahme zu bestätigen: ›Wenn ich es ihnen nur recht gesagt habe!‹«

»So war er immer,« sagte Benz, der, den Kopf in die Hand gestützt, vor sich nieder blickte. »Erst kamen die Studenten, dann die Professoren und alle möglichen anderen Menschen, und ganz zuletzt der alte Schnitzler.«

»Ja, so war er,« bestätigte Wenden traurig.

»Der gestrige Vortrag erscheint mir wie ein Vermächtnis dieser großen Persönlichkeit an uns alle,« sagte Sigrid Alchhusen. »Hoffentlich wird er gedruckt, damit man die Einzelheiten nicht vergißt.«

»Das wird er jedenfalls,« meinte Benz.

Frieda, welche mit feinem Sinn herausfühlte, daß die beiden jungen Leute sich an diesem Tage nach freundschaftlichem Zusammenschluß im engeren Kreise sehnten, forderte sie auf, den Abend bei ihnen zu verbringen.

Dankbar sagten sie zu.

Gedankenvoll sah sie den beiden nach, wie sie den verschneiten Königswall entlang schritten. Der eine, der nicht Vater noch Mutter mehr hatte, begrub ein Stück Lebensfreude mit dem greisen Philosophen, dem anderen brannte – es konnte nicht anders sein – das Wort im Herzen, das der Tote seinen Zuhörern als letztes Vermächtnis hinterlassen. Ihre Gedanken wurden zum Gebet: ›Möchte es in seiner Seele glühen, möchte es, zur hellen Flamme entfacht, ein anderes Herz an die wärmende Feuerstätte laden!‹

Denn dies Herz bedurfte der nie verlöschenden Herdglut und des tiefen, stillen Segens einer Heimat.

»Ich habe die schroffe Ablehnung des Monismus bei einem so hervorragenden Philosophen wie Schnitzler nie verstanden, und seine Haltung gerade vom wissenschaftlichen Standpunkt aus stets bedauert,« sagte Benz, als der Vortrag des Entschlafenen abends im Händlerschen Salon besprochen wurde.

»Warum vom wissenschaftlichen Standpunkt aus, Herr von Benz?« fragte Sigrid Alchhusen, die klugen Augen fest auf den jungen Mediziner richtend. »Bitte, erklären Sie mir das! Ich muß offen gestehen, daß ich den Monismus wissenschaftlich niemals ernst genommen habe!«

»Oho,« rief Rose über den Tisch. »Kennen Sie die neuen Weltanschauungen so genau?«

»Ja, so genau, daß ich genug davon bekommen habe. Vor drei Jahren war ich noch Vertreterin der in meinem Elternhause als maßgebend geltenden Hartmannschen Hypothese. Dann wurde ich Waise. Solange ich Not und Leid nicht kannte, hatte ich nicht viel über Weltanschauungsfragen nachgedacht; als ich verlassen an Sarg und Grab stand, und das Leben mir keine einzige Konzession mehr machte, genügte mir die Philosophie des Unbewußten nicht mehr. Ich ging auf die Universität nach Breslau und beschäftigte mich gründlich mit dieser ›Wissenschaft‹. So gründlich, daß mir, wie Sie wissen, nichts von ihr übrig blieb.«

»Das verstehe ich nicht,« sagte Benz. »Gerade die Hartmannschen Gedankengänge sind meines Erachtens sehr klar und scharf umrissen und durchaus wissenschaftlich begründet. Folgen wir denselben, so stoßen wir letzten Endes immer wieder auf das Unbewußte, auf ein Riesensystem in steter Wechselbeziehung zu einander stehender Kräfte, welche die Erscheinungswelt mit all ihren Arten und Formen hervorbringen. Diese Formen wirken kausal und teleologisch zugleich. Ich bin niemals einer glänzenderen Beweisführung für die Gesetzmäßigkeit und Zielstrebigkeit dieser Formen begegnet, als der Hartmannschen. Auch die Offenbarung des Unbewußten in der Geisteswelt berührt mich durchaus sympathisch. Gegen Schopenhauers ›blinden Urwillen‹ habe ich mich immer gesträubt. Der unermeßliche Willensdrang, der, die Vorstellung beherrschend, die Tat des Unbewußten erzwingt, ist mir die einzige Erklärung für die Weltschöpfung, der man doch beim besten Willen nicht unbesehens das Zeugnis einer logischen Handlungsweise ausstellen kann. Denn äußerlich angesehen, ist diese Tat pervers. Wir entstehen, um wieder zu vergehen. Mit uns aber vergehen Schöpfer und Universum. Wer jedoch dem Problem auf den Grund geht, erkennt seine Schönheiten. Hier liegt nicht Schopenhauers Weltverneinung zugrunde, sondern Weltbejahung. Jeder einzelne hat die Pflicht, das gesamte Menschheitsziel auszubauen; jeder einzelne personifiziert gewissermaßen den Erlösungsgedanken!«

»Und worauf zielt der hin?« fragte Margot Hilarius.

