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X.
Der Stern

Man könnte sagen, dass von Jahrhundert zu Jahrhundert ein tragischer Dichter »mit der Fackel der Dichtung in der Hand das Labyrinth des Schicksals durchlaufen hat.« Auf diese Weise haben sie, ein jeder den Kräften seiner Stunde gemäss, die Seele der menschlichen Annalen niedergelegt und somit göttliche Geschichte geschrieben. In ihnen allein kann man die zahllosen Wandlungen der grossen, unveränderlichen Gewalt verfolgen. Und es ist spannend, sie zu verfolgen. Denn das Lauterste in der Seele der Völker findet sich vielleicht in der Tiefe der Vorstellung, die sie sich von dieser Macht gemacht haben. Sie starb nie gänzlich, doch gibt es Zeiten, wo sie sich kaum regt, und in diesen Zeiten empfindet man, dass das Leben weder sehr stark noch sehr tief ist. Sie ward nur ein einziges Mal ungeteilt verehrt. Damals war sie selbst für die Götter ein schreckliches Mysterium. Es ist seltsam genug, sich sagen zu müssen, dass die Epoche, in welcher die Gottheit ohne Antlitz am furchtbarsten und unbegreiflichsten erschien, die schönste Epoche der Menschheit gewesen ist, und dass es das glücklichste Volk war, welches sich das Schicksal unter seiner schrecklichsten Gestalt vorgestellt hat.

Es scheint, dass eine geheime Kraft in dieser Vorstellung liegt; oder diese Vorstellung ist das Anzeichen einer Kraft. Wächst der Mensch in dem Masse, wie er die Grösse des Unbekannten erkennt, das ihn beherrscht; oder wächst das Unbekannte im Verhältnis zum Menschen? Heute könnte man sagen, dass der Begriff des Schicksals wieder erwacht. Vielleicht ist es nicht unnütz, seinen Spuren nachzugehen. Aber wo findet man es? Den Spuren des Schicksals nachgehen, heisst das nicht, den Spuren der menschlichen Trübsale nachgehen? Es gibt kein Schicksal der Freude; es gibt keinen glücklichen Stern. Der, welcher so heisst, ist ein Stern, der sich Zeit nimmt. Es ist übrigens wichtig, dass wir zuweilen den Spuren unserer Trübsale nachgehen, um sie kennen und bewundern zu lernen, auch wenn die grosse, gestaltlose Masse unseres Schicksals nicht am Ende stünde.

Es ist dies die wirksamste Art, seinen eigenen Spuren nachzugehen, denn wie man sagen könnte, sind wir nur so viel wert, als unsere Ungeduld und Schwermut wert ist. In dem Masse, wie wir weiterschreiten, werden sie tiefer, edler und schöner, und Mark Aurel ist der bewundernswerteste der Menschen, weil er besser als ein Anderer verstanden hat, was unsere Seele in das armselige Lächeln der Entsagung gelegt hat, das sie in der Tiefe unseres Wesens zeigen muss. Ein gleiches gilt von den Trübsalen der Menschheit. Sie verfolgen einen Weg, der dem unserer Trübsale entspricht; doch ist er länger und sicherer und muss zu einer Heimat führen, welche die zuletzt Geborenen allein erblicken werden. Er geht auch vom körperlichen Leiden aus; er ist soeben durch die Götterfurcht hindurchgegangen und endigt heute an einem neuen Abgrund, dessen Tiefen die Besten unter uns noch nicht erforscht haben.

Jedes Jahrhundert liebt ein anderes Leiden, da jedes Jahrhundert ein anderes Schicksal sieht. Es steht fest, dass wir uns heute nicht mehr so sehr wie ehedem um die Katastrophen der Leidenschaft kümmern; und die erschütterndsten Tragödien der Vergangenheit stehen in der Art ihrer Trübsale den unsrigen nach. Sie berühren uns nur noch mittelbar und durch das, was unser Nachdenken und der neue Adel, welchen der Schmerz des Lebens uns verliehen hat, den einfachen Zufällen des Hasses oder der Liebe hinzufügen, die sie darstellen.

