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14. Kapitel.
Die Geschichte einer Ehe.

Du sprichst: mein Herz ist reich und satt,
Mein Aug' ist hell, mein Arm ist stark!
Weißt du nicht, daß es einen gibt,
Der trifft den Menschen bis ins Mark?!
Weißt du nicht, daß du einsam bist
In Erdenglück und Erdenlast?
Weißt du nicht, daß du ohne ihn
Umsonst gelebt, gelitten hast?
Du kommst nicht durch in Not und Tod,
Du irrst – das Menschenherz braucht Gott.

Und es kam, wie es kommen mußte.

Wieder hatten die Rosen geblüht und der Herbst zog ins Land.

In der Loggia einer Heidelberger Villa saß eine junge Frau im weißen Leinenkleide und blickte gedankenverloren auf das schimmernde Wäldermeer und die efeuumsponnene Schloßruine. Auf der weißen Stirn stand eine Falte, in den dunklen Augen lag eine tiefe Müdigkeit, als würd' ihr die Last der Flechtenkrone, die das schöne Haupt zierte, zu schwer. Ihre Hand spielte nervös mit einem Brief. Neben ihr auf dem Gartentisch lagen neben einem Schreibzeug mehrere wissenschaftliche Werke und das eben geöffnete Kuvert. Auf der anderen Seite stand ein verschleiertes Wiegenbettchen. Das duftige Gewebe war halb zurückgeschlagen. Ein gesundes, reizendes Kind lag mit rotgeschlafenen Bäckchen unter der hellblauen Seidendecke. Ab und zu klangen jene kleinen freundlichen Töne, die jede junge Mutter entzücken, aus dem Inneren der Wiege oder ein Händchen zupfte an den Rüschen des Mullvorhangs.

Aber Frau von Benz schien weder Auge noch Ohr für ihr Bübchen zu haben. Von dem herbstlichen Schönheitsbilde draußen blickte sie immer wieder nur in den Brief, dessen feste, markante Schriftzüge ihr keine besonders erfreuliche Botschaft vermittelt haben mochte. Denn ihr Gesichtsausdruck ward immer düsterer, und die Hand auf dem Tische ballte sich, während sie zum vierten oder fünften Male den Inhalt überflog:

 

›Liebe Rose!

Heute erhältst Du nur einen kurzen Gruß, denn ich bin in großer Eile. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, daß meine kleine Praxis in so kurzer Zeit derartig anwachsen würde. Jetzt habe ich hier festen Fuß gefaßt und weiß auch, daß ich mich auf die Länge in den hiesigen Verhältnissen wohl fühlen werde. Von Dir hoffe ich dasselbe. Alles übrige mündlich. Richte Dich, bitte, so ein, daß Du spätestens Ende des Monats mit dem Kleinen kommst. Der Umzug wird Dich hoffentlich nicht zu sehr angreifen. Sei ja nicht zu sparsam in der Heranziehung fremder Hilfe!

Was macht Bubi? ›Karl Heinrich‹ zu sagen, werde ich mich fürs erste wohl schwerlich entschließen, so hübsch der Name ist. ›Bubi‹ paßt zu nett für den kleinen Kerl.

Wendens lassen Dich herzlich grüßen. Beide freuen sich auf Dein Kommen. Die kleine Margot ist eine allerliebste Hausfrau geworden.

Tausend Grüße! Dir und Bubi einen Kuß!

Mark Albrecht.‹

 

Frau von Benz warf den Brief auf den Tisch. Was stellte dies nun wieder vor! Vor kaum zwei Monaten war ihr Mann nach Leipzig gegangen, um sich eine größere Praxis zu suchen. Er hatte damals nichts dagegen einzuwenden gehabt, daß sie noch eine Zeitlang in Heidelberg blieb. Sie konnte ihre Studien auf diese Weise schneller beenden, als wenn sie nochmals die Universität wechselte, außerdem war der Junge noch reichlich klein für eine längere Eisenbahnfahrt. Es war freilich nichts bestimmtes darüber abgemacht worden, aber Rose hatte von Anfang an damit gerechnet, den Winter über in Heidelberg zu bleiben. Und nun wurden plötzlich alle ihre Pläne einfach auf den Kopf gestellt, und es hieß: ›Bitte, komm' spätestens Ende des Monats!‹ Es war wirklich unerhört!

Sie seufzte. Ganz so schwer hatte sie sich die Ehe doch nicht vorgestellt! Und sie überdachte das Jahr, das hinter ihr lag. Zuerst, ja – da hatte sie gemeint, es gäb nichts Glückseligeres auf Erden, als eines geliebten Mannes Weib sein. Sie hatten gemeinsam studiert, bis Benz seinen Doktor gemacht, und sich ihres Lebens gefreut. Aber dann waren ganz allmählich kleine Reibereien gekommen, die immer häufiger wurden. Meistens um häusliche Dinge. Um kleine Versehen, für die der junge Arzt seine Frau verantwortlich machen zu müssen glaubte. Dinge, die eigentlich Sache der Dienstboten waren, von denen Mark Albrecht aber behauptete, ihre gewissenhafte Ausführung hinge ganz von der Hausfrau ab. Dienstboten müßten eine gütige, aber feste Hand über sich wissen, dann täten sie auch ihre Pflicht. Auch müßten sie vor der Tätigkeit der Hausfrau Respekt haben. Unkenntnis und Lücken seien bedenkliche Mängel.

Rose war vor der Geburt des Kleinen angegriffen gewesen. Hausfrauenpflichten und wissenschaftliches Studium hielten sie in beständiger körperlicher und geistiger Anspannung und forderten einen vollen Einsatz von Zeit und Kraft. Die fortwährende, notwendige Übersicht und Anpassung, die zwei wichtige Gebiete erforderten, erzeugten einen Dualismus, unter welchem manche Frau in normalen Verhältnissen gelitten haben würde. Obgleich ihr Mann sie wiederholt warnte, nahm sie absolut keine Rücksicht auf ihr Befinden, sondern studierte ganz wie in ihren Mädchentagen. Die Folge davon war, daß der Haushalt litt, was zu wenig erquicklichen Szenen führte. Benz machte seiner Frau ernstliche Vorwürfe darüber, daß sie nicht selber einsehe, daß ihre Pflichten als Gattin und werdende Mutter mit einem qualifizierten Beruf unvereinbar seien. Rose hielt ihm vor, daß sie die Fortsetzung ihrer Studien bei der Verlobung ausgemacht. Der junge Arzt wollte seiner Gattin jede Aufregung fern halten. Sonst hätte er ihr wohl geantwortet, daß er im Vertrauen auf die Kraft ihrer Liebe in jener Stunde nachgegeben, daß er sich gesagt: es kommt eine Zeit, wo sie ganz Weib sein, wo sie mit keinem Gedanken mehr nach der Wissenschaft fragen wird. Andererseits wurde er ihr insofern nicht gerecht, als er die edelsten Früchte des Christentums von der Monistin forderte. Die Vertreterin des modernen Heidentums fragt zuerst nach den Schätzen der Antike. Nach Wissenschaft und Kunst. Daneben kann sie das Weib freilich nicht ganz verleugnen, lehnt aber das Opferleben der Liebe ab.

