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XII.
Vom tiefen Leben

Es ist gut, die Menschen daran zu erinnern, das der Geringste unter ihnen »das Vermögen hat, nach einem göttlichen Vorbilde, das er nicht wählt, eine grosse moralische Persönlichkeit zu meisseln, die zu gleichen Teilen aus ihm und seinem Ideal besteht; und dass es sicherlich dieses ist, was voll und wirklich lebt.«

Jedermann muss sich eine besondere Möglichkeit zu höherem Leben in der bescheidenen Wirklichkeit des Alltags suchen. Es gibt kein edleres Ziel für unser Leben. Was uns von einander unterscheidet, das sind die Beziehungen, die wir zum Unendlichen haben. Der Held ist nur darum grösser als der Elende, der ihm zur Seite schreitet, weil er zu einer gewissen Zeit seines Daseins ein lebhafteres Bewusstsein von einer dieser Beziehungen gehabt hat. Wenn es wahr ist, dass die Schöpfung nicht beim Menschen stehen bleibt und dass höhere Wesen uns unsichtbar umgeben, so sind diese Wesen nur deshalb höher als wir, weil sie zur Unendlichkeit Beziehungen haben, die wir nicht einmal ahnen können.

Es ist uns gegeben, diese Beziehungen zu vermehren. Im Leben eines Jeden gibt es einen Tag, an dem der Himmel sich von selbst erschliesst, und von diesem Augenblick an rechnet meist die wahre geistige Persönlichkeit eines Wesens. In diesem Augenblicke bildet sich ohne Zweifel das ewige, unsichtbare Antlitz, das wir unbewusst den Engeln und Seelen zeigen. Aber für die meisten Menschen öffnet sich der Himmel derart nur durch Zufall. Sie haben das Antlitz nicht gewählt, an dem die Engel sie im Unendlichen wiedererkennen; noch wissen sie diese Züge zu veredeln oder zu läutern. Sie sind nur vom Zufall einer Freude, einer Trübsal, eines Schreckens oder eines Gedankens geboren.

Denn in der Tat geboren werden wir an dem Tage, wo wir zum ersten Male tief empfinden, dass es etwas Ernstes und Unerwartetes im Leben gibt. Die Einen finden ganz plötzlich, dass sie nicht allein unter dem Himmel sind; und die Anderen werden bei einem Kusse, den sie geben, einer Träne, die sie vergiessen, plötzlich gewahr, dass »die Quelle alles Besten und Heiligen von Gott bis zur Welt hinter einer Nacht voll allzu ferner Sterne liegt«; ein Dritter sieht eine göttliche Hand sich zwischen seine Freude und sein Unglück strecken, und ein Vierter hat begriffen, dass die Toten recht haben. Ein Anderer hat Mitleid gehabt, ein Anderer Furcht und ein Anderer hat bewundert. Meistenteils ist fast gar nichts vonnöten, ein Wort, eine Gebärde, eine Kleinigkeit, die nicht einmal ein Gedanke ist. »Vor Zeiten liebt' ich Dich wie einen Bruder,« sagt ein Held Shakespeares von einer Handlung, die er bewundert, »jetzt aber acht' ich Dich wie meine Seele.« Wahrscheinlich kam an diesem Tage ein Wesen zur Welt.

