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18.
Das Rätsel des Übels

Eines Sonntags lagerten unsere Freunde nachmittags im Schatten am Bach im Margayatale.

Josef war am Samstag in Omderman gewesen und wußte von neuen Schandtaten und Grausamkeiten zu berichten, die der Kalifa begangen hatte, und über die allen schauderte.

»Papa, warum gibt es denn so böse Menschen in der Welt?« fragte Fanny. »Wenn alle so gut wären wie du und Onkel Helling und Josef, auch wie Hassan und Amina, dann müßte es doch so schön sein, dann würde niemand etwas zu leid getan, man brauchte sich nicht zu fürchten, und alle Menschen wären glücklich.«

»Ja,« fiel Johannes ein. »Und warum gibt es Krankheiten und Schmerzen, wilde Tiere und giftige Schlangen, durch die auch so viele Menschen unglücklich werden, vor denen man sich fürchten muß und die einen töten können.«

»Kinder,« antwortete Sieger, »ihr habt da eines der schwierigsten Welträtsel angeschnitten, jedenfalls das traurigste. Soll ich euch kurz Antwort darauf geben, so muß ich sagen: alles Übel kommt von der Sünde, und die Sünde ist der Menschen Verderben. Damit ist freilich eure Frage nur halb beantwortet, denn warum es böse Menschen gibt, das heißt solche, die sich von der Sünde beherrschen lassen, ist dadurch nicht erklärt.«

Helling meinte nachdenklich: »Man wird auch nicht sagen können, daß alles Übel von der Sünde herkommt: es gibt doch so viele Krankheiten und Unglücksfälle, so viele Plagen, wenn ich nur an Heuschrecken und anderes Ungeziefer denke, die uns unverschuldet treffen. Man kann doch das alles nicht als göttliche Strafe ansehen, wenigstens nicht in allen Fällen, und solch eine Deutung hat Jesus selber verworfen, etwa beim Blindgeborenen oder als er von dem furchtbaren Unglück spricht, dem plötzlichen Einsturz des Turmes zu Siloah, der achtzehn Menschen erschlug. Es ist ja auch eine Tatsache, die oft von der Heiligen Schrift betont und durch die ganze Weltgeschichte gelehrt wird, daß eben die Besten häufig am schwersten heimgesucht werden und daß der Gerechte viel leiden muß um seines Glaubens willen.«

»Das ist wohl wahr,« entgegnete der Ingenieur: »Und dennoch glaube ich, es ließe sich nachweisen, daß im letzten Grunde die Sünde die Ursache alles Übels ist, und daß es ohne Sünde auch kein Übel gäbe. Der Betroffene braucht nicht immer selber schuldig zu sein: er leidet dann eben durch die Schuld anderer.«

»Glaubst du,« fragte der Leutnant, »die Menschheit könne von allem Übel erlöst werden, ehe das Ende der Welt alles vernichtet, um ein Neues, Herrliches an Stelle des Alten, Unvollkommenen zu setzen?«

»Ja, das glaube ich, wenn wir es nur richtig anfingen!«

»Das wäre eine große Sache, ja das Schönste und Erstrebenswerteste, das sich denken läßt. Denn seit Jahrtausenden schreit die Menschheit nach Erlösung und kämpft gegen das Böse an, und doch scheint mir, als hätte weder dieses wesentlich abgenommen, noch seien die Menschen viel besser geworden.«

»Das meine ich auch,« sagte Sieger: »Die Entwicklungslehre, die einen beständigen Fortschritt nach oben annimmt, wenn auch mit unterbrechenden Rückschlägen, gründet sich doch bloß auf haltlose verstandesmäßige Erwägungen und läßt die Tatsachen außer acht, die vernunftgemäß die alleinigen Unterlagen aller wissenschaftlichen Überzeugung sein sollten. Die Tatsachen beweisen keinen wirklichen Fortschritt der Menschheit, weder leiblich, noch geistig, noch sittlich. Umsomehr wir in Erkenntnissen, Entdeckungen und Erfindungen fortgeschritten sind, umso erschreckender erscheint es, daß die Welt seit Jahrtausenden weder gescheiter, noch besser, noch glücklicher geworden ist, obgleich sich die Halbgebildeten, Unwissenden und geistig Beschränkten so laut rühmen, wie herrlich weit wir's gebracht haben.«