Zuweilen scheint es, als ob wir am Rande eines neuen, geheimnisvollen und vielleicht sehr reinen Pessimismus stehen. Die furchtbarsten Weisen, Schopenhauer, Carlyle, die Russen und Skandinavier, wie auch der gute Optimist Emerson – denn nichts ist entmutigender als ein freiwilliger Optimismus – sind vorübergegangen, ohne unsere Trübsale zu erklären. Wir fühlen, dass unter allen Gründen, die sie uns zu sagen versucht haben, viele andere, tiefere Gründe liegen, die sie nicht zu entdecken vermochten. Die menschliche Trübsal, die seit ihrem Auftreten bereits schön erschien, kann sich noch unendlich veredeln, bis ein geniales Wesen endlich das letzte Wort des Schmerzes hervorbringt, das uns vielleicht ganz läutern wird …

Inzwischen sind wir in der Hand seltsamer Gewalten, und wir sind im Begriff, ihre Absichten zu ahnen. Zur Zeit der grossen Tragödie der neueren Zeit, zur Zeit Shakespeares, Racines und ihrer Nachfolger, glaubte man, dass alles Unglück von den verschiedenen Leidenschaften unseres Herzens käme. Die Katastrophe schwebt nicht zwischen zwei Welten; sie kommt von hier und geht dorthin; und man weiss, woher sie kommt. Der Mensch ist allemal der Herr. Zur Zeit der Griechen war er es weit weniger, und das Schicksal herrschte auf den Höhen. Aber es war unerreichbar, und keiner wagte es zu befragen. Heutzutage ist es gerade dasjenige, was man ausforscht, und darin liegt vielleicht das grosse Anzeichen des neuen Theaters. Man hält sich nicht mehr bei den Wirkungen des Unglücks, sondern bei dem Unglück selbst auf; man will sein Wesen und seine Gesetze wissen. Was die unbewusste Bestrebung der ersten Tragiker bildete und das feierliche Dunkel schuf, das ohne ihr Wissen die harten und gewaltsamen Gebärden des äusseren Todes umgab, die Natur des Unglücks ist zum Mittelpunkt der neuesten Dramen und zum Brennpunkt der ungewissen Strahlen geworden, den die Seelen der Männer und Frauen umringen. Und man hat dem Mysterium einen Schritt entgegen gemacht, um den Schrecknissen des Lebens ins Antlitz zu schauen.

Es wäre wichtig, zu erkunden, unter welchem Gesichtswinkel unsere letzten tragischen Dichter dem Unglück ins Antlitz zu schauen scheinen, denn es bildet den Grund aller dramatischen Dichtungen. Sie sehen es aus grösserer Nähe an, als die Griechen, und dringen tiefer in die fruchtbare Finsternis seiner inneren Kreise. Es ist vielleicht eine und dieselbe Gottheit. Aber ihre Unkenntnis ist innerlicher. Woher kommt es, wohin geht es und warum steigt es herab? Danach fragten die Griechen kaum. Ist es uns eingeschrieben oder wird es mit uns zur gleichen Zeit geboren? Kommt es uns entgegen oder wird es durch Stimmen herbeigerufen, die wir im Grunde unseres Wesens nähren und die mit ihm im Einvernehmen stehen? Man müsste von den Gipfeln einer anderen Welt das Tun und Lassen eines Menschen beobachten können, dem irgend ein grosser Schmerz zustossen soll; und welcher Mensch arbeitet nicht unbewusst daran, den Schmerz zu schmieden, der den Wendepunkt seines Lebens bilden wird?