Ein Kind und Arbeit!‹ lautet ein unsere Zeit kennzeichnendes Losungswort; ein anderes prägt der Mutterschaft ein contra naturam als Umschrift. Extreme, gewiß. Von zwei Seiten dringen sie auf die Gefährtin ein, welche die goldene Mittelstraße wandern will. Aber auch die leiseste Gemeinschaft mit der Dekadenz steckt an. Frauenliebe ihres Königsmantels, Mutterschaft ihrer Würde beraubt, Mysterien ihrer Weihen entkleidet, verlieren ihre Kulturwerte. – –

Hätte Mark Albrecht damals ein offenes Wort gesprochen, so hätte er sich selbst und der Frau, die er trotz ihrer Fehler mit der ganzen Kraft seiner Seele liebte, möglicherweise schwere Konflikte erspart. Aber er schwieg.

Und auch sie schwieg. Ein Wort von ihren Lippen hätte die ganze Situation geändert: ich will nur meinen Doktor machen, dann bleibe ich zu Hause! Dann bin ich deine Gehilfin, dein Assistent, dann bin ich ganz für dich und das Kind da! –

Vielleicht hätte solch offene Aussprache vieles geklärt, was jetzt zu Mißverständnissen Anlaß gab, vielleicht hätte sie auch Roses kindliche Auffassung vom weiblichen Persönlichkeitsideal geklärt und sie den ›Doktor‹, der sich in ihrem Köpfchen festgesetzt, um höherer Werte willen aufgeben lassen. Aber dies alles war nicht geschehen, und es kam, wie es kommen mußte. Zwar schlang der Augenblick, in welchem sie ihr erstes Kind in den Armen hielten, ein neues Band um die Herzen der jungen Eltern, aber nur zu bald begann sich das leichtgeknüpfte wieder zu lockern. Hätte Rose in diesen Tagen die Klugheit und vor allem den Altruismus besessen, ihren wahren Beruf zu erkennen und ihren Irrtum einzusehen, so hätte noch alles gut werden können. Benz, der eine ebenso gerechte, wie warmherzige Natur war, hätte das Opfer, das seine Gattin ihm und seinem Kinde gebracht, nicht nur voll gewertet, er hätte auch die Fehler der in allen praktischen Dingen gänzlich unerfahrenen, jungen Hausfrau nachsichtiger beurteilt und den guten Willen anerkannt. Aber Rose dachte nicht daran, ihre Studien aufzugeben oder auch nur einzuschränken. Kind und Haushalt mußten sich nach ihr richten. Der Mann tat es nicht. Dadurch war der Zwiespalt geschaffen. Eins warf dem andern Rücksichtslosigkeit und Egoismus vor, die Mißverständnisse häuften sich. Ab und zu brachten Versöhnungsszenen ein etwas besseres Verhältnis zu stande, welches aber selten von längerer Dauer war. Denn Rose war und blieb Studentin. Bubi bekam die Flasche, obgleich Doktor von Benz seiner Frau erklärt hatte, sie sei sehr gut in der Lage, das Kind selbst zu nähren, die Dienstboten erlaubten sich Übergriffe und versagten der nervösen jungen Hausfrau, welche sie häufig durch entgegengesetzte Befehle oder unberechtigte Vorwürfe reizte und aufsässig machte, die schuldige Ehrerbietung, der Haushalt litt, – kurz und gut, Mark Albrecht hatte sich das Eldorado der Ehe anders gedacht.

Als die Übersiedlung nach Leipzig in Frage kam, erschien ihm Roses Wunsch, noch eine Weile in Heidelberg weiter zu studieren, daher nicht so unglaublich, wie er ihm vor einem Jahre erschienen wäre. Vielleicht war's ganz gut, wenn sie sich ein paar Wochen trennten. Die Wogen würden sich legen, und man fing in der neuen Heimat mit frischem Mut von vorn an. Aber er hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht.

Hätte er Rose gesehen, während sie seinen Brief las, er hätte sich sagen müssen, daß er eine ganz falsche Taktik eingeschlagen, indem er der jungen Frau immer wieder ihren Willen gelassen. Aber er sah sie nicht. Er saß in Leipzig in seinem Studierzimmer und freute sich in echtem Optimismus auf Weib und Kind. Wenn er seine Schätze nur erst wieder bei sich hätte! Alles übrige würde sich schon von selber finden!

Rose saß noch immer mit untergeschlagenen Armen in der Loggia und starrte auf den verhängnisvollen Brief.

Was tun? Denn daß sie etwas tun mußte, stand ganz fest. So gingen die Dinge nicht weiter. Sie überlegte. Brüskieren wollte sie Mark Albrecht nicht, er sollte nur endlich merken, daß sie sich nicht alles bieten ließ. Wie gut, daß sie ihm damals nicht gesagt hatte, daß sie den ganzen Winter hierzubleiben gedächte! Es hätte einen entsetzlichen Krach gegeben! Vielleicht würde sie ihren Willen leichter durchsetzen, wenn sie ihren hiesigen Aufenthalt nach und nach verlängerte. Denn fort wollte sie nicht, bis sie ihren Doktor gemacht. Dann wollte sie zu ihm gehen, wollte bei ihm bleiben als sein lieber, treuer Kamerad, als seine Assistentin. Denn ganz würde sie sich schwerlich von der ihr so lieb gewordenen Wissenschaft trennen. Auf die Länge würde sie ja auch dies angestrengte Studium nicht ertragen, das hatte sie in den letzten Monaten eingesehen. Gattin und Mutter sein und einen qualifizierten Beruf haben, das ging über ihre Kräfte. Aber es fiel dann ja auch, wenigstens in dem jetzigen Umfang, fort. Ihre Arbeit würde nicht in dem Sinne beruflich sein wie zum Beispiel die der angestellten Ärztin. Und doch war sie dann etwas, konnte etwas, leistete etwas. Ihr Mann würde ihr niemals sagen können: dein Studium war Spielerei! Sie führte dann nicht nur den Titel ihres Gatten, – sie war ›Frau Doktor‹! Und Mark Albrecht würde die Persönlichkeit in ihr achten, den Menschen, der durch eigenen Fleiß und eigene Ausdauer etwas geworden war. Das war die Hauptsache! Die Kameradschaft zwischen Mann und Weib, die Hochachtung, die eins vor dem anderen hatte!

