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VIII.
Novalis

Maeterlinck veröffentlichte 1895 eine französische Ausgabe der »Lehrlinge zu Saïs« und »Fragmente« des deutschen Romantikers Novalis (Friedrich von Hardenberg), die dieser Essay einleitete. Novalis, der »Prophet der romantischen Schule«, ist durch seinen (unvollendeten) Roman »Heinrich von Ofterdingen« und seine grossartigen »Hymnen an die Nacht« bekannt. Er starb, von Jugend auf kränklich, im Jahre 1801 im 29. Lebensjahre. Eine neue Ausgabe des Novalis mit Einleitung von Dr. Bruno Wille erschien 1898 im Verlag von Eugen Diederichs in Leipzig.
Das Zitat auf S. 81 bildet den Anfang des »Lehrlings zu Saïs« (Band II der Diederichsschen Ausgabe); auch das Zitat auf S. 49 findet sich in Band II S. 302 derselben Ausgabe. Aus Band III sind folgende Zitate übernommen:.
»Der Schatz der Armen« – »Fragmente« des Novalis.
Seite 38 – Seite 305.
Seite 43/44 – Seite 119.
Seite 67 – Seite 92.
Seite 59/60 – Seite 127

Mannigfache Wege gehen die Menschen, sagt unser Autor; wer sie verfolgt und vergleicht, wird Wunderliche Figuren entstehen sehen. – Ich habe drei solcher Menschen gewählt, deren Wege uns auf drei verschiedene Gipfel führen. Ich sah am Horizonte von Ruysbroecks Werken die bläulichsten Riffe der Seele schimmern, während in Emersons Schriften die demütigsten Hügel des menschlichen Herzens sich unregelmässig rundeten. Hier befinden wir uns auf den scharfen und oft gefährlichen Felsgraten des Gehirns; aber es gibt auch Verstecke voll köstlichen Dunkels zwischen den gründenden Unebenheiten dieser Grate, und die Luft ist von unveränderlichem Kristall.

Es ist wunderbar zu sehen, wie die Wege der menschlichen Seele nach dem Unzugänglichen hin auseinanderlaufen. Man muss nur einen Augenblick den Spuren der drei genannten Wesen gefolgt sein. Sie alle sind, jeder auf seine Weise, weit über die gewissen Kreise des gewöhnlichen Bewusstseins hinausgegangen, und jeder von ihnen hat Wahrheiten angetroffen, die sich nicht gleichen und die wir doch als verlorene und wiedergefundene Schwestern aufnehmen müssen. Eine verborgene Wahrheit ist das, was unser Leben lenkt. Wir sind ihre unbewussten und stummen Sklaven und befinden uns in ihren Ketten, solange sie nicht erschienen ist. Wenn aber eines jener ausserordentlichen Wesen, welche die Fühlhörner der unzählig-Einen menschlichen Seele bilden, im Finstern tastend sie für Augenblicke ahnt, so fühlen sich auch die Geringsten unter uns, ich weiss nicht durch welchen plötzlichen und unerklärlichen Gegenstoss, von etwas befreit; eine neue Wahrheit, die viel höher, reiner und geheimnisvoller ist, nimmt den Platz derer ein, die sich entdeckt sah und ohne Umkehr flieht; und alle Seelen schicken sich, ohne dass dies sich äusserlich verriete, zu einer heitereren Ära an und feiern tiefe Feste, an denen wir nur einen sehr verspäteten und entfernten Anteil nehmen. Und ich glaube, dass sie auf diese Weise steigen und einem Ziele zustreben, das sie allein zu erkennen vermögen.

