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VII.
Emerson

Ralph Waldo Emerson, der berühmte amerikanische Essayist und Dichter, geboren 1803, gestorben 1882, der sich durch seine »Representative Men« und »Essays« einen Weltruhm gemacht hat. Der vorliegende Essay bildet die Vorrede zu verschiedenen Stücken Emersons in französischer Übersetzung. Eine empfehlenswerte deutsche Ausgabe der »Essays« erschien in 5 Bänden bei Eugen Diederichs in Jena.

Die höchste Aufgabe der Bildung, sagt Novalis, ist sich seines transcendentalen Selbst zu bemächtigen. Dieses Selbst gewahren wir zuweilen in den Worten Gottes, der Dichter und Weisen, auf dem Grunde einiger Freuden und Leiden, im Schlaf, in der Liebe, in den Krankheiten und in unerwarteten Verkettungen, wo es uns von ferne winkt und mit dem Finger auf unsere Beziehungen zum Weltall hinweist. Einige Weise befleissigten sich nur dieses Suchens und schrieben jene Bücher, wo nur das Ausserordentliche herrscht. »Was wäre in den Büchern von Wert,« sagt unser Autor, »wenn nicht das Transcendentale und Ausserordentliche?« Sie waren wie Maler, die sich bemühten, im Finstern eine Ähnlichkeit zu erhaschen. Die Einen warfen abstrakte Bilder hin, sehr gross, aber fast unkenntlich. Den Anderen gelang es, eine gewöhnliche Haltung oder Gebärde des höheren Lebens zu bannen. Mehrere dachten sich seltsame Wesen aus. Die Zahl dieser Bilder ist gering. Sie ähneln sich niemals. Einige darunter sind sehr schön, und wer sie nicht gesehen hat, gleicht einem Manne, der sein Leben lang nie am Mittag ausgegangen ist. Es gibt solche, deren Linien reiner sind als die Linien des Himmels; und dann scheinen uns diese Gesichter so fern, dass wir nicht wissen, ob sie leben oder nach unserem Bilde gezeichnet wurden. Sie sind das Werk der reinen Mystiker und der Mensch erkennt sich darin noch nicht. Andere, welche man die Dichter nennt, sprachen uns mittelbar von diesen Dingen. Eine dritte Gruppe von Denkern hat den alten Mythus von den Centauren um eine Stufe erhoben und uns von dieser verborgenen Identität ein fasslicheres Bild gegeben, indem sie die Linien unseres scheinbaren Ich mit denen unseres höheren Ich verschmolz. Das Antlitz unserer göttlichen Seele lächelt da zuweilen über die Schulter ihrer Schwester, der menschlichen Seele, die sich über die niedrige Notdurft des Denkens bückt; und dieses Lächeln, das uns im Fluge alles hat erschauen lassen, was es jenseits des Denkens gibt, ist allein von Wert in den Werken der Menschen.

Sie sind nicht zahlreich, die uns gezeigt haben, dass der Mensch tiefer und grösser ist als er selbst und denen es auf diese Weise gelang, einige der ewigen Anspielungen festzubannen, die uns das Leben in jedem Augenblick bringt, in einer Gebärde, einem Wink, einem Blick, einem Wort, einem Schweigen und in den Ereignissen, welche uns umgeben. Die Wissenschaft von der menschlichen Grösse ist die seltsamste der Wissenschaften. Kein Mensch besitzt sie nicht, aber fast keiner weiss, dass er sie besitzt. Das Kind, das mir begegnet, wird nicht imstande sein, seiner Mutter zu sagen, was es gesehen hat; und doch weiss es, sobald sein Auge meine Anwesenheit bemerkt hat, alles, was ich bin, alles, was ich war, alles, was ich sein werde, ebensogut wie mein Bruder und dreimal besser, als ich selbst. Es kennt mich unmittelbar in Vergangenheit und Zukunft, auf dieser Welt und in den anderen Welten, und seine Augen enthüllen mir wiederum die Stellung, die ich in Welt und Ewigkeit einnehme. Die unfehlbaren Seelen haben sich beurteilt: und sobald sein Blick meinen Blick, mein Antlitz, meine Haltung aufgenommen hat, und alles Unendliche, was dieselben umgibt und durch sie hindurchleuchtet, so weiss es, woran es ist; und wiewohl es eine Kaiserkrone und einen Bettelsack noch nicht zu unterscheiden vermag, hat es mich einen Augenblick so genau erkannt wie Gott.