Wir können derart mehr als einmal geboren werden; und bei jeder dieser Geburten nähern wir uns unserem Gotte ein wenig. Doch fast alle begnügen wir uns damit, zu warten, bis ein Ereignis voll unwiderstehlicher Klarheit gewaltsam in unsere Finsternis dringt und uns wider Willen erleuchtet. Wir erwarten ich weiss nicht welches glückliche Zusammentreffen, wo unserer Seele die Augen aufgehen, gerade in dem Augenblick, wo uns etwas Ausserordentliches begegnet. Aber in allem, was geschieht, ist Licht; und die Grössten unter den Menschen waren nur darum gross, weil sie die Augen gewohnheitsmässig jedem Lichte öffneten. Muss denn erst Deine Mutter in Deinen Armen verröcheln, Dein Kind beim Schiffbruch umkommen oder Du selbst dem Tode entrinnen, damit Du endlich lernst, dass Du in einer unbegreiflichen Welt lebst, in der Du Dich ein für allemal befindest, und in der ein Gott, den man nicht sieht, ewig allein mit seinen Geschöpfen lebt? Muss erst Deine Braut bei einer Feuersbrunst umkommen oder vor Deinen Augen in den grünen Tiefen des Meeres versinken, damit Du einen Augenblick einsiehst, dass die letzten Schranken des Bereichs der Liebe vielleicht weit hinausgehen über die fast unsichtbaren Gluten der Mira, des Altaïr oder des Haars der Berenice? Hättest Du die Augen aufgehabt, Du hättest bei einem Kuss gewahren können, was Dich heute eine Katastrophe lehren muss. Muss der Schmerz erst mit Lanzenstichen die göttlichen Erinnerungen wecken, die in unserer Seele schlafen? Der Weise bedarf dieser Erschütterungen nicht. Er betrachtet eine Träne, die Gebärde einer Jungfrau oder einen fallenden Wassertropfen; er lauscht einem vorübergehenden Gedanken, drückt die Hand eines Freundes oder naht einer Lippe mit offenen Augen und offener Seele. Er kann unaufhörlich sehen, was Du nur einen Augenblick erschaut hast; und ohne Mühe lehrt ihn ein Lächeln, was Dir ein Sturm und die Hand des Todes enthüllen musste.

Denn was ist im Grunde alle sogenannte »Weisheit«, »Tugend«, »Heroismus«, was sind alle »erhabenen Stunden« und »grossen Momente« des Lebens, wenn nicht Momente, wo man mehr oder minder aus sich herausgegangen ist, wo man, wenn auch nur für eine Minute, auf der Schwelle eines ewigen Tores hat stehen bleiben können, wo man einsieht, dass der kleinste Ruf, der bleichste Gedanke und die schwächste Gebärde nicht ins Nichts zurückfallen, oder besser, dass wenn sie fallen, dieser Fall selbst so ungeheuer ist, dass er ausreicht, um unserem Leben einen erhabenen Charakter zu verleihen? Was wartet Ihr, dass der Himmel sich beim Krachen des Blitzes erschliesse? Man muss auf die glücklichen Minuten lauern, wo er sich im Schweigen öffnet, und er öffnet sich unablässig. Ihr sucht Gott in Eurem Leben; und Gott erscheint Euch nicht, sagt Ihr. Aber welches Leben hat nicht tausend Stunden, die der Stunde jenes Dramas ähnlich sind, wo Alle einen göttlichen Eingriff erwarten und keiner ihn wahrnimmt, bis ein unsichtbarer Gedanke, der das Bewusstsein eines Sterbenden umgekehrt hat, sich plötzlich kundtut, oder ein Greis vor Freude und Erstaunen schluchzt: »Mein Gott, da bist Du! Gott …«

