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10. Kapitel.
Todesschatten.

Was ist der Tod? Ein ewiger Traum?
Ein Versinken in tiefste Bewußtlosigkeit?
Ein restlos Zerrinnen von Raum und Zeit?
Das Ende des Lebens? Ein Dunst, ein Schaum?

Und wenn das alles ein Irrtum wär'?
Wenn Kräfte einer zukünftigen Welt
Hienieden beherrschten, was steht und fällt?
Wenn die Toten erstünden aus Gruft und Meer?

Wenn einer hinträte vor dich und mich,
Seine Kleider wie Schnee, seine Augen voll Glut?
Und beim Klang seiner Stimme verging' dir der Mut,
Wenn er zu dir spräche: Ich richte dich!

Frieda war schließlich noch selber zu Schumanns in den Fürstenhof gegangen. Sie wußte, daß beide Frühaufsteher waren. Schlimmstenfalls würde sie unten, solange ihre Zeit es erlaubte, im Lesezimmer warten.

Rose hatte die letzten Bücher und Bilder eingeschlossen und setzte sich an den Schreibtisch, um ein kurzes Billett an Asta Rille zu schreiben, die sich vor einigen Tagen in eine Klinik begeben hatte, um sich einer leichten Halsoperation zu unterziehen. In wenigen Worten erklärte sie der Freundin ihr Fernbleiben in den nächsten Tagen, herzliche Wünsche für deren baldige Genesung hinzufügend. Dann schloß sie den Brief und trat zum Fenster.

Die Gedanken, die sie mühsam zur Ruh gebracht, erwachten und forderten unerbittlich das Wort. Das ganze tiefe Leid tat sich vor ihr auf, der bodenlose Abgrund des Schmerzes, der keine Ewigkeit, und darum keine Hoffnung kennt. Eine kurze Stunde lang war die Arbeit mit ihrem Zwang, ihrem harten ›Du mußt‹ die Stärkere gewesen. Nun war sie getan. Nun galt's warten. In solchen Stunden warten, ohne an den Rand der Verzweiflung zu kommen, kann aber nur der Christ, der Mensch, der Ewigkeitsgrund unter den Füßen hat. Der Jünger einer Weltanschauung, die von dieser Erde stammt und ihr darum auch ihre Toten lassen muß, die immer wieder der Erde gibt, was der Erde angehört, ist allen Stürmen preisgegeben.

Rose verstand sich selbst nicht mehr. Sie war wie aus den Fugen. Und ihre Weltanschauung war doch so fest gegründet! Aber das war ja alles rein körperlich! Sie hatte die ganze Nacht gewacht, und nun kam dies dazu, es war kein Wunder! Bei Frieda würde es nachkommen. Ganz gewiß. Sehr temperamentvolle, impulsive Menschen waren meist auch nervöser als andere, verbrauchten mehr Kraft und waren schneller am Ende. Das war ganz natürlich. Sie kannte das. Aber heute war es geradezu unerträglich. Um wahnsinnig zu werden – – Und dann zog ihr Friedas starkes, hoffendes Wort durch die Seele: ›Gott kann helfen wo und wie er will!‹ Ein wunderkühnes Wort angesichts des Todes! – Ein Funke blitzte glühend durch das Dunkel: ›Wenn er seine Allmacht bewiese und den Vater genesen ließe, dann – dann wollt' ich an ihn glauben!‹

Zwei zitternde Hände falteten sich, ihre Seele schrie aus der Tiefe zu dem Gott, den sie nicht kannte. Aber das Gelübde ihres Glaubens war bedingt, und ihrem Gebet fehlte der Gehorsam. Es war die Verzweiflung, die den Wunderdoktor fragt: ›Kannst du was?‹

Draußen gingen die Elektrischen. Ein rascher Schritt, ein bekanntes, energisches Klopfen: Benz.

Sie erhob sich. »Wie freundlich von Ihnen!« Sie streckte ihm die Hand entgegen. »Sind Sie Frieda begegnet?«

Und dann blickte sie erschrocken in das überwachte, verstörte Gesicht des Vandalen. Den führte nicht nur Freundestreue in der Stunde der Sorge ins Haus, – der brachte etwas, – eine abgrundtiefe Not, – entgeistert sah das junge Mädchen ihn an.

»Um Gottes willen, Herr von Benz, was ist Ihnen?«

Er rang seine Bewegung nieder. »So müssen wir uns beide fragen.« Seine Stimme klang heiser. Er blickte auf Koffer und Reisedecken.

