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2. Kapitel.
Pförtner des Glücks.

Leise, leise mit zarter Hand
Schlägt die Sehnsucht den lichten Schleier zurück,
Und späht hinaus, wer dem Pförtlein naht,
Und schließt die Kammer: ich will mein Glück!

Ich will dich besitzen ganz allein!
Ich will dich tragen durch Glück und Schmerz, –
Meiner Nächte Glanz, meiner Tage Freud',
Meine weiße Rose, komm an mein Herz!

Mit keinem Wort hatte Geheimrat Händler seine Schwägerin unterbrochen. Das geistvolle Auge auf die feinen beweglichen Züge der Sprecherin gerichtet, hörte er ihr aufmerksam zu, und wie so oft schon ward er von ihrer klaren, sachlichen Auffassung der Verhältnisse, ihrem starken Pflichtgefühl, ihrer Voranstellung fremder Interessen in der Stunde, da es sich um das eigene Glück handelte, in besonders sympathischer Weise berührt. Seine Achtung vor diesem vornehmen Charakter, dessen Werdegang es nicht an Versuchung und Kampf gefehlt, wuchs noch in dieser Stunde. Wahrlich, das war eine echte und doch im besten Sinne moderne Frau, eine gottbegnadete Künstlerin, die unter voller Wertung ihres hohen Berufes der Königskrone des Weibes nicht vergaß. Keine Spur von jenen modernen Verirrungen, von jener widerwärtigen Dekadenz, die sich in alle Kreise schlich und, den höchsten, sittlichen Gesetzen trotzend, die Mutterwürde in den Staub zu treten suchte.

Erst wenige Tage war's her, daß ihm eine hochbegabte, akademisch gebildete Frau in einer Auseinandersetzung zugerufen: ›Mutterschaft? Verehrter Herr Geheimrat, die ist für uns geistig arbeitende Frauen ein überwundener Standpunkt! Und ist sie unvermeidlich, so kann ich meinem persönlichen Gefühl nach nur von einem, unseren geistigen Flug hemmenden Hindernis reden, so kann ich nur sagen: das ist contra naturam!‹ – So weit war man also! Das war nicht nur paradox, das war pervers!

Und hier? Nichts von dem allen! Hier stand ein echtes deutsches Weib, seiner großen Bestimmung gemahnt, am Scheidewege; in heißer Sehnsucht dem Glück die Arme entgegenbreitend, schaute es fragend auf Pflicht und Beruf zurück. Vor Händlers Geist stand das Werk eines jungen, noch unbekannten Künstlers, der diesen Moment in Marmor dargestellt. Hier gab das Leben ihn wieder, noch beweglicher, noch ergreifender als der Stein: die Frauenseele in ihrem schwersten Konflikt.

Und da sollte er helfen? In welcher Eigenschaft? Als Arzt? als Mensch?

»Gewiß,« lautete die Antwort, »als Arzt und als Mensch! Habe ich die Kraft für beides, Karl Heinrich?« Die Künstlerin blickte erwartungsvoll auf ihren Schwager.

Er wiegte den Kopf und sah sie durch seine Brillengläser liebevoll an.

»Für beides? Maria, du setzt einem ja die Pistole auf die Brust! Das ist eine Riesenfrage, die man nicht eins, zwei, drei beantworten kann!«

»Das sollst du auch nicht!«

»Gut. So muß ich versuchen, mich in längerer oder wenn möglich kürzerer Rede zu dir zu äußern.« Er strich sich über den langen, schon fast weißen Bart und lehnte sich im Stuhle zurück.

