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IV.
Die Moral des Mystikers

Es ist nur zu wahr, dass die Gedanken, welche wir haben, den unsichtbaren Bewegungen des inneren Bereiches eine willkürliche Form geben. Es gibt tausend und abertausend Gewissheiten, welche die verschleierten Königinnen sind, die uns durchs Leben führen, und von denen wir doch nie sprechen. Sobald wir etwas aussprechen, entwerten wir es seltsam. Wir glauben in die Tiefe der Abgründe hinabgetaucht zu sein, und wenn wir wieder an die Oberfläche kommen, gleicht der Wassertropfen an unseren bleichen Fingerspitzen nicht mehr dem Meere, dem er entstammt. Wir wähnen, eine Schatzgrube wunderbarer Schätze entdeckt zu haben, und wenn wir wieder ans Tageslicht kommen, haben wir nur falsche Steine und Glasscherben mitgebracht; und trotzdem schimmert der Schatz im Finstern unverändert. Es gibt etwas Undurchdringliches zwischen uns und unserer Seele, und in gewissen Augenblicken, sagt Emerson, »kommen wir dahin, glühend nach Leid zu verlangen, in der Hoffnung, darin endlich Wirklichkeit zu finden und die scharfen Ecken und Kanten der Wahrheit zu verspüren«.

Ich habe einmal gesagt, dass die Seelen sich einander zu nähern scheinen, und das hat keine andere Bedeutung, als die eines immerwährenden, aber dunklen Einflusses, den auf Tatsachen zu stützen sehr schwer ist, denn die Tatsachen sind nur die Vagabunden, Spione oder Nachzügler der grossen Gewalten, die man nicht sieht. Und doch könnte man sagen, wir empfinden zuweilen vielleicht tiefer als unsere Väter, dass wir nicht mit uns allein sind. Die, welche an keinen Gott glauben, so gut wie die anderen, handeln nicht für sich allein, als ob sie sicher wären, allein zu sein. Es gibt da eine allgemeine Überwachung, die wo anders wirkt, als im nachsichtigen Dunkel jedes menschlichen Bewusstseins. Ist es wahr, dass die Gefässe des Geistes minder fest verpicht sind als ehemals, und dass die Wogen des inneren Meeres mächtiger werden? Ich weiss es nicht; höchstens können wir feststellen, dass wir einer gewissen Anzahl hergebrachter Verfehlungen nicht mehr den gleichen Wert beimessen, und das ist schon das Zeichen einer geistigen Eroberung.

Es scheint, dass unsere Moral sich wandelt und mit kleinen Schritten nach höheren Gegenden strebt, die man noch nicht sieht. Und darum ist vielleicht der Augenblick gekommen, wo man sich neue Fragen zu stellen hat. Was würde z. B. geschehen, wenn unsere Seele plötzlich sichtbar würde und mitten unter ihre versammelten Schwestern treten sollte, ihrer Schleier beraubt, aber beladen mit ihren geheimsten Gedanken und nach sich ziehend die geheimnisvollsten Vorgänge ihres Lebens, die sich durch nichts ausdrücken liessen? Worüber würde sie erröten? Was wünschte sie zu verbergen? Möchte sie, wie ein schamhaftes Weib, den Mantel ihrer Haare über ihre zahllosen Fleischessünden werfen? Sie weiss nichts von ihnen, und diese Sünden haben sie nie erreicht. Tausend Meilen von ihrem Throne sind sie begangen worden; und selbst die Seele des Sodomiten könnte mitten durch die Menge gehen, ohne etwas zu ahnen, und in ihren Augen läge das durchsichtige Lächeln des Kindes. Ihr ist nichts dazwischen getreten, sie verfolgte ihren Weg des Lichtes, und dieses Weges allein wird sie sich entsinnen.

Welche gewöhnlichen Sünden und Verbrechen hat sie begehen können? Hat sie verraten, getäuscht, gelogen? Hat sie Leid zugefügt und Tränen verursacht? Wo war sie, während jener seinen Bruder den Feinden auslieferte? Vielleicht schluchzte sie fern von ihm, und von diesem Augenblick an ist sie tiefer und schöner geworden. Sie schämt sich nicht mehr dessen, was sie unterliess, und sie kann rein bleiben inmitten eines grossen Gemetzels. Oft verwandelt sie all das Böse, dem sie wohl oder übel beiwohnen muss, in innere Klarheit. Alles hängt von einem unsichtbaren Prinzip ab, und von da stammt ohne Zweifel die unaussprechliche Nachsicht der Götter.