Sigrid Alchhusen hatte ihr freilich, als sie diese Auffassung vertrat, erwidert, das sei Unsinn. Die größte Hochachtung werde ein Mann immer der treuen Gattin und liebevollen Mutter seiner Kinder zollen. Frieda hatte ihr beigestimmt. Aber was wußten die beiden davon? Die Große war schwerlich jemals der Gegenstand männlicher Verehrung gewesen, und Frieda faßte alles vom christlichen Standpunkt auf. Der aber bedingte die Verherrlichung der Frau als Gattin und Mutter. Das Urteil der beiden war also nicht kompetent. Für Rose blieb das beherrschende Moment: Kameradschaft, gegründet auf gegenseitige, der qualifizierten Leistung gezollte Hochachtung. Sie war nie darauf verfallen, daß dies Grundpostulat, welches das zwanzigste Jahrhundert dem heiligen Ehestand empfahl, eigentlich nur die rein rechtliche Seite der Sache berührte, und das Gefühl so gut wie ganz ausschaltete. Ebenbürtigkeit! Das war die Forderung der Frau von heute. Seltsamerweise vergaß sie, daß dieselbe bestanden, solange die Erde steht, daß Gott dem Manne das Weib nicht als Sklavin unterordnete, sondern als Gehilfin zugesellte. Aber die ewige Künstlerhand hatte die Frauengestalt feiner und zarter entworfen, als der Pinsel moderner Meister. Mutter Eva war altmodisch geworden. Doch die Frau von heute mußte mit ihrer rastlos dahinjagenden Zeit Schritt halten. Sonst wurde sie rückständig, und man übersah sie. Das aber hätte ihrer Persönlichkeit widersprochen. So mußte sie vorwärts. Aber leicht war's nicht immer.

Die Falte auf der weißen Stirn vertiefte sich. Das also war das Glück, ein fortwährendes Sichdurchsetzenmüssen! Wann würde Waffenstillstand eintreten, wann Friede sein? Wann würde ihr der Mann ihrer Liebe ganz gehören?

›Wenn du dir dein Glück erkämpft hast!‹ sagte eine Stimme.

Aber eine andere raunte: ›Ich kannte eine Idealehe. Der Mann führte das Zepter, das Weib trug eine Krone. Hand in Hand wanderten die zwei durchs Leben. Recht und Pflicht wurden nicht gefordert. Die Liebe verkörperte sie. Es waren deine Eltern!‹

Rose seufzte. Ja, das waren Idealmenschen, Persönlichkeiten aus einem Guß! Aber auch ihres Vaters zweite Ehe trug das vornehme Gepräge selbstverständlicher, gegenseitiger Wertung. Und in beiden Fällen waren die Frauen nur Gattin und Mutter gewesen! Ein Gedanke flog ihr Durch den Kopf: ›Ob's früher doch schöner war?‹

In gewisser Weise vielleicht. Man hatte mehr Zeit für sein Glück!

Die Tränen traten ihr ins Auge, sie wußte selbst nicht, warum.

Mehr Zeit für das Glück! Wie ein glühender Funke fiel's in ihr Frauenherz.

Und dann schlug sie beide Hände vors Gesicht und schluchzte laut auf. Sie hatte ja überhaupt keine Zeit. – –

Bubi hatte die Nachmittagsstille mehrfach durch seine fröhlichen Laute unterbrochen, ohne daß jemand Notiz davon genommen. Das plötzliche Weinen seiner Mutter ließ ihn einen Moment vor Schrecken verstummen. Dann setzte er, wie auf Kommando, mit kräftiger Stimme ein und erhob ein Zetergeschrei.

Rose fuhr empor. »Bubi!« rief sie entsetzt und beugte sich über den kleinen Schreihals, »Bubi, wirst du stille sein!«

Aber Bubi dachte nicht daran. Er schrie aus Leibeskräften weiter, während ihm die hellen Tränen über die Backen kollerten, strampelte mit den Füßchen die Seidendecke von sich und kehrte ganz den ungezogenen Jungen heraus.

Seine Mutter war außer sich über diese Szene. Unten kamen Spaziergänger vorüber, Studenten, junge Mädchen. Alles blickte zur Loggia herauf und machte seine Glossen über den jungen Staatsbürger.

Rose, die sich sonst kaum mit ihrem Baby befaßte, nahm das Kind aus der Wiege, trug es ins Zimmer und suchte es zu beruhigen. Warum mußte sie seine Wärterin gerade heute ausschicken? Bunken verstand es so gut, mit Bubi umzugehen, sie hatte jahrelange Erfahrung mit Kindern. Und warum der Junge, der sonst stundenlang mäuschenstill in seinem Bettchen lag, gerade heute dies Konzert geben mußte, war ihr auch nicht klar.

»Bubi, so sei doch still!«

Aber Bubi hatte sich, wie Bunken sich sachkundig auszudrücken pflegte, ›festgebrüllt‹.

Als die brave Wärterin nach Verlauf einer Stunde heimkehrte, hörte sie schon von weitem die Stimme ihres Lieblings.

»Na, was die woll wieder mit'n Jungen angegeben hat!« sagte die alte treue Seele, ihren Schritt beschleunigend. »Is ne Wirtschaft heutzutag mit unsere jungen Mütter! Nein gar nichts verstehn sie von die Kindererziehung.«

Gleich darauf trat sie in den Salon, wo Rose in heller Verzweiflung mit dem Kleinen auf und ab wanderte. Resolut schritt sie auf ihre Herrin zu und nahm ihr das Kind ab.

»Aber gnä' Frau!« sagte sie, den grauen Kopf schüttelnd, »keine zehn Schritt kann man aus 'n Haus gehen!« Ein vielsagender Blick ergänzte den Schluß.

Rose sagte nichts. Sie schätzte die alte Bunken und ließ sich oft mehr gefallen, als sie selbst für richtig hielt. Denn Bunken war ihr nicht nur bequem, sie war auch in hohem Grade zuverlässig. Außerdem erzog sie Bubi gut. Er wurde nach ein paar beschwichtigenden Worten aus ihrem Munde auch gleich ruhiger, schluchzte noch einige Male auf, verzog das Mündchen, parierte aber auf einen freundlich mahnenden Blick sofort und war nach einer Viertelstunde ganz der fröhliche kleine Kerl, der die Alte mit seinem niedlichsten Lächeln begrüßte.

Rose war wieder auf die Loggia getreten. Ein leises Gefühl der Eifersucht regte sich in ihr. Warum war es ihr nicht gelungen, das Kind zur Ruhe zu bringen? Es war doch ihr Junge! Manchmal kam's ihr wirklich so vor, als hätte sich alles gegen sie verschworen. Und wieder erwachte der Trotz. Mochte geschehen, was da wollte, sie würde ihren Weg gehen.

Mit raschem Entschluß setzte sie sich an den Tisch und schrieb ihrem Manne, daß es ihr leider ganz unmöglich sei, in diesem Moment ihre Studien zu unterbrechen. Sie hoffe, er werde nicht allzusehr enttäuscht sein, wenn sie erst später mit dem Kleinen nach Leipzig übersiedelte. Ein paar freundliche Worte schlossen den Brief. Hastig adressierte sie ihn und trug ihn zum nächsten Kasten.

Warum sie es so eilig hatte, wußte sie selber nicht. Der Brief war doch nicht vor morgen an Ort und Stelle. –

Und ihre Unruhe wich nicht, als er fort war, sie wuchs. Was hatte sie denn Schlimmes geschrieben? Schlimmes überhaupt nicht. Ihre wilde Phantasie spielte ihr wieder einen Streich, das war alles. Hätte sie sie doch beiseite schieben können!

›Keine Zeit fürs Glück‹ flüsterte sie ihr zu.