»Also: ich würde dich immer als gesund bezeichnen, aber deine Konstitution ist eine zarte. So wie du jetzt lebst, merkst du vielleicht nichts davon, sobald aber größere Anforderungen an dich gestellt werden, wirst du erfahren, daß deine Kraft Grenzen hat. Engere, als du denkst. Man soll einem Menschen nicht zumuten, was er nicht kann. Schumanns erste Frau wäre in anderen Verhältnissen auch vielleicht gesunder und« – er lächelte fein, – »liebenswürdiger gewesen. Ihrer Musikpassion entsagte sie nicht, die häuslichen Anforderungen, die an sie gestellt wurden, gingen so wie so über ihr Können. Kein Wunder, daß alles so kam, wie es gekommen ist!«

Maria sah ihn erschrocken an.

»Ängstige dich nur nicht,« sagte er freundlich, »ihr seid zwei ganz verschiedene Persönlichkeiten! Das heißt, Renate Schumann war meines Erachtens überhaupt keine. Sie war eine unausstehliche, egoistische Frau, die Mann und Kind quälte und, wenn sie nicht gerade musizierte, den ganzen Tag seichte Romane lesend, auf der Chaiselongue lag, – das ist keine Persönlichkeit!«

Maria lachte. »Bin ich denn eine?«

» Fishing for compliments?« Er zuckte die Achseln. »Liebes Kind, gib dir die Antwort selbst. Und nun zur Sache. Da du mein Urteil hören willst, muß ich zunächst zu dem Problem an sich Stellung nehmen. Der künstlerische oder wissenschaftliche Beruf braucht meiner Ansicht nach einer körperlich und geistig normalen, unverheirateten Frau keine Schwierigkeiten zu machen, doch muß selbstredend von Fall zu Fall der persönlichen Eigenart Rechnung getragen werden, kurz, es geht auch hier wie überall im Leben nicht ohne Individualisierung ab. Anders stehe ich zu der Frage der geistigen Arbeit der verheirateten Frau. Kunst und Wissenschaft sind Lebensberufe, – zum Notbehelf stempelt sie der Dilettantismus im Leben der unversorgten, vereinsamten, ihres eigentlichen Lebensinhaltes beraubten Frau. Das Schaffen der Künstlerin aber ist ein voller, reicher Lebensberuf mit seiner Lust und Bürde. Mit dem Beruf der Gattin und besonders dem der Mutter vereint, wird er körperlich wie seelisch immer zu einem schweren Dualismus führen. Einer der beiden Berufe muß unter demselben leiden. Ich räume ein, daß äußere günstige Verhältnisse und eine, seine ganze Zeit und Kraft in Anspruch nehmende Stellung des Mannes der kinderlosen Frau die Fortführung ihrer geistigen Arbeit möglicherweise erleichtern wird, aber das sind Ausnahmefälle!

Ebenso gilt als Vorbehalt die nach jeder Richtung außergewöhnliche Frau, das Genie. Diese seltenen, künstlerisch oder wissenschaftlich geradezu zum Dienst der Gesamtheit prädestinierten Persönlichkeiten sollten als Trägerinnen unersetzlicher Kulturwerte der Ehe entsagen. Es gibt Leistungen, die einander aufwiegen.

Aber ich schweife ab. Laß uns die spezielle Frage ins Auge fassen. Das Haus eines gesuchten Spezialisten bietet einer Frau, die hellen Auges und mit einem für ihre Mitmenschen schlagenden Herzen durch die Welt geht, außer den eigentlichen Hausfrauenpflichten einen ausgedehnten Kreis, darin sie ihre Liebe betätigen kann. Dazu kommt Geselligkeit, die im vorliegenden Falle naturgemäß keine geringen Anforderungen an die Dame des Hauses stellt. Vor allem aber wartet hier außer dem Manne, dessen Sehnsucht nach echter Frauenliebe jahrelang unerfüllt blieb, ein scheues, zartes, von der eigenen Mutter zurückgesetztes Kind auf die große Liebe, die seinem kleinen Leben bisher gefehlt.«

Er hielt einen Augenblick inne. »Es ist eine heilige Kunst, eines fremden Kindes Mutter sein,« fuhr er dann mit bewegter Stimme fort, »vielleicht die größte Kunst, die es gibt. Deine Schwester übt sie in der Vollendung.«

Wieder schwieg er.