Fürwahr, wir handeln schon wie Götter, und unser ganzes Leben verläuft unter unendlichen Gewissheiten und Untrüglichkeiten. Aber wir sind Blinde, die längs der Strassen mit Juwelen spielen; und jeder Mensch, der an meine Tür klopft, gibt in dem Augenblick, wo er mich begrüsst, ebenso wunderbare geistige Schätze aus, wie der Fürst, den ich dem Tode entrissen hätte. Ich öffne ihm; und sofort sieht er zu seinen Füssen wie von einem Turm herab alles, was zwischen zwei Seelen stattgefunden hat. Die Bäuerin, die ich nach dem Wege frage, beurteile ich ebenso tief, als wenn ich sie nach dem Leben meiner Mutter fragte, und ihre Seele hat mir ebenso tief geantwortet, wie die meiner Braut. Sie stieg eilends bis zu den grössten Mysterien hinauf, ehe sie mir Antwort gab; dann sagte sie mir ruhig, in plötzlichem Bewusstsein dessen, was ich war, ich müsste den Pfad zur Linken nach dem Dorfe einschlagen. Wenn ich eine Stunde inmitten einer Menschenmenge verbringe, so habe ich, ohne etwas zu sagen und ohne einen Augenblick daran zu denken, die Lebenden und die Toten tausendmal beurteilt; und welches dieser Urteile wird am jüngsten Tage nicht bestätigt werden? In diesem Zimmer sind fünf oder sechs Wesen, die von Regen und schönem Wetter sprechen; aber über dieser erbärmlichen Unterhaltung halten sechs Seelen eine Zwiesprache, der sich keine menschliche Weisheit gefahrlos nahen dürfte; und wiewohl sie durch ihre Blicke, ihre Hände, ihre Gesichter und ihre ganze Persönlichkeit hindurch reden, wissen sie nie, was sie gesagt haben. Sie müssen jedoch das Ende des unerfasslichen Dialogs abwarten, und darum haben sie ich weiss nicht welche geheimnisvolle Freude in ihrer Langeweile, ohne das zu erkennen, was in ihnen allen Gesetzen des Lebens, des Todes und der Liebe lauscht, die wie unversiegliche Ströme ihr Haus umfluten.

Derart geht es überall und immer zu. Wir leben nur nach unserem transcendentalen Selbst, dessen Handlungen und Gedanken jeden Augenblick die uns umgebende Hülle durchbrechen. Ich werde heute abend einen Freund sehen, den ich nie gesehen habe; aber ich kenne seine Werke und weiss, dass seine Seele ausserordentlich ist, und dass er sein Leben darauf verwandt hat, sie nach den Gesetzen der höheren Vernunft so deutlich wie möglich zu bekunden. Ich bin voller Unruhe und es ist eine feierliche Stunde. Er tritt ein; und alle Erklärungen, die er mir eine lange Reihe von Jahren hindurch gegeben hat, zerfallen zu Staub bei der Bewegung der Tür, die sich vor seiner Person öffnet. Er ist nicht, was er zu sein glaubt. Er ist von anderer Art als seine Gedanken. Wieder einmal stellen wir fest, dass die Sendboten des Geistes stets treulos sind. Er hat über seine Seele sehr tiefe Sachen gesagt; aber in diesem kurzen Augenblicke, der den haftenden Blick von dem zurückweichenden trennt, habe ich alles vernommen, was er nie sagen wird, alles, was er in seinem Geiste nie zum Leben erwecken kann. Von nun an gehört er mir unentrinnbar an. Ehedem waren wir vereint durch den Gedanken. Heute liefert uns ein tausend und abertausendmal geheimnisvolleres Etwas, als der Gedanke, einander aus. Jahre und Jahre erwarteten wir diesen Augenblick; und nun empfinden wir, dass alles unnütz war; und um vor dem Schweigen keine Furcht zu haben, unterhalten wir uns, – wir, die wir uns darauf vorbereitet hatten, uns geheime und wunderbare Schätze zu zeigen, – über die Stunde, die schlägt, oder über die untergehende Sonne, um unseren Seelen Zeit zu lassen, einander zu bewundern und sich in einem anderen Schweigen zu umschlingen, welches durch das Murmeln der Lippen und der Gedanken nicht gestört werden kann …