Davon stand doch kein Wort in dem Brief – –

Wie war sie überhaupt auf diese ganz spontane Idee verfallen? Das Glück war doch nicht derart an Raum und Zeit gebunden, daß man ihm feste Grenzen innerhalb derselben hätte stecken können. Das Glück kam und ging; es neigte sich hier über die Blume am Wege, strich dort mit weicher Hand über ein flachshaariges Kinderköpfchen, trat mit holdem Gruß zu den Menschen und verschönte ihnen die Lebenszeit. Wo der Saum seines Gewandes die Erde berührte, sprangen die Knospen, – aber irgendwelche Gebundenheit kannte es nicht. Das Glück hatte Flügel. – –

Ihre Gedanken zogen mit.

Aber sie kamen nicht weit.

Ihre Grenze hieß: Das Unzulängliche.

Und das Unbewußte sprach nicht: ›Hier wird's Ereignis!‹

Das Unbewußte versank im Nirwana, – mit dem Weltall, mit allem, was lebte und webte, mit dem Glück. – –

Die junge Frau biß die Zähne zusammen, die Tränen liefen ihr heiß über die Wangen.

Mit dem Glück!

Es hatte doch Flügel. – –

Ja, es hatte Flügel, aber sie reichten nur bis an die Grenze der Zeit. – –

Eine heimliche Frage durchzitterte die wandernde Seele: ›Ist's nicht ein Widerspruch: irgend welche Gebundenheit kennt es nicht – aber seine Flügel reichen nur bis an die Grenze der Zeit!?‹

Was bedeutete das?

Determinismus? –

Und eine starke Individualität bäumte sich wider das Evangelium der Unfreiheit auf. – –

Als Frau von Benz das Haus betrat, wurde ihr ein Telegramm überreicht.

Sie erschrak. Mit fliegender Hand riß sie es auf:

›Komme heute halb acht Uhr.

Frieda.‹

Ein Lächeln der Erleichterung ging über ihr Antlitz. Das hätte sie sich denken können. Frieda kam, um Abschied zu nehmen. Am 1. September verließ das Missionsschiff ›Tabea‹ den Hafen von Venedig. Sie kam aus der Lüneburger Heide, wo sie die letzte Zeit mit Mutter und Schwestern verbracht, wo Schumanns mit Ehrengard und ihrem halbjährigen Bübchen waren. Rose freute sich, von allem zu hören. Wie Tante Maria sich wohl als Mutter ausnahm? Ob Lilla noch an ihren Konservatoriumsplänen festhielt? Man kam mit der Familie doch etwas auseinander, wenn man in eine andere Gegend heiratete.

Sie sah nach der Uhr. Halb sieben. Das Fremdenzimmer war fertig. Nur das letzte mußte noch geordnet werden. Rose gab ihre Befehle, holte ein paar Blumen für den Schreibtisch und begab sich, nachdem sie ganz gegen ihre Gewohnheit das Stübchen einer letzten Musterung unterzogen, in das Kinderzimmer. Sie hatte Bubi gegenüber kein ganz reines Gewissen, wenn sie es sich auch nicht eingestand. Er sah noch recht verschwollen aus, obgleich die gute Laune völlig hergestellt war. Bunken konnte es auch nicht unterlassen, eine spitze Bemerkung über die roten Augen des Kleinen zu machen. Rose quittierte dieselbe allerdings mit Stillschweigen, aber Bunken kannte ihre Herrin. Die Backpfeife saß. Es war auch wirklich zu viel gewesen heute nachmittag! Dies ruhige, leicht zu behandelnde Kind nicht besser nehmen zu können! Und Frau von Benz hatte doch selbst kleine Geschwister gehabt. Aber sie wollte sie schon anlernen! Die alte Bunken, die schon in so vielen vornehmen Häusern gewesen, verstand es, mit jungen Frauen umzugehen. Daß die Gnädige heute abend punkt halb sieben im Kinderzimmer erschien, war schon ein Fortschritt. Bunken war überzeugt, daß sie Rose nach acht Tagen dahin gebracht haben würde, Bubi einmal in ihrer Abwesenheit selbständig sein Fläschchen zurechtzumachen. – Vor allem mußte die verflixte Lernerei aufhören. Das schickte sich wirklich nicht für eine verheiratete Frau. Die unverheirateten Studentinnen waren schon unleidlich, – na, das ging schließlich keinen was an, – aber eine Frau Doktor, bei der Pauline Bunken Kinderfrau war, – das gehörte sich einfach nicht.

Frieda war von seltener Frische und Lebhaftigkeit. Bis spät in den Herbstabend hinein saßen die Schwestern in der Loggia, und sie mußte erzählen. Von der Heide im Spätsommerzauber, von Mutter und Schwestern, von Maria Schumann mit ihrem Kinde, von sich selbst und ihrem Leben, von den Zukunftsplänen der beiden Missionsärztinnen.

»Sigrid ist hier bei ihren Geschwistern,« sagte sie. »Wenn die Zeit ihr nicht zu knapp wird, will sie dich noch besuchen. Ich fürchte, es kommt nicht dazu. Du siehst sie ja aber noch auf der Bahn.«

Rose nickte. Es war ihr ganz recht, wenn Sigrid nicht kam. Sie machte über alles ihre Glossen und hätte jedenfalls irgendeine anzügliche Bemerkung gemacht, wenn sie gehört hätte, daß Rose noch einige Zeit Strohwitwe bleiben werde. Auf dem Bahnhof, in der Eile des Aufbruchs war's viel leichter, über unangenehme Dinge hinwegzugehen, als zu Hause.

»Mutter fand ich leider angegriffen,« fuhr Frieda fort. »Das Großstadtleben taugt nicht mehr für sie. Aber sie kann sich von dem Grabe nicht trennen. Dazu kommt, daß sie Schumanns täglich sehen und sprechen kann. Onkel Wolfgang ist ihr ein treuer Ratgeber und von Tante Maria hat sie jetzt mehr wie früher.«

»Wieso?« fragte Rose erstaunt.

»Sie gehört doch jetzt mehr der Familie. Künstlerinnen, besonders Literatinnen bedürfen der Einsamkeit, um ihrem Beruf gerecht zu werden.«

»Die Armen!« sagte Rose wie in Gedanken.

Frieda sah sie an. ›Dein Beruf scheint auch Einsamkeit zu fordern,‹ dachte sie, aber sie sagte nichts.

»Tante Maria ist eine reizende Frau und Mutter,« erzählte sie weiter. »Ich behaupte, sie hat ihren Mann erst zu dem gemacht, was er ist, und Ehrengard, die man früher nie lachen hörte, ist ein fröhliches, ausgelassenes Mädel geworden.«

»Und der Kleine?«

»Jungi ist ein niedliches, sehr lebhaftes Kind. Er scheint das Naturell seiner Mutter zu haben.«

»Ist Tante Maria denn wirklich glücklich?«

Frieda lachte. »Wenn jemand glücklich ist, so ist sie es. Ich kann mir keinen Menschen denken, der sich besser für den Beruf der Gattin eignen würde.«

»So. Dann ist es ja schade, daß sie ihre Kunst nicht eher aufgab und heiratete,« meinte Rose lakonisch.

