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IX.
Die Tragik des Alltags

Es gibt eine alltägliche Tragik, die viel wahrer und tiefer ist und unserem wahren Wesen weit mehr entspricht, als die Tragik der grossen Abenteuer. Sie ist leicht zu empfinden, aber schwer darzustellen, da diese wesentliche Tragik weder einfach körperlich oder psychologisch ist. Es handelt sich hier nicht mehr um den bestimmten Kampf von Wesen gegen Wesen, von Wunsch gegen Wunsch, noch um den ewigen Kampf von Pflicht und Leidenschaft. Es handelt sich vielmehr darum, das Erstaunliche der einfachen Tatsache des Lebens darzustellen. Es handelt sich darum, das Auf-sich-selbst-Beruhen einer Seele inmitten einer stetig eingreifenden Unendlichkeit zu zeigen. Es handelt sich darum, über der gewöhnlichen Zwiesprache von Vernunft und Gefühl die feierlichere und ununterbrochene Zwiesprache des Wesens mit seinem Schicksal vernehmlich zu machen. Es handelt sich darum, uns den zögernden und schmerzvollen Schritten eines Wesens folgen zu lassen, das sich seiner Wahrheit, seiner Schönheit oder seinem Gotte nähert oder sich von ihnen entfernt. Es handelt sich darum, uns tausend ähnliche Dinge, welche die tragischen Dichter nur im Fluge an uns vorüberziehen lassen, darzustellen und vernehmlich zu machen. Oder worauf es noch mehr ankäme: könnte man nicht versuchen, Das, was sie nur im Fluge an uns vorüberziehen liessen, vor dem Übrigen darzustellen? Was man zum Beispiel unter König Lear, Macbeth und Hamlet versteht, das geheimnisvolle Lied des Unendlichen, das Schweigen, welches Götter und Seelen bedroht, die Ewigkeit, die am Horizonte rauscht, das Schicksal oder Verhängnis, das man innerlich erschaut, ohne sagen zu können, an welchen Anzeichen man es erkennt: könnte man uns dies alles nicht durch irgend welche Umformung der Figuren näher bringen, während man die Schauspieler entfernt? Ist es denn vermessen zu behaupten, dass die wahre, eigentliche, tiefe und allgemeine Tragödie des Lebens erst dort beginnt, wo die sogenannten Abenteuer, Schmerzen und Gefahren vorüber sind? Sollte das Glück keinen längeren Arm haben als das Unglück, und sollten manche seiner Kräfte der menschlichen Seele nicht näher kommen? Muss man unbedingt schreien wie die Atriden, damit ein ewiger Gott sich in unserem Leben zeigt, und lässt er sich nie zu unserer stillen Lampe hernieder? Ist nicht just die Ruhe das Furchtbare, wenn man darüber nachsinnt und die Sterne sie bewachen, und enthüllt sich der Sinn des Lebens im Aufruhr oder in der Stille? Sollte nicht am Ende der Geschichten, wo es heisst: »Und sie wurden glücklich,« die grosse Unruhe erst ihren Anfang nehmen? Was geschieht, während sie glücklich sind? Enthüllt uns das Glück oder ein einfacher Augenblick der Ruhe nicht ernsthaftere und beständigere Dinge als der Aufruhr der Leidenschaften? Wird nicht gerade dann der Schritt der Zeit und viele andere, noch geheimere Schritte, endlich sichtbar und die Stunden laufen schneller? Berührt das alles nicht viel tiefere Saiten als der Dolchstoss des gewöhnlichen Dramas? Und öffnet nicht, wenn ein Mensch sich vor dem leiblichen Tode sicher glaubt, die seltsame und schweigsame Tragödie des Daseins und der Unermesslichkeit in Wahrheit erst die Tore ihrer Bühne? Erreicht mein Leben nur dann den Gipfelpunkt seines Interesses, wenn ich vor einem nackten Schwerte fliehe? Und ist es immer nur im Kusse hoch erhaben? Gibt es keine anderen Augenblicke, wo man beständigere und reinere Stimmen vernimmt? Blüht unsere Seele nur im Schosse von Gewitternächten auf? Man könnte sagen, dass man dies bisher geglaubt hat. Fast alle unsere tragischen Dichter haben immer nur das gewaltsame und das verflossene Leben im Auge, und man kann behaupten, dass unser Theater anachronistisch und die Dramatik um so viele Jahre zurückgeblieben ist wie die Bildhauerkunst. Anders verhält es sich z. B. mit der guten Malerei und Musik, welche es verstanden haben, die verborgeneren, aber nicht minder bedeutungsvollen und erstaunlichen Züge des jetzigen Lebens zu entwirren und darzustellen. Sie haben bemerkt, dass dieses Leben an Tiefe, geistigem Schwergewicht und innerer Bedeutung gewonnen hat, was es an schmückender Oberfläche verliert. Ein guter Maler malt keine Ermordung des Herzogs von Guise, keinen Sieg des Marius über die Cimbern mehr, denn die Psychologie des Sieges und Mordes ist etwas Elementares und Ausnahmsweises, und der unnütze Lärm eines gewaltsamen Vorganges erstickt die tiefere, aber zögernde und verschwiegene Stimme der Dinge und Wesen. Er wird ein Haus darstellen, das in der Landschaft verloren daliegt, eine offene Tür am Ende eines Ganges, ein Antlitz oder Hände in völliger Ruhe; diese einfachen Bilder sind imstande, unser Lebensbewusstsein um etwas zu mehren, und das ist ein Gut, das sich nicht mehr verliert.