Im Grunde leben wir nur von Seele zu Seele und wir sind Götter, die sich nicht kennen. Wenn es mir diesen Abend nicht möglich ist, meine Einsamkeit zu ertragen, und ich unter Menschen gehe, werden sie mir sagen, dass das Gewitter soeben die Birnen abgeschlagen hätte, oder dass der Hafen seit den letzten Frösten zugefroren wäre. Bin ich darum gekommen? Und doch werde ich darnach heimgehen und meine Seele wird so befriedigt und so reich an neuen Schätzen und neuer Kraft sein, als ob ich diese Stunden mit Plato, Sokrates und Mark Aurel verbracht hätte. Was ihr Mund sagte, überhörte ich neben Dem, was ihre Anwesenheit verkündete; denn es ist dem Menschen unmöglich, nicht gross und bewundernswert zu sein. Was der Gedanke denkt, ist ohne jeden Belang neben dem, was wir sind und was sich stillschweigend bejaht; und wenn nach fünfzig Jahren der Einsamkeit Epiktet, Goethe und Paulus auf meiner Insel landeten, so könnten sie mir nicht mehr sagen, als mir zu gleicher Zeit und unmittelbarer vielleicht der kleine Schiffsjunge ihres Nachens sagen würde.

In Wahrheit ist das seltsamste am Menschen sein verborgener Ernst und seine verborgene Weisheit. Auch der Leichtfertigste lacht niemals wirklich unter uns und kommt trotz seiner Bemühungen nicht dazu, nur eine Minute zu verlieren, denn die menschliche Seele ist aufmerksam und tut nichts Unnützes. »Ernst ist das Leben,« und im Grunde unseres Wesens hat unsere Seele noch nie gelächelt. Andererseits führen wir, was unsere unfreiwilligen Bewegungen betrifft, ein merkwürdiges Dasein, das unbeweglich, sehr rein und sehr sicher ist und auf das die sich ausstreckenden Hände, die sich öffnenden Augen, die sich begegnenden Blicke unaufhörlich anspielen.

Alle unsere Organe sind die mystischen Mitschuldigen eines höheren Wesens, und wir haben nie einen Menschen, sondern stets eine Seele kennen gelernt. Nicht diesen Armen habe ich gesehen, der auf den Stufen meiner Schwelle um ein Almosen bat, aber etwas Anderes habe ich gewahrt: in unseren Augen grüssten und liebten sich zwei gleiche Schicksale, und in dem Augenblick, wo er die Hand ausstreckte, öffnete sich die kleine Tür des Hauses einen Augenblick auf das Meer. »In meinen Beziehungen zu meinem Kinde,« sagt Emerson, »dient mir Griechisch und Latein, alles, was ich kann, alles Gold, was ich besitze, zu nichts; was ich an Seele besitze, darauf kommt es an. Wenn ich einen Willen habe, so setzt es seinen Willen dem meinen entgegen, Willen gegen Willen, und lässt mir, wenn ich will, die Schmach, meine Kraft zu missbrauchen und es zu schlagen; verzichte ich aber auf meinen Willen und handle im Namen der Seele, indem ich sie als Schiedsrichter zwischen uns setze, so blickt durch seine jungen Augen die gleiche Seele; es verehrt und liebt mit mir.«