»Sie erfüllte damals wie heute eine, ihr von Gott zugewiesene Aufgabe,« entgegnete ihre Schwester.

Die junge Frau schwieg. Träumerisch blickte sie in den Herbstabend hinaus. »Es wird kühl,« sagte sie, sich erhebend, und schloß das Fenster.

»Tante Maria hat übrigens ein wunderhübsches Märchenbuch für Ehrengard geschrieben und selbst illustriert,« sagte Frieda. »Es ist eben herausgekommen.«

»Also so viel Zeit hat sie doch noch für ihre alte Liebe übrig! Sie muß ja noch wahre Schätze von hübschen kleinen Stoffen liegen haben.«

Frieda antwortete nicht. Es war, als läg' an diesem Abend eine Frage in der Luft.

Die Uhr auf dem Kamin schlug elf. Scharf und hell klang der metallene Ton durch den stillen Raum.

Rose blickte auf. Es sprach etwas aus ihrem Wesen, das Frieda schon früher schmerzlich berührt, etwas Fremdes, Formelles: kümmere dich nicht um meine persönlichen Angelegenheiten, – Hand weg von meinem Leben!

Ach, sie kannte diese Reserve, diese Verschlossenheit den nächsten Angehörigen gegenüber. Es waren die Früchte der letzten Jahre. Und Frieda blieb dabei: der Monismus trug die Schuld an dieser Entfremdung. Er wollte eine Scheidung, ein Hüben und Drüben. Eine eisige Atmosphäre wehte ihr entgegen, sobald sie sich in die Nähe dieser vielgerühmten Weltanschauung begab, – sie begriff ihre Schwester nicht.

Es war nicht Friedas Art, viel über dergleichen Dinge zu reden. Aber heute abend durfte sie nicht schweigen. Vielleicht sah sie Rose auf Erden nie wieder; war's nicht heilige Pflicht, sie ein letztes Mal darauf hinzuweisen, daß sie an einem Abgrund wanderte?

Frau von Benz schien zu ahnen, was in ihrer Schwester vorging. Um jeden Preis mußte eine Aussprache, die nur das letzte friedliche Beisammensein der Schwestern gestört hätte, inhibiert werden. Aber sie hatte auch noch andere Gründe, dieselbe nicht zu wünschen.

»Wenn du morgen mit dem Neunuhr-Zug reisen willst, wird es aber Zeit, daß du zur Ruhe kommst, Frieda!« sagte sie freundlich. »Schade, daß der Abend so schnell vergangen ist, und du nicht länger bleiben kannst!«

Sie erhob sich und trat an ihren Stuhl.

Frieda zog sie neben sich auf die breite Lehne nieder.

»Ob ich wohl je wieder so gemütlich bei dir sitzen werde!« sagte sie leise.

Rose wurde es weich ums Herz. Abschiednehmen war ihre schwache Seite. Und diesmal war's vielleicht fürs Leben! Sie wurde sich plötzlich darüber klar, daß sie Frieda viel inniger liebte, als sie sich je bewußt gewesen. Aber nur keine Gefühle zeigen! Rührszenen waren fürchterlich und hatten oft noch mancherlei im Gefolge!

Frieda ließ ihr jedoch keine Zeit, ihren Gedanken nachzugehen. »Ehe wir uns trennen, habe ich noch eine Bitte an dich,« sagte sie ruhig. »Ich habe die Frage niemals eingehender berührt, weil andere es oft genug taten, und ich mir sagte, viele Worte würden nur schaden. Aber ich weiß nicht, ob ich dich auf Erden wiedersehe. Darum ist es meine Pflicht, dich vor der Weltanschauung zu warnen, zu der du dich bekennst. Du jagst einer Fata Morgana nach, Rose.«

Die junge Frau zuckte die Achseln. »Wollen wir dies. Thema nicht ruhen lassen,« bat sie sanft.

Frieda faßte ihre Hand. »Nein, Liebling, heute nicht. Es muß sein. Ich kann's nicht mit ansehen, wie du in dein Verderben hineinrennst, ich darf's nicht! Ich will dir heute abend nicht Christentum und Monismus gegenüberstellen. Du würdest mir ja doch nur antworten: ›Eins ist so gut wie das andere eine Hypothese, alles ist im Fluß? Ich könnte dir die offenbarungsgemäßen Heilstatsachen entgegenhalten, – du würdest das Wunder ablehnen! Es wäre also vergebliche Liebesmühe!« Sie seufzte. »Ich möchte dich darum nur fragen, ob dich der Monismus jemals wahrhaft glücklich, ob er dich innerlich frei und stark gemacht hat? Ich habe dich am Sarge unseres Vaters gesehen, und das Herz wollte mir brechen bei deinem Anblick. Niemals ist mir die Hoffnungslosigkeit der Hartmannschen Theorien trostloser erschienen, als in diesem Augenblick.«

Rose wandte sich ab. Um ihre Lippen zuckte es.

Und dann blickte sie Frieda an.

Wenn das Christentum wirklich die Lebenskraft in sich trug, die den Tod überdauert, dann hatte sie sich bei ihr bewährt, die durch die dunkelsten Tiefen des Leides hindurch gemußt. Und doch, es gab Naturen, die aus eigener sittlicher Kraft Herz und Sinne meisterten. Gewiß, aber hier war mehr als Kampf und Sieg, hier war Friede. Auch würde ihre Schwester niemals die eigene Kraft in diesem Kampfe gelten lassen. Das wußte Rose. Aber so oft sie sie bewundert, hatte sie sich gesagt: ›Es ist der Widerschein eines imaginären Eudämonismus, ein St. Elmsfeuer, dessen Glanz, über dem Meere webt, eine rein abstrakte Erscheinung, die das Dunkel ihres Weges eine Zeitlang erhellen wird. Über kurz oder lang wird sie zerrinnen, und die Schatten der Nacht werden die Wandernde umgeben.‹

Aber sie zerrannen nicht, und die Probleme mehrten sich. Gefragt hatte sie Frieda nie, woher sie die Kraft nahm, ihren schweren Weg zu wandern, sie wußte ja, welche Antwort sie erhalten hätte.

Und dann kam das Seltsamste. Diese feine, sensitive Natur erwählte, um das Maß ihres Erdenleides voll zu machen, den gefahrvollen, dornigen Beruf der Missionsärztin draußen in fremder, unsicherer Weite. Warum das? Ihr Leid hatte sie auch daheim niederzuringen vermocht, Frauenarbeit gab's in Deutschland genug, – wo lag die Triebkraft ihres Tuns? An derselben Stelle, wo sie die Kleinodien des Trostes, der Kraft, der Hoffnung gefunden?

Das mußte Rose wissen. Danach fragte sie die Schwester.