»Das ist wahr!« rief Helling: »Denke ich an die Vorschriften des Gesetzes Mosis über das Verhalten gegen Witwen und Waisen, Fremde und Feinde, ja gegen die Tiere, so finde ich selbst in unserer Gesetzgebung keinen Fortschritt gegenüber diesen hochsittlichen Bestimmungen. Denke ich an Josefs Verhalten gegen seine Brüder, an David und Jonathan, an die feinfühligen Züge in den Heldengesängen eines Homer oder gar der indischen Mahabharatta, so frage ich mich, ob wir wirklich Ursache haben, uns für zartbesaiteter, besser und gebildeter zu halten, als diese edlen Seelen, die uns vor Jahrtausenden schon so herrliche Vorbilder gaben? Von den ersten Christen gar nicht zu reden. Übertreffen wir heute an Verstand die großen Denker des Altertums, ist unsere Dichtung gegenüber den Psalmen Davids, der Odyssee, der Mahabharatta, dem Nibelungenlied und schließlich Shakespeare wirklich überragend? Ist unsere Malerei, Bildhauerkunst und Baukunst über alles Frühere hinausgewachsen? Übertreffen unsere Feldherren einen Alexander, einen Hannibal oder einen Kaiser Friedrich den Zweiten?«

»Es ist so,« sagte Sieger: »Die Fülle derartiger Beispiele ist unerschöpflich und demütigend, ja niederschmetternd für unseren Fortschrittswahn. Für mich aber ist die Hauptfrage: sind wir fortgeschritten in menschlichem Empfinden und selbstloser Nächstenliebe? Darin beruht ja die wahre Bildung und Gesittung.

»Ich meine, wir müssen zugeben, daß zum Beispiel die alten Griechen menschlicher fühlten und sich gesitteter zeigten, als die großen Massen unserer heutigen Völker. Sie haben wohl aus Neid einen Sokrates gezwungen, den Giftbecher zu leeren, doch brach auch das ganze Volk von Athen in Tränen aus, als es im Theater an dieses Unrecht erinnert wurde. Die Römer hatten entschieden einen größeren Hang zur Grausamkeit, ebenso das Mittelalter mit seiner Folter und seinen unmenschlichen Todesstrafen. Aber wenn ich sehe, wie gierig unser Volk sich auf bluttriefende Schundliteratur wirft, wie es nichts eifriger in den Zeitungen liest, als von Unglücksfällen und Verbrechen, wie die Leute an die Stätte eines schrecklichen Eisenbahnunfalls, einer Feuersbrunst hinströmen, nicht um zu helfen, sondern aus grausamer Neugier, so bin ich überzeugt, sie würden noch heute in Massen einen Zirkus füllen, in dem ihre Mitmenschen den wilden Tieren vorgeworfen würden, sie würden mit teuflischer Lust einer gräßlichen Hinrichtung und einer Hexenverbrennung zusehen!«

»Leider ist das kaum zu bezweifeln,« sagte der Leutnant nachdenklich: »Ich erinnere mich, daß ich einmal eine Zeitungsausträgerin, die ein durchaus schlechtes Blatt austrug, fragte, ob es viel gelesen werde? ›Freilich!‹ gab sie zur Antwort: ›Es ist das gelesenste Blatt. Es ist aber auch das unterhaltendste: in keinem anderen kommen so viele Unglücksfälle und Verbrechen.‹ Die rohen und grausamen Triebe sind bei uns eher stärker als vor Jahrtausenden, und ich glaube, wenn wieder ein Krieg ausbräche, würden wir erschrecken, wie tief es mit der gepriesenen Gesittung der Völker steht.«

Der Ingenieur seufzte: »Ja, unsere Bildung ist meist nur Tünche. Nur echte, aufrichtige Frömmigkeit vermag wahre Gesittung zu bringen. Das republikanische Frankreich hat damit öfters die Probe gemacht. Es war nämlich immer geneigt, die Religion zu bekämpfen, weil ihm die rein monarchische Ordnung des Gottesreiches zuwider ist. So wurde in Frankreich immer wieder der Religionsunterricht in den Schulen abgeschafft. Jedesmal war die unmittelbare Folge eine steigende Zahl der Verbrechen, während die Wiedereinführung des Religionsunterrichts ausnahmslos einen Rückgang der Verbrechen bewirkte. Das sind Tatsachen, die beweisen, daß alle Hetzer gegen die christliche Religion und den biblischen Unterricht, ob sie sich Religionslose, Freidenker, oder wie auch immer sonst nennen, Verbrecher an Staat, Volk und Vaterland sind. Wehe dem Staat, der ihr Treiben duldet oder ihnen gar Gehör schenkt: der Kampf gegen die Religion ist stets ein Kampf der Schlechtigkeit und geistigen Beschränktheit gegen die Sittlichkeit und Vernunft, der Gemeinheit gegen das Edle, der Halbbildung gegen die wahre Bildung, der Verblödung und Lüge gegen Vernunft und Wahrheit, er richtet sich gegen Freiheit und Glück des Volkes, um seine Versklavung und Verelendung herbeizuführen.«

»Wie denkst du dir aber die völlige Erlösung von allem Übel?« fragte nun Helling.

»Ehe wir darauf eingehen können,« erwiderte Sieger, »müssen wir uns über das Wesen des Übels, seine verschiedenen Arten, seine Wurzeln und eigentlichen Ursachen klar zu werden suchen.«


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