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9.
Die letzte Zuflucht

Obgleich nun die Stadt schon von wildem Geheul und Getobe widerhallte, konnten die beiden Freunde doch noch unbehelligt die nächsten Gassen durcheilen.

Da plötzlich rief durch die geschlossenen Fensterläden eines freistehenden Hauses eine Stimme: »Rasch hierher, Sieger! Dein Diener hat sich mit deinen Kindern zu mir geflüchtet. Hier seid ihr am sichersten für die nächste Zeit.«

Der Ingenieur sah empor. Er konnte wegen der geschlossenen Läden niemand sehen; doch hatte er die wohlbekannte Stimme seines Freundes, des ersten Schreibers der Finanzabteilung, erkannt, dem ja auch dieses Haus gehörte.

Schon öffnete Josef die Haustüre. Sieger und Helling eilten hinein, worauf die feste Türe wieder verrammelt wurde.

Es war die höchste Zeit, denn schon rasten wutbrüllende Derwische in die Gasse.

Sieger wankte die Treppe hinauf, gefolgt vom Leutnant und seinem Diener. Droben fand er seine geliebten Kinder, in einem Bettlein ruhig schlummernd. Tränenden Auges küßte er sie. Dann brach der starke Mann halb ohnmächtig zusammen.

Petrus Polus hielt mit seinen Dienern und den aufgenommenen Männern aus den Nachbarhäusern die Fenster besetzt. Den Anstürmenden unsichtbar, konnten sie durch die Öffnungen der Läden auf die nahenden Derwische schießen, die infolgedessen, nachdem einige von ihnen tödlich getroffen waren, ihre Versuche aufgaben, die Haustüre zu erbrechen.

Helling schloß sich sofort den Verteidigern an. Sobald Sieger sich einigermaßen erholt hatte, griff auch er zu einer Schußwaffe. Die männliche Besatzung des Hauses genügte jetzt vollkommen zu dessen wirksamer Verteidigung, und es konnten zu diesem Behufs drei Abteilungen gebildet werden, die einander ablösten; mußte man sich doch auf eine langwierige Belagerung gefaßt machen.

Emin Gegr um Salama war um den Weg, als Sieger mit Helling in das Haus des Schreibers aufgenommen wurde, und hatte den Vorgang von ferne beobachtet. Er war der erste gewesen, der die Derwische veranlaßte, die hier Verschanzten anzugreifen. Er selber wagte sich nicht in die Nähe, weil er die wohlgezielten Kugeln fürchtete; doch behielt er, hinter guter Deckung vorspähend, das Haus immer im Auge. So oft ein Trupp Derwische des Weges kam, hetzte er sie auf den Steinbau, unter der Vorspiegelung, daß hier die vornehmsten Persönlichkeiten und die reichsten Schätze verborgen seien. Das klang sehr einleuchtend, denn es war eines der festesten Steinhäuser Khartums, und das Gebäude war entschieden das stattlichste nach dem Statthalterpalast. Anfangs stürmten auch die Mahdisten mit Todesverachtung gegen den Eingang. Als sich aber vor diesem die Leichen türmten und einen förmlichen Schutzwall bildeten, der die Annäherung an das Tor hinderte, begann ihnen das Unterfangen doch unheimlich zu werden, und sie mieden die gefährliche Nähe der Festung.

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Ringsum durchgellte die Luft das Wehgeschrei vieler Tausender, die gemartert, gemordet oder in die Sklaverei geschleppt wurden. Nur um dies eine Haus herum herrschte Ruhe, waren doch auch die Nachbarhäuser geräumt und ihre Bewohner bei Polus geborgen.

Nur selten gelang es noch Emin Gegr, einzelne besonders beherzte Beduinen zu einem Angriff zu vermögen. Aber sie büßten ihre Tollkühnheit mit dem Leben.

»Es wird uns leider nicht viel helfen,« meinte Leutnant Helling düster: »Die Rebellen sind Herren der Stadt, und wenn sie mit Gewalt nichts gegen uns ausrichten können, so werden sie uns bald durch den Hunger zur Übergabe zwingen.«

»Seien Sie ohne Sorge,« beruhigte ihn der Hausherr: »Ich habe beizeiten vorgesorgt, denn ich sah das Unheil kommen. Gleich zu Anfang habe ich die ausgedehnten Keller- und Bühnenräume meiner Behausung mit Lebensmitteln gefüllt. In den letzten Tagen, als die Hungersnot in gefährlicher Weise überhand nahm, habe ich unzählige Hungernde aus meinen Vorräten gespeist und hätte dies immerhin noch acht Tage fortsetzen können. Nun es sich aber nur noch darum handelt, etwa dreißig Leute zu ernähren, reichen die Lebensmittel für mehrere Monate aus, die für Hunderte nur noch wenige Tage genügt hätten. Daß die Derwische aber monatelang eine so gefährliche Festung in ihrer Mitte dulden sollten, ist undenkbar. Sie werden bald mit uns wegen der Übergabe in Unterhandlungen treten und uns dann alle gewünschten Zugeständnisse machen. Als Herren des ganzen Sudans haben sie weniger Interesse an der Vernichtung einer Handvoll Leute, als an der Einnahme dieses letzten Bollwerks, das sie nur unnütz die größten Opfer kostet.«

»Bedingungen werden wir ja wohl stellen können,« warf Sieger bedächtig ein: »Sie werden voraussichtlich auch angenommen werden. Aber dürfen wir den Versprechungen dieser Leute Vertrauen schenken? Sie sind imstande, den Vertrag hohnlachend zu brechen, sobald sie uns in ihrer Gewalt haben, zumal unser hartnäckiger Widerstand ihre Rachgier aufs äußerste gereizt haben wird.«

»Lassen Sie das meine Sorge sein,« entgegnete Polus: »Ich habe auch diese Möglichkeit ins Auge gefaßt und werde Vorkehrungen treffen, die den Mahdi zwingen, um seines Ansehens willen seine Zusagen zu halten.«

»Wie steht es aber mit der Munition?« forschte der Leutnant weiter.