Die Tränen stiegen ihr empor. »Mein Vater ist schwerkrank. Um neun reisen wir nach Hause.«

Er hatte ihre beiden Hände gefaßt und drückte sie in fieberhafter Aufregung wieder und wieder.

»Herr Gott, auch das noch! Um neun sagen Sie? heute?«

Sie nickte, ihn angstvoll anblickend.

Er schwieg. In seinen Zügen arbeitete es.

Sie hielt seine Hände fest umfaßt. Was sie geahnt, aber nicht zu glauben gewagt, ward ihr in diesem schweren Augenblick zur seligen Gewißheit: er liebte sie.

Diese Gewißheit war größer als alles andere, wie es auch heißen mochte. Sie war stärker als der Tod und heiliger als das Leben. Sie füllte die Seele aus. Mochte sie durch Fluten und Gluten führen, – was tat's!

Vor ihrem geistigen Auge stieg ein Bild auf, von Künstlerhand gemalt: die Newa im Eisgang. Mitten auf der geborstenen Fläche, von Wogen umbraust, über die sonnenbeglänzten, kristallenen Tiefen dahinfliegend ein hochgewachsenes, jugendschönes Paar im Schlittschuhlauf eng aneinander geschmiegt. Die edlen Gestalten voll blühender, pulsierender Kraft, voll jauchzender Sehnsucht, als ging sie die ganze Welt nichts an, als wär ihre sieghafte Minne der tobenden Fluten Meisterin und der Tod in der Tiefe beugte sich der Majestät nahenden Lebens!

Der Wogenkämme schäumender Gischt flog, der Sturm rang mit Mann und Weib, die Newa bäumte die jungfräuliche Flut unter dem kecken Schritt, der verwegen die Stolze berührte.

›Student und Studentin‹ hatte der Maler unter sein Werk geschrieben, der Phantasie des Beschauers die Antwort auf die letzte Frage nach dem Geheimnis seines wunderbaren Bildes überlassend. Blieb's in seinen tiefsten Gedanken ein Rätsel, breitete sich ein Schleier über das Ziel des kühnen Eislaufs durch Sturm und Flut, – eins hatte der Künstler meisterlich herauszubilden gewußt: die Liebe, die Tod und Leben überdauert. Wie ein immergrüner, duftiger Kranz umschlang die alte tausendjährige Wahrheit das Leben aller Zeiten. Rose hatte damals lange vor dem Bilde gestanden, und es hatte ihr einen tiefen, bleibenden Eindruck hinterlassen. Aber nie war's in ihrer Seele lebendig geworden wie heute, da ihre Hände in schwerer, ungewisser Stunde in denen des Geliebten lagen.

Er sah sie an. Bis auf der Seele Grund schauten diese Augen. Und sie hielt seinem Blick still und umfaßte seine Hände in tiefem Vertrauen fester. Er aber sah etwas an ihr, das er nie zuvor gesehen. Es war ihm, als sei's erst heut unter seinen Augen aufgeblüht.

Da kam's über ihn, er wußte nicht wie. Mit sanfter Gewalt löste er seine Hände aus den ihrigen und nahm das junge Weib in seine Arme. Wortlos neigte sie das Haupt auf seine Schulter; Brust schlug an Brust.

»Rose, meine Rose!« sagte er leise und drückte die Lippen auf ihr duftiges Haar.

Einen Augenblick drängte des Glückes Fülle die Sorge zurück, dann aber durchbrach sie gewaltsam die Schranke.

Von der Seele des Mannes nahm sie Besitz. Bis zum physischen Schmerz steigerte sie seine innere Not.

Auf das Herz des Weibes, das eben den ersten Schritt in sein blühendes Gärtlein getan, legte sie die kalte Totenhand.

»Morgen früh um sechs habe ich ein Pistolenduell!« Mit rauher Stimme stieß der Vandale die Worte hervor.

Entgeistert starrte Rose ihn an.

Es ging über ihre Kraft.

Sie wechselte die Farbe und wankte. Die Augen halb geschlossen, kämpfte sie mit einer Ohnmacht.

Er führte sie zum Fenster und öffnete es. Kalt und scharf drang die Februarluft herein.

Ihre Kraft kehrte zurück, der Wille behielt die Oberhand.

Tief atmend stand sie einen Augenblick, von seinem Arm gestützt, am Fenster. Dann schloß sie es und sagte: »Es geht schon vorüber!«

Er sah zweifelnd in ihr blasses Gesicht.

Da drängte sie ihn zu den Kaminsitzen und bat: »Erzähl mir alles!«

Er zögerte. Finster sah er vor sich nieder.