Zwei dunkle Augen blickten ernst zu ihm hinüber.

Da fuhr er fort: »Wenn ich als Arzt und Mensch an die Mutterschaft mit ihren seinen Nuancierungen, ihren unberechenbaren, ins Unendliche sich verzweigenden Pflichten denke, an das Warten auf das Erwachen der Kindesseele, an die stille tägliche Pflege seines jungen Lebens, an all das liebevolle Eingehen auf Kinderlust und Leid, vor allem aber an das erste Falten der kleinen Hände, die erste Aussaat des göttlichen Wortes in sein Herz, – dann möcht ich den vielen, welche sie verachten, zurufen: ›Mutterschaft hat Ewigkeitswert!‹«

Sie schwieg noch immer. In ihren schönen Augen standen Tränen.

»Nimmt sie aber das fremde Kind ans Herz, wieviel tiefer und reicher wird die Liebe sein, mit der sie das eigene umfängt,« sagte er leise.

Wieder war's still im Gemach; der Schleier verhüllte das zarte Geheimnis.

»Das ist eines Frauenlebens reicher köstlicher Inhalt,« begann Geheimrat Händler endlich aufs neue, »und ein vollgerütteltes Maß schöner, schwerer Pflicht gehört dazu. Meinst du, daß die Kunst da noch zu ihrem Rechte kommt, Maria? Denn was du schaffst, ist Kunst, nicht Dilettantismus, – der fände wohl noch ein Plätzchen, – aber deine Kunst? Sie fordert einen vollen, ganzen Lebenseinsatz. Der aber gehört dann einem anderen, höheren Beruf! Stelle dir einmal selbst diesen Dualismus in seinen Einzelheiten vor, deine reiche Phantasie wird ihn dir besser ausmalen, als ich es vermag. Wann hast du wirklich Ruhe zur Arbeit? Äußerlich vielleicht zeitweise, innerlich nicht. Du nicht. Andere würden den Konflikt vielleicht weniger empfinden, würden manche Pflicht leichter nehmen, als sie es verantworten können. Du nicht. Du würdest grenzenlos darunter leiden. Ich kenne dich, deine Nerven, dein Pflichtgefühl, den Maßstab, den du an dein Können legst!«

Er hielt inne.

Aufmerksam hatte sie ihm zugehört.

»Ich glaube dir, Karl Heinrich,« sagte sie, »aber, bitte, erkläre mir eins: warum läßt du deine Töchter studieren?«

Händler seufzte. »Ach, Maria, das gehört zu den Konflikten eines Vaterherzens! Nach allem, was ich dir eben sagte, wirst du dir denken können, daß besonders Roses Studienplänen gegenüber meine Freude eine sehr geteilte ist. Frieda? Das ist etwas anderes, etwas wirklich besonderes! Ich kann es voll und ganz verstehen, daß das arme Kind gerade in dem Beruf der Missionsärztin, in der schwersten und schönsten Ausübung der Nächstenliebe das eigene Leid ertragen zu lernen hofft. Darum lasse ich sie auch ihren Weg gehen. Viel schwerer wird mir Roses Entschluß. Ihre blühende Schönheit, ihre ganze anmutige Persönlichkeit ist zur Ehe prädestiniert! Acht Körbe hat sie bereits ausgeteilt. In mehreren Fällen habe ich es aufrichtig bedauert.«

Er zuckte die Achseln. »Ich bin im Prinzip kein Feind der Frauenfrage. Im Gegenteil. Es ist nicht nötig, daß jede Frau kocht und bäckt und schneidert. Zum Beispiel erkläre ich rundweg: eine Frau, welche durch geistige Arbeit in einem Jahre mehr verdient als den Lohn einer Köchin, ist für eine höhere Karriere bestimmt, abgesehen davon, daß sie sich in den seltensten Fällen zur Küchenfee eignen wird.