Eine Frage war's, aus der unbewußt und ungewollt der erste, heimliche Zweifel an der eigenen Weltanschauung sprach: »Wer gibt euch denn Kraft und Hoffnung?«

»Der Gekreuzigte und Auferstandene,« klang klar und ruhig Friedas Antwort. »Meinst du, ich ertrüg das Leben,« fuhr sie, die sonst so still ihren Weg ging, in tiefer Bewegung fort, »wenn ich nicht wüßte, wohin ich wanderte und wer mit mir geht?« Ihre Augen leuchteten, ein dunkles Rot lag auf ihren Wangen. »Dem Unbewußten zuliebe ginge ich ganz gewiß nicht nach Kalkutta!« Sie hielt inne, als erwarte sie eine Antwort. Doch sie wartete umsonst.

Rose wollte heute abend, da die Frage nun einmal angeschnitten war, nicht reden, sie wollte hören, wollte wissen, ob die Zweifel, die ihr seit Monaten die Seele zermürbten, berechtigt waren oder nicht, wollte eine Handhabe erlangen wider allen Irrtum, wollte einen vollen, unwiderruflichen Ersatz für das Schwankende erringen. Klarheit wollte sie, Echtheit, Farbe, – denn so ging's nicht weiter! – Um den vollen Eindruck ihrer Worte, um ein Ganzes zu haben, darüber sie sich ihr Urteil bilden konnte, wollte sie ihre Schwester, wenn irgend möglich ohne sie zu unterbrechen, ausreden lassen. Dann wollte sie die Konsequenzen aus dem Gehörten ziehen. Frieda kannte den Monismus, sie durfte über diese Fragen mehr als andere mitreden; außerdem bürgte ihre Persönlichkeit für gewissenhafteste und gerechteste Behandlung der Gegensätze. So schwieg Rose, aufmerksam zuhörend.

»Du wolltest mir sagen, ob das Unbewußte dich jemals frei und glücklich gemacht hat?« sagte Frieda endlich.

Rose wollte das eigentlich nicht. Sie wollte sich nicht festlegen. »Ach,« sagte sie ablenkend, »das Leben ist oft so spontan, man ist doch ganz der Spielball der Kausalität!«

Frieda lehnte sich in ihrem Klubsessel zurück und sah sie voll an. »Nein, liebe Rose, das ist man wirklich nicht! Verzeih, aber das ist monistischer Unsinn! Wie kann ein Gott, der das Riesenwerk einer Weltschöpfung vollendet hat, deren Wohl und Wehe von der Kausalität abhängig machen! Ich will die ewige Liebe dieses Gottes, die du ja doch nicht gelten läßt, ganz aus dem Spiel lassen, und dich nur daran, erinnern, daß diese Hypothese der Ehre des Schöpfers gegenüber eine gänzlich unhaltbare ist. Wissenschaftlich wie sittlich. Das ist ja der Punkt, wo der konkrete Monismus total versagt, wo er sich in die haltlosesten Widersprüche verwickelt. Mit dem transzendenten Kausalbegriff sucht er seine Lücken auszufüllen. Euer Gott, den Hartmann den allmächtigen Schöpfer betitelt, degeneriert zum schwachen, hin- und hergestoßenen, in seinen Handlungen willkürlich törichten Unbewußten, das sich schließlich genötigt sieht, sich von seinem eigenen Geschöpf aus Gnade und Barmherzigkeit erlösen zu lassen. Dies Geschöpf aber ist wie alle Deterministen von der Kausalität abhängig. Merkwürdigerweise. Der moderne Mensch, dessen Persönlichkeitsideal unlöslich an die Forderung unbegrenzter Willensfreiheit gebunden ist, wird in dem Augenblick Spielball der Kausalität, wo einerseits die Anerkennung eines persönlichen transzendenten Gottes und seines allmächtig eingreifenden Regiments und andererseits das Zugeständnis der menschlichen Schuld, nicht nur als Allgemeinbegriff, sondern auch in Bezug auf seine eigene Person gefordert wird.«

Nun fuhr die junge Frau doch herum. Sie kannte ihre Schwester nicht wieder. War das die sanfte Frieda? Allerdings hatte sie stets gewußt, was sie wollte. Aber nie im Leben hatte Rose sie so mit ihren Ansichten hervortreten sehen, wie heute.

»Das ist ein sehr hartes Urteil,« sagte sie.

Die Ärztin zuckte die Achseln. »Mit Allgemeinplätzen ist einem in so wichtigen Lebensfragen schlecht gedient. Entweder gibt es keinen allmächtigen Gott, und die ganze Welt ist von der Kausalität abhängig. Natürlich sind wir dann alle miteinander Deterministen, und menschliche Willensfreiheit und Persönlichkeit sind falsche Begriffe. Wir sind wertlose, nichtssagende, ephemere Blüten ohne jede Bedeutung, die heute verwelken und morgen vergessen sind. Ob wir am Straßenrande gestanden oder in einem Luxusgarten, ist gänzlich Nebensache. Oder – das ist der Gegensatz: es gibt einen persönlichen, ewigen, nicht nur dem Namen nach allmächtigen Gott, der die Welt nach seinem Willen erschaffen hat, um ihre Völker zur Gründung eines seligen transzendenten Gottesreiches zu führen. Dieser Gott ist in seinem Tun und Lassen frei. Oder glaubst du, der Allmächtige, der das Liebste in unser Elend sandte, werde, nachdem er seinen Sohn für uns ans Kreuz nageln ließ, dieses Riesenopfer durch jämmerliche, dem kleinen Menschengeist gemachte Konzessionen abschwächen? Dann wäre er ja selbst der größte Determinist. Eine transzendente Kausalität, ein Unbewußtes, ist also in Bezug auf das Weltgeschehen, wie auf die Lebensschicksale des einzelnen durch die Tatsache der offenbarungsgemäßen Heilswahrheit ausgeschaltet. Der Begriff ›Naturgesetzlichkeit‹ ist überhaupt kein transzendenter, sondern ein lediglich empirischer. Er gehört der Erscheinungswelt an. Aber nicht nur in Bezug auf Weltgeschehen und Einzelschicksal, auch in Bezug auf unseren Willen kommt er nicht in Betracht. Wir können, solange wir den Anspruch der freien Persönlichkeit erheben, unsere Handlungsweise nicht durch die Kausalität bestimmen lassen, Rose! Unsere inneren Kräfte sind nicht von ihr abhängig: der Wille ist frei. Diese Tatsache steht aber nicht etwa im Widerspruch mit der Kausalität. Ich las vor einigen Tagen, der berühmte Philosoph und Naturforscher Hermann Lotze habe erklärt, ›das Kausalitätsgesetz sage nur, daß jeder in die Wirklichkeit eingetretene Faktor nach allgemeinen Gesetzen weiter wirke, es sage aber nicht, daß jeder in der Wirklichkeit vorhandene Faktor nach jenen Gesetzen entstanden sei.‹ Und Professor Hunzinger schreibt wörtlich: ›Der Begriff des Naturgesetzes enthält, wenn er exakt gefaßt wird, gar nichts von einer wirkenden Kraft in sich. Er drückt nur gesetzmäßige Beziehungen quantitativer Art aus, in denen die Dinge zu einander stehen.‹ (A. W. Hunzinger, Das Wunder.) Das hört sich freilich anders an, als die Hartmannsche Hypothese, aber hier wird der Sache eben, so weit es menschenmöglich ist, auf den Grund gegangen!«

»Du bist ja kolossal belesen!« konnte Rose sich nicht enthalten zu sagen.