Muss man uns immer vorher benachrichtigen, und können wir nur auf die Kniee fallen, wenn jemand da ist, der uns sagt, dass Gott vorübergeht? Wenn Du von Grund aus geliebt hast, so hat Dich nicht erst einer darauf hinweisen müssen, dass Deine Seele ebenso gross war, wie die Welten, dass die Sterne, die Blumen, die Wogen der Nacht und des Meeres nicht allein waren, dass nichts ein Ende hatte und dass alles an der Schwelle der Erscheinungen begann; und dass selbst die Lippen, die Du küssest, einem viel höheren, schöneren und reineren Wesen zugehörten, als dem, das Deine Arme umschlangen. Damals hast Du etwas gesehen, was man im Leben ohne Trunkenheit nie bemerkt. Aber kann man nicht immer leben, als ob man liebte? Die Helden und Heiligen haben nichts anderes getan. Ach, wahrhaftig! Wir warten ein wenig zu lange im Dasein, wie die Blinden im Märchen, die eine lange Reise gemacht hatten, um ihren Gott zu hören. Sie hatten sich auf die Stufen gesetzt, und als einer sie fragte, was sie auf der Schwelle des Heiligtums machten, antworteten sie kopfschüttelnd: »Wir warten, und Gott hat noch nicht ein einziges Wort gesprochen.« Aber sie hatten nicht gesehen, dass die ehernen Pforten des Tempels geschlossen waren, und sie wüssten nicht, dass die Stimme ihres Gottes das Gebäude erfüllte. Unser Gott hört keinen Augenblick auf zu sprechen; aber keiner denkt daran, die Tore zu öffnen. Und doch wäre es, wenn man darauf achtgeben wollte, nicht schwer, bei jedem Vorgange das Wort zu hören, das Gott sprechen muss.

Wir alle leben im Erhabenen. Oder worin sollen wir sonst leben? Es gibt keine andere Stätte für das Leben. Was uns fehlt, das sind nicht die Gelegenheiten, im Himmel zu leben; die Aufmerksamkeit und Empfänglichkeit ist es, und ein wenig Trunkenheit der Seele. Wenn Du nur ein kleines Kämmerlein hast, glaubst Du, das Gott dort nicht auch ist und dass es unmöglich wäre, ein höheres Leben darin zu führen? Wenn Du klagst, Du seiest allein, Dir begegnete nichts und niemand liebte Dich, noch Du jemanden, glaubst Du, dass Worte nicht täuschen? Dass es möglich ist, allein zu sein? Dass die Liebe ein Ding ist, von dem man weiss, ein Ding, das man sieht? Und dass die Ereignisse gewogen werden, wie Gold und Silber des Lösegeldes? Kann ein lebendiger Gedanke – ob er erhaben oder ärmlich ist, macht wenig aus; sobald er nur aus unserer Seele kommt, ist er gross für uns – oder ein hoher Wunsch oder ein einfacher Augenblick feierlicher Beachtung des Lebens nicht in ein kleines Zimmer dringen? Und wenn Du nicht liebst noch geliebt wirst und vermagst dennoch mit einer gewissen Kraft zu sehen, dass tausend Dinge schön sind, dass die Seele gross und das Leben fast unaussprechlich ernst ist, ist das nicht ebenso schön, als ob Du liebtest oder man Dich liebte? Und wenn selbst der Himmel Dir verborgen ist, »der grosse Sternenhimmel,« wie der Dichter singt, »spannt er sich nicht trotz allem über Deiner Seele in Gestalt des Todes?« Alles, was uns begegnet, ist göttlich gross, und wir sind stets im Mittelpunkte einer grossen Welt. Aber man müsste sich daran gewöhnen, wie ein Engel zu leben, der eben geboren ist, wie ein Weib, das liebt, oder wie ein Mensch, der im Sterben liegt. Wenn Du wüsstest, dass Du heute abend sterben oder auch nur für immer fortgehen wirst: würdest Du das letzte Mal die Dinge und Wesen so sehen, wie Du sie bis auf diesen Tag gesehen hast? Und würdest Du nicht lieben, wie Du nie geliebt hast? Würde die Güte oder die Bosheit der Erscheinungen rings um Dich grösser werden? Würde es Dir gegeben sein, die Schönheit oder die Hässlichkeit der Seelen wahrzunehmen? Verwandelt sich dann nicht alles bis zum Bösen selbst und dem Leiden in Liebe und in holde Tränen? Nimmt nicht, wie ein Weiser gesagt hat, jede Gelegenheit zur Vergebung dem Abschied oder dem Tode etwas von seiner Bitterkeit? Und doch: hat man in dieser Klarheit der Trübsal oder des Todes die letzten Schritte, die zu machen noch verstattet ist, nach der Wahrheit oder dem Irrtum gemacht?