Natürlich ist mir die wilde Frauenrechtlerin widerwärtig! Aber sie gehört auch nicht hierher. Es wird leider so oft vergessen, daß der Begriff ›Emanzipation‹ oder richtiger ausgedrückt ›Befreiung‹ nicht das positive Moment dieser Bewegung ist. Ihr eigentliches Ziel ist: die volle Entfaltung des Kultureinflusses der Frau und eine freiere soziale Wirksamkeit derselben. Das muß jeder vernünftig denkende Mensch anerkennen. Denn es unterliegt keinem Zweifel: wir haben hier mit einem reichen Maß noch ungehobener Kulturwerte zu rechnen.

Aber was die spezielle Frage der Vereinigung der Ehe und besonders der Mutterschaft mit einem wissenschaftlichen oder künstlerischen Beruf anbetrifft, so kann ich hier meine großen Bedenken nicht verhehlen. Ganz allgemein zu urteilen wäre falsch. Wir haben mit dem Außergewöhnlichen, Persönlichkeiten und Verhältnisse betreffend, zu rechnen. Aber sieh ins Leben hinein. Wie selten begegnet man dem Ausnahmefall! Andererseits jedoch müssen wir uns hüten, verfrüht den Stab über die Frau zu brechen, welche trotz aller Konflikte zwei Berufe zu vereinen sucht. Das Leben spinnt seine Fäden so fein, daß wir sie, oberflächlich geschaut, oft nicht erkennen und ahnungslos an den schweren Kämpfen vorübergehen, die im Nachbarhause gekämpft werden.

Speziell unsere Jugend betreffend aber werde ich den Gedanken an eine besondere, zunächst jedoch nicht hervortretende Gefahr nicht los. Sie liegt in der Vorbildung zum qualifizierten Beruf, welcher trotz seiner Vorzüge die Frau körperlich wie seelisch der Mutterschaft zu entfremden droht. Denn die in akademischer oder künstlerischer Arbeit Stehende wird durch das ganze Milieu ihres beruflichen Lebens, wie durch die Art der durch dasselbe an sie gestellten Forderungen zu allem anderen als zur Mutterschaft vorgebildet. Sie wird hier nicht zu der Aufopferung, welche dieselbe bedingt, erzogen, – im Gegenteil, ihr Beruf fordert einen gewissen Egoismus, ein Sichdurchsetzen als Unerläßlichkeit. Ich glaube nicht, daß viele Frauen körperlich und seelisch stark genug find, um hier die Grenzen inne zu halten. Es ist der Vorbehalt des Genies. Die Welt, wie sie nun einmal ist, und den Lauf der Dinge kann man nicht ändern. Ich trage darum auch, wie schon gesagt, der Frauenfrage Rechnung. Aber – eins steht mir unabänderlich fest: ihre volle Befriedigung findet die Frau nur als Gattin und Mutter. Jeder andere Beruf ist ein Notbehelf für sie, ein Surrogat, welches die tiefste Sehnsucht nie erfüllen wird. Darum bedauere ich, daß in den an sich berechtigten sozialen Forderungen der Frauenwelt so viel Übertreibung herrscht, so viel Streben über das Ziel hinaus. Der Frau steht ein weites reiches Feld offen. Aber sie vergißt immer wieder, daß die Natur sie für ein anderes Gebiet bestimmte, als den Mann. Die Geschlechter sind verschieden organisiert. Das überträgt sich auch auf den Beruf. Der Mann reüssiert nicht auf weiblichem Arbeitsfelde, die Frau gehört nicht in die männliche Karriere. Beide werden nur Dilettanten in dem Beruf bleiben, der ihrer Natur widerspricht. Denn Mann und Weib werden sich weder psychisch noch physisch jemals gleichen. Darum sollten Grenzüberschreitungen vermieden werden. Leider aber wird hier so oft die Pflicht der Ergänzung vergessen; zumal die Frau unserer Tage kennt dies Wort nicht mehr. Es scheint etwas Herabsetzendes für sie zu enthalten. In dem Wunsche, dem Manne gleich zu sein, wirft sie die eigenen Gaben und oft auch die weibliche Würde von sich. Erst in der Ausübung eines Berufes, welcher gewisse körperliche Kräfte bedingt, die dem Weibe aber fehlen, erkennt sie ihren Fehler oder geht in falschem Wetteifer daran zugrunde. Wir kranken an den Folgen einer Zeit, die, um sich drastisch auszudrücken, sieben Töchter mit Häkelarbeit und Stickerei um die Mutter geschart auf den Freier warten hieß, – heute haben wir den Rückschlag: neben vielem Guten, das längst hätte erstrebt werden sollen, ein verzeichnetes Frauenbild. Als Arzt könnte ich noch manches gegen die modernen Frauenberufe einwenden, doch das würde zu weit führen.