»Nun, natürlich auf das Ende aller Leiden, auf eine Aufhebung alles bewußten Daseins und ein Zurücktreten ins Nirwana.«

»Das ist die indische Erlösungsidee,« sagte Sigrid Alchhusen. »Wenn Sie sich damit begnügen, bewundere ich Sie, Herr von Benz! Ich bin anspruchsvoller! Wenn ich nicht die Gewißheit eines ewigen, seligen Lebens hätte, so wäre ich längst ins Wasser gegangen oder hätte Gift genommen.«

»Das hätten Sie nicht, gnädiges Fräulein!« rief Benz lebhaft. »Der Selbsterhaltungstrieb steckt in jedem Menschen!«

»Bitte, sehen Sie sich doch die Statistik der Selbstmorde an, und fragen Sie nach den Ursachen,« entgegnete die junge Juristin. »Gehen Sie den Ereignissen auf den Grund, so werden Sie in den meisten Fällen finden, daß jener Diesseitigkeitssinn, der kein transzendentes Ziel, keine Hoffnung kennt, die Ursache solchen Abschlusses ist. Wer ein gestecktes Ziel im irdischen Leben nicht erreicht, greift unbesehens zur Waffe. Menschen, welche das Leben trennt, gehen gemeinsam in den Tod, als ob derselbe ihnen Vereinigung und Erlösung brächte. Unsere Zeit ist eine innerweltliche, darum fordern ihre Kinder schon hienieden ihr volles Maß an Glück. Wird's ihnen versagt, so machen sie ihrer Existenz, die sie nun doch einmal als verpfuscht ansehen, kurzerhand ein Ende. Ist's nicht so?«

Er zuckte die Achseln. »Sie zeichnen den Durchschnittsmenschen. Kein Idealist würde so handeln.«

»Das weiß ich nicht. Außerdem mußte ich natürlich mit dem Durchschnitt rechnen. Höhennaturen begegnet man nicht alle Tage.«

Schweigend hatte Doktor Wenden den beiden zugehört. Jetzt wandte er sich an Sigrid. »Mein gnädiges Fräulein, es ist vergebliche Liebesmühe, meinen Freund Benz mit Worten von seinen monistischen Irrfahrten abzuhalten. Ich habe es oft genug vergeblich versucht.«

»Herr Doktor, wie können Sie von monistischen Irrfahrten reden!« rief Rose mit glühenden Wangen dazwischen, »die Identitätslehre kommt der christlichen Weltanschauung mit ihrem Gottesbegriff näher, als jeder andere Monismus. Das räumt sogar mein Vater ein,« fügte sie mit einem triumphierenden Blick auf Frieda hinzu.

»Das wird wohl jeder denkende Mensch einräumen, Rose, aber die Sache hat zwei Seiten,« erwiderte die Schwester.

»Gewiß,« bestätigte Doktor Wenden. »Vor allen Dingen muß man sich doch, bevor man es zum Schöpfer aller Dinge erhebt, über das Unbewußte klar sein. Einer unserer größten Apologeten sagt: ›Das Wesen des Unbewußten ist philosophisch ganz unverständlich.‹ (Hunzinger, Das Christentum im Weltanschauungskampf der Gegenwart.) Nach Hartmann scheint der Wille die Vorstellung an ihrer Tätigkeit zu hindern und andererseits die Vorstellung den Willen am Wollen. Wie sollen aber diese zwei Antipoden ein drittes, das Unbewußte, zum Handeln bringen? Diese eine Unmöglichkeit macht doch schon die ganze Hypothese unmöglich! Denn mehr als eine Hypothese ist der Monismus überhaupt nicht. Ich kann nur hinzufügen, ich halte ihn für einen höchst fragwürdigen Wagesatz!«

»Für einen Wagesatz?« rief Benz. »Was ist denn das Christentum? Versteckter Eudämonismus, nichts weiter.«

»Lieber Benz,« sagte Wenden ernst, »ich will dir nicht immer wieder das Christentum anpreisen. Es würde zu nichts führen. Den Glauben kann man keinem Menschen anreden, er muß von innen herauswachsen. Aber die Pseudowissenschaft, die der Monismus vertritt, werde ich dir zu beweisen suchen, wo ich kann. Ich bin kein Philosoph, sondern nur ein schlichter Christ. Aber schließlich ist ein denkender Mensch nicht ganz umsonst auf der Hochschule. Abgesehen von persönlichen Studien auf diesem Gebiet, habe ich doch nachgerade so viel Maßgebendes, wahrhaft Wissenschaftliches darüber gehört, daß ich mir wohl ein Urteil erlauben darf.«

»Bitte,« sagte Benz.

»Es ist nicht möglich, daß ich hier das ganze monistische Programm aufrolle,« fuhr Wenden fort, »das ist aber auch nicht nötig. Die Grundpostulate sind uns allen bekannt, ja, ich kann wohl mit Sicherheit annehmen, unser aller Kenntnisse gehen weiter. Um nun auf die philosophische Seite der Sache zurückzukommen, so kann ich nur der Hunzingerschen Auffassung zustimmen, und das Wesen des Unbewußten für philosophisch unverständlich erklären. Bitte, stellen Sie sich eine unbewußte Vorstellung, ein unbewußtes Wollen vor. Ich kann's beim besten Willen nicht.«

»Weil du's nicht willst, lieber Wenden,« rief der Freund. »Du hast nun einmal eine ganz andere Weltanschauung als ich, warum wollen wir uns immer über diesen Punkt streiten?«

»Wir streiten uns ja gar nicht,« entgegnete der Inaktive ruhig. »Außerdem sind hier noch andere Menschen, die sich sehr für diese Fragen interessieren.« Er warf Rose einen Seitenblick zu.

»Ich stoße mich immer an einem Punkt,« sagte Margot Hilarius. »Das ist die monistische Schöpfung. Eduard von Hartmann sagt selber, die Vernunft habe in ungestümem Willensdrang eine Vielheit geschaffen, die im letzten Grunde nicht zweckmäßig sei. Die Welt an sich findet er dann aber trotzdem zweckmäßig, obgleich er andererseits wieder andeutet, daß der Schöpfungsakt eigentlich nur als ein Versehen des Unbewußten zu erklären sei. Die Entstehung der Welt wäre demnach recht unmotiviert, besonders da sie sich in Dunst auflöst, nachdem die ganze Menschheit sich an der allgemeinen Kulturentwicklung und der Erlösung des Unbewußten abgearbeitet hat. Ich habe das gewiß falsch verstanden, denn solchen Unsinn kann man doch niemand auftischen.«

Wie aus der Pistole geschossen erhielt die junge Studentin von zwei Seiten Antwort.