Instinktiv fühlte sie, daß es sich hier um Dinge handelte, die man nicht gern mit einer Frau bespricht. Und doch – mit keinem Gedanken zweifelte sie an ihm, blindlings hätte sie ihm vertraut, aber weil sie sich seiner Liebe gewiß war, ersehnte sie auch sein Vertrauen. Warum zögerte er? Kein Wort von seinen Lippen konnte sie entehren, das stand ihr fest. Sie erhob sich und legte ihre Hand auf seine Schulter.

»Mark Albrecht!«

Das erstemal war's, daß sie ihn bei Namen nannte. Leise kam es über ihre Lippen, sehnsüchtig, in zarter Scheu.

Er ergriff ihre Hand und drückte die heiße Stirn darauf. »Rose!« Er stöhnte laut.

Still wartend stand sie neben ihm, ihre zitternden Finger strichen über sein dunkles Haar.

»Mark Albrecht!« Bittend klang's.

Da umklammerte er, an ihrer Seite niederknieend, die schlanke Gestalt und barg sein Antlitz in den Falten ihres Kleides.

Und dann kam's von seinen Lippen, ein wilder Strom voll heißer, fesselloser Leidenschaft: »Dich hat man beschimpft, mit Schmutz beworfen, dich, an der kein Makel, kein Flecken zu finden ist! Mein Kommen und Gehen hier im Hause ist falsch ausgelegt worden, und das alles von einem …«

Weiß bis in die Lippen blickte die Studentin auf den Erregten. Sie wollte sprechen, und konnte nicht. Ihre Kräfte waren am Ende.

Gewaltsam hielt sie sich aufrecht.

»Wer ist es?« fragte sie endlich kaum hörbar.

»Rochus von Frauenhort, ein Cherusker. Du kennst ihn. Du hast ihm ja gezeigt, wer du bist und wer er ist. Viele sagen, du seiest damals zu deutlich geworden. Aber mir hat's gefallen, daß du einfach für keine Schmeichelei zu haben warst und dem windigen Passagier kurzerhand den Rücken kehrtest. Damit war er erledigt, und die Sache hatte keinerlei Folgen. Aber er hat's nicht verwunden, und dies ist seine Rache.«

»Mußte die Forderung sein, Mark Albrecht?«

Er sprang auf und riß sie an sich. Seine Augen sprühten.

»Ob sie sein mußte? Meinst du, ich ließe mir das bieten? In offener Kneipe hat er meine Besuche in diesem Hause bekrittelt, abgesehen von allem übrigen! Natürlich ersuchte ich ihn sofort um seine Karte und übersandte ihm meine Forderung. Wenden ist mein Sekundant.«

Rose war fassungslos. Sie schlang die Arme um den Hals des Geliebten und drückte sich wie ein geängstigtes Vögelchen an seine Brust.

»Und es war wirklich kein anderer Ausweg möglich?« schluchzte sie.

»Nein, Liebling!«

»Dies schreckliche Duell!« klagte sie, »Und um meinetwillen! Warum können sich anständige Menschen nicht einfach um Entschuldigung bitten, und damit ist die Sache gut. Das Duell ist eine Schande für das zwanzigste Jahrhundert!«

»Das verstehen Frauen nicht,« sagte der junge Mediziner ernst.

Sie schien seine Worte nicht zu hören.

»Und ich muß fort!« rief sie verzweifelt. Alles flog an ihr. Jeder Nerv zitterte. Sie wand sich in seinen Armen.

Ihre Unruhe gab ihm die Selbstbeherrschung wieder. Er blickte auf die Uhr.

»Ich muß nach Hause. Es ist höchste Zeit. Wenden kommt um acht zu mir.« Er beugte sich zu ihr nieder. »Ich habe noch nie vorbeigeschossen, Frauenhort aber hat keine Ahnung, wie man mit Waffen umgeht.«

Über seine Züge huschte jenes feine Lächeln, das sie so liebte. Aber heute hatte sie nur Tränen für ihn.

»Wenn du wiederkommst, und alles ist glücklich überstanden, und dein Vater gesund, darf ich dann zu ihm gehen und ihn bitten, daß er mir seine Rose schenkt?« sagte er mit leiser, weicher Stimme.

Durch den gewaltigen Schmerz brach die Glückseligkeit.

»Ja, ich will deine Rose sein,« rief sie leidenschaftlich, während ihr die hellen Tränen über die Wangen liefen.