»Beherrschte mich also die Kausalität,« fuhr Frieda fort, »so wäre ich – bis ins Kleinste, Alltäglichste – Determinist, mit anderen Worten eine Puppe ohne Geist und Rückgrat; als Indeterminist bin ich dagegen eine freie, selbständige, für meine Handlungsweise verantwortliche Persönlichkeit – sonst fiele ja auch jede Sittlichkeit fort! – Daß ich von diesen Gesichtspunkten aus die allgemeine, wie die persönliche Schuld nicht leugnen kann, liegt klar auf der Hand. Auch vermag kein Kausalitätsgesetz das Gewissen auszuschalten, welches mir immer wieder meine Schuld bezeugt. Der Schuldige aber bedarf nicht nur einer Versöhnung und Erlösung, er sucht sie, bis er sie findet!«

Sie schwieg. – Rose saß neben ihr und kämpfte mit sich.

Wenn Frieda sich entschloß, in derartig eingehender Weise über diese Dinge zu sprechen, so mußten es sehr wichtige Gründe sein, die sie dazu veranlaßten. Besonders in diesem Moment. Und Rose sagte sich nicht nur, wie treu diese Worte gemeint sein mußten, sie erkannte auch, daß besonders den Gegensätzen Kausalität und Willensfreiheit schwerwiegende Irrtümer zugrunde lagen. Irrtümer, die um keinen Preis bestehen durften.

Seit jenem Gespräch, das sie wenige Wochen vor ihrer Hochzeit mit Sigrid Alchhusen über die Willensfreiheit gehabt, konnte sie die Unsicherheit nicht aus der Seele bannen. Sie wußte nicht, daß sie eine Tastende war. Sie war überzeugt, daß ihre Gegnerin aus Unkenntnis und Übereifer irrte. Ihr ganzes Bestreben zielte daher einzig darauf hin, die Ehre ihrer Weltanschauung zu verteidigen. Daß sie sich über sich selbst täuschte, daß diesem Bestreben ein nagender Zweifel zugrunde lag, eine heiße Sehnsucht nach kraftvoller Widerlegung jenes Angriffs von wissenschaftlich anerkannter Seite, darüber war sie sich nicht klar. Sie suchte Deckung für die wichtigsten Grundpostulate ihres Geisteslebens und wußte es nicht. – Die Trauer um ihren Vater kam dazu. Als der Sarg in die Erde sank, und die Schollen niederfielen, war's ihr, als versteinere etwas in ihrem Inneren. Die Ihrigen hatten ihre Haltung für Fassung angesehen, sie aber hatte nie eine Zeit durchlebt wie die nun folgenden Wochen.

Das war der Tod? Und als müsse sie ihm ein letztes Kleinod entreißen, floh sie mit ihrem Schmerz in die eigene, enge Welt ihres kleinen Seins und begrub das Leid um den Vater in der tiefsten Tiefe der Seele. Da lebte es fort, da war's heilig! Aber draußen? Gestorben, verdorben! Es fror sie, wenn sie an das kühle, weltferne Nirwana dachte.

Und dann kam das Glück und trocknete dem jungen Weibe die Tränen. Am Herzen des Mannes, der sie mit der ganzen Leidenschaft seiner starken Seele liebte, vergaß sie ihr Leid. Und als sich die Türen ihres Hochzeitssaales öffneten, und die rosenumkränzte, eigene Schwelle ihr winkte, lag die Zukunft vor ihr in sonniger, blühender Weite.

Die gemeinsame Arbeit kam. Fast war sie noch elementarer, als das Glück. Mit leuchtender Stirn stand sie vor Mann und Weib und legte den Maßstab an Kraft und Können. Eine farbenfrohe Fülle breitete sich vor den Schaffenden aus.

Der Mann griff hinein mit der Kraft des Mannes. Das Weib trat ihm mit seiner Gestaltungskunst ergänzend zur Seite.

Und die Zeit ging. Das Korn reifte. Die Sichel rauschte. Der Mann stand allein am Werk. Denn das Weib wiegte ein Kindlein.

›Schaff' du's derweil!‹ sprach sie und sang ihrem Erstgeborenen das Schlummerlied. Und der Kleine schlief ein.

Und die Arbeit lockte. Wieder trat sie dem Manne zur Seite: ›Laß mich deine Gehilfin sein!‹

Aber über dem Tagewerk des rastlos pulsierenden Lebens war die Sehnsucht der Seele vergessen. Vereinsamt stand das feine Gebild, und der Webstuhl rastete. Der Zweifel schlief, der einst das Mägdlein geängstet.

So schafften die beiden.

Aber das Büblein schrie nach der Mutter, und das Herdfeuer erlosch.

Da zürnte er: ›Sorg' für das Kind und schüre die Glut! Das Weib soll nicht von Weibesart lassen!‹

Sie gehorchte. Draußen schrillte die Säge, und sein Lied grüßte die Arbeit. Sie aber ging versonnen umher, wiegte das Kind und hütete das Feuer.

Und nach langer Vergessenheit öffnete sie eine stille Kammer.

Dort ragte der Webstuhl. Ein königlich Bild grüßte die Eintretende: die Seele in ihrer Behausung. Ein unvollendetes Kunstwerk. Lose hingen die güldenen Fäden.

Mit zager Hand ergriff sie die Spule. Fragend hob sie den Blick. ›Entsprach das Bild der Wirklichkeit?‹ Der Zweifel war erwacht.

Und dann ging wieder die Tür, und eine Frau trat herein. Sie sprach: ›Du hast recht, ein Fehler ist im Gewebe! Aber es nützt nicht, daß du die Fäden lösest! Die Arbeit ist falsch begonnen. Nimmermehr aber gerät das Werk aus gebrauchtem, mürbfädigem Garn. Darum löse das Bildnis, greife zur Spule und umschreite von neuem den Webstuhl! Gott segne die Arbeit!‹

Sprach's und ging zur Tür. Sehnsüchtig blickte die Hausfrau ihr nach. Aber der Stolz schloß ihr die Lippen. Sollte sie sich am eigenen Herde der Arbeit unkundig zeigen? –

So war's gewesen.

Die Zeichnung stimmte mit dem Leben überein. Vor dem künstlerischen Gebilde ihrer Weltanschauung aber stand eine und urteilte: ›Ein Fehler ist im Gewebe! Die Arbeit ist falsch begonnen! Das Bild entspricht nicht der Wirklichkeit!‹ – – –

Ihrem Vorsatz getreu hatte sie geduldig angehört, was Frieda geredet. Die Sehnsucht nach Klarheit und der stetig raunende Zweifel waren zu mächtig in ihr. Sie wollte die Schätze dieses stillen, tapfern Herzens kennen lernen. Vielleicht waren gerade die Perlen und Edelsteine darunter, die in der Krone des Monismus fehlten! Vielleicht waren sie geeignet, das Fehlende im Kronschatz der Philosophie des Unbewußten zu ergänzen! – Aber nein, sie paßten nicht in jenes Diadem, und ihr Glanz vertrug sich nicht mit den konkreten Kleinodien! Es war immer wieder das alte Lied!