»Das haben Sie auch falsch verstanden!« rief Benz. – »Das ist auch ein unglaublicher Unsinn –« Doktor Wenden.

Amüsiert sah sie von einem zum andern. »Sie sind ja nette Freunde!«

»Das will ich hoffen,« sagte Wenden.

Margot wandte sich an den jungen Vandalen: »Respekt kann ich vor der Gottheit des Unbewußten beim besten Willen nicht haben, Herr von Benz, und das ist doch wohl eine der ersten Bedingungen des Glaubens.«

»Gewiß, mein gnädiges Fräulein. Hier liegt aber ein Mißverständnis vor. Sie müssen das große Ganze ins Auge fassen, die Erlösungsidee. Wie die Ausführung zustande kommt, welche Opfer sie fordert, ist ja gänzlich gleichgültig. Die Hauptsache ist der Abschluß der Erdenqual, die ewige Ruhe.«

»Ewige Ruhe? Sie meinen doch nicht ewigen Schlaf?«

»Ich meine das Zurücktreten ins Unbewußte.«

In dem rosigen Antlitz zuckte der Spott. »Das scheint mir doch zum mindesten einem recht ausgiebigen Mittagsschläfchen nahe zu kommen, oder, –« sie sah sich fragend im Kreise um, »hörte ich hier vorhin das Wort Nirwana?«

»Ja,« sagte Wenden ruhig.

Sie war sofort wieder ernst.

»Herr von Benz, wie ist es menschenmöglich, daß Sie sich in diese Ideen verstricken lassen!«

Sie errötete und blickte sich mit großen Augen erschrocken um, als habe sie zu viel gewagt.

Aber Frieda und Sigrid Alchhusen nickten ihr ermunternd zu, und Wendens dunkles Auge ruhte warm auf ihr.

Da fuhr sie mutig fort: »Herr von Benz, Sie fassen doch sonst alles so klar und scharf auf. Ist Ihnen denn die Unhaltbarkeit der Identitätslehre nie aufgefallen? Das Philosophische kann ich natürlich nicht beurteilen, doch eins muß ich sagen, ich habe manch schönes Philosophenzeugnis für den Theismus gehört. Nun aber das religiöse Moment. Kein schlichter Christ würde damit zufrieden sein. Wie kann es Ihnen, dem Gelehrten, genügen? Sie stehen ja über Ihrem Gott, über dem Unbewußten, das Sie erst erlösen müssen. Brauchen Sie denn für Tod und Leben keinen allmächtigen, barmherzigen Gott? Geheimrat Schnitzler sagte neulich, der Monismus sei der Lügner, der die größte Generalkonfusion angerichtet habe.«

Dem Vandalen war das Blut in die Wangen gestiegen. Aber seine vornehme Erziehung verließ ihn nicht. Er vergaß keinen Moment, daß er eine Dame vor sich hatte, obgleich alles in ihm in Aufruhr war.

Rose bemerkte es und bewunderte ihn. Margot Hilarius war heute abend wirklich unglaublich; sie hatte ihr mehr Takt zugetraut. Ein mißbilligender Blick flog zu der Kollegin hinüber.

Margot merkte es nicht. Wie hypnotisiert saß sie da. Ob sich Wendenscher Einfluß geltend machte? Doch wohl nur bedingterweise. Rose selber hatte sich ja schon öfter mit ihr über diese Fragen gestritten und wußte, daß Margots Standpunkt ein alter, festgewurzelter war. Warum aber schwieg sie nicht? Dies Missionstreiben war unausstehlich. Und Rose vergaß, daß die Unterhaltung von Anfang an eine ganz allgemeine gewesen und erst durch eine unbeabsichtigte aber berechtigte Zwischenfrage Margots und die darauf folgende Antwort des jungen Vandalen in dieses Stadium getreten war. Margot war sehr impulsiv, das Gefühl sprach stark bei ihr mit, jedenfalls wohl mehr als der Verstand, dachte Rose, die nicht mehr ganz unparteiisch urteilte. Und dann hörte sie die Antwort Mark Albrechts: »Liegt da nicht ein Irrtum vor? Ich kann mir kaum denken, daß Geheimrat Schnitzler sich derartig geäußert haben sollte; in seinem Vortrag kam dieses Wort jedenfalls nicht vor.«

»Es war privatim gesprochen,« sagte Wenden.

»So.« Er zuckte die Achseln und wandte sich wieder an Margot. »Erlassen Sie es mir, dies Wort des Entschlafenen zu kritisieren, mein gnädiges Fräulein! Kommen wir lieber auf den streitigen Punkt selbst zurück.

Einen Gott, wie das Christentum ihn verlangt, kenne ich allerdings nicht und wünsche ihn mir auch nicht. Er würde mein ganzes Persönlichkeitsideal zerstören. Wir sind hier ja ganz unter uns, und Offenheit ist unter Freunden immer das Beste. Ich hoffe daher, daß meine sachgemäße Darlegung auch Sie, mein gnädiges Fräulein, nicht verletzen wird.« Er sah auf die Uhr. »Auf lange Debatten dürfen wir uns nicht mehr einlassen, sie würden auch zu nichts führen. Aber jeder soll wissen, wo der andere steht. Einverstanden?«

Sie nickte.