Alles, was man sagen kann, ist an sich nichts. Man lege in eine Wageschale alle Worte der grossen Weisen und in die andere die unbewusste Weisheit eines vorübergehenden Kindes, und man wird sehen, dass die Enthüllungen Platos, Mark Aurels Schopenhauers und Pascals die grossen Schätze des Unbewussten nicht um Haaresbreite überwiegen werden; denn das schweigende Kind ist tausendfach weiser als dieser redende Mark Aurel. Und dennoch wäre, wenn Mark Aurel die zwölf Bücher seiner Betrachtungen nicht geschrieben hätte, ein Teil der unbekannten Schätze, die unser Kind birgt, nicht der nämliche. Es ist vielleicht nicht möglich, von diesen Dingen klar zu sprechen; wer sich aber tief genug zu befragen vermag und, wenn auch nur für einen blitzhaften Augenblick, seinem höheren Wesen gemäss zu leben weiss, der empfindet, dass dies so ist. Vielleicht entdeckt man eines Tages noch, aus welchen Gründen, wenn Plato, Swedenborg oder Plotin nicht gelebt hätten, die Seele des Bauern, der sie nicht gelesen hat, noch je von ihnen sprechen hörte, nicht das wäre, was sie heute unfehlbar ist. Aber wie es damit auch bestellt sei, kein Gedanke hat sich jemals für irgend eine Seele verloren; und wer wollte uns sagen, welche Teile von uns nur kraft solcher Gedanken leben, die nie gedacht worden sind? Unser Bewusstsein hat mehr als eine Stufe, und die Weisesten bekümmern sich nur um unser fast unbewusstes Bewusstsein, weil es im Begriff ist, göttlich zu werden. Dieses transcendentale Bewusstsein zu mehren, scheint immer der unbekannte höchste Wunsch der Menschen gewesen. Es liegt wenig daran, dass sie dies nicht wissen, denn sie wissen nichts und handeln doch in ihrer Seele so weise wie die Weisesten. Allerdings sollen ja die meisten Menschen nur dann einen Augenblick leben, wenn sie gerade sterben. Einstweilen nimmt dieses Bewusstsein auch nur zu, um das Unerklärliche rings um uns zu vermehren. Wir suchen zu erkennen, um das Nicht-Erkennen zu lernen. Wir vergrössern uns nur, um die Mysterien zu vergrössern, die uns niederdrücken; und wir sind wie Sklaven, die den Wunsch zu leben nur unter der Bedingung unterhalten können, dass sie die Last ihrer Ketten, ohne je mutlos zu werden, erbarmungslos vermehren …

Die Geschichte dieser wundersamen Ketten ist die einzige Geschichte unseres Selbst; denn wir sind nur ein Mysterium, und was wir wissen, ist ohne jeden Belang. Sie ist nicht lang bisher; sie steht auf ein paar Seiten, und man möchte sagen, dass die Besten sich fürchten, daran zu denken. Wie Wenige haben gewagt, bis an das Ende des menschlichen Denkens vorzudringen! Und man nenne uns die Zahl derer, die dort nur ein paar Stunden verweilten … Mehr als Einer hat sie uns versprochen und einige Andere haben sie zuweilen unternommen, aber schon bald erlahmten sie mehr und mehr und verloren die Kraft, deren es bedarf, um hier zu leben; sie fielen auf die Seite des äusseren Lebens und in die bekannten Täler der menschlichen Vernunft zurück; und »nach kurzer Zeit schwamm alles wieder wie vorher vor ihren Blicken.«

In Wahrheit ist es sehr schwer, seine Seele zu befragen und ihre schwache Kinderstimme inmitten der unnützen Schreier zu vernehmen, die sie umgeben. Und doch: wie wenig liegt an den anderen Bestrebungen des Geistes, wenn man darüber nachdenkt; und wie weit von uns geht unser gewöhnliches Leben vor sich! Man möchte sagen, dass hienieden nur die Ebenbilder unserer leeren, zerstreuten und unfruchtbaren Stunden erscheinen; aber dort ist der einzige feste Pol unseres Wesens und die Stätte des Lebens. Dorthin muss man unaufhörlich flüchten. Alles übrige wissen wir, ehe man es uns gesagt hat; aber hier lernen wir weit mehr, als alles, was sich sagen lässt; und in dem Augenblick, wo die Phrase Halt macht und die Worte sich verstecken, trifft unser ungeduldiger Blick plötzlich durch Jahre und Zeiten hindurch einen anderen Blick, der ihn geduldig auf dem Wege zu Gott erwartete. Die Lider zucken zur selben Zeit, die Augen werden feucht vom süssen und furchtbaren Tau eines gleichen Mysteriums, und wir wissen, dass wir nicht mehr allein sind auf der grenzenlosen Strasse …