Die schottischen Bauern haben ein Wort, das sich auf jedes Dasein anwenden liesse. »Fey« heisst in ihren Sagen der Zustand eines Menschen, den ein unwiderstehlicher innerer Antrieb, trotz alles eigenen Widerstrebens, trotz aller Ratschläge und trotz alles Beistandes, zu einer unvermeidlichen Katastrophe fortreisst. So ist Jakob I., der Jakob der Katharina Douglas, »fey« gewesen, als er den furchtbaren Weissagungen der Erde, der Hölle und des Himmels zum Trotz aufbrach, um das Weihnachtsfest in dem düsteren Schlosse Perth zu feiern, wo seiner der Mörder harrte, Robert Graeme, der Verräter. Wer von uns hat sich, wenn er der Umstände des für sein Leben entscheidenden Unglücks gedenkt, nicht in dieser Weise besessen gefühlt? Ich spreche hier wohlverstanden nur vom aktiven Unglück, von jenem, dessen Vermeidung möglich gewesen wäre. Denn es gibt auch ein passives Unglück, wie der Tod eines geliebten Wesens, das uns ganz einfach begegnet, und auf das unsere Handlungen keinen Einfluss haben können. Entsinnt Euch des Tages, der für Euer Leben verhängnisvoll ward. Wer von uns wurde nicht vorher gewarnt? Und obwohl es uns heute scheint, dass das ganze Schicksal hätte geändert werden können, durch einen Schritt, den man nicht getan, eine Tür, die man nicht geöffnet, eine Hand, die man nicht erhoben hätte, – wer von uns hat nicht vergeblich, ohne Kraft und ohne Hoffnung, auf dem Grat zwischen den Wänden des Abgrunds gerungen – gerungen gegen eine Macht, die unsichtbar war und ohnmächtig schien?

Der Luftzug jener Tür, die ich eines Abends geöffnet habe, sollte auf ewig mein Glück auslöschen, wie er eine schwache Lampe ausgelöscht hätte, und jetzt, wenn ich daran denke, kann ich nicht sagen, dass ich es nicht wusste … Und doch war es nichts von Belang, was mich auf die Schwelle geführt hatte. Ich konnte fortgehen und die Achseln zucken. Kein menschlicher Ratschluss konnte mich zwingen, an die Pforte zu klopfen … Kein menschlicher Ratschluss; nur das Verhängnis …

 

Das ähnelt noch dem Verhängnis des Ödipus und ist doch etwas Anderes. Man könnte sagen, es ist das Verhängnis, von Innen gesehen. Es gibt geheimnisvolle Mächte, die in uns selbst herrschen, und die mit den Ereignissen im Einvernehmen zu stehen scheinen. Wir alle tragen Feinde in unserer Seele. Sie wissen, was sie tun und was sie uns zu tun zwingen; und wenn sie uns zum Ereignis führen, so warnen sie uns vorher mit halben Worten, nicht deutlich genug, um uns zum Einhalten auf unserem Wege zu bringen, aber doch hinreichend, um uns, wenn es bereits zu spät ist, bereuen zu lassen, dass wir nicht aufmerksamer auf ihre unbestimmten und höhnenden Ratschläge hörten. Wo wollen sie hinaus, diese Mächte, die unser Verderben wollen, gleich als wären sie unabhängig und gingen nicht mit uns zu Grunde, obwohl sie doch nur in uns leben? Was ist es, das alle Mitschuldigen der Welt in Bewegung setzt, die sich von unserem Blute nähren?

Der Mensch, dem die Unglücksstunde geschlagen hat, wird von einem Wirbel erfasst, den man nicht wahrnimmt. Und seit Jahren weben diese Mächte an den zahllosen Zufällen, die ihn in der notwendigen Minute genau zu dem Punkte führen müssen, wo die Tränen seiner harren. Erinnert Euch all Eurer Anstrengungen und all Eurer Ahnungen! Erinnert Euch des erfolglosen Beistands! Erinnert Euch auch der guten Umstände, die Euch mitleidig den Weg zu versperren suchten und die Ihr von Euch gestossen habt, wie zudringliche Bettlerinnen! Und es waren doch arme, schüchterne Schwestern, die Euch retten wollten, und die sich entfernt haben, ohne ein Wort zu sagen, zu schwach und zu gebrechlich, um gegen Dinge anzukämpfen, die beschlossen waren, Gott weiss, wo …