»Also, es ist eine erwiesene Tatsache, daß das dogmatische Christentum sich überlebt und der moderne Mensch sich darüber hinaus entwickelt hat. Denn der christliche Offenbarungsglaube ist ebenso haltlos, wie die alte, scholastische Philosophie der Renaissance. Mit der Naturwissenschaft ist das Christentum unvereinbar, die moderne, historische Denkweise steckt ihm überall Grenzen, die neuste und allerneuste Philosophie lehnt es ab. Wir verlangen aber etwas Greifbares, etwas, das man mit dem gesunden Menschenverstand in Kontakt bringen kann, etwas sittlich Starkes, Zielstrebiges. Mit einem Wort: Moral. Sie bringt Selbsterlösung des Einzelnen und legt den Grundstein zum Heil der Völker. Eine gewisse Schwermut liegt in der Identitätslehre, das gebe ich zu, aber die Schuld liegt nicht in ihr, wie überhaupt von irgendeiner Schuld auf Erden keine Rede sein kann, höchstens von der Schuld des Unbewußten selbst. Es steht ein hoher Schein über dem konkreten Monismus. Die große Mitarbeit an der Kulturentwicklung, der letzte versöhnende Abschluß des Weltenschicksals ohne Schärfen und Härten eröffnet uns eine wunderbar klare, lichtvolle Perspektive. Man sollte sich nicht durch den Pessimismus, der teilweise diese tiefsinnige Philosophie überschattet, abschrecken lassen!«

»Und wenn sich dies ganze Gebäude als ein Kartenhaus erwiese,« sagte Frieda, »wenn es sich plötzlich herausstellte, daß Sie im Tod und Leben einen gnädigen, allmächtigen Gott brauchten, bedingungslos brauchten, – was dann?«

»Warum sollte ich ihn brauchen?«

»Weil Sie sich nicht selbst erlösen können, Herr von Benz.«

»Geht das auf die menschliche Schuld?«

»Ja,« sagte sie ernst.

Er zuckte die Achseln.

»Auf die Schuld und auf die Hoffnung ewigen Lebens,« ergänzte Sigrid Alchhusen die Medizinerin.

Mit brennenden Wangen saß Margot da. Aufmerksam folgten Wenden und Rose der Unterhaltung. Alles blickte auf Benz.

»Es gibt keine menschliche Sünde,« rief er, »wir leiden im Gegenteil nur durch die Schuld des Unbewußten. Es ist mir ganz unmöglich, mich für irgendwie schuldig zu halten, ebensowenig wie ich an den Gott, den das Christentum predigt, glauben kann. Mein gesunder Menschenverstand sagt mir, daß diese Auffassungen vom erkenntnistheoretischen Standpunkt aus gänzlich haltlos sind. Mit einem Worte, ich kann nicht daran glauben.«

»Ein Greis, der die höchste Stufe irdischer Weisheit erklommen, erkannte gestern abend die Grenzlinie zwischen Glauben und Wissen an,« sagte Doktor Wenden. ›An dieser Grenzlinie fordert der Glaube seine Position, an der Stelle, wo Transzendenz und Immanenz sich begegnen,‹ lauteten seine Worte. Und dann ist er, dessen Gelehrtenruf weit über Deutschlands Grenzen hinausging, mit dem schlichten Worte schlafen gegangen: ›wenn nur Gottes Erbarmen und Christi Verdienst unserer Seele bleibt!‹« Die Stimme des jungen Arztes bebte. »Das gibt einem zu denken,« schloß er und fuhr sich mit der Hand über die Augen.

Alles war still. Selbst Rose schien die Freude an ihrer idealistischen Weltanschauung etwas vergangen zu sein.

Das Bild im Saal des Künstlerhauses stieg empor, die ehrwürdige Gestalt betrat das Podium, in der Linken den goldenen Leuchter der Alma mater, in der Rechten das Kreuz, verklärt durch den hohen Schein nahender Ewigkeit. Auch die schärfste Gegnerschaft machte ehrerbietig vor der Majestät des Todes Halt und erwies dem stillen Manne schweigend die letzte Ehre.

»Wer den Glauben vom Intellekt abhängig machen will, von Wissenschaft und Welterkennen, der wird niemals erfahren, was Glaube ist,« sagte Sigrid Alchhusen endlich. »Denn der Glaube selbst ist ein Wunder, so gut wie das, was er glaubt, Wunder ist.«

Benz sah sie zweifelnd an. »Soviel ich weiß, haben Sie außer Jura Philosophie belegt, mein gnädiges Fräulein,« sagte er ironisch, »oder irre ich?«

»Nein, Sie irren nicht. Die Philosophie in allen Ehren, aber es gibt eine Weisheit, an die reicht sie nicht hinan. Und ist sie ehrlich, so will sie's auch nicht. So weiß sie: ihr Licht ist von dieser Erde, jenes ist vom Himmel. So macht sie sich keiner Grenzüberschreitung schuldig, sondern läßt dem Glauben, was des Glaubens ist. Sie weiß ganz genau, daß kein Kausalgesetz, keine Erkenntnistheorie Gottes Heilsrat erforscht, sie treibt ihr irdisch Werk zu seinen Ehren und beugt sich an der Grenze ihres Wissens mit den Tausenden, die nicht durch Wissenschaft und Forschung, sondern durch den Glauben an den Gekreuzigten und Auferstandenen Ruhe und Frieden finden, vor dem Wunder seiner Liebe. Ja, ich glaube nicht zu irren, wenn ich behaupte, daß der Philosoph, der ein rechter Christ ist, den Gott, den sein Verstand erforscht, nicht anerkennen würde. Wir brauchen mehr zum Leben und Sterben, als eine supranaturale Gliederpuppe, wir brauchen einen heiligen, lebendigen, allmächtigen Herrn, der uns von unsern Sünden erlöst, vom Tode und von der Gewalt des Teufels!«

Wieder zuckte Benz die Achseln. Sigrid Alchhusen war ein unbequemer Gegner. Wenn sie den Intellekt dem Wunderglauben gegenüber einfach ausschaltete, was blieb dann übrig?

»Ich denke, Sie sind kein Determinist,« sagte er.