Sind es die Lebenden oder die Toten, die zu sehen wissen und recht haben? Ach, selig sind, die so gedacht, gesprochen und getan haben, dass sie die Billigung der Sterbenden erlangten, oder die ein grosser Schmerz hellseherisch gemacht hat! Es gibt keinen süsseren Lohn für den Weisen, dem niemand im Leben zuhörte. Wenn Du in verborgener Schönheit gelebt hast, gräme Dich nicht darüber! Zuletzt schlägt doch eine Stunde höchster Gerechtigkeit im Herzen eines Jeden; und das Unglück öffnet Augen, die sich nie geöffnet haben. Wer weiss, vielleicht ziehst Du in diesem Augenblick an der Seele eines Sterbenden vorüber, wie der Schatten Eines, der die Wahrheit schon kannte. Vielleicht wird auf den Totenbetten der wahrhaftige und köstlichste Kranz der Weisen, der Helden und aller derer geflochten, die in den hohen, reinen und verschwiegenen Trübsalen des Lebens der Seele ernstlich zu leben wussten?

»Der Tod,« sagt Lavater, »verschönt nicht nur die leblose Form, sondern der blosse Gedanke an den Tod gibt auch dem Leben eine schönere Form.« Und ebenso verschönt jeder Gedanke, der unendlich ist wie der Tod, unser Leben. Aber man darf sich darin nicht täuschen. Jedermann hat edle Gedanken, die wie grosse weisse Vögel über unsere Herzen dahinziehen. Aber ach! auf sie kommt es nicht an; sie sind Fremdlinge, die man voller Staunen erblickt und mit belästigter Miene von sich weist. Sie haben nicht die Zeit, unser Leben zu berühren. Damit unsere Seele ernst und tief wird, wie die der Engel, dazu genügt es nicht, die Welt einen Augenblick im Schatten des Todes oder der Ewigkeit, im Lichte der Freude oder in den Flammen der Schönheit und Liebe zu sehen. Jedes Wesen hat dergleichen Augenblicke gehabt, die in ihm nur eine Handvoll unnützer Asche zurückgelassen haben. Ein Zufall genügt nicht, es bedarf einer Gewohnheit. Man muss lernen, in gewohnheitsmässiger Schönheit und Ernsthaftigkeit zu leben. Im Leben erkennen auch die niedrigsten Wesen genau das Schöne und Edle, das man tun müsste; aber dies Schöne und Edle hat nicht Kraft genug in ihnen. Diese unsichtbare und abstrakte Kraft ist es, die wir im Voraus zu mehren suchen müssen. Und diese Kraft mehrt sich nur in Denen, welche die Gewohnheit angenommen haben, sich öfter als die Anderen auf den Gipfeln niederzulassen, wo das Leben die Seele erobert und von wo man sieht, dass jede Handlung und jeder Gedanke unfehlbar an etwas Grosses und Unsterbliches geknüpft ist. Man betrachte die Menschen und Dinge nach Form und Wunsch seines inneren Auges, aber man vergesse nie, dass der Schatten, den sie im Vorüberziehen auf den Hügel oder die Mauer werfen, nur das vergängliche Bild eines mächtigeren Schattens ist, der sich wie der Fittich eines unvergänglichen Schwanes über jeder Seele ausspannt, die sich ihrer Seele nähert. Man glaube nicht, dergleichen Gedanken seien nichts als Zierat und hätten keinen Einfluss auf das Leben derer, die sie zulassen. Es ist viel weniger wichtig, sein Leben umzuformen als es wahrzunehmen, denn es formt sich von selbst um, sobald man es gesehen hat. Die Gedanken, von denen ich spreche, bilden den geheimen Schatz des Heldentums, und an dem Tage, wo das Leben uns zwingt, diesen Schatz zu öffnen, sind wir erstaunt, keine anderen Kräfte mehr darin zu finden, als die, welche uns zur vollkommenen Schönheit treiben. Dann braucht nicht erst ein Grosskönig zu sterben, um uns daran zu erinnern, »dass die Welt nicht an den Haustüren zu Ende ist,« und die kleinste Kleinigkeit genügt, um eine Seele allabendlich zu veredeln.