Aber welche Bücher sprechen uns von dieser Stätte des Lebens? Die Metaphysiker gehen kaum bis an ihre Grenzen, und was bleibt in Wahrheit nach deren Überschreitung? Einige Mystiker, die Narren scheinen, weil sie wahrscheinlich die Natur des menschlichen Denkens selbst darstellen würden, wenn der Mensch die Müsse oder Kraft hätte, ein wahrhaftiger Mensch zu sein. Weil wir vor allem die Meister der gewöhnlichen Vernunft, Kant, Spinoza, Schopenhauer und einige andere lieben, so ist dies kein Grund, die Meister einer anderen Vernunft zurückzuweisen, die auch mit ihr verschwistert ist und vielleicht die Vernunft der Zukunft sein wird. Inzwischen haben sie uns Dinge gesagt, die uns unerlässlich waren. Man schlage den tiefsten unter den gewöhnlichen Moralisten oder Psychologen auf: er wird von Liebe, Hass, Stolz und den anderen Eigenschaften unseres Herzens reden; und diese Dinge können uns einen Augenblick gefallen, wie Blumen, die von ihrem Stengel abgerissen sind. Aber unser wahres und unveränderliches Leben vollzieht sich tausend Meilen von der Liebe und hunderttausend Meilen vom Stolze. Wir besitzen ein tieferes und unerschöpflicheres Ich als das Ich der Leidenschaften und der reinen Vernunft. Nicht darum handelt es sich, uns zu sagen, was wir empfinden, wenn unsere Geliebte uns verlässt. Sie geht heute von dannen; unsere Augen weinen, aber unsere Seele weint nicht. Vielleicht vernimmt sie das Ereignis und verwandelt es in Licht; denn alles, was in sie fällt, strahlt aus. Möglich auch, dass sie es nicht weiss; und wozu dient es dann, davon zu reden? Man muss diese kleinen Dinge denen überlassen, die nicht empfinden, dass das Leben tief ist. Wenn ich heute Morgen La Rochefoucauld oder Stendhal gelesen habe: glaubt man, ich hätte Gedanken erworben, die mich mehr zum Menschen machten, oder die Engel, denen man sich Tag und Nacht nähern soll, würden mich schöner finden? Alles, was nicht über die alltägliche Erfahrungsweisheit hinausgeht, gehört uns nicht an und ist unserer Seele nicht würdig. Alles, was man ohne Bangen vernehmen kann, setzt uns herab. Ich werde gezwungen lächeln, wenn Ihr mir beweist, dass ich Egoist war bis in das Opfer meines Glücks und Lebens hinein; aber was ist Egoismus im Vergleich zu so vielen anderen allmächtigen Dingen, deren unaussprechliches Leben ich in mir fühle? Nicht auf der Schwelle der Leidenschaften findet man die reinen Gesetze unseres Wesens. Es kommt ein Augenblick, wo die Erscheinungen des gewöhnlichen Bewusstseins, welches man das Bewusstsein der Leidenschaften oder das Bewusstsein ersten Grades nennen könnte, uns nichts mehr nützen und unser Leben nicht mehr berühren. Ich gebe zu, dass dieses Bewusstsein in gewisser Hinsicht oft anziehend ist, und dass es notwendig ist, seine Gewohnheiten zu kennen. Aber es ist eine Pflanze der Oberfläche, und seine Wurzeln fürchten das grosse Feuer im Kern unseres Wesens. Ich kann ein Verbrechen begehen, ohne dass der geringste Hauch die kleinste Flamme dieses Feuers bewegt; und andererseits kann ein ausgetauschter Blick, ein Gedanke, der nicht zum Aufblühen kommt, eine Minute, die lautlos verstreicht, es im Grunde seines Obdachs in furchtbaren Wirbeln aufrühren und mein Leben überschwemmen lassen. Unsere Seele richtet nicht wie wir; das ist eine eigensinnige und verborgene Sache. Sie kann von einem Hauche berührt werden und von einem Sturme nichts wissen. Man muss suchen, was sie berührt; alles ist dort, denn dort sind wir.

So kenne ich, um auf dieses gewöhnliche Bewusstsein zurückzukommen, das in grosser Entfernung von unserer Seele herrscht, mehr als einen Menschen, den z. B. die wunderbare Schilderung der Eifersucht Othellos nicht mehr erstaunt. Sie liegt ein für allemal in den ersten Kreisen des Menschlichen. Sie bleibt bewundernswert, vorausgesetzt, dass man Sorge trägt, weder Tür noch Fenster zu öffnen; denn sonst würde das Bild vom Winde all des Unbekannten, das draussen wartet, zu Staub zerblasen. Wir hören den Dialog des Mohren und Desdemonas wie etwas in sich Vollkommenes, aber wir können nicht umhin, an tiefere Dinge zu denken. Mag der afrikanische Krieger von der edlen Venezianerin betrogen werden oder nicht, er hat noch ein anderes Leben. Es müssen in seiner Seele und rings um sein Wesen, selbst im Augenblick seines elendesten Argwohns und seiner brutalsten Wut, tausendfach erhabenere Ereignisse vor sich gehen, die seine Zornröte nicht stören kann; und durch die oberflächlichen Erregungen der Eifersucht geht ein unveränderliches Dasein hindurch, das der Genius des Menschen bisher nur im Fluge gestreift hat.