Er hielt sie fest am Herzen. Leise wiegte er sie hin und her, bis sie ruhiger ward und die Tränen versiegten, dann hob er das schöne Antlitz empor und drückte den ersten langen Kuß auf die jungen Lippen.

Und als hätte sie alle Not der letzten Stunden vergessen, lag sie an seinem Herzen und hielt ihm still.

Endlich riß er sich los.

»Wenn du wiederkommst!« war sein letztes Wort, als er sich, Abschied nehmend, über die zitternde Mädchenhand beugte, dann stand sie allein in dem sonst so freundlichen, nun so öde gewordenen Raum. – –

Sie hörte nicht, daß Frieda hereintrat. Sie starrte auf den Platz, wo er sie ans Herz genommen und zum erstenmal geküßt.

Da legte sich ein weicher Arm um ihren Nacken, und die Stimme der Schwester klang an ihr Ohr: »Rose, meine arme Rose, – es ist alles vorüber! Vater ist heute früh sanft eingeschlafen!«

Und dann war auch dieser starke Geist am Ende seiner Kraft. Frieda Händler sank auf einen Stuhl und weinte, als wollt' ihr das Herz brechen.

Rose stand da, wie vom Donner gerührt. Vor ihren Augen dunkelte es. Sie faßte nach der nächsten Stuhllehne.

Es war ihr, als bräche etwas in ihr in Stücke. Ein furchtbarer Schmerz durchbebte ihren ganzen Menschen. Nie im Leben hatte sie derartig psychophysisch gelitten. Die tiefste seelische Qual vereinte sich mit einem Schmerz am Herzen, der alles in Mitleidenschaft zog. Was war das?

Mechanisch ging sie ein paar Schritte auf Frieda zu. Die saß in dem niedrigen Binsenstühlchen und weinte leise vor sich hin. Wie verschieden sie doch waren! Frieda war in allem maßvoll. Das kam, weil das größte Leid ihres Lebens hinter ihr lag. Für sie aber kam alles zusammen, alles sollte zugleich durchkämpft werden.

›Du hast umsonst gebetet,‹ sprach eine Stimme, ›umsonst geglaubt und vertraut! Siehst du's nun ein, daß der Monismus mit seiner Ablehnung des persönlichen Gottesbegriffes recht hat? Was soll nun dein Gebet für einen anderen?‹

Ja, sie sah es ein. Und durch alles Leid hindurch zog's wie heimlicher Triumph über das gänzliche Versagen des vielgepriesenen Supranaturalismus. Wirklich geglaubt hatte sie ja auch nicht an die Erhörung ihres Gebets. Es war eine Kraftprobe gewesen, die sie in verzweifelter Stunde gewagt. Der Theismus hatte versagt und war somit restlos für sie erledigt. Nur der Schmerz blieb, der namenlose Schmerz um den Vater, die fiebernde Angst um den Geliebten.

Um neun ging der Zug. Sie fuhr empor und blickte auf die Turmuhr, deren goldenes Zifferblatt in der Wintersonne glänzte.

»Dreiviertel! Himmel, Frieda, wir kommen nicht mehr fort!«

Während sie die Worte sprach, kam's ihr plötzlich zum Bewußtsein, daß die Schwester vereinsamt am Kamin gesessen, während sie ihren Kampf dicht neben ihr allein durchkämpft. Was trennte sie eigentlich? Ihre verschiedene Weltanschauung? Wohl kaum. Sie hatten sich ja aufrichtig lieb. Und doch, zu leugnen war's nicht: eine Schranke stand zwischen ihnen. Mit Schrecken gestand sie sich's: eine Schranke, die auch die Liebe hemmte.

Frieda hob das verweinte Gesicht empor. »Wir kommen nicht mehr mit,« sagte sie. »Um zwölf geht ein Personenzug, abends um halb elf sind wir zu Hause.« Sie stand auf und trat auf die Schwester zu. »Rose!« Sie zog sie an sich. »Nicht wahr, wir wollen's zusammen tragen?«

Rose verlor aufs neue die Fassung. Die grenzenlose Hoffnungslosigkeit, welche die Philosophie des Unbewußten gerade in Bezug auf das Zukünftige kennzeichnet, war ihr verhängnisvoll geworden. Sie war einer Fata Morgana gefolgt, einem zarten, feinen Gebild, das in leuchtenden Farbentönen ein leises Verglühen, ein seliges Zerrinnen des Lebens widerspiegelte. Sie hatte sich betören lassen durch die Schönheit der Antike. Das moderne Heidentum kniete anbetend vor denselben Marmorstatuen, vor denen vor Zeiten der große Plato gekniet, nur die Namen hatte es weislich verändert. Seine Jünger aber verloren in seinen steinernen Hallen das Empfinden für Leben und Wärme; langsam starben sie ab, ohne es zu merken. Erst wenn der Tod ihnen die eisige Hand aufs Herz legte, packte sie das Entsetzen; sie wußten nicht aus noch ein und suchten vergeblich die Sonne.