Und unsere Nachsicht auch. Wir können uns der Verzeihung nicht enthalten; und wenn der Tod, die »grosse Versöhnung«, gekommen ist: wer von uns fällt dann nicht aufs Knie und macht schweigend über der befreiten Seele das Zeichen der Verzeihung? Wenn ich mich über den toten Körper meines schlimmsten Feindes neige: glaubt man wohl, angesichts dieser bleichen Lippen, die mich verleumdeten, dieser erloschenen Augen, die den meinen Tränen entlockten, dieser kalten Hände, die mich vielleicht gequält haben, dächte ich noch an Rache? Alles ist bezahlt, da der Tod gekommen ist. Die Seele schuldet mir nichts mehr, und unwillkürlich stelle ich sie über das grausamste Unrecht und die schwersten Verfehlungen (wie bewundernswert ist doch dieser Instinkt und wie bezeichnend!). Und wenn ich etwas bedaure, so ist es nicht, dass ich ihm meinerseits kein Leid mehr zufügen kann, sondern dass ich nicht genug liebte und nicht früher verzieh …

Man könnte sagen, dass wir diese Dinge im Grunde unseres Wesens bereits verstehen. Nicht nach ihren Handlungen, ja, selbst nicht nach ihren geheimsten Gedanken, beurteilen wir unsere Brüder; denn die geheimsten Gedanken lassen sich vielleicht ablesen, und wir gehen weit über das Ablesbare hinaus. Ein Mensch könnte alle Verbrechen begangen haben, die man für die schlimmsten hält, ohne dass sein schwerstes Verbrechen einen Augenblick den Hauch von Frische und übernatürlicher Reinheit trübte, der seine Gegenwart umgibt; während das Nahen eines Märtyrers oder eines Weisen unsere Seele in dichtes, unerträgliches Dunkel hüllen kann. Ein Held oder Heiliger wird vielleicht seinen Freund unter Gesichtern wählen, denen man ohne Not die Gewohnheit abliest, alles Niedrigste zu denken, aber er fühlt sich nicht »in einem brüderlichen oder menschlichen Dunstkreise« neben einem anderen Wesen, dessen Stirn die höchsten und hochherzigsten Träume verklären. Was hat das zu bedeuten? Und welcherlei Aufschlüsse gibt es uns? Gibt es also höhere Gesetze als die, welche unsere Handlungen und Gedanken beherrschen? Was hat man uns beigebracht und warum handeln wir immer nach Regeln, von denen wir nie sprechen und die doch allein sicher sind? Denn man kann wohl sagen, dass hier, dem Augenschein zum Trotze, der Held und der Heilige sich keineswegs getäuscht haben. Sie haben nur gehorcht, und wenn der Heilige von seinem Erwählten verraten und verkauft wird, so bleibt doch etwas Unerschütterliches übrig, das ihm sagt, es läge kein Irrtum vor und er hätte nichts zu bedauern. Die Seele wird nie vergessen, dass die andere Seele klar war …