Aber wenn es wahr ist, dass der Geringste unter uns nicht die kleinste Gebärde machen kann, ohne der Seele und den Bereichen des Geistes, worin sie herrscht, Rechnung zu tragen, so ist es ebenso wahr, dass auch die Weisesten fast nie an das Unendliche denken, das durch ein sich öffnendes Augenlid, ein sich neigendes Haupt, eine sich schliessende Hand verändert wird. Wir leben so fern von uns, dass wir fast nichts von dem wissen, was am Horizont unseres Wesens vorgeht. Wir irren aufs Geratewohl im Tale, ohne zu ahnen, dass alle unsere Gebärden auf dem Gipfel des Berges wiederholt werden und dort ihre Bedeutung erhalten; und zuweilen muss jemand kommen, um uns zu sagen: Macht die Augen auf, seht zu, was Ihr seid, seht zu, was Ihr treibt; nicht hier leben wir; dort oben sind wir. Seht zu, was aus diesem im Dunkeln ausgetauschten Blicke wird, was diese Worte, die am Fusse des Berges sinnlos waren, jenseits des Gipfelschnees bedeuten, und wie unsere Hände, die wir für so schwach und klein hielten, in jedem Augenblicke Gott erreichen, ohne es zu wissen.

Einige sind so gekommen, um uns auf die Schulter zu klopfen und uns mit dem Finger zu zeigen, was auf den Gletschern des Mysteriums vorgeht. Sie sind nicht zahlreich. Es gibt deren nur drei oder vier in diesem Jahrhundert, fünf oder sechs in den anderen, und alles, was sie uns zu sagen vermochten, ist nichts im Vergleich zu dem, was stattgefunden hat und was unsere Seele weiss. Aber was tut das? Gleichen wir nicht einem Menschen, der in den ersten Jahren seiner Kindheit das Augenlicht verloren hat? Er hat das unerschöpfliche Schauspiel der Wesen gesehen. Er hat die Sonne, das Meer und den Wald gesehen. Jetzt sind diese Wunder auf immer seinem Wesen einverleibt; und wenn Ihr ihm davon erzählt, was könnt Ihr ihm denn sagen, und was sollen Eure armen Worte neben der Waldlichtung, dem Sturm und der Morgendämmerung, die im Grunde seines Geistes und Fleisches noch leben! Er wird Euch indessen mit brennender und staunender Freude zuhören, und obwohl er alles weiss und Eure Worte das, was er weiss, viel unvollkommener darstellen, als ein Glas Wasser einen grossen Strom, so werden doch die kleinen, ohnmächtigen Redensarten, die aus Menschenmunde fallen, einen Augenblick das Weltmeer, das Licht und die dunklen Blätter erleuchten, die inmitten der Finsternis unter seinen toten Lidern schliefen.

Die Gesichter dieses »transcendentalen Selbst«, von dem Novalis spricht, sind vielleicht unzählig, und keinem der Moralisten unter den Mystikern gelang es, das nämliche zu erforschen. Swedenborg, Pascal, Novalis, Hello und einige andere prüfen unsere Beziehungen zu einer abstrakten Unendlichkeit, die sehr fern und zart ist. Sie führen uns auf Berge, deren Gipfel uns allesamt nicht natürlich und bewohnbar erscheinen, und auf denen wir oft nur mühsam atmen. Goethe begleitet unsere Seele an den Gestaden des Meeres der Heiterkeit. Mark Aurel heisst sie niedersitzen am Hange der Hügel der Menschlichkeit, der vollkommenen und müden Güte und unter dem zu schweren Blätterdache der hoffnungslosen Entsagung. Carlyle, Emersons Geistesbruder, der uns in diesem Jahrhundert am anderen Ende des Tales zuwinkt, lässt allein die heroischen Augenblicke unseres Lebens wie Blitze auf dem düsteren Gewittergrunde eines beständig ungeheuerlichen Unbekannten vorüberziehen. Er führt uns wie eine tolle Herde durch Sturm und Gewitter zu unbekannten, schwefeligen Triften. Er stösst uns in die tiefste Finsternis, die er mit Freuden entdeckt hat, und die allein der gewaltsame, unbeständige Stern der Helden erleuchtet, und überlässt uns dort mit bösem Lächeln der ungeheuren Rache der Mysterien.