Daß Roses Entschluß mir nicht leicht wird, kannst du dir denken. Aber ich will keinen Zwang auf sie ausüben. Nur im Kampf erstarkt der Mensch zur Persönlichkeit. Besser ein in ehrlicher Erkenntnis aufgegebener Beruf, als ein widerwillig erfüllter. Auch soll sie niemals sagen können: mein Vater stand mir im Wege.«

Er strich sich über die Stirn, als wollte er einen trüben Gedanken verscheuchen.

Teilnehmend sah sie ihn an. Sie kannte diese Sorgen.

»Aber, Maria,« rief er da in seiner lebhaften Art, »wo sind wir denn hingeraten? Das kommt davon, wenn man unlösbare Probleme lösen will!«

Sie sah ernst vor sich nieder. »Ist mein Problem auch unlösbar, Karl Heinrich?«

»Deines?« Er sah den gequälten Ausdruck in ihren Zügen. »Maria, warum bist du so unsicher?«

Sie hob den verschleierten Blick zu ihm empor, um ihre Lippen zuckte es. »Unsicher, wie meinst du das?«

Er sah sie forschend an. »Darf ich ganz offen reden?«

»Aber natürlich!« Sie reichte ihm die Hand. »Wir haben uns doch immer verstanden!«

»Ja – aber in diesem Falle?«

Sie kämpfte die aufsteigenden Tränen zurück. »Nein, Karl Heinrich, kein Aber! Du bist mein bester, liebster Freund, und niemand kann mir in dieser Angelegenheit raten, als du. Aber ich glaube, ich habe dich, ohne es zu wollen, irregeführt. Du denkst, ich liebte Schumann nicht und wüßte, zwischen zwei großen Pflichtfragen stehend, nicht aus noch ein. Aber so ist es nicht. Gewiß, die Pflicht spricht stark mit. Die große Entscheidung, die ich treffen soll, ist mir nach zwei Seiten Gewissenssache. Ich weiß, es heißt von heute an für mich Ehe oder Kunst. Du weißt, was mir die letztere im Laufe der Jahre geworden ist, –« hier stockte sie, ein tiefes Rot stieg ihr in die Wangen, sie wandte das Antlitz zur Seite. Und dann kam's leise und scheu von bebenden Lippen: »Karl Heinrich, das ist ja das Schwere, – ich – ich lieb ihn tausendmal mehr, als meine Kunst!«

Ihre Brust arbeitete, auf den beweglichen Zügen malte sich ein harter Konflikt.

Unverwandt blickte ihr Schwager sie an. Das also war's! Pflicht und immer wieder nichts als Pflicht! Wahrlich, Zeit war's, diesem tiefen, reichen Frauenherzen einmal die Pforten des Glücks weit aufzutun! Eine stille Freude lag auf seinem Antlitz.

»Das ist das Schwere, Maria?« Der Ton seiner Stimme ließ sie aufhorchen.