Aber nicht, indem man sich sagt, dass Gott gross ist und dass wir uns in seiner Klarheit bewegen, wird man in der Schönheit und in den fruchtbaren Tiefen leben, in denen die Helden lebten. Es ist möglich, dass Du morgens und abends daran denkst, dass die Hände aller unsichtbaren Gewalten sich wie ein Zelt mit zahllosen Falten über Deinem Haupte ausspannen, ohne dass Du je die geringste Bewegung dieser Hände gewahrst. Man muss unermüdlich aufmerksam sein, und es ist besser, auf öffentlichem Platze zu wachen, als im Tempel einzuschlafen. Es ist Schönheit und Grösse in allem; darum genügt auch ein unerwarteter Umstand, um sie uns zu zeigen. Die Meisten wissen das; aber ihr Wissen ist vergebens: nur unter den Peitschenhieben des Schicksals oder des Todes schweifen sie um die Wände des Daseins und suchen nach Spalten zu Gott. Sie wissen wohl, dass es ewige Spalten in den armen Wänden einer Hütte gibt, und dass auch die kleinsten Fensterscheiben der Unendlichkeit des Himmelsraumes keinen Strich und keinen Stern rauben. Aber es genügt nicht, eine Wahrheit zu besitzen, die Wahrheit muss uns besitzen.

Und doch sind wir in einer Welt, wo die geringsten Ereignisse so leicht eine immer reinere und höhere Schönheit annehmen. Nichts vermischt sich leichter als Himmel und Erde; und wenn Du die Sterne angeschaut hast, ehe Du Deine Geliebte küssest, so wirst Du sie nicht in derselben Weise küssen, als wenn Du die Wände Deines Zimmers betrachtet hättest. Sei sicher, dass Du an dem Tage, den Du damit hingebracht hast, einen Lichtstrahl durch eine der Spalten des Lebenstores zu verfolgen, etwas ebenso Grosses getan hast, als wenn Du die Wunden eines Feindes verbunden hättest, denn in diesem Augenblick hattest Du keinen Feind mehr.

Man muss auf der Lauer nach seinem Gotte leben, denn Gott verbirgt sich, aber seine Listen scheinen so lächelnd und einfältig, sobald man sie erst einmal erkannt hat. Von da an enthüllt uns ein Nichts seine Gegenwart, und die Grösse unseres Lebens hängt an so Wenigem! So findet man bei den Dichtern hier und da einen Vers, der inmitten der bescheidenen Ereignisse unserer gewöhnlichen Tage plötzlich etwas Ungeheures zu eröffnen scheint. Kein feierliches Wort ist ausgesprochen, und man möchte sagen, nichts herbeigerufen. Und doch hat uns ein unvergessliches Antlitz hinter den Tränen eines Greises gewinkt, eine ganze Nacht von Engeln breitet sich um das Lächeln eines Kindes, und beim Ja oder Nein einer Seele, die da lallt und singt, während sie an etwas Anderem arbeitet, haben wir einen Augenblick den Atem verhalten und uns plötzlich gesagt: »Wahrlich, dies ist Gottes Haus, und hier ist die Stätte des Himmels.«