Aber unsere tragischen Dichter legen gleich den mittelmässigen Malern, die in der Historienmalerei stecken geblieben sind, allen Reiz ihrer Werke in die Gewalt der dargestellten Fabel. Und sie meinen, uns mit derselben Art von Handlung zu unterhalten, an welcher sich Barbaren erfreuten, denen Attentate, Mord und Verrat geläufig waren, während doch der grösste Teil unseres Lebens sich ohne Blut, Geschrei und Schwerter abspielt und die Tränen der Menschen still geworden sind, unsichtbar, fast geistig …

Wenn ich ins Theater gehe, glaube ich mich für einige Stunden wieder unter meine Vorfahren versetzt, deren Lebensauffassung einfach, hart und brutal war, an die ich fast nie mehr denke und an der ich keinen Anteil mehr habe. Da sehe ich einen getäuschten Gatten, der seine Frau tötet, eine Frau, die ihren Liebhaber vergiftet, einen Sohn, der seinen Vater rächt, einen Vater, der seine Kinder opfert, Kinder, die ihren Vater umbringen, ermordete Könige, geschändete Jungfrauen, eingekerkerte Bürger, und die ganze hergebrachte Erhabenheit, aber ach! so oberflächlich und materiell, Blut, äussere Tränen und Tod. Was können mir Wesen sagen, die von einer fixen Idee besessen sind und die keine Zeit zum Leben haben, weil sie einen Nebenbuhler oder eine Geliebte umbringen müssen?

Ich war in der Hoffnung gekommen, etwas davon zu sehen, wie das Leben an seinen Quellen und an seinen Mysterien hängt, mit Banden, die ich weder Gelegenheit noch Kraft habe, jeden Tag zu erkennen. Ich war in der Hoffnung gekommen, einen Augenblick die Schönheit, Grösse und Wichtigkeit meines bescheidenen alltäglichen Lebens zu erblicken. Ich hatte gehofft, man würde mir ich weiss nicht welche Gegenwart, Macht und Gottheit zeigen, die mit mir in meiner Kammer lebt. Ich erwartete ich weiss nicht welche erhabenen Minuten, die ich, ohne sie zu kennen, mitten in meinen erbärmlichsten Stunden lebte, und ich habe meistenteils nur einen Menschen erblickt, der mir lang und breit sagte, warum er eifersüchtig sei, warum er vergifte oder sich töte.