Und während die beiden Schwestern eng aneinander geschmiegt um den Vater trauerten, zog der Älteren die tiefe, bange Sorge durch den Sinn, daß es auch für dies junge, holde Geschöpf, das schluchzend an ihrem Halse hing, zu spät sein möchte, daß die Seele, die sich droben in den einsamen Gletscherregionen verstiegen, nimmer zurück fände in das blühende, sonnige Land. Aber sie kannte sie. Niemals durfte sie es merken, daß man ihr Führerdienste leisten wollte, wie zufällig mußt' es geschehen, daß man eines Weges mit ihr ging. Und durch Friedas Seele zog es: ›War das schlichte Wort, das du von Gottes Allmacht gesprochen, schon zu viel, war's dem stolzen, irrenden Herzen ein allzu scharfer Hinweis auf sein verödetes Erbe?‹ Rose hatte ja gerade in den letzten Tagen viel Widerspruch ertragen müssen, harte Reden über die Unfruchtbarkeit und Unwahrhaftigkeit ihrer immanenten Weltanschauung, über die zerklüftende Wirkung des Monismus. Aber das war offener Kampf mit dem Gegner gewesen. Wissenschaft rang mit der Wissenschaft. Sie aber, die ihren Schwestern der Liebe königlichen Magddienst leisten wollte, müßte anders gerüstet sein. ›Unverrückt mit sanftem und stillem Geist!‹ Von Anfang an hatte dies Wort über ihrem Dienst geleuchtet, – war ihre Liebe heute nicht rechter Art gewesen? Auch sie fühlte es: die Schranke wuchs. War heute die Stunde, da man damit beginnen sollte, sie abzutragen? Und mitten im tiefsten Schmerz erwachte, wie so oft schon, die Sehnsucht in ihr, diesem holden Geschöpf die Pforte zu den Gärten wahrer Schönheit zu erschließen. Gerade ein Menschenkind wie Rose würde seine Gaben auf dem Boden des Christentums aufs lieblichste entfalten, würde glücklich werden und glücklich machen. Und so?

Still hielt sie sie am Herzen. Sie fühlte, neben dem großen Leid, das sie gemeinsam trugen, lastete noch etwas anderes auf ihr. Ob sie's erfahren würde? Sie sann nach, wo der Grund liegen möchte. ›Benz?‹ Immer wieder kam sie auf ihn zurück. Sie hatte die beiden gestern abend in ernstem Gespräch zusammen gesehen. Aber sie fragte nicht. Sie schob den Arm in den der Schwester und ging langsam mit ihr im Zimmer auf und nieder. Ab und zu sagte sie ein sanftes Wort. Dann wanderten sie wieder schweigend. Sie konnte warten. Und dann hing Rose plötzlich in heißen Tränen an ihrem Halse. »Morgen früh hat Benz ein Duell!«

Frieda blieb erschrocken stehen. »Mit wem?«

»Mit Frauenhort.«

»Und weshalb?«

Rose richtete sich auf. Sie antwortete nicht sogleich. In innerem Zwiespalt stand sie da. In einem Augenblick ward sie totenblaß und dunkelrot. Und dann warf sie den Kopf zurück und sagte, während ihr die Tränen aufs neue ins Auge stiegen, mit zuckenden Lippen: »Um meinetwillen.«

Frieda erbleichte. »Um deinetwillen? Aber Rose, was ist denn passiert?«

Rose hatte ihre Fassung wieder. Stolz richtete sie sich auf. »Nichts ist passiert, als daß dieser Frauenhort es wagte, mir Schmeicheleien über, – nun, über mein Exterieur, wie er sich auszudrücken beliebte, – ins Gesicht zu sagen. Seine Redensarten waren derartig auf der Grenze des Erlaubten, daß man es jedem anständigen Ladenmädchen verdacht hätte, wenn es sich dieselben hätte gefallen lassen. Ich ließ ihn natürlich einfach stehen. Seine Rache dafür ist die, daß er im offenen Lokal seine Glossen darüber gemacht hat, daß Benz häufig hier im Hause verkehrt. Außerdem hat er, wie's scheint, ungehörige Bemerkungen über mich gemacht, die Benz mit einer Forderung quittiert hat.« Wieder fiel die junge Studentin der Schwester schluchzend um den Hals. »Ach Gott, wenn's nur erst vorüber wäre! Ich kann dir nicht sagen, wie ich mich ängstige!« Und dann fuhr sie plötzlich empor: »Frieda, ich, – ich kann heute noch nicht mit, es ist mir ganz unmöglich!«

Die andere sah sie mit großen Augen an. Der Grund lag auf der Hand, aber Frieda Händler wollte ihn nicht wissen.