Und dies Alles, weil die Dichter auf das »unendliche Dunkel« mehr achtgeben als wir … Im Grunde ist die höchste Poesie nichts als dies, und »sie hat keinen anderen Zweck als den, die grossen Strassen, die vom Sichtbaren zum Unsichtbaren führen, offen zu halten.« Aber dies ist auch der höchste Zweck des Lebens, und es ist viel leichter, ihn im Leben als in den edelsten Dichtungen zu erreichen, denn diese haben das grosse Flügelpaar des Schweigens ablegen müssen. Es gibt keine kleinen Tage. Dieser Gedanke muss sich in unser Leben herabsenken und darin Gestalt gewinnen. Es handelt sich nicht darum, traurig zu sein. Kleine Freuden, ein kleines Lächeln, grosse Tränen, dies alles behauptet denselben Platz in Raum und Zeit. Du kannst so unschuldig im Leben spielen, »wie ein Kind an einem Totenbett,« und die Tränen sind nicht unerlässlich. Das Lächeln öffnet die Tore der anderen Welt so gut wie die Tränen. Geht und kommt, zieht aus; Ihr werdet finden, was Ihr im Finstern braucht, aber vergesst nie, dass Ihr den Toren nahe seid.

 

Nach diesem langen Umwege komme ich zu meinem Ausgangspunkte zurück, »dass es gut ist, die Menschen daran zu erinnern, das auch der Geringste unter ihnen das Vermögen hat, nach einem göttlichen Vorbilde, das er nicht wählt, eine grosse moralische Persönlichkeit zu meisseln, die zu gleichen Teilen aus ihm und dem Ideale besteht.« Nun aber ist diese »grosse moralische Persönlichkeit« immer nur in den Tiefen des Lebens gemeisselt worden, und die Beihilfe des notwendigen Ideals mehrt sich nur durch unaufhörliche »Enthüllungen im Göttlichen«. Jedermann kann im Geiste die Höhen des tugendhaften Lebens erklimmen und jeden Augenblick wissen, was zu tun wäre, um wie ein Held oder ein Heiliger zu handeln. Aber darauf kommt es nicht an. Der Dunstkreis um uns muss sich so weit verwandeln, dass er schliesslich dem Dunstkreise der schönen Lande des goldenen Zeitalters von Swedenborg gleichkommt, wo die Luft der Lüge nicht erlaubte, den Mund zu verlassen. Es kommt dann ein Augenblick, wo das geringste Böse, das man tun wollte, uns zu Füssen niederfällt, wie eine Bleikugel von einer Bronzescheibe, und wo sich ohne unser Wissen fast alles in Schönheit, Liebe und Wahrheit verändert. Aber dieser Dunstkreis umgibt nur Die, welche sich oft genug bemüht haben, ihr Leben auszulüften, indem sie die Tore der anderen Welt öffneten. In der Nähe dieser Tore sieht man. In der Nähe dieser Tore liebt man. Denn seinen Nächsten lieben, heisst nicht nur sich ihm ganz hingeben, ihm dienen, helfen und den Anderen beispringen. Es ist möglich, dass Du inmitten der grössten Opfer weder gut noch schön noch edel bist; und die barmherzige Schwester, die am Bette eines Typhuskranken stirbt, hat vielleicht eine gehässige, kleinliche und erbärmliche Seele. Seinen Nächsten in den beständigen Tiefen lieben, heisst das Ewige lieben, das in den Anderen lebt, denn der Nächste vor Allen ist Der, welcher Gott am nächsten kommt, das heisst dem Reinsten und Besten im Menschen; und nur, wenn man sich immerfort in der Nähe der Tore hält, von denen ich soeben sprach, entdeckt man das Göttliche, das in den Seelen ist. Dann wird man mit dem grossen Jean Paul sprechen können: »Wenn ich ein teures Wesen sehr zärtlich lieben und ihm alles vergeben will, so habe ich es nur einige Zeit schweigend anzuschauen.« Man muss sehen lernen, um lieben zu lernen. »Ich hatte zwanzig Jahre neben meiner Schwester gelebt,« sagte mir eines Tages ein Freund, »aber gesehen habe ich sie erst in dem Augenblick, wo unsere Mutter starb.« Auch hier war es nötig gewesen, dass der Tod gewaltsam ein ewiges Tor öffnete, damit zwei Seelen sich in einem Strahle des Ur-Lichtes erkannten. Und ist ein einziger unter uns, der nicht von Schwestern umgeben ist, die er nicht gesehen hat?