»Nein, das bin ich auch nicht. Christen sind bekanntlich immer Indeterministen. Menschen freien Willens, freier Tat. Glaubenkönnen ist Gnade, aber es bedingt das Glaubenwollen des Menschen. Sie sehen, mein Wille ist ganz frei, ich kann tun und lassen, was mir gefällt. Und ich freue mich dessen. Denn nichts aus der Welt kann mich hindern, meinem Leben die Überschrift zu geben: Durch unsern Herrn Jesum Christum! – Das ist mir die Hauptsache für Zeit und Ewigkeit.«

Sie schwieg. Eine tiefe Bewegung lag auf dem ernsten, klugen Gesicht.

Ihr Gegner fand keine Erwiderung auf das schlichte, unumwundene Zeugnis. Es war doch ein Großes, so für eine, täglich überall verspottete, herabgewürdigte, wissenschaftlich unmögliche Auffassung einzutreten und einfach zu bekennen: Ich glaube es! – Besonders groß von einer so klugen, gebildeten, und vor allem so nüchtern abwägenden Persönlichkeit wie Sigrid Alchhusen. Das Mädchen war ihm ein Rätsel.

Durch die allgemeine Stille tönte die Elektrische. Eine sonore männliche Stimme klang im Hausflur, dazwischen helles Frauenlachen.

Rose spitzte die Ohren. Dies frohe, natürliche Lachen kannte sie doch, und die Herrenstimme mußte sie auch schon gehört haben. Das sah ganz nach einer Überraschung aus. Die Gedanken flogen ihr durch den Kopf.

Im selben Augenblick tat sich die Tür auf, und ein hochgewachsenes, elegantes Paar stand auf der Schwelle. Schumanns. Aller Blicke richteten sich auf die beiden. ›Hochzeitsreisende‹ kombinierte Sigrid Alchhusen, und Margot Hilarius dachte: ›Ein Hochsommerglück! Warum die sich wohl nicht eher entschlossen haben!‹ Die Phantasie der beiden jungen Herren mochte weniger stark ausgebildet sein. Aus ihren Gesichtern sprach große, echte Überraschung, während sie, sich von ihren Sitzen erhebend, bescheiden zurücktraten.

Rose war die erste, die auf das Paar zueilte.

»Tante Maria, wo kommt ihr denn her?« rief sie, die junge Frau lebhaft umarmend, während Frieda Professor Schumann begrüßte. »Ich denke, ihr sonnt euch am Lido?«

»Das wollten wir; aber es gießt dort seit acht Tagen in Strömen. So packten wir unsere Koffer.«

»Und wo wollt ihr jetzt hin?«

»Nach Hause!« Ein strahlender Blick flog zu dem Gatten empor, der glücklich auf die liebliche Frau niedersah.

Frieda stellte vor. Die Gäste wollten aufbrechen und den Verwandten Platz machen. Aber das duldete die Frau Professor nicht.

»Davon darf keine Rede sein!« sagte sie liebenswürdig. »Wir müßten uns als Eindringliche und Störenfriede betrachten, wenn Sie gingen. Auch interessiert mich der Verkehr meiner Nichten. Sie gehören, wie's scheint, alle zum eisernen Bestand, – der darf nicht gesprengt werden!« Sie reichte den Anwesenden freundlich die Hand und nickte Margot Hilarius, die ihr besonders zu gefallen schien, lächelnd zu.

Alles war entzückt, besonders die beiden jungen Herren zogen ihre Vergleiche zwischen der anmutigen, echt weiblichen Frau und den Gelehrten- und Professorfrauen ihrer Bekanntschaft, unter denen manche als Studentin geheiratet und Studium oder Beruf mit in die Ehe gebracht. Frau Professor Schumann sah allerdings nichts weniger als hausbacken oder interessenlos aus, im Gegenteil. Nun, das übrige würde man ja wohl im Laufe des Abends oder später einmal erfahren.

Bald war denn auch die ungezwungenste Unterhaltung im Gange. Beide Schumanns hatten eine ungewöhnliche Gabe, Behaglichkeit und Leben um sich zu verbreiten. Jeder einzelne fühlte sich in ihrer Gesellschaft gewissermaßen zum Mittelpunkt gemacht, alles Fremde, Steife fiel ab, warme Herzlichkeit schlug überall die Brücke. Als Menschen, die Salz bei sich trugen, verstanden sie es, auch aus anderen etwas zu machen, ihr Selbstbewußtsein zu wecken, ihr Persönlichkeitsideal zu veredeln.

Die beiden jungen Mediziner freuten sich, den bekannten großen Augenarzt kennen zu lernen. Professor Schumann aber, dessen reges Interesse für die akademische Jugend ihm schon manchen Verehrer zugeführt, zeigte sich heute in seiner ganzen Liebenswürdigkeit, fragte nach den Zukunftsplänen der Herren, gab hier einen Wink, dort eine Erklärung und erwies sich als eine wissenschaftliche Größe ersten Ranges.

›Wenn wir den doch hier hätten!‹ dachte Benz.

Vor kaum drei Wochen hatten Schumanns in aller Stille geheiratet.

»Es war schade, daß ihr nicht kommen konntet,« wandte sich Maria an ihre Nichten, »aber ich konnte es verstehen, daß euer Vater die Unterbrechung der Studien nicht wünschte.«

Frieda stimmte ihr zu. »Wir waren kaum eingearbeitet, ich glaube auch, es war besser, obgleich wir natürlich gerne gekommen wären.«

»Ja, Tante Maria, daß deine Hochzeit ohne mich überhaupt zustande gekommen ist, fasse ich nicht!« rief Rose.

Alles lachte.

»Ist dein großer Roman eigentlich noch vorher fertig geworden?« fuhr sie fort.

»Drei Tage vorher ist er an den Verlag abgegangen. Die Korrekturbogen muß ich im März noch durchsehen.« Leicht und fröhlich klang's; nicht nach resigniertem Beiseitelegen langjähriger, liebgewordener Arbeit.

Wendens Auge ruhte sinnend auf der jungen Frau. Hatte er sich getäuscht?

»Dann wird die Schriftstellerei allen Ernstes ad acta gelegt?« fragte Rose weiter.