Ich bewundere Othello, aber er scheint mir fern vom erhabenen Alltagsleben Hamlets, der Zeit zum Leben hat, weil er nicht handelt. Othello ist bewundernswert eifersüchtig, aber vielleicht ist es ein alter Irrtum, dass wir nur in den Augenblicken wirklich leben, wo diese oder eine andere Leidenschaft von ähnlicher Gewalt uns ergreift. Es liegt mir näher zu glauben, dass ein Greis, der einfach in seinem Lehnstuhl sitzt und beim Lampenschein die Nacht heranwacht, der, ohne sie zu begreifen, all die ewigen Gesetze belauscht, die rings um sein Haus walten, und sich unbewusst deutet, was im Schweigen von Tür und Fenster, im Summen des Lichtes liegt, der sich der Gegenwart seiner Seele und seines Schicksals unterwirft und ein wenig den Kopf neigt, ohne zu ahnen, dass alle Kräfte dieser Welt daran beteiligt sind und wie aufmerksame Mägde in der Stube warten, ohne zu wissen, dass die Sonne selbst den kleinen Tisch, auf den er sich stützt, über dem Abgrunde hält, dass jeder Stern des Himmels und jede Kraft der Seele dabei beteiligt ist, wenn er ein Augenlid schliesst oder ein Gedanke sich bildet: es liegt mir nahe, zu glauben, dass dieser unbewegliche Greis in Wahrheit ein tieferes, menschlicheres und allgemeineres Leben lebt, als der Liebhaber, der seine Geliebte erdrosselt, der Führer, der einen Sieg erringt oder »der Gatte, der seine Ehre rächt«. Man wird mir vielleicht einwenden, dass ein lebloses Leben gar nicht sichtbar wäre, dass man ihm also wohl durch einige Bewegungen Leben geben muss, und dass sich diese mannigfachen und brauchbaren Bewegungen nur unter der kleinen Zahl der bisher gebräuchlichen Leidenschaften befinden. Ich weiss indes nicht, warum ein Theater ohne Bewegung nicht möglich sein sollte. Mir scheint sogar, es gibt ein solches. Die meisten Tragödien des Aeschylus sind ohne Bewegung. Ich spreche nicht vom »Prometheus« und den »Schutzflehenden«, wo nichts geschieht; aber die ganze Tragödie der »Choëphoren«, die übrigens das schrecklichste antike Drama ist, wogt wie ein böser Traum um Agamemnons Grabmal, bis aus den angehäuften Gebeten, die sich unablässig zusammenziehen, der Blitz des Mordes hervorzuckt. Man prüfe unter diesem Gesichtspunkte noch einige andere der schönsten Tragödien der Alten, wie die »Eumeniden«, »Antigone«, »Elektra«, »Ödipus in Kolonos«. »Sie haben«, sagt Racine in seiner Vorrede zur »Berenice«, »den ›Ajax‹ des Sophokles bewundert, der nichts weiter vorstellt, als den Selbstmord des Ajax aus Reue darüber, dass er in Wut geraten ist, nachdem man ihm die Waffen Achills verweigert hat. Sie haben den ›Philoktet‹ bewundert, dessen ganzer Gegenstand sich darauf beschränkt, wie Odysseus die Pfeile des Herakles erlisten will. Und selbst ›Ödipus‹ ist, obschon voller Wiedererkennungen, weniger mit Stoff beschwert, als das einfachste Trauerspiel von heutzutage.«