Zum Glück gibt es selbst in denen, die am wenigsten sehen, immer etwas, das stillschweigend handelt, als ob sie gesehen hätten. Möglich, dass gut sein nichts ist, als in etwas mehr Klarheit Das sein, was alle im Finstern sind. Und darum ist es ohne Zweifel von Nutzen, wenn man sich bemüht, sein Leben zu erhöhen und nach den Gipfeln zu streben, wo man die Unmöglichkeit, schlecht zu handeln, erreicht. Darum ist es von Nutzen, sein Auge zu gewöhnen, Ereignisse und Menschen in einem göttlichen Dunstkreise zu betrachten. Aber selbst das ist nicht unerlässlich; und wie klein muss auch solch ein Unterschied in den Augen eines Gottes sein! Wir sind in einer Welt, wo die Wahrheit auf dem Grunde der Dinge herrscht und nicht sie, sondern die Lüge einer Erklärung bedarf. Wenn das Glück Deines Bruders Dich betrübt, verachte Dich nicht! Du wirst keinen langen Weg mehr haben, um in Dir selbst etwas zu finden, was nicht betrübt sein wird. Und wenn Du diesen Weg nicht machst: was tut es? Etwas ist doch nicht betrübt …

Wer an nichts denkt, hat dieselbe Wahrheit wie Der, welcher an Gott denkt; sie ist der Schwelle ein wenig ferner; das ist alles. »Selbst im gemeinsten Leben,« sagt Renan, »ist der Anteil dessen, was man für Gott tut, ungeheuer. Der niedrigste Mensch liebt mehr, gerecht als ungerecht zu sein; wir alle beten und beten an, ohne es zu wissen, und dieses oftmals am Tage.« Und man ist erstaunt, wenn ein Zufall uns plötzlich die Bedeutung dieses göttlichen Anteils enthüllt. Rings um uns gibt es tausend und abertausend arme Wesen, die in ihrem ganzen Leben nichts Schönes gesehen haben. Sie kommen und gehen im Dunkel; man glaubt, alles sei tot, und niemand beachtet sie. Und dann kommt ein Tag, wo ein einfaches Wort, ein unerwartetes Schweigen, eine kleine Träne, die just aus den Quellen der Schönheit kommt, uns belehren kann, dass sie Mittel und Wege fanden, im Dunkel ihrer Seele ein Ideal zu nähren, das tausendmal schöner ist als die schönsten Dinge, die ihre Ohren vernommen und ihre Augen gesehen haben. O edle und bleiche Ideale des Schweigens und des Dunkels! Ihr seid die ersten, die das Lächeln der Engel wecken und die geraden Weges zu Gott emporsteigen! In welch zahllosen Hütten, in welchen Höhlen des Jammers und welchen Gefängnissen nährt man Euch in diesem Augenblick vielleicht mit den Tränen und dem reinsten Blute einer armen Seele, die nie gelächelt hat; gleichwie, wenn alle Blumen ringsum tot sind, die Bienen Der, welche ihre Königin sein soll, noch einen tausendfach kostbareren Honig darbieten, als den, welchen sie mit ihren kleinen Schwestern des alltäglichen Lebens teilen … Wer von uns hat nicht mehr als einmal längs der Lebensstrassen eine verlassene Seele gefunden, die doch nicht den Mut verloren hatte, so im Finstern einen Gedanken zu säugen, der göttlicher und reiner war, als alle, die so viele Andere Gelegenheit hatten, im Lichte zu wählen. Auch hier ist die Einfalt die Lieblingssklavin Gottes, und es genügt vielleicht, dass einige Weise genau wissen, was zu tun ist, damit der Rest handelt, als ob er es gleichfalls wüsste …


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