Das Unglück hat sich kaum vollzogen, und schon haben wir die seltsame Empfindung, einem ewigen Gesetze gehorcht zu haben; und im Schosse der grössten Schmerzen belohnt uns eine geheimnisvolle Erleichterung für unseren Gehorsam. Wir gehören niemals inniger uns selbst an, als am Tage nach einer nicht wieder gut zu machenden Katastrophe. Es ist dann, als hätten wir einen unbekannten und notwendigen Teil unseres Wesens wiedergefunden und zurückerobert. Ein seltsamer Friede breitet sich aus. Tage lang und fast ohne dass wir es wussten, in einer Zeit, wo wir es fertig brachten, den Gesichtern und Blumen zuzulächeln, hatten die aufrührerischen Mächte unserer Seele am Rande des Abgrunds furchtbar gerungen, und jetzt, wo wir auf seinem Grunde liegen, atmet alles befreit auf.

So ringen sie ohne Rast in der Seele eines jeden; und wir erblicken manchmal, aber ohne darauf zu achten – denn wir öffnen die Augen nur für belanglose Dinge – den Schatten jener Kämpfe, in die unser Wille nicht einzugreifen vermag. Wenn ich mit Freunden zusammen bin, so kann es vorkommen, dass mitten im Gespräch und Gelächter ein Ding, das nicht zu dieser gewöhnlichen Welt gehört, plötzlich über das Gesicht des Einen unter ihnen zieht. Mit einem Schlage tritt ein grundloses Schweigen ein, und alle sehen sich während eines Augenblicks unbewusst mit den Augen der Seele an. Hiernach tauchen Gelächter und Worte, die verschwunden waren, wie die erschreckten Frösche eines grossen Teiches, nur um so heftiger wieder an die Oberfläche. Aber das Unsichtbare hat seinen Tribut erhoben. Irgend etwas hat begriffen, dass ein Kampf beendet ist, dass ein Stern aufgeht oder fällt und dass ein Schicksal sich entschieden hat …

Vielleicht war es längst entschieden; und wer weiss, ob der Kampf nicht ein Scheinkampf ist? Wenn ich heute die Tür des Hauses öffne, in dem ich das erste Lächeln einer Trübsal antreffen soll, die nicht mehr enden wird, so tue ich diese Dinge vielleicht schon länger, als man glaubt. Wozu dient es, ein Ich zu pflegen, auf das wir fast gar keinen Einfluss haben? Unseren Stern müssen wir beobachten. Er ist gut oder böse, bleich oder strahlend, und alle Kräfte des Meeres könnten daran nichts ändern. Einige, die Vertrauen zu ihm haben, können mit ihm spielen, wie mit einer Glaskugel. Sie werfen ihn empor und setzen ihn aufs Spiel, wo sie wollen; er wird stets treulich in ihre Hände zurückkehren; sie wissen wohl, dass er nicht zerbrechen kann. Aber es gibt viele Andere, die nicht einen Blick zu den ihren erheben können, ohne dass er sich vom Firmament ablöst und in Staub zu ihren Füssen fällt …

Aber es ist gefährlich, vom Stern zu sprechen; es ist sogar gefährlich, daran zu denken. Denn oft ist das ein Zeichen, dass er im Begriff ist, zu erlöschen …

Wir befinden uns hier in den Abgründen der Nacht und erwarten da, was sich ereignen wird. Es handelt sich nicht mehr um den Willen; wir sind tausend Meilen über ihm und in einer Gegend, wo der Wille selbst die reifste Frucht des Schicksals ist. Man muss sich darüber nicht beklagen, wir wissen bereits etwas, und wir haben einige Gewohnheiten des Zufalls entdeckt. Wir warten wie der Vogelsteller, der die Gewohnheiten der Wandervögel beobachtet, und wenn ein Ereignis sich am Horizont ankündigt, wissen wir wohl, dass es dort nicht einsam bleiben wird und dass seine Geschwister an der nämlichen Stelle sich in Scharen niederlassen werden. Wir haben unbestimmt gelernt, dass sie von gewissen Gedanken und gewissen Seelen angezogen werden, und dass es Wesen gibt, die ihren Flug ablenken, wie es solche gibt, die ihn von allen vier Enden der Welt auf sich ziehen.