»Allen Ernstes. Ich habe nur Jutta versprochen, ihr manchmal ein Märchen zu schreiben. Sie scheint zu befürchten, daß ich sonst alles vergesse!«

»Das wirst du auch,« sagte Rose.

Professor Schumann sah seine Frau an. »Ja, Schatz, das hättest du dir vorher überlegen müssen! Romanschriftstellerei in dem Stil, wie du sie betrieben hast, ist unvereinbar mit deinen jetzigen Pflichten. Bei deiner Gewissenhaftigkeit würde aus dem Roman jedenfalls nicht viel werden!«

»Ich würde mein Manuskript zurückbekommen,« lachte sie, »oder, wenn man es aus Barmherzigkeit in einer kleinen Auflage druckte, meine Freude an den Rezensionen haben. Dann hieße es vielleicht u. a.: ein ziemlich nichtssagendes Buch, an dem der hübsche Einband entschieden das Wertvollste ist. Übrigens, du kluger Mann, ich habe mir die Sache sehr gründlich überlegt!«

Das ›sehr gründlich‹ klang sehr ernst; aber die dunklen Augen strahlten den Gatten an.

»Können Sie sich denken, daß meine Tante ihren schriftstellerischen Beruf ganz aufgibt?« wandte sich Rose, die darauf brannte, das Thema zum Gegenstand allgemeiner Unterhaltung zu machen, an Doktor Wenden. »Sie kennen doch die Romane von Maria von Salten?«

»Mein gnädiges Fräulein, ich kann Ihnen nur erwidern, daß ich mich freue, in Ihrer Frau Tante einer Frau zu begegnen, die ihren wahren Beruf nicht nur erkennt, sondern auch mit Freuden an die Erfüllung ihrer großen Pflichten herangeht. Natürlich kenne ich die Romane von Fräulein von Salten.« Er verbeugte sich gegen Maria. »Ich bitte, es nicht als Schmeichelei auffassen zu wollen, gnädigste Frau, sondern als ehrliche Bewunderung, wenn ich hinzufüge, daß Ihre Werke meines Erachtens zum Besten gehören, was die moderne Literatin geleistet hat!«

Maria nickte ihm lächelnd zu. »Das ist wohl etwas zu viel des Lobes, Herr Doktor, aber es freut mich, wenn meine Bücher ihren Zweck erfüllt und anderen Freude bereitet haben,« sagte sie einfach.

Die Frauenfrage war angeschnitten.

»Wie schade, daß Sie gestern abend den Vortrag des alten Geheimrat Schnitzler nicht gehört haben, gnädige Frau,« sagte Sigrid Alchhusen. »Ich kann mir denken, daß Sie ihm gerade in der Frage der weiblichen Berufe zugestimmt hätten. Wir stehen noch ganz unter dem Eindruck des Gehörten, es war wie ein Vermächtnis an unsere Generation. In dieser Nacht ist er gestorben.«

»Der alte Schnitzler?« Professor Schumann fuhr empor. »Maria, warum konnten wir nicht zwei Tage früher herkommen?«

Aus den klaren Zügen sprach tiefe, aufrichtige Trauer. Er schüttelte, vor sich niederblickend, den Kopf. »Und ich wollte dich doch zu ihm bringen!«

»Ob der Vortrag gedruckt wird?« wandte sich Maria an Doktor Wenden. »Ich läse ihn gern!«

»Jedenfalls wird er erscheinen,« erwiderte er und erbot sich, ein Exemplar zu schicken.

»Ach ja, tun Sie das!« rief Schumann über den Tisch, »wir würden Ihnen herzlich dankbar sein! Ob der alte Herr wohl mit meiner Frau zufrieden gewesen wäre?«

»Ganz gewiß,« rief Sigrid Alchhusen lebhaft, und Frieda fügte hinzu: »Vom christlichen Standpunkt aus, den Geheimrat Schnitzler immer in klarster, positivster Weise vertreten hat, konnte er die Frau ja nur auf den Platz hinweisen, für den Gott sie in erster Linie bestimmt. Aber es war schön, wie gerecht er der Frauenfrage wurde, wie er die feine Grenze zog zwischen den neuerschlossenen, weiblichen Arbeitsfeldern und den spezifisch männlichen Berufen, in welche sich die moderne Frau hineindrängt und dadurch naturgemäß ihre Weiblichkeit in Gefahr bringt. Ich habe die, durch eine in unserer Zeit offenbar absichtlich angebahnte Vermännlichung und die in vielen Fällen mit ihr Hand in Hand gehende Glaubenslosigkeit hervorgerufene Degeneration der Frau nie so klar herausgearbeitet gesehen, wie in diesem Vortrag. Er hat mir viel gegeben.«

Teilnehmend hörten Schumanns den verschiedenen Ausführungen zu. Wenden erzählte noch einige hübsche Züge aus dem Leben des Verstorbenen, und Margot Hilarius erinnerte ihn an die letzte persönliche Begegnung mit dem greisen Philosophen. Nur der Monismus, das größte Ärgernis auf dem langen Lebenswege des alten Schnitzler, ward, wie auf Verabredung, an diesem Abend nicht wieder erwähnt.

Es war spät, als man sich trennte. Schumanns hatten die Schulrätin noch begrüßt, und die lebhafte Frau verwickelte den Professor in eine lange Unterhaltung über die Einrichtung von Augenkliniken, von denen sie behauptete, sie interessierten sie ganz besonders.

»Wollt ihr wirklich schon morgen mittag fort?« fragte Frieda die Tante beim Abschied.