»Du kannst nicht mit?« sagte sie langsam.

Aber Rose war außer sich. »Verstell' dich nicht so,« rief sie heftig, »du weißt's ja recht gut, daß, – nun, daß wir uns lieben! Sonst hättest du uns ja ruhig einmal allein lassen können! – Dir kann ich's ja auch sagen: wir haben uns heute morgen verlobt. Benz wollte Vater, sobald dessen Zustand es erlaubte, um meine Hand bitten, nun – –« sie brach hastig ab. Was sollte sie auch hinzufügen?

Frieda war im ersten Moment sprachlos. Aber als sie das Ganze überdachte, fing sie an, ihre Schwester zu verstehen. Nur die Ausschaltung der Stiefmutter empfand ihr feinfühliger Sinn als eine Kränkung.

»Rose,« sagte sie leise, »glaubst du, daß Mutter das erlaubt? Er ist noch nichts, und du hast eben deine Studien angefangen, ist das nicht eine halbe Sache?«

»Benz macht über kurz oder lang seinen Doktor, wenn nicht in diesem Jahr, so doch bestimmt im nächsten. Auch haben wir beide etwas Vermögen.«

»Das wird nicht ewig reichen!«

»Aber eine ganze Weile. Später verdienen wir doch auch beide etwas, und Benz soll außerdem einen Erbonkel haben.«

»Dessen Testament kein Mensch kennt, liebes Kind!«

Rose ärgerte sich. »Von allem anderen abgesehen, vergißt du immer wieder, daß ich in vier Wochen mündig werde.«

Frieda zuckte die Achseln. »Wem nicht zu raten ist, dem ist nicht zu helfen. Es tut mir nur leid, daß du deine Mutter nicht etwas mehr respektierst, die dir nichts als Güte und Liebe erwiesen hat.«

»Ich verstehe dich wirklich nicht,« seufzte Rose. »Du weißt, wie lieb ich Mutter habe, aber deshalb kann kein Mensch von mir verlangen, daß ich ein Wickelkind bleibe.«

Frieda schwieg. Sie sehnte sich nach Hause, nach dem stillen Raum, wo der Vater im letzten Schlafe lag. Das Gespräch mit der Schwester war ihr im höchsten Grade unsympathisch.

Sie legte die Hand über die schmerzenden Augen. »Ich muß mich noch etwas hinlegen, ehe ich fahre!« sagte sie mit müder Stimme. »Du mußt selber wissen, was du zu tun hast. Ich kann dir nachfühlen, daß dir der Entschluß schwer wird,« fügte sie freundlich hinzu, »aber, Rose, – hast du auch die Folgen bedacht, die daraus entstehen werden, wenn du erst morgen fährst?«

»Die Folgen?«

»Ja. Daß darüber geredet und dein Hierbleiben mit dem Duell in Verbindung gebracht wird, ist doch ganz klar!«

»So laß die Leute reden!«

»Ohne Grund können sie reden, was sie wollen, obgleich auch das oft üble Früchte trägt. Fordert eine Dame aber das Gerede durch ihr Benehmen heraus, so setzt sie ihren Ruf leichtsinnig aufs Spiel.«

Rose dachte nach. Die Schwester hatte recht. In allen Taktfragen konnte man sich nach ihr richten. Und dann war ihr Entschluß gefaßt.

»Sobald das Duell bekannt und mit meinem Hierbleiben in Verbindung gebracht wird, werde ich offen sagen, daß wir verlobt sind!« sagte sie.

»Und wenn keiner fragt? Es gibt eine Maulwurfsarbeit, die man erst erkennt, wenn sie getan ist.«

Rose stand unschlüssig da. Trotzdem wagte Frieda sie nicht zum Abreisen zu veranlassen. So ungemein delikat die Frage nach allen Seiten hin war, eins stand fest: hier forderte der Lebende sein Recht, vielleicht zum letztenmal – dort lag der stille Tote, keines Menschen Liebe und Rat mehr bedürfend, im Frieden seines Gottes. Und ob's der eigene Vater war, hatte sie ein Recht, die Schwester am Bleiben zu hindern? Morgen wollte sie ja nachkommen. Der Konflikt, in dem sie stand, war schwer genug; jedenfalls stand keinem das Recht zu, ihr denselben noch schwerer zu machen.