Wir wissen vor Allem, dass gewisse Vorstellungen ungemein gefährlich sind, dass es genügt, sich einen Augenblick in Sicherheit zu fühlen, um den Blitz auf sich herabzuziehen, und dass das Glück eine Leere bildet, in welche die Tränen unverzüglich stürzen. Nach Verlauf einiger Zeit unterscheiden wir auch ihre Vorzüge. Wir merken bald, wenn wir einige Schritte auf dem Lebenswege an der Seite eines unserer Brüder machen, dass die Gepflogenheiten des Zufalls nicht die gleichen sein werden, und wenn wir mit einem Anderen zusammen sind, dass regelmässig Ereignisse von unveränderlicher Natur auf unser Dasein zukommen werden. Wir erfahren, dass es Wesen gibt, die im Unbekannten schützen, und solche, die darin gefährden, solche, welche die Zukunft erwecken, und andere, die sie einschläfern. Wir ahnen auch, dass die Dinge zuerst schwach entstehen, aus uns ihre Kraft schöpfen, und dass es bei jedem Ereignis eine kurze Minute gibt, wo unser Instinkt uns sagt, dass wir des Schicksals noch Herr sind. Endlich wollen einige behaupten, dass man lernen könnte, glücklich zu sein, dass wir in dem Masse, wie wir besser werden, auch Menschen antreffen, die sich bessern, dass ein gutes Wesen unwiderstehlich Ereignisse anzieht, die so gut sind, wie es selbst, und dass in einer schönen Seele der trübste Zufall sich in Schönheit verwandelt …

Wer hat wohl nicht verspürt, dass die Güte der Güte zuwinkt, und dass es immer dieselben sind, für die man sich hingibt und die man verrät? Wird derselbe Schmerz, der an zwei Türen pocht, die sich berühren, im Hause des Gerechten auf dieselbe Weise handeln, wie er im Hause des Ungerechten handelt, und werden, wenn Du rein bist, nicht auch Deine Leiden rein sein? Heisst es nicht die Zukunft beherrschen, wenn man verstanden hat, die Vergangenheit in dies und jenes traurige Lächeln zu verwandeln? Und scheint es nicht, als könnten wir selbst das Unvermeidliche etwas verzögern? Schlafen grosse Zufälle nicht, wenn eine zu ungestüme Bewegung sie am Horizont aufweckt, und würde dieses Unglück heute eingetreten sein, wenn nicht ausgelassene Gedanken in Eurer Seele heute früh zu laut gelärmt hätten? Ist das die ganze Ährenlese unserer Weisheit in dieser Finsternis? Wer wagte zu behaupten, dass es in diesen Sphären zuverlässigere Wahrheiten gibt? Einstweilen muss man zu lächeln verstehen, muss man im Schweigen einer sehr demütigen Güte zu weinen wissen. Über diesen Dingen erhebt sich nach und nach das noch unvollendete Antlitz des heutigen Schicksals. Ein wenig ist der Schleier, der es vor Zeiten bedeckte, schon gelüftet, und in dem aufgedeckten Teile erkennen wir nicht ohne Beunruhigung einerseits die Macht derer, die noch nicht leben, und andererseits die Macht der Toten. Im Grunde ist das ja nur eine neue Entfernung vom Mysterium. Wir haben die eisige Hand des Schicksals vergrössert; und in ihrem Dunkel legen sich nun die Hände unserer Söhne, die noch nicht geboren sind, in die Hände unserer Voreltern. Es gab einen Akt, den wir für die Zufluchtsstätte aller unserer Freiheiten hielten: die Liebe blieb die letzte Zuflucht derer, welche die Ketten des Lebens zu hart verspürten. Hierher wenigstens, sagten wir uns, in die Einsamkeit dieses geheimen Tempels kommt keiner mit uns hinein. Hier können wir einen Augenblick aufatmen, hier herrscht endlich unsere Seele und hat frei in Dem gewählt, was der Mittelpunkt der Freiheit selbst ist. Und nun ist man gekommen und hat uns gesagt, dass wir nicht um unseretwegen liebten. Man ist gekommen und hat uns gesagt, dass wir just im Tempel der Liebe den unveränderlichen Gesetzen einer unsichtbaren Menge gehorchten. Man ist gekommen und hat uns gesagt, dass wir tausend Jahrhunderte von uns ab seien, wenn wir unsere Geliebte wählen, und dass der erste Kuss des Bräutigams nur das Siegel ist, das tausend Wesen, die zu leben begehren, auf den Mund derer drücken, die sie zur Mutter verlangen. Und andererseits wissen wir, dass die Toten nicht sterben. Wir wissen heute, dass sie nicht mehr um unsere Kirchen herum, wohl aber in allen unsern Häusern, in allen unseren Gewohnheiten leben, dass es keine Gebärde, keinen Gedanken, keine Sünde, keine Träne, kein Atom des erlangten Bewusstseins gibt, das sich im Erdschosse verlöre, und dass bei unseren unbedeutendsten Handlungen unsere Vorfahren auferstehen, nicht aus ihren Gräbern, wo sie sich nicht mehr rühren, wohl aber im Grunde unseres Wesens, wo sie immerfort leben …