Sie hatte einmal mit Benz über die Gegensätze Kausalität und Willensfreiheit gesprochen und ihm die Bedenken, die ihr in Bezug auf diese Hypothese aufgestiegen, nicht verhehlt. Sie hatte keinen günstigen Moment gewählt. Ihr Mann war sehr beschäftigt und in Eile. Er erwiderte nur, es liege kein Anlaß vor, die Hartmannsche Auffassung zu beanstanden. Die Grundpostulate seien stark fundamentiert, das sei die Hauptsache. Mit kleinen Schwankungen habe jede Weltanschauung zu rechnen, deshalb gehe sie noch lange nicht aus den Fugen.

Das war wenige Tage vor Bubis Geburtstag gewesen. Rose wurde den Gedanken nicht los, daß Mark Albrecht ihr seine wahre Ansicht verschwieg, um sie nicht zu beunruhigen. Sie kannte ihn zu gut. Schauspielertalent besaß er nicht. Und doch – was berechtigte sie zu dieser Auffassung?

Später waren die Gatten nicht wieder darauf zurückgekommen. Erst heute fiel Rose die Unterredung wieder ein.

»Frieda,« sagte sie endlich, »ich finde, du hast in manchem recht, – nur eins kann ich nicht gelten lassen: die menschliche Sünde. Es gibt doch Verhältnisse, die den Menschen geradezu in sein Schicksal hineintreiben.«

»Versuchungen sind in jedem Leben,« erwiderte Frieda. »Darum besteht aber doch die menschliche Willensfreiheit. Die Versuchung ist eben die Probe auf ihre Stärke.«

Rose seufzte. »Und wenn ich die Probe nicht bestehe, so bin ich schuldig?«

»Ja, natürlich!«

»Aber ein anständiger Mensch sündigt doch eigentlich nicht!«

»Wenn du unter Sünde nur Mord, Ehebruch, Unterschlagung und Betrug verstehst, gebe ich zu, daß viele Menschen durchs Leben gehen, ohne schuldig zu werden. Aber das ist doch nur die massive Seite menschlicher Verschuldung. Gott fragt nicht nur danach, was ich getan, sondern auch danach, was ich nicht getan; nach der leisesten inneren Auflehnung gegen seine Gebote, der geringsten Unaufrichtigkeit, dem kaum gedachten, verbotenen Begehr, nach all den heimlichen, verborgenen Fehlern, all den Versäumnissen, die das eigene Herz noch nicht einmal kennt.«

Rose zuckte die Achseln. »Dann käme man ja gar nicht aus der Verantwortung heraus.«

»Das kommt man auch nicht. Christentum ist Kampf. Aber wir stehen nicht allein. Einer streitet mit und für uns. Ihr aber steht ganz allein. Der Determinismus macht es sich ja allerdings bequem, er schiebt alle Schuld auf die Kausalität. Aber deshalb ist noch lange nicht gesagt, daß er nicht einmal dafür verantwortlich gemacht wird.«

Sie stand auf und schlang den Arm um die Schwester. »Liebe Rose, du glaubst das alles ja selber nicht, gib es doch zu. Oder, wenn du's nicht zugeben willst, so frag' dich einmal, wenn du ganz allein bist, wenn keine Menschenseele dich stört. Diese Dinge sind ja so fein und zart, am liebsten rührte man nicht daran, aber heute mußte es sein! Ich würde ja nie darüber zur Ruhe kommen, ginge ich so von dir. Und selbst wenn du jetzt glaubst, du hättest alles, was du brauchst, das Leben faßt uns alle mit harter Hand an, – was willst du dann anfangen ohne deinen Gott? Denk' doch nur an das, was ich durchmachen mußte, was wäre aus mir geworden, ohne die felsenfeste Gewißheit, daß Gott mir nichts schicken kann, was nicht zu meiner Seligkeit dient!«

Sie senkte den Kopf. In ihren Augen standen Tränen. Der große Schmerz ihres jungen Lebens forderte immer wieder sein Recht. Aber er blieb nicht Sieger. Sie besaß etwas, das stärker war als er.

Rose umschlang die Schwester und küßte sie. »Ja, du mit deinem Heldenmut! Ich wäre damals ins Wasser gegangen!«

»Sag' lieber ›du mit deinem Gott.‹ das wäre richtiger,« sagte Frieda ernst. »Wenn du ihn gehabt hättest, so wärst du an meiner Stelle auch nicht ins Wasser gegangen. Außerdem – glaubst du, daß das Leben damit ein Ende hat?«

Es schlug Mitternacht.

»Ich habe noch eine Bitte an dich,« fuhr sie leise fort. »Einmal im Leben begegnet uns der Herr! Es kann nicht anders sein, denn er geht an keiner Seele vorüber. Willst du mir versprechen, ihm dann nicht auszuweichen?«

In heißer Liebe blickten die schönen Augen sie an.

Rose erbebte. Fast dieselben Worte waren in einer anderen Abschiedsstunde an sie gerichtet worden – die letzten aus geliebtem Munde.

Und wieder stand scheidende Liebe mit der Bitte um ein großes, heiliges Versprechen vor ihr. Und sie gab es – ein zweites Mal.

»Weißt du, daß Vater mir am letzten Abend dasselbe Versprechen abgenommen hat?« fragte sie mit erstickter Stimme.

Frieda schüttelte den Kopf.

»Ich hab's noch nicht erfüllen können, – ich muß ehrlich sein,« setzte Rose leise hinzu.

Frieda zog sie an sich. »Und nun noch eins,« sagte sie. »Schilt nicht, ich will nichts fragen und nichts wissen, aber bleib hier nicht mehr zu lange allein, Liebling, es ist für euch beide nicht gut!« Sie schlang die Arme um ihren Hals. »Nicht wahr, Rose, ich darf heute abend mehr sagen als sonst?«

Die junge Frau war am Ende ihrer Kraft. Laut aufschluchzend legte sie den Kopf auf die Schulter ihrer Schwester.

Frieda hielt sie still umfaßt. Sie fühlte, hier war einer an der Arbeit, dessen Meisterhand noch nie ein Werk mißlungen war. Wie eine glückbringende Verheißung erschien ihr der schlichte Handlangerdienst, den sie in dieser Stunde hatte tun dürfen, und wie so oft gedachte sie dankbaren Herzens des Apostelwortes, das die Frau in das Amt der Barmherzigkeit einführt: ›Ich befehle euch aber unsere Schwester Phöbe, die da ist am Dienst der Gemeinde zu Kenchrea.‹

Ihre Gedanken zogen über das Meer zu den armen Frauen jenes schönen, fernen Landes, denen sie Hilfe für Leib und Seele bringen sollte, und aus tiefstem Inneren betete sie, daß ein Funke des Feuers, das sie hinaustragen sollte in die Länder der Heiden, in das Herz derer fallen möge, die ihres Blutes war.


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