Aber da ist zur gleichen Zeit Emerson, der gute, morgendliche Hirte der falben und grünen Wiesen, von einem neuen, natürlichen und annehmbaren Optimismus erfüllt. Er führt uns nicht an Abgründen vorüber. Er lässt uns nicht aus dem engen, vertrauten Gehege heraus, denn der Gletscher, das Meer, die ewigen Gestirne, der Palast, der Stall, der erloschene Ofen des Armen und das Bett des Kranken liegen alle unter dem gleichen Himmel, geläutert durch dieselben Sterne und denselben unendlichen Gewalten untertan.

Er ist für Viele in dem Augenblick gekommen, wo er kommen musste, in dem Augenblick, wo sie ein tötliches Bedürfnis nach neuen Erklärungen hatten. Die heroischen Stunden treten weniger in die Erscheinung, die der Verneinung sind noch nicht wiedergekommen; es bleibt uns also nichts mehr als das alltägliche Leben, und doch können wir nicht ohne Grösse leben. Er hat diesem Leben, das seine hergebrachten Horizonte verloren hatte, einen fast annehmbaren Sinn gegeben; und vielleicht hat er uns zu zeigen vermocht, dass es seltsam, tief und gross genug ist, um keines anderen als des Selbstzwecks zu bedürfen. Er weiss nicht mehr davon als die Anderen; aber er bejaht es mit mehr Mut und hat Vertrauen zum Mysterium. Ihr alle, die Ihr Tage und Wochen hinbringt, ohne Taten, ohne Gedanken, ohne Licht, Ihr müsst leben, weil Euer Leben trotz allem unbegreiflich und göttlich ist. Ihr müsst leben, weil keiner das Recht hat, sich den geistigen Ereignissen banaler Wochen zu entziehen. Ihr müsst leben, weil es keine Stunde ohne innere Wunder und unaussprechliche Bedeutung gibt. Ihr müsst leben, weil es keine Handlung, kein Wort, keine Gebärde gibt, die den unerklärlichen Ansprüchen einer Welt entginge, »wo es viel zu tun gibt und wenig zu wissen.«

Es gibt weder grosses noch kleines Leben, und die Tat des Regulus oder Leonidas ist ohne Belang, wenn ich sie mit einem Augenblick des geheimen Daseins meiner Seele vergleiche. Sie konnte tun, was jene taten, oder es nicht tun; diese Dinge erreichen sie nicht; und die Seele des Regulus, als er nach Carthago zurückkehrte, war wahrscheinlich ebenso zerstreut und gleichgiltig, wie die des Arbeiters, der nach seiner Werkstatt geht. Sie steht allen unseren Handlungen zu fern. Sie lebt auf dem Grunde unseres Wesens ein Leben, von dem sie nicht spricht; und von den Höhen, wo sie herrscht, ist die Mannigfaltigkeit der Wesen nicht mehr zu unterscheiden. Wir schreiten gebeugt unter der Last unserer Seele, und zwischen ihr und uns ist kein Verhältnis. Sie denkt vielleicht nie daran, was wir tun, und das ist auf ihrem Gesicht zu lesen. Könnte man einen Geist aus einer anderen Welt fragen, welches der synthetische Ausdruck des menschlichen Antlitzes ist, so würde er, nachdem er die Menschen in ihren Freuden, ihren Leiden und ihrer Kümmernis gesehen hat, ohne Zweifel antworten: Sie sehen aus, als ob sie an etwas anderes dächten. Sei gross, weise und beredt; die Seele des Armen, der im Winkel an der Brücke die Hand ausstreckt, wird nicht neidisch sein, aber die Deine wird ihm vielleicht sein Schweigen neiden. Der Held bedarf der Zustimmung des gewöhnlichen Menschen, aber der gewöhnliche Mensch verlangt nicht nach der Zustimmung des Helden und verfolgt seinen Weg ohne Sorge, wie einer, der alle seine Schätze am sicheren Orte weiss. »Wenn Sokrates spricht,« sagt Emerson, »so schämen sich Lysis und Menexenes ihres Schweigens nicht. Auch sie sind gross. Und Sokrates beruft sich auf sie und liebt sie, während er spricht, denn jedermann birgt in sich und ist dieselbe Wahrheit, die ein Beredter ausdrückt. Aber in dem Beredten scheint diese Wahrheit, eben weil er sie auszudrücken vermag, schon weniger zu herrschen; und darum wendet er sich mit grösserer Ehrfurcht und Zuneigung an diese bewundernswerten Schweigenden.«