»Wir haben uns zu Hause angemeldet, und Ehrengard freut sich auf uns,« erwiderte jene. »Aber wir sehen uns morgen noch!«

»Gewiß. Wir können uns morgen von zehn bis zwölf frei machen und stehen dann ganz zu eurer Verfügung.«

»Das ist schön! – Ihr habt doch gute Nachrichten von zu Hause? Dein Vater war auf unserer Hochzeit so schrecklich erkältet, daß ich wirklich mit Sorge abreiste. Er neigt doch sehr zu Bronchialkatarrhen!«

»Die Eltern haben uns nichts davon geschrieben.«

»Dann ist die Sache jedenfalls überwunden,« beruhigte Professor Schumann die Damen.

Rose stand mit Benz an ihrem Schreibtisch, wo sie ihn wegen eines wissenschaftlichen Buches um Rat fragte. Aber ihr Gesichtsausdruck war zerstreut, und ihre brennenden Wangen verrieten, daß sie mit ganz anderen Dingen beschäftigt war.

Während er in dem medizinischen Werke blätterte, sah sie sich nach den übrigen um. Es war allgemeiner Aufbruch.

Da sagte sie, fest auf das Buch in seiner Hand blickend: »Teilen Sie Geheimrat Schnitzlers Standpunkt betreffs der Frauenfrage?«

Er sah überrascht auf. Sie hatte den Kopf gesenkt, die langen dunklen Wimpern verschleierten ihre Augen.

»Abgesehen vom christlichen Moment, welches ich natürlich ausschalte, gebe ich ihm in vielem recht,« entgegnete er.

Sie blickte noch immer auf das Buch. »Inwiefern?« sagte sie leise.

Er seufzte. »Ich pflichte ihm darin bei, daß die Gefahr der Vermännlichung die studierende Frau bedroht. Meine persönlichen Bedenken, die ich als Mediziner habe, kommen noch hinzu; ich glaube, der Prozentsatz der Frauen, die auf diesen Gebieten gesundheitlich reussieren werden, kann immer nur ein minimaler sein. Man braucht ja nur in die Statistik hineinzusehen. Außerdem,« – er zögerte.

Sie schlug die Augen voll zu ihm auf, als wollte sie sagen: ›Sprich nur, ich ertrag's!‹

»Außerdem glaube ich, daß die Vorbildung zu einem qualifizierten Beruf die Frau ihrem natürlichen Pflichtenkreise entfremdet,« vollendete er rasch seinen Satz.

»Das liegt doch wohl nur darin, ob sie sich ihre Eigenart nehmen läßt oder nicht,« erwiderte die Studentin.

»Ich weiß nicht, ob es ganz in ihrer Hand liegt,« sagte er ernst.

»Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg,« gab sie schnell zurück.

»Gewiß, gnädiges Fräulein! Aber es kommt eben darauf an, ob der Wille noch ganz unbeeinflußt ist, oder ob er bereits den Stempel des Fremden trägt!« – –

»Adieu, Rose! Also auf Wiedersehen morgen!«

Maria Schumann kam im langen Pelz auf ihre Nichte zu. »Wir haben mit Frieda verabredet, daß ihr zu uns ins Hotel kommt! Adieu, Herr von Benz!«

Sie reichte dem Vandalen die Hand. Ehrerbietig zog er sie an die Lippen.

»Vergessen Sie nicht, sich meines Mannes Klinik anzusehen, wenn Ihr Weg Sie einmal in unsere Nähe führt,« sagte sie freundlich und wandte sich zum Gehen.

Benz und Rose folgten ihr.

›Es kommt eben darauf an, ob der Wille noch ganz unbeeinflußt ist, oder ob er bereits den Stempel des Fremden trägt,‹ zog es der Studentin durch den Sinn, während sie von den Verwandten Abschied nahm.

Warum hatte er das gesagt?

Warum hatte sie ihn gefragt?

Rose blieb sich die Antwort schuldig.

Aber in stiller Mitternachtsstunde, als alles schlief, lag sie noch wach. Das leiseste Geräusch in dem großen, stillen Hause ließ sie nervös aufschrecken. –

›Es kommt eben darauf an!‹

Die wachen Sinne wollten sich nicht beruhigen.

Stundenlang lag sie und grübelte und grübelte – –

Und dann sagte sie plötzlich ganz laut und energisch: »Daran müssen die Männer sich gewöhnen! Es ist hohe Zeit, daß das ewige Kinderwiegen und Wäscheflicken ein Ende nimmt!«

Sie legte sich auf die andere Seite und versuchte zu schlafen. »Ein Glück, daß wir uns wenigstens in der Weltanschauung einig sind, das andere wird schon kommen!«

Und allmählich gingen die Gedanken zur Ruh', einer nach dem andern.

Leise huschte ein Traum an ihrem Lager vorüber, zart und duftig, – einer, von denen Mädchenlippen nicht reden – –

Und dann schrillte die Nachtglocke durchs Haus.

»Herr Gott im Himmel!« Rose fuhr empor. Mit weit offenen Augen saß sie im Bett und lauschte. Unten klangen Schritte. Jedenfalls der Hausmann. Sie knipste das Licht an. Das Stübchen strahlte im neuen, elektrischen Glanze. Erst vor wenig Wochen hatte sich Frau Korallus zu der kostspieligen Anlage entschlossen. Rose wußte, die Rechnung war noch nicht einmal bezahlt. Aber das gehörte ja gar nicht hieher. Ihre sprunghafte Phantasie war wirklich unbequem, und gerade immer in Momenten wie – –

Ein kurzes Hin- und Herreden klang herauf. Die Haustür fiel ins Schloß. Schlurrende Schritte kamen nach oben. Gleich darauf ging die Elektrische an der Etagentür. Und dann ein endloses Warten. Natürlich. Dienstmädchen schliefen bis ins höchste Alter den Schlaf der ersten Jugend.

Rose sprang mit beiden Füßen aus dem Bett und fuhr in den Schlafrock. Vorsichtig schlüpfte sie hinaus.

»Wer ist da?« fragte sie durch die Scheiben.

»Telegramm!« klang's zurück.