So werden wir durch Vergangenheit und Zukunft geleitet, und die Gegenwart, die unser Wesen ausmacht, sinkt auf den Grund des Meeres, wie eine kleine Insel, die zwei unversöhnliche Ozeane unaufhörlich benagen. Erblichkeit, Schicksal, Wille, das alles mischt sich geräuschvoll in unserer Seele; aber trotz allem und über allem herrscht der schweigsame Stern. Man klebt vorläufige Schilder auf die ungeheuren Gefässe, die das Unsichtbare enthalten; und die Worte sagen vielleicht nichts von Dem, was zu sagen wäre. Die Erblichkeit oder selbst das Schicksal ist nur ein verlorener Strahl dieses Sternes in der geheimnisvollen Nacht. Und alles hätte wohl das Recht, noch geheimnisvoller zu sein. »Wir nennen Schicksal alles, was uns begrenzt,« hat einer der grossen Weisen dieser Zeit gesagt, und darum muss man allen denen Dank wissen, die zitternd diese Grenzen abtasten. »Wenn wir brutal und barbarisch sind,« fügt er hinzu, »so nimmt auch das Verhängnis brutale und barbarische Formen an. Wenn wir uns verfeinern, so verfeinert sich auch unser Unglück. Wenn wir uns zu einer geistigen Kultur erheben, so nimmt auch unser Widersacher eine geistige Gestalt an.« Es ist vielleicht wahr, dass unsere Seele in dem Masse, wie sie sich erhebt, auch das Schicksal läutert; obwohl es auch wahr ist, dass uns dieselben Trübsale bedrohen, von denen die Wilden bedroht werden. Aber wir haben noch andere, die sie nicht ahnen; und der Geist erhebt sich nur, um wieder andere zu entdecken, an allen Horizonten. »Wir nennen Schicksal alles, was uns begrenzt.« Sehen wir zu, dass das Schicksal nicht zu eng werde! Es ist schön, seine Trübsale zu mehren, weil man dadurch sein Bewusstsein erweitert, denn dieses ist die einzige Stätte, wo man die Empfindung des Lebens hat. Und es ist auch das einzige Mittel, um seine höchste Pflicht gegen die anderen Welten zu erfüllen; denn wahrscheinlich liegt es uns allein ob, das Bewusstsein der Erde zu mehren.


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