»Ja,« sagte sie zögernd. Und dann fuhr sie leise fort: »Darf ich über solch großem, unverdientem Glück meiner Pflicht vergessen? – Als Schumanns Brief heute abend kam, war's mir ums Herz, als trüg mir ein Engel vom Himmel ein Gottesgeschenk herein, so groß, so überwältigend schön, daß ich zu träumen glaubte. Und dann kam der Konflikt. Du kennst ihn ja. Gott hat mir den künstlerischen Beruf doch zuerst gewiesen, – darf ich ihn jetzt, wo mir das Glück winkt, einfach beiseite schieben? Ich kann nicht zwei Berufe erfüllen, du hast selbst gesagt, daß meine Kräfte dazu nicht ausreichen würden.«

»Nein, das würden sie auch nicht,« sagte er ruhig. »Aber eine andere Frage ist die, ob Gott nicht in dieser Stunde mit dem Rufe höherer Pflichterfüllung an deine Tür klopft! Er braucht uns Menschen wo und wann und wie er will. Es kommt nur darauf an, daß wir uns von ihm gebrauchen lassen. Alles übrige ist seine Sache!«

Sie war ruhiger geworden, aber unter den gesenkten Wimpern perlten die Tränen hervor.

»Denn was wir mit unserem kleinen, engen Menschenverstand als das Größere erkennen, Maria, braucht noch lange nicht das Größere zu sein, im Gegenteil.«

Sie nickte still, und er fuhr fort: »Was aber hier das Größere ist, darüber sind wir uns im letzten Grunde wohl einig. Denn den Gedanken mußt du aufgeben, daß Frauenliebe, weil sie stärker ist als die Liebe zur Kunst, derselben weichen müsse. Das ist Übergewissenhaftigkeit, die sich, – verzeih, – ein ganz klein wenig der katholischen Werkgerechtigkeit nähert. Meinst du nicht auch?«

Er war aufgestanden und dicht vor sie hingetreten. Liebkosend strich er über ihr duftiges Haar.

Sie lächelte durch Tränen.

»Und nun noch zur Mutterliebe,« und seine Stimme hatte wieder jenen weichen Klang, den sie so liebte. »Hier, wo schon ein Kind auf sie wartet, wo schon die Braut sie als köstliches Vorrecht ausüben darf, erscheint sie mir doppelt herrlich! Gewiß, deine Kunst ist eine große Gottesgabe, und du hast mit deinem Pfunde treu gearbeitet und bist vielen zum Segen geworden. Aber ist's nicht größere Gnade, unmittelbar und persönlich eine Menschenseele führen, und leiten zu dürfen? Ist's nicht tieferes Glück, ein armes, vereinsamtes Kind bei der Hand zu nehmen und an die Krippe zu führen, als ihm nur einen Gruß zu senden, der ihm die Botschaft der Weihnacht bringt? Ist das nicht größer, seliger, Maria?«

Sie sprang auf und fiel ihm schluchzend um den Hals.

»Karl Heinrich, du verstehst's! Ich danke dir!«

Er hielt sie fest umfaßt. Mit beinahe väterlicher Liebe blickte er auf sie nieder, in stiller Freude des Mannes gedenkend, der nie das Glück gekannt. Jetzt kam's zu ihm, die Arme weit ausgebreitet. – –

Er aber hatte dieses Glückes Pförtner sein dürfen. –

Maria trocknete ihre Tränen. »Ich will gleich schreiben; würdest du meinen Brief mitnehmen?«

Händler sah lächelnd in das liebliche Gesicht.

»Ja, schreib nur, aber schnell! Ich komme wieder zurück und bringe Schumann gleich mit!«

Ihre Augen strahlten.

»Heute abend noch?« Sie sah auf die Uhr. »Es ist nach neun!«

»Das schadet nichts. Ich spiele ja Anstandsdame! Ihr könnt euch in aller Ruhe verloben! Dann begleite ich den glücklichen Bräutigam wieder nach Hause!«

Sie zauderte noch immer.