Ohne die Vorlegekette zu lösen, schloß sie auf.

»An Fräulein Frieda Händler,« sagte die Stimme des Hausmanns. »Hoffentlich nichts von Belang! Wünsche eine gute Nacht!«

Die Depesche schob sich durch die Türöffnung.

»Danke, Herr Lindner.«

Der Mann ging die Treppe hinab.

Die Studentin drehte das Telegramm in den Händen. Ihre Finger zitterten.

Inzwischen war Frieda, deren Schlafzimmer neben dem Roses lag, wach geworden und lauschte an ihrer geöffneten Tür.

»Hier, für dich!« Die Schwester huschte hinein.

Über die Züge der Älteren flog jähes Erschrecken. Ihr erster Gedanke war der Vater. Schumanns waren nicht ohne Sorge abgereist. Seitdem waren allerdings fast drei Wochen vergangen – sie riß das Telegramm auf.

Vor ihren Augen tanzten die steilen blauen Buchstaben.

›Vater schwerkrank an Lungenentzündung. Kommt sofort.

Mutter.‹

Das Blatt entfiel ihren Händen. Totenblaß lehnte sie sich an die Wand.

»Um Gottes willen, was ist's!« rief Rose und raffte die Depesche vom Boden auf.

Mit angehaltenem Atem las sie. Wie angewurzelt stand sie da und starrte auf das Formular. »Herr Gott im Himmel!«

Und dann sah sie auf die Schwester. Frieda, so sanft und still sie war, hatte in schweren Momenten eine wunderbare Fassungskraft. Rose hatte im vergangenen Jahr oft genug Gelegenheit gehabt, dieselbe zu bewundern. Woher sie dieselbe nur nahm? Es war doch wahrhaftig keine Kleinigkeit, das Liebste zu begraben. Würde sie heute eine Stütze an ihr finden, wo sie den Boden unter den Füßen zu verlieren glaubte?

Der Vater schwerkrank, sterbend, wie es schien, vielleicht schon tot, – und sie selbst weit ab, beinahe eine Tagereise. –

Alles wühlte und wogte in ihr. ›Herr Gott, die Entfernung!‹ Der nächste Zug ging erst morgens um neun, gegen acht kamen sie abends an.

Eine fieberhafte Unruhe packte sie. Keinem Menschen hätte sie den letzten, tiefinnersten Grund verraten, kaum gestand sie ihn sich selber ein. Und doch: beiseiteschieben ließ er sich nicht. Abfinden mußte sie sich in irgendeiner Weise mit ihm. Sie suchte ihn an die Wand zu drücken, aber er behauptete sich immer wieder. Die Fluten des Leides verdrängten ihn nicht; das verklagende Gewissen war wach geworden und blieb wach. Unermüdlich redete es auf sie ein. Hart und grausam, mit eiserner Konsequenz rief es ihr immer wieder ein Wort ihres Vaters zu: ›Einmal, früher oder später, begegnet uns der Herr auf unserm Wege!‹ Sie wußte nur zu gut, wann und unter welchen Umständen dies Wort gesprochen worden war, wußte, daß er, der's in tiefem Schmerz um ein irregehendes Kind geredet, jene Stunde ebensowenig wie sie vergessen hatte. Und nun traf's ihr zuckendes Herz: das Sterben machst du ihm bitter, seine letzte verzweifelnde Sehnsucht gilt dir! Keine deiner Schwestern hat ihm ein Leid angetan, wie du, keine hat jene zarten, heiligen Bande, die Eltern und Kinder umschlingen, gelockert, zerschnitten, – nur du!

Und dazwischen klang das verwegene Wort eines Großen, der, wenige Straßen von hier entfernt, kalt und still auf der Bahre lag: ›Der Monismus ist der Lügner, der die größte Generalkonfusion angerichtet hat!‹ Er begehrte anderes; Gottes Erbarmen und Christi Verdienst hatte er sich nach seinem eigenen Ausspruch zum Sterbekissen erwählt. Rose wußte, ihr Vater würde diesem Beispiel folgen. Seltsam, daß immer wieder die größten Geister dieser Halluzination zum Opfer fielen! Ein grobkörniges Wort, das aber viel Wahrheit in sich trug, fiel ihr ein: ›Gerade die klügsten Menschen begehen oft die größten Dummheiten.‹

Sie schüttelte es ab. Es klang so pietätlos, und doch – sie brauchte ja nur an den großen Staatsmann zu denken, den Schnitzler in seinem letzten Vortrag gefeiert.

Sie starrte vor sich hin. Wie aufgescheuchte Vögel flatterten ihr die Gedanken durch den Kopf. Zwei inhaltsschwere Minuten zogen vorüber, als wären es Stunden harter Lebensarbeit.

Da trat Frieda auf sie zu. Bleich aber ruhig. Sie nahm den Kopf der Schwester in beide Hände und sagte mit leiser Stimme: »Wir müssen uns fassen und handeln, Rose. Um neun Uhr geht der D-Zug. Wenn wir uns beeilen, werden wir mit allem fertig. Und, Rose, – versuch's zu glauben! Gott kann helfen wo und wie er will!«

Rose schluchzte heiß und leidenschaftlich. Alles war in Aufruhr in ihr.

Da sagte die Schwester sanft und bestimmt: »Wir dürfen keine Minute verlieren. Es kann hier doch nicht alles offen liegen bleiben. Bitte, fasse dich! Ich werde dem Mädchen sagen, daß es unsere Handkoffer bringt. Gleich nach sieben muß eine von uns zu Schumanns gehen. Mit Frau Korallus spreche ich, sobald sie aufgestanden ist.«

Die ruhige Sachlichkeit verfehlte ihre Wirkung nicht. Rose beherrschte sich.

Wortlos gingen die Schwestern an ihre Arbeit.

Draußen über der verschneiten Stadt dämmerte der Wintertag.


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