Heisst das etwas anderes, als ein fast unbewegliches Leben? Gewöhnlich haben die Griechen nicht einmal eine psychologische Handlung, die der materiellen Handlung doch tausendmal überlegen ist und unerlässlich scheint, die sie aber nichtsdestoweniger zu unterdrücken oder auf wunderbare Weise abzukürzen wussten, um das Interesse lediglich auf die Lage des Menschen im Weltganzen zu lenken. Hier sind wir nicht mehr unter Barbaren, der Mensch erregt sich nicht mehr in primitiven Leidenschaften, die nicht das einzige sind, was an ihm von Belang ist. Man hat Zeit, ihn in der Ruhe zu sehen. Es handelt sich nicht mehr um einen ausnahmsweisen, gewaltsamen Augenblick im Leben, sondern um das Leben selbst. Es gibt tausend und abertausend mächtigere und verehrungswürdigere Gesetze als die der Leidenschaften, aber diese langsamen, zurückhaltenden und schweigsamen Gesetze gewahrt und vernimmt man, wie alles, was mit unwiderstehlicher Kraft begabt ist, nur im Zwielicht und in der Erholung stiller Lebensstunden.

Wenn Odysseus und Neoptolemos kommen, um dem Philoktet die Waffen des Herakles abzufordern, so ist ihre Handlungsweise als solche ebenso einfach und gleichgültig, wie die eines Menschen unserer Tage, wenn er ein Haus betritt, um dort einen Kranken zu besuchen, eines Wanderers, der an die Türe einer Herberge klopft, oder einer Mutter, die am Herd auf die Rückkunft ihres Kindes wartet. Sophokles zeichnet den Charakter seiner Helden im Vorbeigehen mit schnellen Strichen hin. Aber man kann wohl behaupten, dass der Hauptanziehungspunkt des Stückes nicht in dem vorgeführten Kampfe zwischen Verschlagenheit und Redlichkeit, zwischen der Sehnsucht nach der Heimat, dem Hass und dem Eigensinn des Stolzes liegt. Es gibt da noch etwas anderes, und zwar ist es das höhere Dasein des Menschen, auf dessen Darstellung es ankommt. Der Dichter fügt dem gewöhnlichen Leben ich weiss nicht was hinzu, – es ist das Geheimnis der Dichter, – und plötzlich erscheint es in seiner unheimlichen Grösse, in seiner Unterwerfung unter unbekannte Mächte, in seinen unendlichen Beziehungen und seinem feierlichen Elend. Ein Chemiker lässt ein paar geheimnisvolle Tropfen in eine Schale fallen, die scheinbar nichts als klares Wasser enthält, und alsbald entsteht eine Welt von Kristallen bis zum Rande und offenbart uns, was in dieser Schale vorhanden war, in der unsere blöden Augen nichts bemerkt hatten. So scheint auch im »Philoktet« die unscheinbare Psychologie der drei Hauptpersonen nur die Wände der Schale zu bilden, die das durchsichtige Wasser des gewöhnlichen Lebens enthält, und der Dichter lässt die offenbarenden Tropfen seines Genius hineinfallen …