»Schnell, Maria!«

Da setzte sie sich an den Schreibtisch.

Sinnend betrachtete er das feine Oval ihres Gesichts. ›Möchtest du glücklich werden und glücklich machen,‹ dachte er.

Draußen schlugen die Uhren. »Schon halb zehn,« sagte sie, den Kopf wendend.

»Das schadet nichts. Ich werde nach Hause telephonieren, damit man mich nicht vor elf erwartet.«

Er trat an den Schreibtisch. Sie schloß gerade das Kuvert.

»Ich danke dir, Karl Heinrich,« sagte sie, sich erhebend, und reichte ihm den Brief.

Er zog ihre Hand an die Lippen. »Auf Wiedersehen, Maria!«

Eine halbe Stunde war vergangen. Nachtstill lag das Villenviertel. Verspätete Rosen träumten in den Gärten.

Drinnen aber lagen sich zwei in den Armen, deren Glück in schweren Zeiten, in Frost und Hitze langsam gereift war. In tiefer Bewegung neigte der Mann das dunkle Haupt über das Weibesantlitz an seiner Brust.

»Endlich, endlich!« sagte er leise, und sie schmiegte sich fester an ihn.

Dann war's ganz still zwischen den beiden.

Das Glück war ihnen noch fremd. Sie konnten's nicht fassen, daß es sich ihnen zu eigen gegeben. Zu lange hatten sie nichts als Leid und Entbehren gekannt.

So standen sie schweigend Brust an Brust, in wunschlosem Staunen auf ihre große Liebe blickend. – –

Fester und fester umschloß der Mann sein Kleinod. Die Leidenschaft erwachte, der Eifer um die Perle, die er errungen.

»Und deine Kunst?« fragte er endlich. »Wirst du nicht darunter leiden, Maria, daß sie nicht mehr wie sonst dein Leben ausfüllen kann?«

Sein dunkles Auge ruhte ernst auf der Braut.

Sie aber blickte ihn strahlend an. »Gelitten hab' ich darunter, daß ich dir nicht angehören durfte! Ich habe meine Kunst sehr geliebt, dich aber lieb ich tausendmal mehr!«

Das Glück durchschauerte ihn. »So hab ich dich nicht in Konflikt gebracht?« fragte er leise.

Sie zauderte. Die Antwort schien ihr schwer zu werden. Dann schlang sie in ihrer raschen, impulsiven Art beide Arme um seinen Hals.

»Ja, ich bin in Konflikt geraten, und in keinen leichten. Nicht, daß ich meine Kunst mehr liebte als dich, dann hätt' ich nein gesagt. Gerade die Sehnsucht, dir anzugehören, hat mir meinen Entschluß erschwert, denn die Pflicht trat zwischen uns, die Frage: Wo gehörst du hin mit deinem Pfunde, das Gott dir anvertraut? Darfst du es um deines Glückes willen aufgeben?«

Sie hielt inne, tief Atem holend. Ihre Wangen brannten.

»Und dann kam Karl Heinrich« – sie stockte und suchte in seinen glücklichen Zügen zu lesen, – »aber das hat er dir gewiß schon alles gesagt, es dauerte ja eine Ewigkeit, bis ihr kamt!«

Er schwieg.

»Nun?« Sie sah lächelnd zu ihm auf. »Du böser Mann, warum quälst du mich denn so?«

»Weil ich die Antwort von dir selber hören wollte!«

Wieder leuchteten ihre Augen hell auf.

Er aber neigte sich über sie und preßte die Lippen wie ein Verdurstender auf den zarten Mund.

›Gelitten hab ich darunter, daß ich dir nicht angehören durfte!‹ zog es ihm jubelnd durch die Seele. Und der letzte Hauch eines Zweifels verflog wie der Nebel im Sonnenglanz. – –

Geheimrat Händler hatte in seinem Leben warten gelernt, aber dies Glück währte ihm zu lange. Leise öffnete er die Tür. Schon wollte er sie wieder schließen, denn die beiden Menschen schienen vor der Hand nicht für andere da zu sein.