Während man den fast unbekannten Stein von diesen Mysterien abwälzt, atmet man die allzustarke Luft des Abgrunds, und zur selben Zeit fallen Worte wie Gedanken um uns wie vergiftete Fliegen. Das Innenleben selbst erscheint als eine Kleinigkeit gegenüber solchen unveränderlichen Tiefen. Wird man in Gegenwart eines Engels stolz sein, dass man niemals Unrecht gehabt hat, und gibt es keine geringere Unschuld? Wenn Jesus die elenden Gedanken der Pharisäer liest, die den Gichtbrüchigen von Capernaum umringen, ist man da sicher, dass er auch ihre Seele mit einem entsprechenden Blicke misst, dass er sie ebenfalls verdammt und nicht jenseits dieser Gedanken eine vielleicht unveränderliche Klarheit erschaut? Und wäre er ein Gott, wenn die Verdammnis unwiderruflich wäre? Aber warum spricht er, als ob er ausserhalb stände? Kann der niedrigste Gedanke und die edelste Vorstellung auf der Spitze eines Diamanten auch nur eine Spur zurücklassen? Welcher Gott, wenn er wirklich auf der Höhe steht, kann umhin, über unsere schwersten Verfehlungen zu lächeln, wie man über das Spiel junger Hunde auf einem Teppich lächelt? Und was wäre ein Gott, der nicht lächelte? Glaubt Ihr, wenn man wahrhaft rein wird, gäbe man sich die Mühe, den Blicken des Engelchors die kleinen Beweggründe seiner grossen Handlungen zu entziehen? Und dennoch gibt es in uns mehr als ein Ding, das in den Augen der auf den Bergen thronenden Götter gefehlt sein kann; und unsere Seele weiss sehr wohl, dass sie dereinst Rechenschaft abzulegen hat. Sie lebt, ohne etwas zu sagen, unter der Hand eines grossen Richters, dessen Sprüche zu erlauschen uns nicht gelingt. Aber welches wird die Rechenschaft sein? Wo die Moral finden, die es sagt? Gibt es eine mystische Moral, die in Gegenden herrscht, welche weiter abliegen als die unserer Gedanken? Und ein Centralgestirn, das wir nicht sehen, und vor dem unsere geheimsten Wünsche nur ohnmächtige Planeten sind? Gibt es im Mittelpunkt unseres Wesens einen durchsichtigen Baum, an dem alle unsere Handlungen und Tugenden nur vergängliche Blätter und Blüten sind? Im Grunde wissen wir nicht, welcher Untat unsere Seele fähig ist, und wir wissen noch nicht einmal, weswegen wir vor einer höheren Vernunft oder einer anderen Seele erröten sollten. Und doch: wer von uns fühlt sich rein und fürchtet nicht einen Richter? Und welche Seele bangt nicht vor einer anderen Seele?

 

Hier sind wir nicht mehr in den bekannten Tälern des tierischen oder geistigen Lebens. Wir nahen uns den Toren der dritten Umwallung: der des göttlichen Lebens der Mystik. Nur tastend überschreitet man ihre Schwelle. Und ist die Schwelle überschritten, wo sind dann die Gewissheiten? Wo verbergen sich diese wunderbaren Gesetze, die wir fortwährend übertreten, ohne dass unser Bewusstsein es vielleicht ahnt, obschon unsere Seele gewarnt ward? Und woher stammte das Dunkel jener mystischen Übertretungen, das sich zuweilen auf unser Leben legte und es plötzlich so furchtbar machte, zu leben? Welches sind die grossen Sünden des Geistes, die wir begehen können? Werden wir uns schämen, gegen unsere Seele angekämpft zu haben, oder kämpft unsere Seele unsichtbar gegen Gott? Und ist dieser Kampf so schweigsam, dass kein Seufzer die Wände durchdringt? Gibt es einen Augenblick, wo wir die Königin mit geschlossenen Lippen verstehen können? Sie schweigt ohne Hoffnung bei allen Begebenheiten der Oberfläche; aber gibt es nicht deren andere, die man kaum bemerkt, und die dennoch ewige und tiefe Mächte berühren? Hier ist Einer, der stirbt, der betrachtet oder weint, Einer, der sich zum ersten Male naht, oder Dein Feind, der vorbeigeht; flüstert sie dann nicht vielleicht etwas? Und wenn Du ihr lauschtest, während Du den Freund, dem Du jetzt zulächelst, in der Zukunft schon nicht mehr liebst? Aber das alles ist nichts und kommt nicht einmal der äusseren Klarheit des Abgrundes nahe. Man kann von diesen Dingen nicht reden, denn man ist zu allein. »Jetzt,« sagt Novalis, »regt sich nur hie und da Geist: wann wird der Geist sich im Ganzen regen, und wann wird die Menschheit in Masse sich selbst zu besinnen anfangen?« Nur um diesen Preis werden Einige etwas verstehen. Man muss geduldig harren, bis dieses höhere Bewusstsein sich nach und nach bildet. Vielleicht gelangt dann einer von denen, die da kommen werden, zum Ausdruck dessen, was wir alle diesseits der Seele empfinden; denn sie ist wie das Antlitz des Mondes, das man nicht von Anbeginn der Welt an gewahrt hat.


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