Darum liegt auch die Schönheit und Grösse der schönen und grossen Tragödien nicht in den Handlungen, sondern in den Worten. Und zwar nicht nur in den Worten, welche die Geschehnisse begleiten und ausdrücken. Es muss da noch etwas anderes geben, als den äusserlich notwendigen Dialog. Es sind gerade die Worte, die anfangs unnötig erscheinen, auf die es in den Werken ankommt. In ihnen liegt ihre Seele. Neben dem notwendigen Dialoge läuft fast immer noch ein anderer Dialog einher, der überflüssig scheint. Bei aufmerksamer Betrachtung wird man jedoch sehen, dass es der einzige ist, dem die Seele tiefer zuhört, denn nur hier allein wird zu ihr gesprochen. Man wird auch erkennen, dass es die Bedeutung und Ausdehnung dieses unnötigen Dialoges ist, welche die Bedeutung und unaussprechliche Tragweite des Werkes bestimmt. Es ist gewiss, dass der notwendige Dialog schon in den gewöhnlichen Dramen in keiner Weise der Wirklichkeit entspricht; und vollends liegt Das, was die geheimnisvolle Schönheit der schönsten Tragödien bildet, ganz gewiss in den abseits von der bündigen, handgreiflichen Wahrheit gesprochenen Worten. Es liegt in den Worten, die einer tieferen Wahrheit entsprechen, einer Wahrheit, die der unsichtbaren Seele, welche die Dichtung belebt, unvergleichlich näher steht. Man kann sogar behaupten, dass die Dichtung sich der Schönheit und höheren Wahrheit in dem Masse nähert, als sie die Worte ausscheidet, welche die Handlung ausdrücken, um sie durch solche zu ersetzen, die zwar keinen sogenannten »Seelenzustand« ausdrücken, wohl aber gewisse unfassliche und unaufhörliche Bewegungen der Seele nach ihrer Wahrheit und Schönheit. In diesem Masse nähert sie sich auch dem wahren Leben. Jedem Menschen begegnet es einmal im täglichen Leben, dass er eine sehr schwierige Lage mit Worten zu lösen hat. Man denke einmal daran: was gibt in solchen Augenblicken stets – und selbst für gewöhnlich – den Ausschlag? Was wir sagen oder was man uns antwortet? Spielen da keine anderen Kräfte, keine anderen Worte mit, die man nicht vernimmt, die aber das Ereignis entscheiden? Was ich sage, macht oft wenig aus, aber meine Gegenwart, die Haltung meiner Seele, meine Zukunft und Vergangenheit, was aus mir entstehen wird und was in mir tot ist, ein geheimer Gedanke, die Sterne, die mir günstig sind, mein Schicksal, tausend und abertausend Mysterien, die mich umgeben, wie sie Euch umgeben: das alles spricht in diesen tragischen Augenblicken zu Euch, und das antwortet mir auch. Unter jedem meiner und Eurer Worte liegt das alles; dies ist es vor Allem, was wir sehen; dies ist es vor Allem, was wir vernehmen, uns selbst zum Trotze. Wenn Du gekommen bist, Du, der »beleidigte Gatte«, der »getäuschte Freund«, die »verlassene Frau«, in der Absicht, mich zu töten, so ist es nicht mein noch so beredtes Flehen, was Deinen Arm aufhalten wird. Aber vielleicht triffst Du dann auf eine jener unerwarteten Mächte, und meine Seele, die weiss, dass sie rings um mich wachen, sagt Dir ein geheimes Wort, das Dich entwaffnet. Dies ist die Sphäre, wo die Abenteuer sich entscheiden, dies ist der Dialog, dessen Echo man vernehmen sollte. Und in der Tat vernimmt man dieses Echo – höchst abgeblasst und veränderlich zwar – in einigen der grossen Werke, von denen ich vorhin sprach. Aber könnte man nicht versuchen, sich dieser Sphäre, wo alles »Wirklichkeit« ist, mehr zu nähern?

Es scheint, man will es wagen. Vor einiger Zeit versuchte ich gelegentlich eines Ibsenschen Dramas, in dem man diesen »Dialog zweiten Grades« in höchst tragischer Weise vernimmt, gelegentlich des »Baumeister Solness« in diese Geheimnisse einzudringen, wenn auch noch mit grösserem Ungeschick. Trotzdem sind es ein und dieselben Züge, von der Hand des gleichen Blinden auf dieselbe Wand geworfen und dem gleichen Lichte zugekehrt. In »Solness«, sagte ich, hat der Dichter irgend etwas zum Leben hinzugefügt, dass es unter seiner äusseren Kindlichkeit so seltsam, tief und beunruhigend erscheint. Es ist nicht leicht zu entdecken, und der Altmeister bewahrt mehr als ein Geheimnis. Es scheint selbst, dass Das, was er hat sagen wollen, nur wenig ist im Vergleich zu Dem, was er sagen musste. Er hat einigen Seelenkräften, die vordem nie frei waren, die Freiheit gegeben, und vielleicht ist er selbst von ihnen besessen gewesen. »Siehst Du, Hilde,« ruft Solness aus, »siehst Du! Es ist Zauberei in Dir, ganz wie in mir. Es ist die Zauberei, welche die Gewalten der Aussenwelt treibt. Und man muss ihr nachgeben. Ob man will oder nicht, man muss