Es war das alte Bild, welches, so lange die Erde steht, wiederkehren wird, das sich seinen Blicken bot: zwei Glückliche, festumschlungen, über dem ersten Kuß die ganze Welt vergessend.

Und doch hatte diese Verlobung etwas Besonderes an sich. Wer ihre Vorgeschichte ahnte, mußte sich mit den beiden tapferen, starken Menschen ihres Glückes freuen. Hätt's doch auch anders kommen können! Auch dann wären sie ohne rechts und links zu blicken mutig ihre einsame Straße weitergewandert bis zum Ziel – zwei Große! Unmodern vom Standpunkt neuster und allerneuster Weltanschauung aus, und doch im höchsten und besten Sinne frei nicht nur als Vertreter wahrhaftiger Sittlichkeit, sondern als Träger einer transzendenten Kraft, als Zeugen dessen, der Mann und Weib durch den Geist seines Lebens adelt.

Sie hatten keinen Lohn begehrt. Die Treue erwartet ihn nicht. Aber die ewige Liebe, die ihrem Ringen zugeschaut, urteilte anders. Sie tat ihre Schätze auf und bescherte ihren Kindern in reicher Fülle beides, Silber und Gold. – –

Geheimrat Händler hatte recht. Es war ein in unserer Zeit der Dekadenz und der Willkür seltener Bund, der hier geschlossen ward, dessen Glück aber um so fester begründet war.

Leise wollte er sich zurückziehen. Aber die Braut hatte sein Kommen gehört.

»Karl Heinrich,« rief sie, sich aus den Armen des Verlobten lösend, und eilte mit ausgestreckten Händen auf ihn zu, »Karl Heinrich, du gehörst wie kein anderer zu unserem Glück!«

Es war Mitternacht, als die Herren das Haus verließen.

In der Eingangstür wandte Geheimrat Händler sich noch einmal um.

»Nun müssen Rose und ich wohl hier bleiben?« sagte er lächelnd zu seiner Schwägerin.

»Um meinetwillen?« Sie errötete.

»Ich kann später leider nicht fort, und Rose, der kleine Arbeitsteufel, muß eine, wenn auch nur kurze Ausspannung haben –« er überlegte, »sollen wir dir Frieda schicken?«

»Frieda?« Ihre Augen weiteten sich. »Karl Heinrich, ist das nicht zu viel verlangt?«

Er verstand sie. Ja, sie hatte recht. Dies Glück tagelang von früh bis spät mitansehen, das war zu viel für sein armes Kind, das vor wenig Wochen das Liebste verloren. In der Beziehung waren Frauen doch scharfsichtiger.

»Ilse Werthern wird gewiß gern die acht Tage zu mir kommen! Ich werde ihr heute abend noch schreiben! Alles übrige findet sich ja, wenn ihr wiederkommt,« sagte Maria. Sie nickte ihm glücklich zu. »Leb wohl, Karl Heinrich! Grüß Thea!«

Noch einmal trat Professor Schumann zu seiner Braut. Er blickte tief in die hellen Augen und zog die schlanke Mädchenhand ein letztes Mal an die Lippen. »Gute Nacht, Maria!«

Sie lächelte ihm zu. »Morgen bringst du mir Ehrengard, nicht wahr?«

»Ja, gleich nach der Sprechstunde.«

Händler blickte auf die beiden und dachte: ›Ich hätt' es doch nicht für möglich gehalten, daß der solche Augen machen kann! Was die Liebe nicht alles vermag?‹

Dann gingen die Herren.

In dem stillen Hause blieb ein Frauenherz mit seiner Seligkeit zurück. Es hatte einen Edelstein für ein Kleinod hingegeben, das köstlicher ist als Juwelen.


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