Und Friedas treue, selbstlose Schwesternliebe fühlte sich am wenigsten dazu berufen. Aber sie war nicht ohne Sorgen im Gedanken an die Folgen. Eine Universitätsstadt mit ihrem freien, zwanglosen Beisammensein der Geschlechter bot allzu viel Stoff für böse Zungen. Und Rose war trotz ihrer Klugheit in vieler Beziehung von geradezu kindlicher Harmlosigkeit. –

Wenn Wenden doch noch käme, bevor sie abreiste! Er würde Rose gewiß treu zur Seite stehen, wenn sie ihn darum bäte.

Frieda vermochte kaum mehr zu denken. Seit einer Stunde hatte sie starke Migräne; den ganzen Morgen hatte sie noch nichts genossen. Und nun die lange Fahrt!

Rose merkte, daß ihre Kräfte versagten. Sofort war sie um sie bemüht. »Ich will dir ein Ei bestellen, oder eine Tasse Bouillon!« und fort war sie.

Frieda legte sich auf die Chaiselongue. In ihren Schläfen hämmerte es. Einer Ohnmacht nahe, schloß sie die Augen. Was hatte sie doch noch gewollt?

Fort war's – und der Gedanke an ein Versäumnis quälte sie. Da hörte sie draußen eine bekannte Stimme. Doktor Wenden, – Gott sei Dank! Das war's ja!

Sie fuhr empor und eilte zur Tür. Aber ehe sie dieselbe erreicht hatte, erfaßte sie ein Schwindel. Lautlos sank sie auf den Teppich nieder. – – –

Stunden waren vergangen.

Blaß und müde lag Frieda in den Kissen. Neben ihr auf dem Tisch standen, noch unberührt, allerlei Erfrischungen.

»Vor allen Dingen müssen Sie gleich etwas genießen, mein gnädiges Fräulein,« sagte der herbeigerufene Hofrat Kerner, ein freundlicher, älterer Arzt, »sonst ist auch morgen Ihre Reise undenkbar.«

Das junge Mädchen sah ihn ernst an. »Es ist also gänzlich ausgeschlossen, daß ich diese Nacht fahre, Herr Hofrat?«

Mitleidig sah er auf sie nieder. »Es wäre Frevel, wollte ich's Ihnen erlauben! Aber wenn Sie sich heute möglichst ruhig halten und vor allem im Essen Ihre Pflicht tun, hoffe ich, daß Sie morgen früh mit dem D-Zug fahren können.«

Er reichte ihr die Hand. Mit stillem Interesse betrachtete er das liebliche Gesicht. Diese junge Studentin hatte so absolut nichts Emanzipiertes, Unnatürliches an sich. ›Wären sie doch alle so!‹ zog es ihm durch den Sinn, während er an seine Töchter dachte. Aber hier hatte das Leben seine tiefen Furchen gezogen, das Leid hatte den Acker gelockert, nun grünte die Saat. Wenden hatte ihm von diesem Werdegang erzählt. Dies Leben hatte sein Gepräge erhalten, ehe die Welt von heute ihren verbildenden Einfluß geltend gemacht.

»Also morgen darf ich fahren,« sagte sie. »Länger können wir auch keinenfalls warten,« fügte sie leise hinzu, während sie die aufquellenden Tränen zurückdrängte. »Ich fürchte, wir finden sonst ein sehr verändertes Bild.«

Es zuckte über ihr blasses Gesicht. Sie verlor die Fassung.

»Armes Kind,« sagte der alte Hofrat, und seine große Hand strich sanft über ihr blondes Haar. »Wissen Sie, daß ich Ihren Bräutigam gekannt habe?« und seine Stimme war so weich und zart, als spräche er mit einem kranken Kinde.

Sie horchte auf. Rasch trocknete sie ihre Tränen und bat ihn, ihr mehr zu erzählen.

Er setzte sich noch einmal an ihr Bett. Der Vielbeschäftigte hatte plötzlich unendliche Zeit.

Und als er ihr endlich ein letztes Mal die Hand zum Abschied reichte, waren der alte Doktor und die junge Studentin gute Freunde geworden, die sich das Wort gaben, es dürfe nicht bei dieser einen Begegnung bleiben.