Es ist Zauberei in ihnen, wie in uns allen. Hilde und Solness sind meines Erachtens die ersten Helden, die einen Augenblick empfinden, dass sie im Dunstkreise der Seele leben; und dieses wesentliche Leben, das sie jenseits ihres gewöhnlichen Lebens in sich entdeckt haben, entsetzt sie. Hilde und Solness sind zwei Seelen, die ihre Lage im wahren Leben erkannt haben. Es gibt mehr als eine Art, einen Menschen kennen zu lernen. Ich nehme z. B. zwei oder drei Wesen, die ich fast täglich sehe. Wahrscheinlich werde ich sie lange Zeit nur an ihren Gebärden, ihren äusseren und inneren Gewohnheiten, ihrer Art zu fühlen, zu denken und zu handeln, unterscheiden. Aber bei jeder längeren Freundschaft kommt ein geheimnisvoller Augenblick, wo wir sozusagen die genaue Stellung unseres Freundes zu dem Unbekannten, das ihn umgibt, und die Haltung des Schicksals gegen ihn erkennen. Von diesem Augenblick gehört er uns wirklich an. Wir haben ein für alle Mal gesehen, wie die Ereignisse sich gegen ihn stellen werden. Wir wissen, dass dem Einen seine Vorsicht zu nichts dienen wird. Mag er sich in die Tiefe seiner Behausung zurückziehen und sich so ruhig wie möglich verhalten, aus Furcht, in den grossen Behältern der Zukunft etwas zu erregen: – die unzähligen Ereignisse, die ihm verhängt sind, werden ihn entdecken, wo er auch immer sich verbirgt, und werden nacheinander an seine Türe klopfen. Und andererseits wissen wir wohl, dass ein Zweiter unnütz auf die Suche nach Abenteuern ausgehen wird. Er wird stets mit leeren Händen zurückkommen. Ein untrügliches Wissen scheint ohne Grund in unserer Seele entstanden zu sein, als unsere Augen sich auf diese Weise öffneten, und wir sind sicher, dass das und das Ereignis, das dem und dem Menschen anscheinend bevorsteht, ihn niemals wird erreichen können.

Von diesem Augenblick an waltet ein besonderer Teil der Seele über der Freundschaft der Wesen, so geistesarm und unbekannt sie sein mögen. Es gibt eine Art von Übertragung des Lebens. Und wenn wir zufällig einem von denen begegnen, die wir derart kennen, während wir gerade über den fallenden Schnee oder die vorübergehenden Frauen reden, dann regt sich in jedem von uns ein Etwas, das sich begrüsst und prüft, sich ohne unser Wissen befragt, an Beziehungen teilnimmt und von Ereignissen spricht, die uns unbegreiflich sind …

Ich glaube, Hilde und Solness befinden sich in diesem Zustande und erkennen sich auf diese Weise. Ihre Reden haben keine Ähnlichkeit mit Dem, was wir bis auf diesen Tag vernommen haben, weil der Dichter versucht hat, den äusseren und inneren Dialog in einem Worte zu verschmelzen. Es walten irgendwelche neuen Kräfte in diesem somnambulen Drama. Alles, was dort laut wird, verbirgt und eröffnet zugleich die Quellen eines unbekannten Lebens. Und wenn wir bisweilen erstaunt sind, so müssen wir nicht aus den Augen verlieren, dass unsere Seele in unseren armen Augen oft eine törichte Macht ist, und dass es im Menschen viel fruchtbarere, tiefere und anziehendere Gegenden gibt, als die der Vernunft und des Verstandes …


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