Rührt daher wohl die Traurigkeit, welche die Meisterwerke hervorrufen? Die Dichter konnten sie nur unter der Bedingung schreiben, dass sie ihre Augen den furchtbaren Horizonten verschlossen und den allzu gewichtigen und zahlreichen Stimmen ihrer Seele Schweigen auferlegten. Hätten sie es nicht getan, sie hätten den Mut verloren. Nichts ist trauriger und trügerischer als ein Meisterwerk, denn nichts zeigt besser die Ohnmacht des Menschen, von seiner Grösse und Würde Kenntnis zu nehmen. Und wenn uns nicht eine innere Stimme sagte, dass die schönsten Dinge nichts sind im Vergleich zu allem, was wir sind, so könnte nichts uns mehr herabstimmen.

»Die Seele,« sagt Emerson, »ist Allem überlegen, was man von ihr wissen kann, und weiser, als alle ihre Werke. Der grosse Dichter lässt uns unseren eigenen Wert empfinden, und fortan schätzen wir das, was er verwirklicht hat, geringer. Das Beste, was er uns lehrt, ist die Verachtung alles dessen, was er gemacht hat. Shakespeare reisst uns fort in einem so erhabenen Laufe geistvoller Tätigkeit, dass er uns die Vorstellung eines Reichtums einredet, neben dem der seine arm erscheint, und dann empfinden wir, dass das erhabene Werk, das er schuf, und das wir in anderen Momenten zur Höhe einer Poesie ›an sich‹ erheben wollten, der wahren Natur der Dinge nicht tiefer zugehört, als der flüchtige Schatten eines Wanderers auf dem Felsen.«

Die erhabenen Rufe der grossen Tragödien und Dichtungen sind nichts anderes als mystische Rufe, die dem äusseren Leben dieser Dichtungen und Tragödien nicht angehören. Sie schiessen einen Augenblick aus dem inneren Leben hervor und lassen uns auf irgend etwas Unerwartetes hoffen, das wir inzwischen mit soviel Ungeduld erwarten! bis die nur zu bekannten Leidenschaften es wieder mit ihrem Schnee bedecken … In diesen Augenblicken hat die Menschheit für Sekunden sich selbst gegenübergestanden, wie ein Mensch einem Engel gegenüber. Nun aber kommt es darauf an, dass sie so oft wie möglich sich selbst gegenübersteht, um zu erfahren, was sie ist. Wenn ein Wesen aus einer andern Welt zu uns herabkäme und die höchsten Blüten unserer Seele und die Adelstitel der Erde von uns verlangte, was würden wir ihm da wohl geben? Einige würden die Philosophen anbringen, ohne zu wissen, was sie tun. Ich vergass, welcher Andere geantwortet hat, er würde Othello, König Lear und Hamlet darbieten. Nun wohl, wir sind es nicht! Ich glaube, unsere Seele stürbe vor Scham in der Tiefe unseres Fleisches, weil sie wohl weiss, dass ihre sichtbaren Schätze nicht dazu gemacht sind, um den Augen der Fremdlinge erschlossen zu werden, denn sie enthalten nichts als falsches Gestein. Auch der Demütigste unter uns hält sich in den einsamen Augenblicken, wo er weiss, was man wissen muss, für berechtigt, sich durch etwas anderes vertreten zu lassen, als durch ein Meisterwerk. Wir sind unsichtbare Wesen. Wir hätten dem himmlischen Sendling nichts zu sagen noch zu zeigen, und unser Schönstes deuchte uns plötzlich jenen alten Familienstücken gleich, die uns so kostbar scheinen in der Tiefe ihrer Schublade, und die so kläglich werden, wenn man sie für einen Augenblick ihrem Dunkel entreisst, um sie einem Gleichgültigen zu zeigen. Wir sind unsichtbare Wesen, die nur in sich leben, und der aufmerksame Beobachter ginge von dannen, ohne je zu ahnen, was er hätte sehen können, wofern nicht in diesem Augenblick unsere Seele sich nachsichtig darein mischte. Sie flieht so gern vor kleinen Dingen, und man hat so viel Not, sie im Leben wiederzufinden, dass man sich fürchtet, sie zu Hilfe zu rufen. Und doch ist sie stets gegenwärtig und täuscht sich nie, noch täuscht sie jemals darüber, dass sie zum Warten verdammt ist. Sie würde dem unerwarteten Sendboten die gefalteten Hände des Menschen zeigen, seine Augen voller Träume, die nicht einmal einen Namen haben, und seine Lippen, die nichts sagen können; und vielleicht würde dann der Andre, wenn er würdig ist, zu verstehen, nichts weiter zu wissen begehren …