»Nur eine Bedingung mache ich,« sagte Hofrat Kerner, sich noch einmal umwendend, »das nächste Mal sind Sie gesund!« – – – –

Für Rose war es ein Glück, daß Frieda nicht fahren konnte. Alle fanden es selbstverständlich, daß die Schwestern ihre traurige Reise gemeinsam antraten. Die Frage war damit erledigt.

Ein schwerer Tag ging langsam hin. Zum Glück war Rose sehr in Anspruch genommen, da sie die nötige Trauertoilette besorgen mußte. Stundenlang war sie unterwegs. Das zwang ihre Gedanken in andere Bahnen. Kam sie zurück, suchte Frieda sie abzulenken. Sie, die nie eine Hilfeleistung brauchte, bat heute um diesen und jenen kleinen Dienst, und Rose merkte die zarte, liebevolle Absicht nicht.

So kam die Nacht.

Morgens um sechs sollte das Duell sein. Wenden hatte Rose versprochen, gegen sieben bei ihr vorzukommen.

»Ich bitte dich, versuch' zu schlafen,« sagte Frieda, als sie, ihr eine gute Nacht wünschend, an ihr Bett trat.

Über das schöne, weiße Antlitz zuckte der Schmerz.

Frieda traten die Tränen ins Auge. »Kannst du nicht beten, Rose?« kam's leise von ihren Lippen.

Das junge Mädchen preßte die Lippen zusammen. Sie wollte der Schwester keinen Kummer bereiten, wollte nicht sagen: ›Seit heute kann ich's nicht mehr!‹ Sie sagte nach schwerem, kurzem Schweigen nur: »Ich kann's nicht!«

»So will ich's für dich tun!«

Rose antwortete nicht. Sie dachte: ›Das hast du doch heute schon einmal getan, und was hat's geholfen?‹ Aber sie durfte Frieda nicht aufregen.

Es war ja auch alles einerlei. Die Dinge nahmen ihren Lauf; es kam, wie es kommen mußte.

Sie küßte Frieda sanft und zärtlich, holte ihr noch ein Glas Zitronenlimonade und kehrte ins Wohnzimmer zurück.

Angekleidet warf sie sich auf die Chaiselongue. Jetzt, wo sie mit ihrem Jammer allein war, brach der Sturm los. Das Blut in ihren Schläfen hämmerte, die Leidenschaft raste. Und die Liebe, die der Schmerz zur glühenden Lohe entfacht, wollt' es nicht glauben, daß der Tod in der Frühe des kommenden Tages dem jungen, blühenden Leben begegnen werde.

Die tiefste Sehnsucht erwachte.

Sehnsucht, die ein Weib nie verrät, Sehnsucht, so zart und fein, daß ein Morgenhauch ihren Schmelz zerstört. –

Sehnsucht, so stark und groß, daß sie jedes Leid zu bezwingen wähnt. –

Sehnsucht, die sich selbst verzehrt in Bangen und Warten, die durch Mittagsgluten rastlos schreitet, bis die Nacht anbricht, und wieder ein Morgen graut.

Aber es war noch nicht Morgen, als ein junges Weib in langen Trauergewändern am Fenster stand und auf die dämmernde Straße hinabstarrte.

Wohl eine Stunde lang hatte sie so gestanden, regungslos. Aber Ruhe war's nicht, welche die schöne Gestalt so statuenhaft still, so marmorkühl erscheinen ließ; es war die Angst vor dem, das stärker ist als das Leben, die zitternde, bebende, namenlose Angst vor der eiskalten Totenhand.

Draußen schlug es sieben.

Im selben Augenblick klang die Elektrische.

Sie fuhr mit der Hand nach dem Herzen. Der Atem drohte ihr auszugehen. Sie rang mit ihrer letzten Kraft.

Draußen klangen Stimmen, leise, gedämpft.

Ein rasches Klopfen, die Tür flog auf –

Wie geblendet stand sie.

Und doch lag träumende Dämmerung im Haus, kaum färbte sich draußen der Osten.

»Mark Albrecht!«

Zu ihren Füßen kniete er und umklammerte die Frau, die er liebte.

Des Todes kalter Hauch hatte seine Stirn gestreift, aber er war an ihm vorübergegangen.

Sie stand da, als träumte sie.

Und eine Stimme sprach: ›Der Gott, zu dem du gebetet hast, hatte keine Ohren für dein Flehen, – ich habe dir das Liebste angesichts des Todes bewahrt – ohne dein Gebet.‹ –

Das Unbewußte triumphierte.


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