Der Mensch lechzt nach Erklärungen. Er will, dass man ihm sein Leben zeigt. Er freut sich, wenn er irgendwo die genaue Auslegung einer kleinen Gebärde findet, die er vor fünfundzwanzig Jahren gemacht hat. Hier gibt es keine kleinen Gebärden; hier sind die meisten Haltungen unserer alltäglichen Seele vertreten. Man wird hier nicht den ewigen Charakter des Denkens eines Mark Aurel finden. Aber Mark Aurel ist vor allem Gedanke. Wer von uns führt überdies das Leben Mark Aurels? Hier gilt der Mensch und weiter nichts. Er ist nicht willkürlich vergrössert, er ist uns nur näher gerückt als gewöhnlich. Hier ist Johann, der seine Bäume beschneidet, dort Peter, der sein Haus baut, Du, der mir von der Ernte erzählt, ich, der Dir die Hand gibt; aber wir stehen im Begriff, an das Göttliche zu rühren, und wir erstaunen über das, was wir tun. Wir wussten nicht, dass alle Kräfte der Seele gegenwärtig wären; wir wussten nicht, dass alle Gesetze des Weltalls um uns harrten, und wir sehen uns um und blicken uns an, ohne etwas zu sagen, wie Leute, die ein Wunder gesehen haben.

Emerson ist gekommen und hat uns mit Einfalt diese gleichmässige und geheime Grösse unseres Lebens bestätigt. Er hat uns mit Schweigen und Bewunderung umgeben. Er hat einen Lichtstrahl auf den Weg des Handwerkers gesandt, der aus seiner Werkstatt tritt. Er hat uns gezeigt, wie alle Kräfte des Himmels und der Erde daran beteiligt sind, die Schwelle zu halten, auf der zwei Nachbarn vom fallenden Regen oder dem sich auftuenden Winde sprechen; und über zwei Wanderern, die sich anreden, zeigt er uns das Antlitz eines Gottes, das dem Antlitz eines Gottes zulächelt. Er steht unserem gewöhnlichen Leben so nahe wie keiner. Er ist der aufmerksamste, beharrlichste, redlichste, peinlichste und vielleicht menschlichste Deuter des Lebens. Er ist der Weise des Alltags; und der Alltag ist im Ganzen der Stoff unseres Lebens. Mehr als ein Jahr verfliesst ohne Leidenschaften, ohne Tugenden, ohne Wunder. Lehrt uns die kleinen Stunden des Lebens achten! Wenn ich diesen Morgen im Geiste Mark Aurels habe handeln können, so kommt mir nicht, meine Taten zu unterstreichen, denn auch ich weiss, dass sich etwas ereignet hat! Aber wenn ich glaube, meinen Tag in elenden Unternehmungen verloren zu haben, und Ihr könnt mir beweisen, dass ich doch so tief gelebt habe wie ein Held, und dass meine Seele ihre Rechte nicht verloren hat, dann werdet Ihr mehr getan haben, als wenn Ihr mich überredet hättet, heute meinen Feind zu retten, denn Ihr habt in mir die Summe und Grösse des Lebens und die Lust an ihm gemehrt; und morgen werde ich vielleicht mit Ehrfurcht zu leben wissen.


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