»Auch mit solcher habe ich mich wohl versehen. Freilich, wenn es so fortginge wie heute, so dürfte sie in acht Tagen erschöpft sein. Aber das ist nicht zu befürchten. Die Derwische haben schon eingesehen, daß ihre Anläufe ihnen nur blutige Verluste eintragen. Vielleicht werden sie noch einige Male den Versuch machen, uns unversehens zu überraschen, besonders bei Nacht. Machen sie jedoch die unliebsame Erfahrung, daß unsere Wachsamkeit sich nicht einschläfern läßt, so werden sie die vergeblichen Bemühungen bald einstellen. Ich sage Ihnen, wenn nur wir auf der Hut bleiben, so kann der Feind mit Gewalt nichts ausrichten. Mit Kanonen ließe sich ja das Haus zusammenschießen, aber wo wollen sie die Geschütze aufstellen? Ganz in der Nähe? Da würden wir die Bedienungsmannschaften wegputzen, ehe sie die Rohre richten könnten. Sie müßten unter großen Verlusten ganze Häuserviertel niederlegen, um uns aus sicherer Ferne beschießen zu können, und ein solch wahnwitziges Verfahren wird der Mahdi nicht einschlagen.«

In der kommenden Nacht versuchten die Derwische in der Tat in aller Stille, den Eingang zu erzwingen. Sobald sie aber an den todbringenden Schüssen merkten, daß die Wachsamkeit der Belagerten sich nicht täuschen ließ, standen sie von ihrem Vorhaben ab.

Den ganzen Tag hatte das Morden und Plündern gewährt. Nun aber war nicht viel mehr zu holen, und die ganze Einwohnerschaft, bis auf die Insassen des einen Hauses, befand sich in Gefangenschaft, soweit sie nicht niedergemetzelt war. Nur noch wenige Überlebende mochten sich in Verstecken verborgen halten, die dem Spürsinn der Sieger entgangen waren. Da erließ der Mahdi eine allgemeine Amnestie: das heißt, wer dem Blutbad entgangen war, sollte seines Lebens und seiner Straflosigkeit versichert sein.

Dieser Erlaß wurde auch vor dem Hause des Petrus Polus bekannt gemacht mit der nochmaligen Aufforderung zur Übergabe. Er genügte jedoch dem vorsichtigen Schreiber nicht, und er erklärte, nur auf Grund besonderer Verhandlungen zum Nachgeben bereit zu sein.

Mohamed Achmed verteilte die Beute unter seine Krieger, der größte und wertvollste Teil derselben wurde jedoch, wie üblich, in das Beit el Mal oder Schatzhaus des Herrschers abgeliefert. Dann gab dieser den Befehl, die Leichen zu begraben. Allein die Derwische pflegten nur dann unbedingten Gehorsam zu leisten, wenn es sich um Kampf oder Plünderung handelte. So gaben sie dieser Anordnung keine Folge, sondern begnügten sich damit, die Toten teils zu verbrennen, teils in Brunnen oder in den Nil zu werfen.

Am gleichen Tage, den 26. Januar 1885, erschien Oberst Wilson mit zwei Dampfern im Angesichte der Stadt. Ihm folgte auf dem Fuße General Carle, der die Vorhut des Entsatzheeres befehligte. Als sie Khartum in den Händen der Derwische sahen, kehrten sie wieder um: ihre Aufgabe war gescheitert!

Hätte sich die Stadt nur noch zwei Tage gehalten, so wäre sie gerettet gewesen. Und wie leicht hätte sie noch so lange Widerstand leisten können! Wäre Gordon achtsamer gewesen und hätten die Wachen ihre Pflicht getan, so wäre dem Mahdi keine Überrumpelung geglückt.

Nun, die Schuldigen hatten ihre Nachlässigkeit mit dem Leben bezahlen müssen, aber auch zahllose Unschuldige mit ihnen.

Am nächsten Tage ließ sich Mohamed Achmed in Unterhandlungen mit Petrus Polus ein.

Dieser forderte eine öffentliche Verkündigung, in welcher der Mahdi bei seiner göttlichen Sendung erklären sollte, allen Insassen des Hauses Leben, Freiheit und gänzliche Straflosigkeit zu gewähren.

Der Kalifa Scherif, der die Verhandlungen im Namen des Herrschers leitete, erwirkte bei diesem durch seine vernünftigen Vorstellungen die Gewährung dieser Bedingungen. Auf Verlangen des Polus wurde die Urkunde im ganzen Lager verlesen, und so konnte der Mahdi nicht wortbrüchig werden, wenn er nicht seinem Ansehen bei seinen eigenen Anhängern in gefährlicher Weise schaden wollte.

Die Geretteten atmeten auf, als es so weit gekommen war, und alle dankten dem Hausherrn und spendeten seiner Weisheit und Vorsicht das anerkennendste Lob.


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