Wenn er aber anderer Beweise bedürfte, so würde sie ihn unter Die führen, deren Werke fast ans Schweigen rühren. Sie würde die Pforte des Reiches öffnen, wo Einige sie um ihrer selbst willen liebten, ohne sich um die kleinen Gebärden ihres Körpers zu bekümmern. Sie würden zusammen auf die einsamen Hochflächen steigen, wo das Bewusstsein sich um eine Stufe erhebt und wo alle, welche die Unruhe über sich selbst erfüllt, aufmerksam den ungeheuren Ring umschweifen, der die Erscheinungswelt mit unseren höheren Welten verknüpft. Sie würde mit ihm zu den Grenzen der Menschheit gehen; denn an dem Punkte, wo der Mensch zu enden scheint, fängt er wahrscheinlich erst an, und seine wesentlichsten und unerschöpflichsten Teile befinden sich nur im Unsichtbaren, wo er unaufhörlich auf seiner Hut sein muss. Auf diesen Höhen allein gibt es Gedanken, welche die Seele billigen kann, und Vorstellungen, die ihr ähneln und die so gebieterisch sind, wie sie selbst. Dort hat die Menschheit einen Augenblick geherrscht, und diese schwach erleuchteten Spitzen sind vielleicht die einzigen Lichter, welche die Erde im Geisterreiche ankündigen. Ihr Widerschein hat fürwahr die Farbe unserer Seele. Wir empfinden, dass die Leidenschaften des Geistes und des Körpers in den Augen einer fremden Vernunft den Klagen von Glocken gleichen würden; aber die Menschen, von denen ich rede, sind in ihren Werken aus dem kleinen Dorfe der Leidenschaften herausgekommen und haben Dinge gesagt, die auch denen von Wert sind, die nicht zur irdischen Gemeinde zählen. Unsere Menschheit soll nicht unaufhörlich im Staube wühlen, wie eine Herde von Maulwürfen. Sie soll so leben, als hätte sie eines Tages vor älteren Brüdern Rechenschaft abzulegen. Der gegen sich selbst gekehrte Geist ist nur eine Lokalberühmtheit, die den Fremden lächeln macht. Es gibt noch etwas anderes als den Geist; auch ist er es nicht, der uns mit dem Weltall verbindet. Es ist an der Zeit, dass man ihn und die Seele nicht mehr verwechsle. Es handelt sich nicht um Das, was zwischen uns vorgeht, sondern um Das, was in uns stattfindet, über den Leidenschaften und der Vernunft. Wenn ich der fremden Vernunft nur La Rochefoucauld, Lichtenberg, Meredith oder Stendhal darbiete, so wird sie mich ansehen, wie ich im Schosse einer toten Stadt den hoffnungslosen Bürger ansehe, der mir von seiner Strasse, seiner Heirat oder seinem Gewerbe erzählt. Welcher Engel wird den Titus fragen, warum er nicht die Berenice geheiratet habe, und warum Andromache sich dem Pyrrhus versprach? Was ist Berenice, wenn ich sie mit dem Unsichtbaren vergleiche, das in der Bettlerin liegt, die mich anhält, oder in der Strassendirne, die mir winkt? Ein mystisches Wort allein kann für Augenblicke ein menschliches Wesen darstellen; aber unsere Seele ist nicht in diesen Sphären ohne Schatten und Abgründe; und auch Du, hältst Du Dich dort auf in den ernsten Stunden, wo das Leben auf Deine Schultern drückt? Der Mensch ist nicht in diesen Dingen, und doch sind diese Dinge vollkommen. Aber man muss davon nur unter sich sprechen, und es geziemt sich, davon zu schweigen, wenn ein Besucher abends an unsere Türe pocht. Wenn aber derselbe Besucher mich in dem Augenblick überrascht, wo meine Seele den Schlüssel zu ihren nächsten Schätzen in Pascal, Emerson oder Hello sucht, oder auch bei einigen von denen, welche die Begierde nach sehr reiner Schönheit erfüllte, so werde ich nicht errötend das Buch schliessen; und vielleicht wird er selbst daraus eine Vorstellung von einem Bruder schöpfen, der zum Schweigen verdammt ist, oder zum wenigsten wird er lernen, dass wir nicht alle zufriedene Bewohner dieser Erde waren.


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